6

Meistens ist das gleichmäßige Vorankommen wichtiger als Geschwindigkeit. Solange es eine regelmäßige Folge von Anreizen gibt, in die sich der Geist nacheinander verbeißen kann, ist auch Platz für eine laterale Bewegung. Hat dieser Vorgang erst einmal begonnen, ist das Tempo eine Sache des persönlichen Geschmacks.

Ich bewegte mich also langsam, doch gleichmäßig voran und setzte mein Urteilsvermögen ein. Es wäre sinnlos gewesen, Star unnötig zu ermüden. Schnelle Veränderungen fallen schon einem Menschen ziemlich schwer. Tiere, die sich nicht leicht etwas vormachen, haben größere Schwierigkeiten damit und drehen manchmal sogar durch.

Ich überquerte den Fluß auf einer kleinen Holzbrücke und bewegte mich eine Zeitlang parallel zu ihm. Ich hatte vor, die eigentliche Stadt zu umgehen und der ungefähren Richtung des Wasserlaufes zu folgen, bis ich in Küstennähe war. Es war ein schöner Nachmittag. Mein Weg lag im kühlen Schatten. Grayswandir hing an meiner Hüfte.

Ich ritt nach Westen und erreichte schließlich die Hügel, die sich dort erhoben. Ich wollte mit der Verschiebung erst beginnen, wenn ich eine Stelle erreicht hatte, von der ich auf die große Stadt hinabblicken konnte, die immerhin die größte Bevölkerungskonzentration darstellte in diesem Land, das meinem Avalon ähnelte. Die Stadt trug denselben Namen, und mehrere hunderttausend Menschen lebten und arbeiteten hier. Etliche Silbertürme fehlten, und der Fluß durchschnitt die Stadt weiter südlich in einem etwas anderen Winkel, nachdem er sich seither um das Zehnfache verbreitert hatte. Rauch stieg auf von den Schmieden und Schänken, leicht bewegt in der Brise aus dem Süden; die Menschen bewegten sich zu Fuß, im Sattel oder auf dem Bock von Wagen oder Kutschen durch die schmalen Straßen, betraten und verließen Läden, Herbergen, Häuser; Vogelscharen wirbelten durcheinander, stießen hinab und stiegen wieder auf über den Plätzen, wo Pferde angebunden waren; bunte Wimpel und Banner regten sich, Wasser schimmerte, Dunst lag in der Luft. Ich war zu weit entfernt, um Stimmen zu hören oder das Klappern, Hämmern, Sägen, Rasseln und Quietschen; nur ein sehr vages Summen schlug an mein Ohr. Zwar vermochte ich keine individuellen Düfte auszumachen, doch als Blinder hätte ich schon am Geruch bemerkt, daß eine Stadt ganz in der Nähe lag.

Der Anblick erfüllte mein Herz mit einer gewissen Nostalgie, mit der vagen Sehnsucht nach jenem Ort, der genauso hieß wie diese Stadt, der aber in einem Schattenland der Vergangenheit untergegangen war, ein Ort, an dem das Leben so einfach und ich glücklicher gewesen war als in diesem Augenblick.

Doch man lebt nicht so lange wie ich, ohne jene besondere Erkenntnisfähigkeit, die naive Gefühle im Entstehen erfaßt und im allgemeinen verhindert, daß Sentimentalitäten aufkommen.

Die damalige Zeit war vorbei und erledigt, und mein Streben zielte jetzt voll und ganz auf Amber ab. Ich zog das Pferd herum und setzte meinen Weg nach Süden fort. Der Wunsch zu siegen regte sich stärker in mir. Amber, ich vergesse dich nicht . . .

Die Sonne wurde zu einem grellen Wundmal über meinem Kopf, und der Wind begann mich zu umtosen. Der Himmel wurde immer gelber und strahlender, bis ich den Eindruck hatte, als erstrecke sich über mir eine Wüste von Horizont zu Horizont. Die Hügel wurden zum Tiefland hin felsiger und boten sich den Blicken in windgeformten Skulpturen von grotesker Gestalt und düsterer Färbung dar. Als ich die Vorberge verließ, hüllte mich ein Sandsturm ein, so daß ich das Gesicht in meinem Mantel verbergen und die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen mußte. Star wieherte, schnaubte mehrmals, mühte sich weiter. Sand, Felsbrocken, Wind, und das Orangerot des Himmels vertiefte sich, eine düstere Wolkengruppe, auf die sich die Sonne zubewegte.

Dann lange Schatten, das Ersterben des Windes, Ruhe . . . Nur das Klappern der Hufe auf dem Gestein und die Geräusche der Atemzüge . . . Dämmerung, als Sonne und Wolken zusammentreffen . . . Die Grundfesten des Tages, von Donner erschüttert . . .

Ferne Objekte in unnatürlicher Deutlichkeit sichtbar . . . Ein kaltes, blaues, elektrisierendes Gefühl in der Luft . . . Wieder Donner . . .

Jetzt ein wogender, glasiger Vorhang zu meiner Rechten, der Regen, der Regen, der auf mich zukommt . . . Blaue Bruchstellen in den Wolken . . . Die Temperatur im Absinken, unsere Schritte gleichmäßig, die Welt ein einfarbiger Hintergrund . . .

Dröhnender Donner, grellweißes Blitzen, der Vorhang, der nach uns greifen will . . . Zweihundert Meter . . . dann hundertundfünfzig . . . genug!

Die untere Kante des Vorhangs pflügt, furcht sich schäumend dahin . . . Der feuchte Erdgeruch . . . Das Wiehern Stars . . . Ein Voranstürmen . . .

Kleine Wasserrinnsale, die sich vorwagen, einsinken, den Boden beflecken . . . Zuerst schlammig blubbernd, dann dahinrinnend . . . und schon ein gleichmäßiger Strom . . . Ringsum kleine plätschernde Bäche . . .

Vor uns eine Anhöhe, und Stars Muskeln spannen und entspannen, spannen und entspannen sich unter mir, während er die Spalten und Wasserläufe überspringt, sich durch die dahinrasende Wasserwand stürzt und den Hang erreicht, mit funkensprühenden Hufen auf Felsgestein, während wir höher klettern, während die Stimme des gurgelnden, dahinschäumenden Stroms zu einem gleichmäßigen Tosen absinkt . . .

Immer höher und schließlich Trockenheit, eine kurze Pause, um die Säume meines Umhangs auszuwringen . . . Unter und rechts von uns leckt ein graues, sturmzerzaustes Meer am Fuß der Klippe, auf der wir halten . . .

Ins Binnenland nun, auf die Kleefelder und den Abend zu, das Dröhnen der Brandung im Rücken . . .

Die Verfolgung von Sternschnuppen im dunkler werdenden Osten, nach einiger Zeit Stille und Nacht . . .

Klar ist der Himmel, hell die Sterne, bis auf einige feine Wolkenfetzen . . .

Eine heulende Schar rotäugiger Geschöpfe, die sich auf unserer Spur winden . . . Schatten . . . Grünäugig . . . Schatten . . . Gelb . . . Schatten . . . Und fort . . .

Doch dunkle Gipfel mit Schneerücken bedrängen sich gegenseitig ringsum . . . Festgefrorener Schnee, trocken wie Staub, von den eisigen Windstößen des Gebirges wogenhaft angehoben . . . Schneewogen, die über Felshänge getrieben werden . . . Ein weißes Feuer in der Nachtluft . . . Meine Füße, die in den nassen Stiefeln schnell zu erstarren beginnen . . . Star schnaubend und verwirrt, einen Huf vorsichtig vor den anderen setzend, den Kopf schüttelnd, als könne er das alles nicht fassen . . .

Schatten hinter den Felsen, ein leichterer Hang, ein ersterbender Wind, weniger Schnee . . . Ein sich windender Weg, immer wieder in die Kurve, ein Weg in die Wärme . . . Hinab, hinab in die Nacht, unter den sich verändernden Sternen . . .

Fern ist der Schnee der letzten Stunde; jetzt ausgetrocknete Pflanzen und eine Ebene . . . Weit ist der Schnee, und die Nachtvögel erheben sich taumelnd in die Luft, wirbeln über der Aasmahlzeit durcheinander, werfen heiseres Protestgeschrei ab, als wir vorbeireiten . . .

Wieder langsamer, zu dem Ort, wo das Gras wogt, bewegt von dem weniger kalten Wind . . . Das Fauchen einer jagenden Katze . . . Die schattenhafte Flucht eines hüpfenden rehähnlichen Wesens . . . Sterne, die ihre Plätze einnehmen, und das zurückkehrende Gefühl in meinen Füßen . . .

Star bäumt sich auf, wiehert, flieht im Galopp vor einer unsichtbaren Erscheinung . . . Es dauert lange, ihn zu beruhigen, und noch länger, bis das Zittern vergangen ist . . .

Eislichtzapfen des zunehmenden Mondes auf fernen Baumwipfeln . . . die feuchte Erde, die einen schimmernden Nebel ausatmet . . . Motten, die im Nachtlicht tanzen . . .

Der Boden momentan in pendelnder, sich wölbender Bewegung, als träten Berge von einem Bein aufs andere . . . Jedem Stern ein Double . . . Ein Lichtkranz um den runden Mond . . . Die Ebene, die Luft darüber, alles voller fliehender Umrisse . . .

Die Erde, eine abgelaufene Uhr, tickt und verstummt . . . Stabilität . . . Trägheit . . . Die Sterne und der Mond wieder eins mit ihrem Geist . . .

Ein Bogen um den Waldrand, nach Westen . . . Impression eines schlummernden Dschungels: Delirium von Schlangen unter Öltuch . . .

Nach Westen, nach Westen . . . Irgendwo ein Fluß mit breiten sauberen Ufern, die mir den Weg zum Meer erleichtern . . .

Hufschlag, wirbelnde, zuckende Schatten . . . Die Nachtluft in meinem Gesicht . . . Ein kurzer Blick auf Nachtwesen auf hohen, dunklen Mauern und schimmernden Türmen . . . Die Luft schmeckt plötzlich süßer . . . Die Szene verschwimmt vor den Augen . . . Schatten . . .

Zentaurenhaft sind Star und ich unter einer gemeinsamen Schweißschicht verschmolzen . . . Wir saugen die Luft ein und geben sie in gemeinsamen Explosionen der Anstrengung wieder von uns . . . Der Hals in Donner gehüllt, schrecklich ist die Pracht der Nüstern . . . Den Boden verzehrend . . .

Lachend, der Geruch des Wassers ringsum, die Bäume links schon sehr nahe . . .

Dann dazwischen . . . Schmale Stämme, Hängeranken, breite Blätter, tropfende Feuchtigkeit . . . Spinngewebe im Mondlicht, sich mühende Schatten darin . . . Schwammhafter Boden . . . Phosphoreszierender Fungus auf umgestürzten Bäumen . . .

Eine freie Stelle . . . Raschelnde lange Grashalme . . .

Mehr Bäume . . .

Wieder der Flußgeruch . . .

Später Geräusche . . . Laute . . . das glasige Lachen von Wasser . . .

Näher, lauter, endlich daneben herreitend . . . Der Himmel, der sich aufbäumt und seinen Bauch einzieht, und die Bäume . . . Sauber, mit einem kühlen, feuchten Duft . . .

Im gleichen Tempo links daneben her . . . Leicht und schwebend, folgen wir . . .

Trinken . . . In den Untiefen herumplätschernd, dann bauchhoch mit gesenktem Kopf. Star im Wasser, trinkend wie eine Pumpe, Gischt aus den Nüstern prustend . . . Flußaufwärts plätschert es gegen meine Stiefel, tropft mir aus dem Haar, läuft an meinen Armen herab. Stars Kopf wendet sich beim Klang des Lachens . . .

Dann wieder flußabwärts, langsam, gewunden . . . Zuletzt gerade, sich ausbreitend, langsamer werdend . . .

Bäume dichter, dann gelichtet . . .

Lang, gleichmäßig, gemächlich . . .

Ein schwaches Licht im Osten . . .

Jetzt nach unten geneigt und weniger Bäume . . . Felsiger, die Dunkelheit wieder komplett . . .

Der erste schwache Hinweis auf die See, ein verlorener Dufthauch . . . Klappernd weiter, in der Kühle der späten Nacht . . . Wieder ein flüchtiger Salzgeschmack der Luft . . .

Gestein, das Fehlen von Bäumen . . . Hart, steil, kahl, abwärts . . . Immer unzugänglicher . . .

Ein Blitzen zwischen Felswänden . . . Losgetretene Steine in der jetzt dahinrasenden Strömung, das Plätschern vom Echo des Dröhnens verschluckt . . . Immer tiefer der Schlund, dann sich ausbreitend . . .

Hinab, hinab . . .

Und weiter . . .

Jetzt wieder Helligkeit im Osten, sanfter der Hang . . . Wieder der Hauch von Salz, diesmal stärker . . .

Schiefer und Dreck . . . Um eine Ecke, hinab, immer heller.

Vorsicht, weich und locker der Boden . . .

Windhauch und Licht, Windhauch und Licht . . . Hinter einem Felsvorsprung . . .

Zügel anziehen.

Unter mir lag die öde Küste, endlose Reihen gerundeter Dünenrücken, gegeißelt vom Wind, der aus Südwesten herandrängt, Sandstreifen emporschleudert, den Umriß des fernen kahlen, düsteren Morgenmeeres teilweise verwischt.

Ich sah zu, wie sich die rosa Schicht von Osten her über das Wasser legte. Da und dort entblößte der sich bewegende Sand düstere Kiesflecken. Über den anrennenden Wellen erhoben sich zerklüftete Felsmassen. Zwischen den mächtigen Dünen, die Hunderte von Fuß hoch waren, und mir, der ich hoch über der abweisenden Küste hockte, befand sich eine wilde, zerschmetterte Ebene aus zerklüfteten Felsen und Kies, im ersten Schimmer des Morgens aus der Hölle oder der Nacht emportauchend, belebt von Schatten.

Ja. Hier war ich richtig.

Ich stieg ab und sah zu, wie die Sonne die Szene mit einem trostlosen grellen Tag belegte. Dies war das harte weiße Licht, das ich gesucht hatte. Hier, ohne Menschen, war der richtige Ort, wie ich ihn Jahrzehnte zuvor auf der Schatten-Erde meines Exils gesehen hatte. Keine Bulldozer, keine Siebe, keine besenschwingenden Farbigen, keine hermetisch abgeriegelte Stadt Oranjemund. Keine Röntgenmaschinen, kein Stacheldraht, keine bewaffneten Posten. Hier gab es nichts von alledem. Nein. Denn dieser Schatten hatte niemals einen Sir Ernest Oppenheimer erlebt, und es hatte auch nie eine Firma ›Consolidated Diamond Mines of South West Africa‹ gegeben, auch keine Regierung, die eine solche Anhäufung von Küstenschürfinteressen gutgeheißen hätte. Hier erstreckte sich die Wüste, die Namib hieß, etwa vierhundert Meilen nordwestlich von Kapstadt, ein Streifen Dünen und Felsgestein, bis zu etlichen Dutzend Meilen breit und etwa dreihundert Meilen lang an dieser elenden Küste, an der meerwärts gelegenen Flanke der Richtersveld-Berge, in deren Schatten ich stand. Hier lagen Diamanten wie Vogelkot im Sand. Natürlich hatte ich eine Harke und ein Sieb mitgebracht.

Ich schnürte meine Vorräte auf und machte ein Frühstück. Ein heißer, staubiger Tag stand mir bevor.


Während ich in den Dünen arbeitete, dachte ich an Doyle, den kleinen Juwelier aus Avalon mit den dünnen Haaren und dem feuerroten, mit Geschwülsten bedeckten Gesicht. Juweliersrouge? Wozu wollte ich all das Juweliersrouge – genug, um eine Armee von Juwelieren ein Dutzend Leben lang zu versorgen? Ich hatte die Achseln gezuckt. Was interessierte es ihn, wozu ich das Zeug brauchte, solange ich dafür zahlte? Nun, wenn es eine neue Verwendung für das Zeug gab, die viel Geld zu bringen versprach, wäre man ja ein Dummkopf . . . Mit anderen Worten, er war nicht in der Lage, mich innerhalb einer Woche mit der gewünschten Menge zu versorgen? Kleine gepreßte Kicherlaute zwischen Zahnlücken. Eine Woche? O nein! Natürlich nicht! Lächerlich, kam gar nicht in Frage . . . Ich begriff. Nun, vielen Dank, und vielleicht war der Konkurrent ein Stück weiter oben in der Lage, das Zeug zu beschaffen; außerdem mochte er sich für ein paar ungeschliffene Diamanten interessieren, die ich in einigen Tagen erwartete . . . Diamanten, sagten Sie? Moment. Er interessierte sich stets für Diamanten . . . Ja, aber in Sachen Juweliersrouge ließen seine Leistungen doch zu wünschen übrig! Eine erhobene Hand. Vielleicht hatte er sich etwas zu voreilig über seine Fähigkeit geäußert, das Poliermittel zu liefern. Die Menge hatte ihn doch etwas stutzig gemacht. Die Ingredienzien gab es allerdings reichlich, und die Formel war ziemlich simpel. Ja, eigentlich gab es keinen Grund, warum man nicht etwas arrangieren könnte. Und innerhalb einer Woche. Aber nun zu den Diamanten . . .

Ehe ich seinen Laden verließ, hatten wir etwas arrangiert.

Ich habe viele Menschen kennengelernt, die der Meinung waren, daß Schießpulver explodiert – was natürlich nicht zutrifft. Es brennt sehr schnell ab und entwickelt dabei einen Gasdruck, der ein Geschoß aus dem offenen Ende einer Hülse preßt und es durch den Lauf einer Waffe treibt, nachdem es von der Zündkapsel entzündet worden ist, die das eigentliche Explodieren besorgt, wenn der Zündhebel hineingetrieben wird. Mit der typischen Voraussicht meiner Familie hatte ich im Laufe der Jahre mit einer Reihe von Brennstoffen experimentiert. Meine Enttäuschung angesichts der Entdeckung, daß sich Schießpulver in Amber nicht entzünden ließ und daß alle ausprobierten Zündkapseln dort ebenfalls nicht funktionierten, wurde nur durch die Erkenntnis abgemildert, daß auch keiner meiner Verwandten Feuerwaffen nach Amber bringen konnte. Erst viel später bot sich mir während eines Besuchs in Amber die Lösung. Ich hatte ein Armband poliert, das für Deirdre bestimmt war – und als ich das verschmutzte Tuch in einen Kamin warf, erlebte ich die in Amber so wundersame Eigenschaft des Juweliersrouges aus Avalon! Zum Glück flog nur eine kleine Menge in die Luft, und ich war in jenem Augenblick allein.

Das Mittel war ein ausgezeichneter Zündstoff. Mit einer ausreichenden Menge nichtzündfähigen Materials verschnitten, konnte man es auch richtig zum Abbrennen bringen.

Ich behielt die Entdeckung für mich, nahm ich doch an, daß sich das Mittel eines Tages dazu einsetzen ließ, um in Amber gewisse grundsätzliche Entscheidungen herbeizuführen.

Leider hatten Eric und ich unseren Zusammenstoß, ehe dieser Tag heranrückte, und die Entdeckung wurde zusammen mit all meinen anderen Erinnerungen auf Eis gelegt. Als ich mein Gedächtnis endlich zurückgewonnen hatte, tat ich mich mit Bleys zusammen, der einen Angriff auf Amber plante. Er brauchte mich eigentlich nicht, hatte mich aber als Partner akzeptiert – wohl um ein Auge auf mich zu haben. Hätte ich ihm Waffen geliefert, wäre er unbesiegbar und ich überflüssig gewesen. Und hätten wir Amber tatsächlich erobert, wie es seine Pläne vorsahen, wäre die Situation noch unhaltbarer geworden, da der größte Teil der Besatzungsmacht und natürlich das Offizierskorps auf seiner Seite standen. Dann hätte ich etwas Besonderes aufbieten müssen, um das Kräfteverhältnis wieder auszugleichen. Zum Beispiel ein paar Bomben und etliche automatische Waffen.

Wäre ich einen Monat früher wieder zu mir gekommen, hätte sich alles anders entwickelt. Dann säße ich jetzt vielleicht in Amber und wäre nicht ausgeglüht und erschöpft in dem Bewußtsein, daß ein weiterer Höllenritt und ein ganzer Sack voll Sorgen vor mir lagen, mit denen ich mich befassen mußte.

Ich spuckte Sand, um nicht zu ersticken, wenn ich lachte. Himmel, unser ›Wäre doch nur‹ war wirklich etwas Besonderes! Ich konnte an andere Dinge denken als an das, was hätte geschehen können. Zum Beispiel an Eric . . .

Ich erinnere mich an jenen Tag, Eric. Ich stand in Ketten und war vor dem Thron auf die Knie gezwungen worden. Eben hatte ich mich selbst gekrönt, um dich zu verspotten, und war dafür geschlagen worden. Als ich die Krone das zweitemal in der Hand hielt, schleuderte ich sie in deine Richtung. Aber du hast sie aufgefangen und gelacht. Ich war froh, daß sie wenigstens nicht beschädigt war, wenn sie dich schon nicht verwunden konnte. Ein so schönes Ding . . . Ganz aus Silber, mit sieben langen Zacken besetzt mit Smaragden, die schöner sind als alle Diamanten. An jeder Schläfe ein großer Rubin . . . An jenem Tag hast du dich selbst gekrönt, eine Geste der Arroganz, des hastig arrangierten Pomps. Deine ersten Worte als Herrscher wurden mir zugeflüstert, noch ehe das Echo »Lang lebe der König!« im Saal verhallt war. Ich erinnere mich an jedes einzelne Wort. »Deine Augen haben den schönsten Anblick genossen, den sie jemals sehen werden«, hast du gesagt, gefolgt von dem Befehl: »Wachen! Bringt Corwin in die Schmiede und brennt ihm die Augen aus! Er soll sich an die Szenen dieses Tages als die letzten erinnern, die er jemals vor Augen hatte! Dann werft ihn in die Schwärze des tiefsten Verlieses unter Amber, auf daß sein Name vergessen sei!«

»Jetzt herrschst du in Amber«, sagte ich laut. »Doch weder habe ich mein Augenlicht verloren, noch bin ich vergessen!«

Nein, dachte ich. Sieh zu, wie du mit deinem Titel fertig wirst, Eric. Die Mauern Ambers sind hoch und mächtig. Versteck dich dahinter. Umgib dich mit dem nutzlosen Stahl von Klingen. Wie eine Ameise panzerst du deine Behausung mit Staub. Du weißt jetzt, daß du nicht sicher leben kannst, solange ich lebe, und ich habe dir versprochen, daß ich zurückkehren werde. Ich komme, Eric! Ich bringe Waffen aus Avalon, und ich werde deine Tore niedertreten und deine Verteidiger auslöschen. Und dann wird es so sein wie schon einmal vor langer Zeit, eine Minute lang, ehe deine Männer dich retteten. An jenem Tage holte ich mir nur wenige Tropfen deines Blutes. Diesmal soll es alles sein.

Ich scharrte einen weiteren Rohdiamanten frei, etwa den sechzehnten, und schob ihn in den Beutel an meinem Gürtel.


Während ich auf die untergehende Sonne starrte, dachte ich an Benedict, Julian und Gérard. Was für eine Verbindung bestand zwischen diesen Männern? Wie immer sie aussah – jede Interessenverbindung, die Julian einschloß, war mir zuwider. Gérard war in Ordnung. Ich hatte ruhig einschlafen können damals im Lager, als ich mir vorstellte, daß sich Benedict mit ihm in Verbindung gesetzt hatte. Doch wenn er jetzt mit Julian verbündet war, lag hier ein Grund zur Besorgnis. Wenn mich ein Mensch noch mehr haßte als Eric, dann Julian. Wenn er erfuhr, wo ich steckte, war ich in großer Gefahr. Für eine Konfrontation war ich noch nicht gerüstet.

Vermutlich hätte Benedict einen moralischen Grund gefunden, mich in diesem Augenblick zu verraten. Schließlich wußte er, daß mein Tun darauf gerichtet war, Unruhe nach Amber zu tragen – und er wußte sehr wohl, daß ich etwas im Schilde führte. Ich vermochte seine Einstellung sogar zu verstehen. Ihm ging es in erster Linie um die Erhaltung des Reiches. Im Gegensatz zu Julian war er ein Mann mit Prinzipien, und ich bedauerte es, nicht auf seiner Seite zu stehen. Ich konnte nur hoffen, daß mein Coup so schnell und schmerzlos ablaufen würde wie eine Zahnziehung bei Betäubung und daß wir dann hinterher wieder am selben Strang ziehen konnten. Nachdem ich nun Dara kennengelernt hatte, wünschte ich mir dies auch um ihretwillen.

Er hatte mir zu wenig verraten. Ich wußte einfach nicht, ob er die ganze Woche über im Feld bleiben wollte oder ob er sich womöglich schon mit Streitkräften Ambers zusammengetan hatte, um mir eine Falle zu stellen, um mein Gefängnis zu mauern, um mein Grab auszuheben. Ich mußte mich beeilen, so gern ich noch in Avalon verweilt hätte.

Ich beneidete Ganelon, der jetzt in irgendeinem Gasthaus oder Freudenhaus trank, hurte oder kämpfte oder in den Bergen jagte. Er war zu Hause. Sollte ich ihn seinen Vergnügungen überlassen, obwohl er sich erboten hatte, mich nach Amber zu begleiten? Doch nein, bei meinem Verschwinden würde man ihn verhören, ihm Schlimmes antun, wenn Julian in der Sache steckte – und dann war es nicht mehr weit bis zu dem Augenblick, da er in dem Land, das er für seine Heimat hielt, als Ausgestoßener gelten würde – wenn man ihn überhaupt am Leben ließ. Daraufhin würde er sich zweifellos wieder außerhalb des Gesetzes stellen, und dieses dritte Mal mochte sein Verderben sein. Nein, ich wollte meine Versprechen halten. Er sollte mich begleiten, wenn er das noch immer mochte. Wenn er seinen Entschluß geändert hatte, nun . . . Ich beneidete ihn sogar um die Aussicht auf ein gesetzloses Dasein in Avalon. Zu gern wäre ich noch länger geblieben, um mit Dara durch die Berge zu reiten, um über Land zu reisen, auf den Flüssen zu fahren . . .

Ich dachte an das Mädchen. Das Wissen um ihre Existenz ließ das Bild doch etwas anders aussehen. Das Ausmaß dieser Veränderung war mir allerdings nicht ganz bewußt. Trotz unserer starken Haßgefühle und kleinkrämerischen Auseinandersetzungen sind wir Geschwister aus Amber doch ziemlich familienbewußt, stets interessiert an Neuigkeiten über die anderen, bestrebt, die Position der übrigen Familienmitglieder im wechselhaften Bild des Geschehens zu kennen. So mancher Austausch von Klatschgeschichten hat zwischen uns einen entscheidenden Schlag verzögert. Zuweilen vergleiche ich uns im Geiste mit einer Gruppe boshafter alter Damen in einem Altersheim, die ein abgefeimtes Hindernisrennen veranstalten.

Ich vermochte Dara in das große Ganze nicht einzuordnen, da sie selbst nicht wußte, wohin sie gehörte. Oh, mit der Zeit würde sie das schon lernen. Sobald ihre Existenz sich herumsprach, würde sie hervorragende Lehrer finden. Nachdem ich sie nun auf ihre Einzigartigkeit aufmerksam gemacht hatte, war es nur eine Sache der Zeit, bis sie bei dem großen Spiel mitmischte. Während unseres Gesprächs im Wäldchen war ich mir zuweilen vorgekommen wie die Schlange der Verführung – doch immerhin hatte sie ein Recht auf dieses Wissen. Früher oder später würde sie die Wahrheit erfahren, und je eher sie sie erkannte, desto eher konnte sie damit beginnen, ihre Verteidigung vorzubereiten. Es war also nur zu ihrem Vorteil.

Natürlich war es möglich – und sogar wahrscheinlich –, daß ihre Mutter und Großmutter überhaupt nichts gewußt hatten von der eigenen Herkunft . . .

Und was hatte es ihnen genützt? Nach Daras Auskunft waren sie beide eines gewaltsamen Todes gestorben.

War es möglich, daß der lange Arm Ambers aus den Schatten nach ihnen gegriffen hatte? Und daß er wieder zuschlagen wollte?

Wenn er wollte, konnte Benedict so hart und rücksichtslos sein wie wir alle. Vielleicht sogar brutaler. Er würde kämpfen, um seine Familie zu schützen, würde zweifellos auch einen von uns töten, wenn er es für nötig hielt. Er hatte offenbar angenommen, daß es ausreichte, Daras Existenz geheimzuhalten und ihr die Wahrheit zu verschweigen – daß dieser Schutz für sie genügte. Er war sicher wütend auf mich, wenn er erfuhr, was ich getan hatte – ein weiterer Grund zur Eile. Doch ich hatte ihr nicht aus reiner Gemeinheit die Wahrheit gesagt. Ich wollte, daß sie mit dem Leben davonkam; war ich doch der Meinung, daß er bisher nicht den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Wenn ich zurückkam, hatte sie bestimmt Zeit gefunden, die Situation zu überdenken. Sicher bestürmte sie mich dann mit vielen Fragen, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, sie zur Vorsicht anzuhalten und ihr Gründe dafür zu nennen.

Dies alles brauchte eigentlich nicht zu geschehen. War ich erst in Amber, sollte sich die Situation gründlich ändern. Es gab keine andere Möglichkeit . . .

Warum hatte bisher niemand eine Möglichkeit gefunden, die grundlegende Natur des Menschen zu verändern? Selbst die Auslöschung all meiner Erinnerungen und das neue Leben in einer neuen Welt hatte nur wieder zu demselben alten Gorwin geführt. Wenn ich nicht glücklich war mit dem, was ich darstellte, mochte ich wahrlich Grund zum Verzweifeln haben.

An einer ruhigen Stelle des Flusses reinigte ich mich von Staub und Schweiß und dachte gründlich über die schwarze Straße nach, die meinen beiden Brüdern Schwierigkeiten gemacht hatte. Mir fehlten noch viele Informationen.

Während des Bades lag Grayswandir in Reichweite. Ein Familienangehöriger vermag einem Verwandten durch die Schatten zu folgen, solange die Spur noch warm ist. Doch meine Wäsche blieb ungestört, wenn ich auch Grayswandir auf dem Rückweg dreimal einsetzen mußte, allerdings gegen weniger alltägliche Dinge als Brüder.

Aber damit war zu rechnen gewesen, hatte ich doch das Tempo erheblich beschleunigt . . .


Es war noch dunkel, kurz vor Einsetzen der Morgendämmerung, als ich die Ställe hinter dem Landhaus meines Bruders erreichte. Ich kümmerte mich um Star, der zuletzt doch etwas nervös geworden war, redete ihm gut zu und beruhigte ihn, während ich ihn abrieb und ihm schließlich ausreichend Hafer und Wasser hinstellte. Ganelons Feuerdrache grüßte mich aus der benachbarten Box. Ich säuberte mich an der Pumpe im hinteren Teil des Stalls und versuchte mir darüber schlüssig zu werden, wo ich mich zum Schlafen niederlegen sollte.

Ich brauchte dringend Ruhe. Ein paar Stunden Schlaf mochten mich für eine Weile wieder auf die Beine bringen, doch ich gedachte die Augen nicht unter Benedicts Dach zu schließen – so leicht wollte ich mich denn doch nicht hereinlegen lassen. Zwar hatte ich oft geäußert, ich wollte einst im Bett sterben; in Wirklichkeit wünschte ich aber in hohem Alter von einem Elefanten zertrampelt zu werden, während ich mich den Liebesfreuden hingab.

Benedicts Alkohol gegenüber war ich weniger ablehnend eingestellt; ein kräftiger Schluck war geboten. Das Haus lag im Dunkeln; ich trat lautlos ein und tastete mich zur Kommode vor.

Ich schenkte mir ein gutes Glas voll, leerte es, goß nach und ging zum Fenster. Von hier aus hatte ich einen großartigen Ausblick. Das Landhaus stand an einem Hang, und Benedict hatte die Umgebung geschickt gestalten lassen.

»›Weiß liegt die lange Straße im Mondenschein‹«, zitierte ich, überrascht vom Klang meiner Stimme. »›Der Mond steht leer über dem Land . . .‹«

»Kann man wohl sagen. Kann man wohl sagen, Freund Corwin«, hörte ich Ganelon sagen.

»Ich habe Euch gar nicht bemerkt«, sagte ich leise, ohne mich umzudrehen.

»Der Grund dafür ist, daß ich so still sitze«, meinte er.

»Oh«, hauchte ich. »Wie betrunken seid Ihr?«

»Fast gar nicht«, erwiderte er. »Jedenfalls nicht mehr. Aber wenn Ihr ein netter Kerl wärt und mir einen Drink holen würdet . . .«

Ich wandte mich um.

»Warum könnt Ihr Euch nicht selbst versorgen?«

»Mir tun alle Knochen weh!«

»Na gut.«

Ich schenkte ihm ein Glas ein, brachte es ihm. Er hob es langsam, nickte mir dankend zu, trank einen Schluck. »Ah, das tut gut!« seufzte er. »Hoffentlich lassen sich ein paar Körperteile davon betäuben.«

»Ihr habt Euch in einen Kampf verwickeln lassen?« fragte ich.

»Aye«, entgegnete er. »In mehrere.«

»Dann erduldet Eure Wunden wie ein mutiger Soldat, damit ich mir mein Mitleid ersparen kann!«

»Aber ich habe gewonnen!«

»Gott! Wo habt Ihr die Leichen gelassen?«

»Oh, so schlimm war es auch wieder nicht. Ein Mädchen hat mir das angetan.«

»Dann laßt mich sagen, daß Ihr für Euer Geld wohl gut versorgt worden seid.«

»Um so etwas ging es gar nicht. Ich glaube, ich habe uns in ein schlechtes Licht gerückt.«

»Und? Wie denn?«

»Ich wußte nicht, daß sie die Dame des Hauses war. Ich kam zurück und war so richtig in Stimmung. Ich hielt sie für ein Hausmädchen . . .»

»Dara?« fragte ich aufhorchend.

»Aye, so hieß sie. Ich klopfte ihr auf das Hinterteil und ging auf einen Kuß oder zwei aus . . .« Er stöhnte. »Sie packte mich, hob mich vom Boden hoch und hielt mich über ihren Kopf. Dann sagte sie, sie sei die Dame des Hauses – und ließ mich los. Ich wiege fast zwei Zentner, wenn nicht mehr, und es war ein langer Weg nach unten.«

Er trank aus seinem Glas, und ich lachte leise.

»Sie hat auch gekichert«, sagte er reuig. »Sie half mir auf die Beine und war im großen und ganzen nicht unfreundlich. Ich habe mich natürlich entschuldigt . . . Euer Bruder muß ein ziemlich harter Bursche sein. Ein so kräftiges Mädchen ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht über den Weg gelaufen! Was die mit einem Mann so anstellen kann . . .!«

Ehrfürchtiges Staunen schwang in seiner Stimme mit. Langsam schüttelte er den Kopf und kippte den Rest des Alkohols hinunter. »Es war erschreckend – und natürlich schrecklich peinlich«, schloß er.

»Hat sie Eure Entschuldigung angenommen?«

»O ja. Sie war ziemlich aufgeschlossen. Sie sagte mir, ich solle den Zwischenfall vergessen – sie würde dasselbe tun.«

»Warum liegt Ihr dann nicht im Bett und versucht die Sache zu überschlafen?«

»Ich wollte auf Euch warten, falls Ihr noch kämt. Ich wollte Euch abfangen.«

»Nun, das habt Ihr getan.«

Langsam stand er auf und griff nach seinem Glas.

»Wir wollen ins Freie gehen«, sagte er.

»Guter Gedanke.«

Unterwegs ließ er noch die Brandykrugflasche mitgehen, was ich ebenfalls für einen guten Einfall hielt.

Gleich darauf folgten wir einem Weg durch den Garten hinter dem Haus. Schließlich setzte er sich ächzend auf eine alte Steinbank unter einem großen Eichenbaum, füllte unsere Gläser nach und kostete.

»Ah! Eurer Bruder versteht sich auch auf Alkohol«, sagte er.

Ich setzte mich neben ihn und stopfte meine Pfeife.

»Nachdem ich mich entschuldigt und ihr meinen Namen gesagt hatte, kamen wir ein bißchen ins Reden«, fuhr Ganelon fort. »Sobald sie erfuhr, daß ich Euch begleite, wollte sie alle möglichen Sachen von mir wissen – über Amber und Schatten und Euch und die übrige Familie.«

»Habt Ihr dem Mädchen etwas gesagt?« fragte ich und zündete die Pfeife an.

»Völlig unmöglich, selbst wenn ich´s gewollt hätte«, erwiderte er. »Ich weiß ja nichts von den Dingen, die sie wissen wollte.«

»Gut.«

»Doch ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, daß Benedict ihr allzuviel erzählt, und begreife auch den Grund. An Eurer Stelle würde ich sehr darauf achten, was ich ihr sage, Corwin. Sie scheint ausgesprochen neugierig zu sein.«

Ich nickte und blies den Rauch durch die Nase.

»Dafür gibt es einen Grund«, sagte ich. »Einen sehr guten Grund. Es freut mich zu wissen, daß Ihr ein kühles Köpfchen bewahrt, auch wenn Ihr getrunken habt. Vielen Dank für die Nachricht.«

Er zuckte die Achseln und trank von seinem Brandy.

»Ein tüchtiger Sturz ist ziemlich ernüchternd. Außerdem ist Euer Wohlergehen zugleich das meine.«

»Das ist wahr. Findet diese Version Avalons Eure Zustimmung?«

»Version? Dies ist mein Avalon«, sagte er. »Eine neue Generation ist herangewachsen, gewiß, doch es ist derselbe Ort. Ich habe heute das Feld der Dornen besucht, wo ich in Euren Diensten Jack Haileys Truppe besiegte. Es war dieselbe Stelle.«

»Das Feld der Dornen . . .«, sagte ich und erinnerte mich.

»Ja, dies ist mein Avalon«, fuhr er fort. »Und ich kehre später hierher zurück – wenn wir die Sache in Amber überstehen.«

»Ihr wollt noch immer mitkommen?«

»Schon mein ganzes Leben lang habe ich mir gewünscht, Amber zu sehen – na ja, seit ich zum erstenmal davon hörte, und zwar von Euch, in glücklicheren Tagen.«

»Ich weiß eigentlich nicht mehr, was ich damals sagte. Muß eine gute Geschichte gewesen sein.«

»Wir waren an jenem Abend herrlich betrunken, und es kommt mir wie gestern vor, daß Ihr mir – zum Teil unter Tränen – von dem mächtigen Kolvir-Berg und den grünen und goldenen Türmen der Stadt erzähltet, von den Promenaden, Plätzen und Terrassen, Blumen und Brunnen . . . Eure Geschichte kam mir nur kurz vor – doch sie nahm den größten Teil der Nacht in Anspruch. Als wir schließlich ins Bett taumelten, war es schon Morgen. Gott! Ich könnte Euch fast eine Karte der Stadt zeichnen! Ich muß Amber sehen, ehe ich sterbe!«

»Ich erinnere mich nicht an den Abend«, sagte ich langsam. »Ich muß sehr betrunken gewesen sein.«

Er lachte leise. »Oh, wir haben in der guten alten Zeit so allerlei miteinander unternommen!« sagte er. »Und man erinnert sich hier an uns. Doch als Menschen, die vor langer, langer Zeit gelebt haben – und viele Geschichten sind ganz verkehrt. Aber was soll´s! Wer behält die Dinge schon so in Erinnerung, wie sie wirklich waren?«

Ich rauchte stumm vor mich hin und dachte an die Vergangenheit.

». . . Und das alles bringt mich auf ein paar Fragen«, fuhr er fort.

»Bitte.«

»Euer Angriff auf Amber – wird der Euch mit Eurem Bruder Benedict verfeinden?«

»Ich wünschte, ich wüßte darauf eine Antwort«, entgegnete ich. »Zuerst wohl ja. Doch meine Attacke müßte längst abgeschlossen sein, ehe er einem Notruf folgen und Amber erreichen kann. Das heißt – mit Verstärkung. Er allein kann im Nu nach Amber gelangen, wenn ihm von der anderen Seite jemand hilft. Aber das brächte ihn nicht weiter. Nein. Ihm liegt bestimmt nichts daran. Amber zu zerreißen; folglich wird er jeden unterstützen, der es zusammenhalten kann, davon bin ich überzeugt. Wenn ich Eric erst einmal vertrieben habe, ist es sein Wunsch, daß die Auseinandersetzungen sofort beendet werden, und er wird mich auf dem Thron akzeptieren, nur um dieses Ziel zu erreichen. Natürlich billigt er die Tatsache der Thronübernahme nicht.«

»Darauf will ich ja hinaus. Wird es als Folge Eures Vorstoßes später böses Blut mit Benedict geben?«

»Ich glaube nicht. In dieser Sache geht es ausschließlich um Politik – und mein Bruder und ich kennen uns schon seit langer Zeit und sind stets besser miteinander ausgekommen als jeder von uns etwa mit Eric.«

»Ich verstehe. Da wir beide in dieser Sache stecken und Avalon nun Benedict zu gehören scheint, habe ich mir Gedanken gemacht, was er dazu sagen würde, wenn ich eines Tages hierher zurückkehrte. Würde er mich hassen, weil ich Euch geholfen habe?«

»Das möchte ich doch bezweifeln. So etwas entspricht nicht seiner Art.«

»Dann möchte ich meine Frage noch erweitern. Gott weiß, daß ich ein erfahrener Offizier bin, und wenn es uns gelingt, Amber zu erobern, gibt es für diese Tatsache einen guten Beweis. Nachdem nun sein Arm verletzt ist, glaubt Ihr, daß er mich als Feldkommandant seiner Miliz in Betracht ziehen würde? Ich kenne die Gegend hier sehr gut. Ich könnte ihn zum Feld der Dornen führen und ihm den Kampf dort beschreiben. Himmel! Ich würde ihm gut dienen –, so gut wie ich Euch gedient habe.«

Da lachte er.

»Verzeihung. Besser, als ich Euch gedient habe.«

»Das wäre nicht leicht«, erwiderte ich. »Natürlich gefällt mir der Gedanke. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob er Euch jemals vertrauen würde. Er könnte meinen, ich stecke dahinter und wolle ihn hereinlegen.«

»Diese verdammte Politik! Das wollte ich damit nicht sagen! Das Soldatendasein ist mein ein und alles – und ich liebe Avalon.«

»Ich glaube Euch ja. Aber könnte er Euch glauben?«

»Mit nur einem Arm braucht er einen guten Mann. Er könnte . . .«

Ich begann zu lachen und beherrschte mich sofort wieder, denn Laute dieser Art sind noch aus großer Entfernung vernehmbar.

Außerdem ging es hier um Ganelons Gefühle.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Entschuldigt bitte. Ihr versteht das noch nicht richtig. Ihr begreift noch nicht, mit wem wir uns damals am ersten Abend im Zelt unterhalten haben. Euch ist er vielleicht wie ein ganz normaler Mensch vorgekommen – womöglich noch wie ein Krüppel. Aber das ist nicht der Fall. Ich habe Angst vor Benedict. Kein Wesen in den Schatten oder in der Realität kommt ihm gleich. Er ist der Waffenmeister Ambers. Könnt Ihr Euch ein Millennium vorstellen? Tausend Jahre? Mehrere Jahrtausende? Könnt Ihr einen Mann begreifen, der an fast jedem Tag eines solchen Lebens einen Teil seiner Zeit im Umgang mit Waffen, Taktiken und Strategien verbracht hat? Ihr seht ihn hier in einem winzigen Königreich als Kommandant einer kleinen Miliz, mit einem gepflegten Obstgarten hinter dem Haus – laßt Euch dadurch nicht täuschen! Was immer die Militärwissenschaft ausmacht – er hat sie im Kopf. Oft ist er von Schatten zu Schatten gereist und hat unzählige Variationen derselben Schlacht beobachtet, mit kaum veränderten Voraussetzungen, um seine Theorien über die Kriegführung auszuprobieren. Er hat Armeen von solcher Größe befehligt, daß Ihr sie Tag um Tag an Euch vorbeimarschieren lassen könntet, ohne daß ein Ende der Kolonnen abzusehen wäre. Auch wenn ihn der Verlust des Arms jetzt beeinträchtigt, würde ich nicht gegen ihn kämpfen wollen, weder mit Waffen noch mit den bloßen Fäusten. Nur gut, daß er selbst keine Absichten auf den Thron hat – sonst säße er längst darauf. Und wenn er dort säße, hätte ich meinen Anspruch wohl in diesem Augenblick aufgegeben und mich ihm unterworfen. Ich habe Angst vor Benedict.«

Ganelon schwieg eine lange Zeit, und ich trank einen tiefen Schluck, denn mein Hals war trocken geworden.

»Das wußte ich natürlich nicht«, sagte er schließlich. »Ich will es zufrieden sein, wenn er mich nur nach Avalon zurückkehren läßt.«

»Und das tut er bestimmt. Das weiß ich.«

»Dara sagte, sie hätte heute von ihm gehört. Er hat beschlossen, seinen Aufenthalt im Felde abzukürzen. Wahrscheinlich kehrt er schon morgen zurück.«

»Verdammt!« sagte ich und stand auf. »Dann müssen wir uns beeilen! Ich hoffe, Doyle hat das Zeug bereit. Wir müssen ihn morgen früh aufsuchen und die Angelegenheit beschleunigen. Ich möchte fort sein, wenn Benedict zurückkehrt!«

»Ihr habt also die Klunker?«

»Ja.«

»Darf ich sie mal sehen?«

Ich löste den Beutel von meinem Gürtel. Er öffnete die Schnur und nahm mehrere Steine heraus, die er in der linken Hand hielt und mit den Fingerspitzen langsam wendete.

»Die sehen ja nicht gerade umwerfend aus«, sagte er. »Soweit ich sie in diesem Licht überhaupt erkennen kann. Halt! Da ist ein Schimmer! Nein . . .«

»Sie sind natürlich im Rohzustand. Ihr haltet ein Vermögen in den Händen.«

»Erstaunlich«, sagte er, tat die Steine wieder in den Beutel und schloß ihn. »Und es hat Euch keine Mühe gemacht.«

»So leicht war es nun auch wieder nicht.«

»Trotzdem will es mir etwas unfair erscheinen, daß Ihr so schnell an ein Vermögen gekommen seid.«

Er gab mir den Beutel zurück.

»Ich will dafür sorgen, daß Ihr ein Vermögen erhaltet, wenn unsere Arbeit beendet ist«, sagte ich. »Das dürfte ein kleiner Ausgleich sein, falls Benedict Euch keine Stellung anbietet.«

»Nachdem ich nun weiß, wer er ist, bin ich entschlossener denn je, eines Tages für ihn zu arbeiten.«

»Wir wollen sehen, was sich tun läßt.«

»Jawohl. Vielen Dank, Corwin. Wie fädeln wir unsere Abreise ein?«

»Am besten legt Ihr Euch jetzt hin, denn ich werde Euch früh wecken. Star und Feuerdrache mögen es bestimmt nicht, vor einen Wagen gespannt zu werden – doch wir müssen uns eines von Benedicts Fahrzeugen ausborgen und in die Stadt fahren. Vorher sorge ich noch für etwas, das von unserem geordneten Rückzug ablenkt. Dann treiben wir Juwelier Doyle zur Eile an, beschaffen uns unsere Fracht und verschwinden möglichst schnell in die Schatten. Je größer unser Vorsprung ist, desto schwerer wird es Benedict fallen, uns aufzuspüren. Wenn wir einen halben Tag herausholen können, ist es für ihn praktisch unmöglich, uns in die Schatten zu folgen.«

»Warum sollte ihm überhaupt daran liegen, uns zu folgen?«

»Er mißtraut uns – zu Recht. Er wartet darauf, daß ich handle. Er weiß, daß ich mir hier etwas beschaffen will, doch er weiß nicht, was. Er möchte es aber wissen, damit er Gefahr von Amber abwenden kann. Sobald er erkennt, daß wir endgültig verschwunden sind, weiß er, daß wir das Gewünschte bekommen haben, und wird nach uns suchen.«

Ganelon gähnte, reckte sich, trank sein Glas aus.

»Ja«, sagte er schließlich. »Wir sollten uns wirklich hinlegen, um für die große Hatz gerüstet zu sein. Nachdem Ihr mir nun einiges über Benedict anvertraut habt, finde ich jene andere Sache, die ich Euch noch eröffnen wollte, weniger überraschend – wenn ich auch nicht weniger beunruhigt bin.«

»Und das wäre . . .?«

Er stand auf, ergriff vorsichtig die Flasche und deutete den Weg entlang.

»Wenn Ihr in dieser Richtung weitergeht«, sagte er, »vorbei an der Hecke, welche das Ende dieses Grundstücks kennzeichnet, und wenn Ihr dann noch etwa zweihundert Schritte in den angrenzenden Wald hineingeht, erreicht ihr zur Linken eine kleine Gruppe junger Bäume in einer überraschend auftauchenden Senke, etwa vier Fuß tiefer als der Weg. Dort unten befindet sich an frisches Grab – die Erde ist festgetrampelt und mit Blättern bestreut. Ich habe die Stelle vorhin gefunden, als ich dort . . . äh . . . dem Ruf der Natur folgen wollte.«

»Woher wißt Ihr, daß es sich um ein Grab handelt?«

Er lachte leise.

»Wenn in einem Loch Leichen liegen, nennt man das im allgemeinen so. Das Grab ist nicht sehr tief, und ich habe ein bißchen mit einem Ast darin herumgestochert. Vier Leichen liegen dort – drei Männer und eine Frau.«

»Wie lange sind sie schon tot?«

»Nicht sehr lange. Höchstens ein paar Tage.«

»Ihr habt nichts verändert?«

»Ich bin doch kein Dummkopf, Corwin!«

»Es tut mir leid. Aber Eure Entdeckung beunruhigt mich doch sehr, denn ich verstehe sie nicht.«

»Offensichtlich haben diese Leute Benedict verärgert, und er hat sich revanchiert.«

»Möglich. Wie sahen sie aus? Wie sind sie gestorben?«

»Nichts Besonderes zu berichten. Sie waren im mittleren Alter, und man hatte ihnen die Kehle durchgeschnitten – bis auf einen Burschen, der einen Stich in den Leib bekommen hat.«

»Seltsam. Ja, es ist gut, daß wir hier bald verschwinden. Wir haben schon genug eigene Sorgen und können auf die hiesigen Probleme gern verzichten!«

»Wahr gesprochen. Gehen wir zu Bett!«

»Geht ruhig schon vor. Ich bin noch nicht soweit.«

»Befolgt den eigenen Rat – legt Euch zur Ruhe«, sagte er und wandte sich wieder dem Haus zu. »Bleibt nicht etwa auf und macht Euch Sorgen.«

»Nein.«

»Also gute Nacht.«

»Bis morgen.«

Ich blickte ihm nach. Er hatte natürlich recht, doch ich war noch nicht bereit, mein Bewußtsein fahrenzulassen. Noch einmal ging ich meine Pläne durch, um sicherzugehen, daß ich nichts übersehen hatte. Ich leerte das Glas und setzte es auf die Bank. Dann stand ich auf und schlenderte herum, wobei Tabakrauch meinen Kopf umwölkte. Mondlicht fiel herab, und die Morgendämmerung war meiner Schätzung nach noch ein paar Stunden entfernt. Ich war fest entschlossen, den Rest der Nacht im Freien zu verbringen, und hoffte ein passendes Plätzchen zu finden.

Natürlich schritt ich schließlich doch den Weg hinab zu der Gruppe junger Schößlinge. Dort stöberte ich ein bißchen herum und fand tatsächlich frische Erdspuren, aber ich hatte keine Lust, beim Mondenschein Leichen zu exhumieren, und war durchaus bereit, auf Ganelons Aussage hinsichtlich seiner Funde zu vertrauen. Ich bin mir gar nicht sicher, warum ich diese Stelle überhaupt aufsuchte. Vermutlich ein morbider Zug meines Unterbewußtseins. Allerdings wollte ich mich nicht gerade hier zum Schlafen niederlegen.

Dann begab ich mich in die Nordwestecke des Gartens und fand dort ein Eckchen, das vom Haus nicht eingesehen werden konnte. Hecken ragten hoch auf, das Gras war lang und weich und roch angenehm. Ich breitete meinen Mantel aus, setzte mich darauf und zog meine Stiefel aus. Dann schob ich die Füße ins Gras und seufzte.

Lange konnte es nicht mehr dauern. Durch die Schatten zu den Diamanten zu den Waffen nach Amber. Ich war unterwegs. Noch vor einem Jahr hatte ich hilflos in einer Zelle gelegen und war so oft zwischen Vernunft und Wahnsinn hin und her gependelt, daß ich die Grenze zwischen den beiden Zustandsformen förmlich ausradiert hatte. Inzwischen war ich wieder frei und bei Kräften, ich konnte sehen und hatte einen Plan. Ich war eine Gefahr, die sich von neuem bemerkbar zu machen suchte, eine größere Gefahr als je zuvor. Diesmal hing mein Geschick nicht von den Plänen eines anderen ab. Diesmal war ich für Erfolg oder Fehlschlag allein verantwortlich.

Das Gefühl war angenehm – angenehm wie das Gras und auch der Alkohol, der sich inzwischen meines Körpers bemächtigt hatte und mich mit einer warmen Flamme erfüllte. Ich säuberte meine Pfeife, steckte sie fort, reckte mich, gähnte und wollte mich schon zum Schlafen niederlegen.

Da bemerkte ich in der Ferne eine Bewegung, stemmte mich auf die Ellbogen hoch und versuchte genauer hinzuschauen, versuchte die Ursache zu erkennen. Ich brauchte nicht lange zu warten. Eine Gestalt bewegte sich langsam und lautlos auf dem Weg. Immer wieder blieb sie stehen. Sie verschwand unter dem Baum, wo Ganelon und ich gesessen hatten, und war eine Zeitlang meinen Blicken entschwunden. Dann ging sie mehrere Dutzend Schritte weiter, verharrte und schien in meine Richtung zu blicken. Schließlich kam sie auf mich zu.

Sie passierte ein Gebüsch und verließ den Schatten; ihr Gesicht wurde plötzlich vom Mondlicht erfaßt.

Offenbar bemerkte sie die Veränderung, denn sie lächelte in meine Richtung und begann langsamer zu gehen und blieb schließlich vor mir stehen.

»Dein Quartier scheint dir nicht zu liegen, Lord Corwin.«

»O doch«, erwiderte ich. »Nur haben wir eine so schöne Nacht, daß der Naturmensch in mir die Oberhand gewonnen hat.«

»Auch letzte Nacht muß etwas in dir die Oberhand gewonnen haben«, sagte sie. »Trotz des Regens.« Sie setzte sich neben meinen Mantel. »Hast du drinnen geschlafen oder draußen?«

»Die Nacht habe ich im Freien verbracht«, sagte ich. »Doch zum Schlafen bin ich nicht gekommen. Um ehrlich zu sein, habe ich seit unserer letzten Begegnung noch nicht geschlafen.«

»Wo bist du gewesen?«

»Unten am Meer. Ich habe Sand gesiebt.«

»Hört sich trostlos an.«

»Das war es auch.«

»Ich habe viel nachgedacht, seit wir durch die Schatten gegangen sind.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Allzuviel geschlafen habe auch ich nicht. Deshalb habe ich dich nach Hause kommen und mit Ganelon sprechen hören, deshalb wußte ich auch, daß du hier irgendwo sein mußtest, als er allein zurückkam.«

»Richtig vermutet.«

»Ich muß nach Amber, weißt du. Ich muß das Muster beschreiten!«

»Ich weiß. Und das wirst du auch.«

»Bald, Corwin. Bald!«

»Du bist noch jung, Dara. Du hast viel Zeit.«

»Verdammt! Ich habe schon mein ganzes Leben darauf gewartet – ohne es überhaupt zu wissen! Gibt es denn keine Möglichkeit, jetzt zu reisen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Du könntest mich auf kurzem Wege durch die Schatten führen, nach Amber, könntest mich das Muster abschreiten lassen . . .«

»Wenn wir nicht auf der Stelle getötet werden, haben wir vielleicht das Glück, für die erste Zeit in benachbarten Zellen – oder auf benachbarten Streckbänken – unterzukommen, ehe man uns hinrichtet.«

»Weshalb denn nur? Du bist ein Prinz der Stadt. Du hast das Recht zu tun, was dir beliebt.«

Ich lachte.

»Ich bin ein Geächteter, meine Liebe. Wenn ich nach Amber zurückkehre, richtet man mich hin – das wäre noch ein Glück für mich – oder stellt etwas weit Schlimmeres mit mir an. Wenn ich mir allerdings überlege, wie sich meine Gefangenschaft beim letztenmal entwickelt hat, möchte ich doch annehmen, daß man mich schnell tötet. Dieses Entgegenkommen hätte sicher auch meine Begleiterin zu erwarten.«

»Oberon würde so etwas nicht tun.«

»Bei entsprechender Provokation wäre er dazu wohl durchaus in der Lage. Aber diese Frage ist akademisch. Oberon herrscht längst nicht mehr. Mein Bruder Eric sitzt auf dem Thron und nennt sich Herrscher.«

»Wann ist es dazu gekommen?«

»Nach der Zeitrechnung in Amber vor mehreren Jahren.«

»Warum sollte er dich umbringen wollen?«

»Natürlich um zu verhindern, daß ich ihn umbringe.«

»Würdest du ihn denn töten?«

»Ja – und ich tue es auch. Und ich glaube, schon sehr bald.«

Sie sah mich an. »Warum?«

»Damit ich selbst auf den Thron komme. Du mußt wissen, daß der Titel eigentlich mir gehört. Eric hat ihn sich widerrechtlich angeeignet. Ich bin erst vor kurzem aus einer mehrjährigen Gefangenschaft geflohen, die er angeordnet hatte. Er machte allerdings den Fehler, mich am Leben zu lassen, weil er sich an meiner Qual weiden wollte. Er hatte nicht erwartet, daß ich mich befreien und ihn eines Tages erneut herausfordern würde. Ich hatte die Hoffnung selbst schon aufgegeben. Doch seit ich das Glück einer zweiten Chance genieße, möchte ich natürlich seinen Fehler vermeiden.«

»Aber er ist dein Bruder!«

»Nur wenigen Menschen ist diese Tatsache deutlicher bewußt als uns beiden, das kann ich dir versichern.«

»Wie schnell rechnest du damit, dein – Ziel zu erreichen?«

»Wie ich neulich schon sagte: wenn du an die Trümpfe herankommst, solltest du dich in etwa drei Monaten mit mir in Verbindung setzen. Wenn das nicht geht und sich die Dinge plangemäß entwickeln, melde ich mich, sobald ich die Herrschaft angetreten habe. Du müßtest innerhalb eines Jahres die Chance erhalten, das Muster zu beschreiten.«

»Und wenn dir dein Vorhaben nicht gelingt?«

»Dann mußt du länger warten – bis Eric seine Herrschaft gefestigt und Benedict ihn als König anerkannt hat. Dazu ist Benedict im Augenblick nämlich nicht bereit. Er hat sich schon lange nicht mehr in Amber blicken lassen – und Eric glaubt vielleicht, daß er gar nicht mehr unter den Lebenden weilt. Wenn er jetzt in Amber erscheint, muß er sich für oder gegen Eric erklären. Stellt er sich auf Erics Seite, ist Erics weitere Herrschaft gesichert – aber dafür möchte Benedict nicht verantwortlich sein. Spricht er sich gegen ihn aus, muß das Kämpfe zur Folge haben – und das will er ebenfalls nicht. Er selbst hat keine Ambitionen auf die Krone. Nur indem er sich von der Bühne fernhält, kann er die Ruhe gewährleisten, die im Augenblick herrscht. Läßt er sich blicken, ohne Stellung zu beziehen, käme er wahrscheinlich damit durch, doch eine solche Haltung wäre gleichbedeutend mit einer Ablehnung von Erics Anspruch und würde ebenfalls zu Problemen führen. Nähme er dich mit auf die Reise nach Amber, würde er sich damit seines freien Willens berauben, denn Eric würde durch dich Druck auf ihn ausüben.«

»Wenn du den Kampf also verlierst, komme ich vielleicht überhaupt nie nach Amber?«

»Ich beschreibe dir die Situation, wie ich sie sehe. Es sind zweifellos viele Faktoren im Spiel, die ich nicht kenne. Ich bin lange ausgeschaltet gewesen.«

»Du mußt siegen!« sagte sie und fügte abrupt hinzu: »Würde Großvater dich unterstützen?«

»Das bezweifle ich. Aber die Situation wäre dann ganz anders. Ich weiß von seiner Existenz – und von der deinen. Ich werde ihn nicht bitten, mich zu unterstützen. Solange er sich nicht gegen mich stellt, bin ich zufrieden. Und wenn ich schnell, wirksam und erfolgreich handle, wird er nicht gegen mich vorgehen. Es wird ihm nicht gefallen, daß ich über dich Bescheid weiß, aber wenn er erkennt, daß ich dir nicht schaden möchte, ist alles in Ordnung.«

»Warum willst du mich nicht als Hebel benutzen? Ich wäre doch der logischste Ansatzpunkt.«

»Richtig. Aber ich habe inzwischen erkannt, daß ich dich mag«, erwiderte ich. »Das kommt also nicht in Frage.«

Sie lachte. »Ich habe dich bezaubert!« sagte sie.

Ich lachte leise. »Ja, auf deine spezielle zarte Weise – mit dem Degen in der Hand.«

Plötzlich wurde sie wieder ernst.

»Großvater kommt morgen zurück«, sagte sie. »Hat Ganelon dir davon erzählt?«

»Ja.«

»Wie beeinflußt das deine unmittelbaren Pläne?«

»Ich gedenke ein hübsches Stück weg zu sein, wenn er hier eintrifft.«

»Was wird er tun?«

»Zuerst wird er sehr zornig auf dich sein, weil du hier bist. Dann wird er wissen wollen, wie du den Rückweg gefunden hast und wieviel du mir über dich erzählt hast.«

»Was sollte ich ihm antworten?«

»Sag ihm die Wahrheit über deinen Rückweg durch die Schatten. Das gibt ihm Stoff zum Nachdenken. Was deinen Status angeht, so hat dich deine frauliche Intuition hinsichtlich meiner Vertrauenswürdigkeit veranlaßt, mir dasselbe aufzutischen wie Julian und Gérard. Und wenn das Thema unseres Verbleibs zur Sprache kommt – Ganelon und ich haben uns einen Wagen ausgeliehen, um in die Stadt zu fahren. Wir haben gesagt, wir kämen erst spät zurück.«

»Aber wohin wollt ihr wirklich?«

»Oh, in die Stadt – aber nur kurz. Zurückkommen tun wir allerdings nicht. Mein Vorsprung muß möglichst groß sein, denn Benedict kann mich bis zu einem gewissen Punkt durch die Schatten verfolgen.«

»Ich werde ihn nach besten Kräften aufhalten. Wolltest du mich vor deiner Abreise nicht noch aufsuchen?«

»Ich wollte morgen früh noch mit dir besprechen, was wir eben geregelt haben. In deiner Unruhe bist du mir zuvorgekommen.«

»Dann freue ich mich, daß ich – unruhig gewesen bin. Wie gedenkst du Amber zu erobern?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine liebe Dara. Ränkeschmiedende Prinzen müssen ein paar Geheimnisse auch für sich behalten. Und dieses Geheimnis gehört mir allein.«

»Es überrascht mich, daß in Amber soviel Mißtrauen und Mißgunst herrschen.«

»Warum? So ist es doch überall, mehr oder weniger. Du bist stets von solchen Dingen umgeben, denn alle Orte sind nach dem Bilde Ambers geformt.«

»Das ist schwer zu verstehen . . .«

»Eines Tages wirst du es verstehen. Laß es damit zunächst genug sein.«

»Noch etwas. Da ich in der Lage bin, irgendwie mit den Schatten fertigzuwerden, obwohl ich das Muster noch nicht bewältigt habe, sag mir doch bitte genau, wie du das anfängst. Ich möchte mich noch verbessern.«

»Nein!« sagte ich. »Ich darf es nicht zulassen, daß du mit den Schatten herumspielst, ehe du richtig darauf vorbereitet bist. Selbst später ist das noch gefährlich genug – und jeder vorherige Versuch wäre tollkühn. Du hast Glück gehabt, aber jetzt laß lieber die Finger davon. Und dabei will ich dir helfen – indem ich dir nämlich nichts mehr davon erzähle.«

»Na schön!« sagte sie. »Tut mir leid. Dann muß ich wohl warten.«

»Das dürfte ja auch nicht unmöglich sein. Und du bist nicht böse?«

»Nein. Na ja . . .« Sie lachte. »Es würde ja auch nichts nützen. Du weißt sicher, wovon du sprichst. Ich bin froh, daß du um mich besorgt bist.«

Ich brummte etwas vor mich hin, und sie hob die Hand und berührte mich an der Wange. Ich wandte den Kopf zur Seite, und ihr Gesicht näherte sich langsam dem meinen; ihr Lächeln war verschwunden, die Lippen öffneten sich, die Augen waren fast geschlossen. Ich spürte, wie sich ihre Arme um meinen Hals und meine Schultern legten, wie die meinen sie in einer ähnlichen Geste umschlossen. Meine Überraschung ging in der Süße unter, in Wärme und einer gewissen Erregung, der ich bereitwillig nachgab.

Wenn Benedict jemals davon erfuhr, würde er mehr als zornig auf mich sein . . .

Загрузка...