7

Der Wagen quietschte monoton, und die Sonne stand bereits tief im Westen, von wo sie uns noch mit einem grellen heißen Streifen Tageslicht versorgte. Auf der Ladefläche schnarchte Ganelon zwischen den Kisten, und ich beneidete ihn um seine lautstarke Beschäftigung. Er schlief bereits seit mehreren Stunden – während ich schon den dritten Tag ohne Ruhepause auskommen mußte.

Wir hatten etwa fünfzehn Meilen zwischen uns und die Stadt gebracht und fuhren weiter nach Nordosten. Doyle hatte die erbetene Menge noch nicht fertig gehabt, doch Ganelon und ich hatten ihn veranlaßt, seinen Laden zu schließen und die Produktion zu beschleunigen. Dies verzögerte die Aktion unerwünschterweise um mehrere Stunden. Ich war zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen, und bekam auch jetzt kein Auge zu, während ich mich vorsichtig durch die Schatten manövrierte.

Ich kämpfte die Müdigkeit und den Abend zurück und holte einige Wolken herbei, die mir Schatten spendeten. Wir bewegten uns auf einer trockenen, tiefausgefahrenen Lehmstraße. Der Boden hatte eine häßliche gelbe Färbung und knirschte und bröckelte unter den Hufen und Rädern. Braunes Gras hing zu beiden Seiten schlaff herab, und die Bäume waren klein und knorrig, die Rinde dick und bemoost. Wir kamen an zahlreichen Schiefertonformationen vorbei.

Ich hatte Doyle für sein Mittel gut bezahlt und zugleich ein hübsches Armband erworben, das Dara am folgenden Tag zugestellt werden sollte. Meine Diamanten baumelten mir am Gürtel, der Griff Grayswandirs ruhte in der Nähe meiner Hand. Star und Feuerdrache schritten gleichmäßig und energisch aus. Ich war auf dem Weg zum Erfolg.

Ich fragte mich, ob Benedict schon nach Hause zurückgekehrt war. Ich überlegte, wie lange er sich wohl hinsichtlich meines Aufenthaltsortes täuschen ließ. Ich war vor ihm noch lange nicht sicher. Er vermochte einer Spur sehr weit in die Schatten zu folgen – und ich hinterließ eine ziemlich breite Spur. – Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich brauchte den Wagen. Ebenso mußte ich mich mit unserer jetzigen Geschwindigkeit abfinden, war ich doch beileibe nicht in der Verfassung für einen weiteren Höllenritt. Langsam und vorsichtig machte ich mich an die Verschiebungen, im Bewußtsein meiner abgestumpften Sinne und der zunehmenden Erschöpfung und in der Hoffnung, daß die allmähliche Steigerung von Veränderung und Entfernung zwischen mir und Benedict eine Barriere errichtete, die hoffentlich recht schnell unüberwindlich wurde.

Auf den nächsten zwei Meilen suchte ich mir einen Weg vom Spätnachmittag zurück in die Mittagsstunde, die ich allerdings bewölkt hielt, denn ich wünschte mir nur das Licht des Mittags, nicht seine Hitze. Schließlich vermochte ich eine kleine Brise ausfindig zu machen.

Inzwischen mußte ich ständig gegen die Schläfrigkeit ankämpfen. Ich war in Versuchung, Ganelon zu wecken und unsere Flucht zunächst nur in die Entfernung gehen zu lassen, während er kutschierte und ich schlief.

Doch so früh wagte ich das nun doch nicht. Es gab noch zu viele Dinge zu tun.

Ich wünschte mir mehr Tageslicht, zugleich eine bessere Straße. Ich hatte den gottverdammten gelben Lehm satt, und ich mußte auch etwas an den Wolken verändern und durfte dabei nicht unser Ziel vergessen . . .

Ich rieb mir die Augen und atmete mehrmals tief durch. Die Bilder in meinem Kopf begannen zu tanzen, und das ständige dumpfe Pochen der Pferdehufe und das Quietschen des Wagens begannen eine einschläfernde Wirkung auszuüben. Das Rucken und Schwanken nahm ich fast kaum noch wahr, die Zügel hingen mir locker in der Hand, und ich war schon einmal eingeschlummert und hatte sie zu Boden gleiten lassen. Zum Glück schienen die Pferde zu wissen, was ich von ihnen wollte.

Nach einer Weile erklommen wir einen langen, flachen Hang, der in einen Vormittag hineinführte. Der Himmel war inzwischen ziemlich dunkel, und es kostete mehrere Meilen und ein halbes Dutzend Kehren, die Wolkendecke etwas aufzulösen. Ein Unwetter konnte den Weg im Handumdrehen in einen Sumpf verwandeln. Bei dem Gedanken zuckte ich zusammen, ließ den Himmel in Ruhe und konzentrierte mich wieder auf die Straße.

Wir erreichten eine baufällige Brücke, die über ein ausgetrocknetes Flußbett führte. Am gegenüberliegenden Ufer war die Straße glatter und weniger gelb. Im Laufe der nächsten Stunde wurde sie noch dunkler, flacher, härter, und das Gras am Rain nahm eine frische grüne Farbe an.

Doch inzwischen hatte es zu regnen begonnen.

Ich kämpfte eine Zeitlang dagegen an, entschlossen, mein Gras und die dunkle, leichte Straße nicht aufzugeben. Der Kopf begann mir zu schmerzen, doch der Schauer endete eine Viertelmeile später, und die Sonne ließ sich wieder blicken.

Die Sonne . . . o ja, die Sonne.

Wir ratterten weiter und kamen in ein kühles Tal, in dem wir schließlich eine weitere schmale Brücke überquerten. Diesmal zog sich in der Mitte des Flußbetts ein schmaler Wasserlauf hin. Längst hatte ich mir die Zügel um die Handgelenke gebunden, da ich immer wieder für kurze Perioden einschlief. Wie aus großer Entfernung kommend, begann ich mich zu konzentrieren, richtete mich auf, ordnete meine Eindrücke . . .

Aus dem Wald zu meiner Rechten erkundeten die Vögel zögernd den Tag. Tautropfen hingen schimmernd an den Grashalmen, den Blättern. Ein kuhler Hauch machte sich in der Luft bemerkbar, und die Strahlen der Morgensonne fielen schräg zwischen den Bäumen hindurch.

Doch mein Körper ließ sich durch das Erwachen dieses Schattens nicht täuschen, und ich war erleichtert, als sich Ganelon endlich hinter mir reckte und zu fluchen begann. Wäre er nicht bald zu sich gekommen, hätte ich ihn wohl wecken müssen.

Ich hatte genug. Vorsichtig zupfte ich an den Zügeln. Die Pferde begriffen, was ich wollte, und blieben stehen. Ich leierte und zog die Bremse fest, da wir uns auf einer Steigung fanden, und griff nach der Wasserflasche.

»He!« sagte Ganelon, während ich trank. »Laßt mir auch einen Tropfen!«

Ich reichte ihm die Flasche nach hinten.

»Jetzt fahrt Ihr weiter«, sagte ich. »Ich muß schlafen.«

Er trank eine halbe Minute lang und atmete heftig aus.

»Gut«, sagte er, schwang sich über das Wagenbord auf die Straße. »Aber bitte noch einen Augenblick Geduld. Die Natur fordert ihr Recht.«

Er verließ die Straße, und ich kroch nach hinten auf die Ladefläche und streckte mich dort aus, wo er eben noch gelegen hatte. Den Mantel faltete ich mir zu einem Kissen zusammen.

Gleich darauf hörte ich ihn auf den Bock steigen, und es gab einen Ruck, als er die Bremse löste. Ich hörte, wie er mit der Zunge schnalzte und die Zügel aufklatschen ließ.

»Haben wir Morgen?« rief er mir zu.

»Ja.«

»Gut! Dann habe ich ja den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch geschlafen!«

Ich lachte leise.

»Nein – ich habe ein bißchen an den Schatten herumgeschoben«, sagte ich. »Ihr habt nur sechs oder sieben Stunden geruht.«

»Das verstehe ich nicht. Aber egal – ich glaube Euch. Wo sind wir jetzt?«

»Wir fahren noch immer nach Nordosten«, antwortete ich, »und stehen etwa zwanzig Meilen vor der Stadt und vielleicht ein Dutzend Meilen von Benedicts Haus entfernt. Gleichzeitig haben wir uns quer durch die Schatten bewegt.«

»Was soll ich jetzt tun?«

»Folgt der Straße, weiter nichts. Wir brauchen die Entfernung.«

»Könnte uns Benedict noch einholen?«

»Ich glaube ja. Deshalb dürfen wir die Pferde noch nicht ausruhen lassen.«

»Na schön. Soll ich nach etwas Bestimmtem Ausschau halten?«

»Nein.«

»Wann soll ich Euch wecken?«

»Nie.«

Da schwieg er, und während ich darauf wartete, daß mein Bewußtsein aufgesaugt würde, dachte ich natürlich an Dara. Schon während des Tages waren meine Gedanken immer wieder zu ihr gewandert.

Die Erkenntnis war ganz überraschend gekommen. Ich hatte sie nicht als Frau gesehen, bis sie sich in meine Arme sinken ließ und meinen Gedanken in diesem Punkt eine neue Richtung gab. Ich konnte nicht einmal den Alkohol dafür verantwortlich machen, da ich gar nicht viel getrunken hatte. Warum wollte ich die Schuld überhaupt woanders suchen? Weil ich mir irgendwie schuldbewußt vorkam – deswegen. Sie war zu weitläufig mit mir verwandt, als daß ich sie mir wirklich als Familienmitglied vorstellen konnte. Und das war auch nicht der springende Punkt. Ich hatte außerdem nicht das Gefühl, die Situation ausgenutzt zu haben, denn als sie mich suchen kam, wußte sie durchaus, was sie tat. Es waren vielmehr die Umstände, die Zweifel an meinen Motiven aufkommen ließen. Als ich sie kennenlernte und auf den Spaziergang durch die Schatten führte, hatte ich mehr erringen wollen als ihr Vertrauen und ihre Freundschaft. Ich versuchte einen Teil ihrer Treue, ihres Vertrauens, ihrer Zuneigung von Benedict auf mich zu lenken. Ich hatte sie auf meiner Seite sehen wollen, als eine mögliche Verbündete in diesem Haus, das schnell zum feindlichen Lager werden konnte. Ich hatte gehofft, sie im Notfall ausnützen zu können. All dies stimmte. Doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ich sie auf jene Weise besessen hatte, nur um diesen Zielen näherzukommen, als Mittel zum Zweck. Vielleicht aber doch – allerdings nicht nur. Jedenfalls machte mich diese Erkenntnis unruhig und weckte das Gefühl, niederträchtig gehandelt zu haben. Warum? Ich hatte in meinem Leben viele Dinge getan, die objektiv betrachtet viel schlimmer waren – und diese Dinge machten mir nicht sonderlich zu schaffen. Ich kämpfte mit mir und rang mich nur mühsam zu der Antwort durch, an der kein Weg vorbeiführte. Mir lag an dem Mädchen – ganz einfach. Mein Gefühl war etwas anderes als die Freundschaft, die mich mit Lorraine verbunden hatte, eine Freundschaft mit einem Hauch weltmüden Einvernehmens zwischen zwei Veteranen; auch unterschied sich mein Empfinden von der beiläufigen Sinnlichkeit, die kurz zwischen mir und Moire aufgeflackert war, ehe ich zum zweitenmal durch das Muster schritt. Dieses Gefühl war ganz anders. Ich kannte Dara erst so kurze Zeit, daß es mir fast unlogisch vorkam. Ich war ein Mann, der Jahrhunderte und Dutzende von Frauen hinter sich hatte. Und doch . . . hatte ich seit Jahrhunderten nicht mehr so empfunden. Ich hatte dieses Gefühl vergessen – bis es sich jetzt wieder regte. Ich wollte mich nicht in sie verlieben. Noch nicht. Vielleicht später. Am besten überhaupt nicht. Sie war nicht die richtige für mich. Im Grunde war sie noch ein Kind. Alles, was sie sich wünschte, alles, was sie neu und faszinierend fand, hatte ich irgendwann bereits getan. Nein, unsere Verbindung stimmte nicht. Es war nicht richtig, mich in sie zu verlieben. Ich hätte es eigentlich nicht dazu kommen lassen dürfen . . .

Ganelon summte eine freche Melodie vor sich hin. Der Wagen hüpfte und knirschte, wandte sich bergauf. Die Sonne strahlte mir ins Gesicht, und ich bedeckte das Gesicht mit dem Unterarm. Irgendwo in dieser Gegend griff endlich die Bewußtlosigkeit zu und zog ihre Decke über mich.


Als ich erwachte, war die Mittagsstunde vorbei, und ich fühlte mich wie gerädert. Ich nahm einen großen Schluck aus der Flasche, schüttete mir etwas in die Handfläche und rieb mir damit die Augen aus, fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Dann sah ich mir die Umgebung an. Viel Grün erstreckte sich auf allen Seiten, kleine Baumgruppen und offene Flächen mit hohem Gras. Wir fuhren auf einem Lehmweg dahin, der hier allerdings ziemlich fest und glatt war. Der Himmel war bis auf einige Wolken klar; Licht und Schatten wechselten in ziemlich regelmäßigen Abständen. Ein leichter Wind wehte.

»Weilt Ihr wieder unter den Lebenden? Gut!« sagte Ganelon, als ich über die Trennwand nach vorn kletterte und mich neben ihn setzte . . .

»Die Pferde werden langsam müde, Corwin, und ich möchte mir gern etwas die Beine vertreten«, sagte er. »Außerdem bin ich sehr hungrig. Ihr nicht auch?«

»Ja. Haltet dort vorn links im Schatten. Wir wollen ein Weilchen rasten.«

»Ich möchte aber gern noch ein Stück weiterfahren«, sagte er.

»Hat das einen besonderen Grund?«

»Ja. Ich möchte Euch etwas zeigen.«

»Na schön.«

Wir fuhren vielleicht eine halbe Meile weiter und erreichten schließlich eine Kurve, die uns ein wenig mehr nach Norden führte. Nach kurzer Zeit kamen wir an einen Hügel, von dessen Gipfel aus wir eine weitere Anhöhe erblickten, die sich noch höher emporschwang.

»Wie weit wollt Ihr denn noch fahren?« fragte ich.

»Bis auf den nächsten Hügel«, erwiderte er. »Vielleicht können wir es von dort ausmachen.«

»Na gut.«

Die Pferde mühten sich mit der Steigung des zweiten Hügels, und ich stieg aus und half von hinten nach. Als wir den Gipfel endlich erreichten, zügelte Ganelon die Pferde und zog die Bremse fest. Er stieg auf die Ladefläche des. Wagens und stellte sich auf eine Kiste. Nach links blickend, legte er die Hand über die Augen.

»Kommt doch einmal herauf, Corwin!« rief er.

Ich kletterte über die hintere Klappe, und er hockte sich hin und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, und er half mir auf die Kiste. Ich folgte seinem erhobenen Finger mit den Blicken.

Etwa eine dreiviertel Meile entfernt verlief von links nach rechts, soweit ich schauen konnte, ein breiter schwarzer Streifen. Wir befanden uns mehrere Meter höher als die Erscheinung und vermochten sie etwa eine halbe Meile weit gut zu überschauen. Der Durchmesser betrug mehrere hundert Fuß und schien konstant zu bleiben, obwohl sich der Streifen auf der Strecke, die wir einsehen konnten, zweimal drehte und wendete. In der Erscheinung standen Bäume – allerdings völlig schwarz. Auf dem Streifen schien Bewegung zu herrschen, doch ich vermochte nicht zu sagen, was dort geschah. Vielleicht war es nur der Wind, der das schwarze Gras am Rand bewegte. Doch in der ganzen Erscheinung schien sich zugleich etwas zu regen, dahinzufließen – wie Strömungen in einem flachen, dunklen Fluß.

»Was ist das?« fragte ich.

»Ich hoffte, daß Ihr mir das sagen könntet«, erwiderte Ganelon. »Ich nahm an, daß es vielleicht zu Eurem Schatten-Zauber gehört.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war ziemlich schläfrig, doch ich würde mich erinnern, wenn ich so etwas Seltsames eingefädelt hätte. Woher habt Ihr gewußt, daß das Ding hier sein würde?«

»Während Ihr schlieft, sind wir dem Streifen schon mehrmals nahe gekommen und haben uns wieder von ihm entfernt. Ich mag die Aura nicht, die davon ausgeht – ein allzu vertrautes Gefühl. Erinnert Euch das nicht an etwas?«

»Ja, allerdings. Leider.«

Er nickte. »Dieses Ding fühlt sich an wie der verdammte Kreis in Lorraine. Ja, dem ist es sehr ähnlich.«

»Die schwarze Straße . . .« sagte ich.

»Was?«

»Die schwarze Straße«, wiederholte ich. »Ich wußte nicht, was sie meinte, als sie davon sprach, aber jetzt beginne ich zu verstehen. Dies ist leider keine angenehme Entdeckung.«

»Ein anderes schlechtes Vorzeichen?«

»Ich fürchte ja.«

Er fluchte. »Wird es uns sofort Ärger machen?«

»Ich glaube nicht, aber genau kann man das nie wissen.«

Er stieg von der Kiste, und ich folgte ihm.

»Wir wollen die Pferde grasen lassen«, sagte er, »und dann unsere Mägen versorgen.«

»Ja.«

Wir gingen nach vorn, und er nahm die Zügel. Am Fuße des Hügels fanden wir eine gute Stelle zur Rast.

Wir verweilten dort fast eine Stunde lang. Die schwarze Straße erwähnten wir nicht, obwohl ich mich in Gedanken sehr damit beschäftigte. Natürlich mußte ich mir das Ding noch näher ansehen.

Als wir zur Weiterfahrt bereit waren, übernahm ich wieder die Zügel. Die Pferde, die sich etwas erholt hatten, zogen energisch an.

Ganelon saß links von mir und war noch immer ziemlich gesprächig. Erst mit der Zeit ging mir auf, wieviel ihm seine seltsame Rückkehr bedeutet hatte. Er hatte viele Orte besucht, die ihm aus der Zeit seines Räuberlebens bekannt waren, außerdem Schlachtfelder, auf denen er sich in seiner ehrbaren Zeit ausgezeichnet hatte. Seine Erinnerungen rührten mich in mancher Hinsicht. Eine ungewöhnliche Mischung von Gold und Ton war dieser Mann. Er hätte ein Angehöriger Ambers sein sollen.

Die Meilen glitten schnell vorbei, und wir kamen allmählich der schwarzen Straße näher, als ich plötzlich einen vertrauten Stich im Kopf verspürte.

Ich reichte Ganelon die Zügel.

»Nehmt!« sagte ich. »Fahrt weiter!«

»Was ist?«

»Später! Fahrt!«

»Soll ich die Pferde antreiben?«

»Nein. Fahrt ganz normal weiter. Seid mal ein paar Minuten still.«

Ich schloß die Augen, stemmte den Kopf in die Hände, leerte meinen Geist und errichtete eine Mauer um die entstehende Leere. Der Ansturm ließ nach und setzte erneut mit voller Macht ein. Ich blockierte ihn ein zweitesmal. Es folgte eine dritte Welle, die ich ebenfalls stoppte. Dann war es vorbei.

Ich seufzte und massierte mir die Augen.

»Alles in Ordnung«, sagte ich.

»Was war los?«

»Jemand versuchte sich auf einem ganz besonderen Wege mit mir in Verbindung zu setzen. Mit ziemlicher Sicherheit war es Benedict. Offenbar hat er eben ein paar Dinge herausgefunden, die ihm den Wunsch eingeben könnten, uns aufzuhalten. Ich übernehme wieder die Zügel. Ich fürchte, daß er uns bald auf der Spur sein wird.«

Ganelon überließ mir die Führung des Wagens.

»Wie stehen unsere Chancen?«

»Mittlerweile nicht schlecht, würde ich sagen. Wir haben immerhin schon ein hübsches Stück zurückgelegt. Sobald das Schwindelgefühl in meinem Kopf aufgehört hat, mische ich noch ein paar Schatten durcheinander.«

Ich steuerte den Wagen, und der Weg wand sich hierhin und dorthin, verlief eine Zeitlang parallel zu der schwarzen Straße und rückte schließlich näher heran. Wir waren nur noch wenige hundert Meter von ihr entfernt.

Ganelon betrachtete die Erscheinung stumm und sagte schließlich: »Das Ding erinnert mich zu stark an jenen anderen Ort. Die winzigen Nebelfetzen, die um alles herumwallen, das Gefühl, daß sich jemand links oder rechts von einem bewegt, ohne daß man ihn richtig sehen kann . . .«

Ich biß mir auf die Lippen. Der Schweiß brach mir aus. Ich versuchte mich von dem Ding durch die Schatten fortzubewegen – doch ich fühlte Widerstand. Nicht dasselbe Gefühl monolithischer Unbeweglichkeit, wie es eintritt, wenn man in Amber durch die Schatten zu treten versucht. Nein, es war etwas völlig anderes. Es war ein Gefühl der – Unentrinnbarkeit.

Dabei bewegten wir uns tatsächlich durch die Schatten. Die Sonne wanderte über den Himmel, rückte zur Mittagsstunde zurück – der Gedanke an eine Nacht in der Nähe des schwarzen Streifens mißfiel mir –, und der Himmel verlor etwas von seiner blauen Farbe, die Bäume schossen höher neben uns empor, und in der Ferne ragten Berge auf.

War es möglich, daß sich die Straße durch mehrere Schatten zog?

Es mußte so sein. Warum sonst hätten Julian und Gérard sie finden und sich so dafür interessieren sollen?

Lange Zeit fuhren wir parallel zu ihr und kamen ihr allmählich immer näher. Bald trennten uns noch etwa hundert Fuß. Dann fünfzig . . .

. . . Und ich hatte es geahnt: schließlich kam der Augenblick, da sich die Pfade kreuzten!

Ich zog die Zügel an. Ich stopfte meine Pfeife, zündete sie an und rauchte vor mich hin, während ich die Erscheinung studierte. Star und Feuerdrache mochten das schwarze Gebiet offenbar nicht, das unseren Weg kreuzte. Sie wieherten und wollten zur Seite ausbrechen.

Wenn wir auf der Straße bleiben wollten, mußten wir diagonal über die schwarze Fläche fahren. Ein Teil des Terrains lag außerdem hinter einer Reihe Felsen und konnte nicht eingesehen werden. Hohes Gras stand am Rande des schwarzen Gebiets, da und dort auch ein Büschel am Fuße der Felsformationen. Nebelschwaden bewegten sich dazwischen, und über den Senken hingen Dunstwolken. Der Himmel, den man durch die Atmosphäre über dem Streifen sehen konnte, war um etliches dunkler und hatte ein seltsam rußiges, verschmiertes Aussehen. Eine unnatürlich anmutende Stille lag vor uns, fast als sei hier ein unsichtbares Wesen zum Angriff bereit und habe den Atem angehalten.

Dann hörten wir den Schrei. Es war die Stimme eines Mädchens! Der alte Trick mit der Frau in Not?

Er kam von irgendwo rechts, von einer Stelle hinter den Felsen. Die Sache roch mir nach einer Falle. Aber Himmel! Vielleicht war dort wirklich jemand in Gefahr! Ich warf Ganelon die Zügel zu, sprang zu Boden und zog Grayswandir.

»Ich sehe mich mal um«, sagte ich, schritt nach rechts und sprang über den Graben, der neben der Straße verlief.

»Beeilt Euch.«

Ich drängte mich durch lichtes Unterholz und erstieg einen Felshang. Auf der gegenüberliegenden Seite mußte ich ein weiteres Gebüsch überwinden und erreichte schließlich eine höhere Felsformation. Von neuem ein Schrei, und diesmal hörte ich auch andere Geräusche.

Schließlich war ich auf der Anhöhe und vermochte ziemlich weit zu blicken.

Das schwarze Territorium begann etwa vierzig Fuß unter mir, und die Szene, die meine Aufmerksamkeit erregte, spielte sich ungefähr hundertundfünfzig Fuß jenseits der Grenze ab.

Bis auf die Flammen war es ein einfarbiges Bild. Eine Frau mit schwarzem Haar, das ihr bis zu den Hüften herabhing, war an einen der schwarzen Bäume gefesselt, glimmende Äste lagen um ihre Füße aufgehäuft. Ein halbes Dutzend haariger Albinomänner, die schon fast völlig nackt waren und sich beim Herumtanzen weiter entkleideten, stocherten knurrend und lachend mit Stöcken nach der Frau und griffen sich dabei auch immer wieder an die Genitalien. Die Flammen waren inzwischen so hoch, daß sie das weiße Gewand der Frau versengten und den Stoff glimmen ließen. Das Kleid war zerrissen, so daß ich ihren herrlich geformten Körper erkennen konnte, während der Rauch sie dermaßen einhüllte, daß ihr Gesicht nicht auszumachen war.

Ich stürzte vorwärts, betrat das Gebiet der schwarzen Straße, sprang über die langen Grasbüschel und warf mich zwischen die Gestalten. Ich köpfte den ersten und spießte einen zweiten auf, ehe mein Angriff überhaupt bemerkt wurde. Die anderen drehten sich um und hieben brüllend mit den Stöcken auf mich ein.

Grayswandir wütete zwischen ihnen, bis sie zerstückelt zu Boden sanken und keinen Ton mehr von sich gaben. Ihr Blut war schwarz.

Ich wandte mich um und stieß mit einem Fußtritt das Feuer beiseite. Dann näherte ich mich der Frau und durchtrennte ihre Fesseln. Schluchzend fiel sie mir in die Arme.

Erst jetzt bemerkte ich ihr Gesicht – oder eher das Fehlen eines Gesichts. Sie trug eine elfenbeinerne Vollmaske, eine Maske ohne jede Andeutung von Gesichtszügen, bis auf zwei winzige rechteckige Schlitze anstelle der Augen.

Ich zog sie von dem Feuer und den Toten fort. Sie klammerte sich schweratmend an mich, wobei sie sich mit dem ganzen Körper an mich drängte. Nach einer mir angemessen erscheinenden Zeit versuchte ich mich von ihr zu lösen. Doch sie gedachte nicht, mich loszulassen und entwickelte dabei überraschende Kräfte.

»Schon gut«, sagte ich. Sie antwortete nicht.

Ihre festen Hände bewegten sich fordernd über meinen Körper, vollführten rauhe Liebkosungen, die eine überraschende Wirkung auf mich hatten. Von Sekunde zu Sekunde stieg ihre Anziehung auf mich. Ich ertappte mich dabei, daß ich ihr Haar und ihren begehrlichen Körper streichelte, ihre festen Brüste, ihren Leib.

»Es ist alles vorbei«, sagte ich mit rauher Stimme. »Wer seid Ihr? Warum wollte man Euch verbrennen? Was waren das für Männer?«

Doch sie antwortete nicht. Sie hatte zu schluchzen aufgehört, wenn sie auch noch immer heftig atmete, nun allerdings aus anderen Gründen. Sie drängte ihren Leib fordernd an mich.

»Warum tragt Ihr die Maske?« flüsterte ich.

Ich griff danach, aber sie warf den Kopf zurück.

Doch dieses Detail kam mir nicht sonderlich wichtig vor. Während ein nüchterner, logischer Teil meines Ich genau wußte, daß diese Leidenschaft unvernünftig war, war ich zugleich so machtlos wie die Götter der Epikuräer. Ich wollte sie auf der Stelle besitzen und war dazu bereit. Meine Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Ich wollte nicht länger zögern, nestelte an meinen Hosen . . .

In diesem Augenblick hörte ich Ganelon meinen Namen rufen und versuchte, mich in seine Richtung zu wenden.

Doch sie hielt mich zurück.

Ihre Kräfte verblüfften mich.

»Kind von Amber«, ertönte ihre vertraut klingende Stimme. »Wir schulden dir dies für die Dinge, die du uns gegeben hast, und wir werden dich jetzt ganz besitzen.«

Wieder drang Ganelons Stimme an meine Ohren, eine endlose Hut von Verwünschungen.

Ich lehnte mich unter Aufbietung sämtlicher Kräfte gegen ihren Griff auf, der schwächer wurde. Meine Hand schoß vor, und ich riß die Maske ab.

Als ich mich befreite, ertönte ein kurzer zorniger Schrei – und vier letzte, verhallende Worte:

»Amber muß vernichtet werden!«

Hinter der Maske war kein Gesicht. Dahinter war überhaupt nichts.

Das Gewand der Frau sank schlaff über meinen Arm. Sie oder es – oder was immer es war – war verschwunden.

Ich machte hastig kehrt und sah Ganelon am Rand der schwarzen Fläche liegen. Seine Beine waren in unnatürlicher Haltung verdreht. Seine Klinge hob und senkte sich langsam, doch ich vermochte nicht zu erkennen, mit was er kämpfte. Ich eilte zu ihm.

Das lange schwarze Gras, das ich übersprungen hatte, lag um seine Knöchel und Unterschenkel. Während er sich freizuhacken versuchte, wippten andere Grashalme hin und her, als wollten sie seinen Schwertarm einfangen. Es war ihm gelungen, sein rechtes Bein teilweise zu befreien, und ich beugte mich vor und vermochte seine Arbeit zu vollenden.

Dann trat ich außer Reichweite der Gräser hinter ihn und warf die Maske fort, die ich, wie ich in diesem Augenblick erkannte, noch immer umklammert hielt. Sie fiel innerhalb der schwarzen Fläche zu Boden und begann sofort zu glimmen.

Ich packte Ganelon unter den Armen und versuchte ihn fortzuzerren. Das Gras widersetzte sich, doch ich riß ihn los. Ich schleppte ihn über das restliche Gras, das uns von der friedlicheren grünen Abart am Straßenrand trennte.

Er kam wieder auf die Füße, mußte sich aber noch schwer auf mich stützen. Er bückte sich und beklopfte seine Beine.

»Betäubt«, sagte er. »Mir sind die Beine eingeschlafen.«

Ich half ihm zum Wagen zurück. Er klammerte sich am Wagenkasten fest und begann mit den Füßen aufzustapfen.

»Es kribbelt!« verkündete er. »Ich habe langsam wieder Gefühl darin . . . autsch!«

Schließlich humpelte er zum vorderen Teil des Wagens. Ich half ihm auf den Kutschbock und folgte ihm.

»Das ist schon besser«, seufzte er. »Meine Füße kommen langsam wieder zu sich. Das Zeug hat mir förmlich die Kraft aus den Beinen gesogen – und aus dem Rest meines Körpers. Was war los?«

»Unser schlechtes Omen hat sein Versprechen wahrgemacht.«

»Was nun?«

Ich ergriff die Zügel und löste die Bremse.

»Wir fahren hinüber«, sagte ich trotzig. »Ich muß mehr über diese Erscheinung erfahren. Haltet Eure Klinge bereit.«

Er knurrte etwas vor sich hin und legte sich die Waffe über die Knie. Den Pferden gefiel mein Kommando gar nicht, doch als ich ihre Flanken mit der Peitsche tätschelte, setzten sie sich in Bewegung.

Wir erreichten das schwarze Territorium, und mir war, als wären wir plötzlich in eine Wochenschau aus dem Zweiten Weltkrieg geraten. Vage, doch ganz in der Nähe, düster, deprimierend, bedrückend. Selbst das Quietschen des Wagens und der Hufschlag klangen irgendwie gedämpft, schienen plötzlich aus der Ferne zu kommen. In meinen Ohren setzte ein schwaches, nachdrückliches Klingen ein. Das Gras am Straßenrand bewegte sich, wenn wir vorbeifuhren, doch ich achtete darauf, den Halmen nicht zu nahe zu kommen. Wir durchquerten mehrere Nebelfelder. Obwohl sie geruchlos waren, vermochten wir kaum darin zu atmen. Als wir uns dem ersten Hügel näherten, begann ich mit der Verschiebung, die uns durch die Schatten bringen sollte.

Wir umrundeten den Hügel.

Nichts.

Die düstere Höllenszene hatte sich nicht verändert.

Da wurde ich wütend. Aus dem Gedächtnis zeichnete ich das Muster auf und hielt es mir flammend vor das innere Auge. Und wieder probierte ich eine Verschiebung.

Sofort begann mein Kopf zu schmerzen. Von der Stirn bis zum Hinterkopf schoß ein Schmerz und verharrte dort wie ein glühender Draht. Aber das stachelte meinen Zorn nur noch mehr an und verstärkte meine Bemühungen, die schwarze Straße im Nichts verschwinden zu lassen.

Die Umgebung verschwamm. Der Nebel verdichtete sich, wallte in Schwaden über die Straße. Die Umrisse wurden undeutlich. Ich schüttelte die Zügel, und die Pferde griffen schneller aus. In meinem Kopf begann es zu dröhnen, als wollte mir der Schädel zerspringen.

Statt dessen zersprang sekundenlang alles andere . . .

Der Boden erbebte, begann da und dort Risse zu zeigen – aber es war mehr als nur das. Durch alles schien ein plötzliches Zucken zu gehen, und die Risse waren nicht nur bloße Bruchstellen im Boden. Es war, als habe jemand gegen einen Tisch getreten, auf dem sich ein lose zusammengelegtes Puzzle befunden hatte. Lücken erschienen in der ganzen Szene: hier ein grüner Stamm, dort ein Wasserflirren, die Ecke eines blauen Himmels, absolute Schwärze, ein weißes Nichts, die halbe Front eines Backsteinhauses, Gesichter hinter einem Fenster, Feuer, ein Stück sternenheller Himmel . . .

Die Pferde jagten dahin, und ich mußte an mich halten, um vor Schmerz nicht aufzuschreien.

Ein Chaos an Geräuschen – tierisch, menschlich, mechanisch – umtoste uns. Ich glaubte Ganelon fluchen zu hören, aber ich war meiner Sache nicht sicher.

Ich glaubte, der Schmerz müßte mir das Bewußtsein rauben, doch aus Sturheit und Zorn beschloß ich, so lange wie möglich durchzuhalten. Ich konzentrierte mich auf das Muster, so wie ein Sterbender sich vielleicht an seinen Gott klammert, und setzte meinen gesamten Willen gegen die Existenz der schwarzen Straße.

Im nächsten Augenblick war der Druck von mir gewichen, und die Pferde stürmten dahin, zerrten uns über ein grünes Feld. Ganelon griff nach den Zügeln, doch ich zog sie bereits an und brüllte den Pferden zu, bis sie anhielten.

Wir hatten die schwarze Straße überquert.

Ich drehte mich um und blickte zurück. Die Szene war schwankend und zuckend, als betrachtete ich sie durch aufgewühltes Wasser. Unser Weg durch die Schwärze zeichnete sich jedoch scharf und reglos ab, wie eine Brücke oder ein Damm, und das Gras am Rand war grün.

»Das war ja schlimmer«, sagte Ganelon, »als der Ritt, auf dem Ihr mich damals ins Exil führtet.«

»Das glaube ich auch«, sagte ich und redete leise auf die Pferde ein, brachte sie schließlich dazu, auf den Weg zurückzukehren und weiterzutrotten.

Die Welt war nun wieder heller. Wir bewegten uns zwischen großen Pinien, deren frischer Geruch in der Luft lag. Eichhörnchen und Vögel bewegten sich in den Ästen. Der Boden war dunkler und fruchtbarer. Wir schienen uns in größerer Höhe zu befinden als vor der Überquerung. Es freute mich, daß wir wirklich eine Verschiebung durchgemacht hatten – und noch dazu in der gewünschten Richtung.

Der Weg krümmte sich, führte ein Stück zurück, verlief wieder gerade. Ab und zu vermochten wir einen Blick auf die schwarze Straße zu werfen. Sie lag nicht allzuweit entfernt zu unserer Rechten. Noch immer fuhren wir etwa parallel dazu. Die Erscheinung zog sich eindeutig durch sämtliche Schatten. Soweit wir erkennen konnten, schien sie wieder in ihren unheimlichen Normalzustand zurückgefunden zu haben.

Meine Kopfschmerzen ließen nach, meine Stimmung verbesserte sich etwas. Wir erreichten eine höherliegende Fläche und hatten einen herrlichen Ausblick auf ein großes Waldgebiet, das mich an Teile von Pennsylvanien erinnerte, durch die ich vor vielen Jahren gefahren war.

Ich reckte mich. »Wie geht es Euren Beinen?« fragte ich.

»Gut«, sagte Ganelon, der sich umgedreht hatte. »Ich kann ziemlich weit schauen, Corwin . . .«

»Ja?«

»Und ich sehe einen Reiter, der schnell dahingaloppiert.«

Ich stand auf und drehte mich um. Vielleicht stöhnte ich, als ich mich wieder auf den Sitz fallen ließ und die Zügel schüttelte.

Er war noch zu weit entfernt, um deutlich sichtbar zu sein – auf der anderen Seite der schwarzen Straße. Aber wer konnte es sonst sein, wer sonst konnte mit solchem Tempo unseren Spuren folgen?

Ich fluchte.

Wir näherten uns einer Anhöhe. Ich wandte mich an Ganelon und sagte: »Macht Euch auf einen weiteren Höllenritt gefaßt.«

»Ist das Benedict?«

»Ich glaube schon. Wir haben vorhin zuviel Zeit verloren. Allein kann er sich sehr schnell bewegen – und besonders durch die Schatten.«

»Glaubt Ihr, daß wir ihn noch abschütteln können?«

»Das werden wir feststellen«, erwiderte ich. »Und zwar ziemlich bald.«

Ich trieb die Pferde mit einem Schnalzen an und schüttelte erneut die Zügel. Wir erreichten die Kuppe, und ein eisiger Wind fuhr uns entgegen. Der Weg flachte ab, und der Schatten eines Felsbrocken zu unserer Linken verdunkelte den Himmel. Als wir daran vorbei waren, hielt sich die Dunkelheit, und feine Schneekristalle prickelten uns auf Gesichtern und Händen.

Wenige Minuten später fuhren wir wieder bergab, und das Schneetreiben war zu einem tobenden Sturm geworden. Der Wind kreischte uns in den Ohren, und der Wagen ratterte und rutschte zur Seite weg. Hastig richtete ich ihn wieder aus. Rasch waren wir von Schneewehen umgeben, und die Straße war weiß. Unser Atem dampfte, Eis schimmerte an Bäumen und Felsen.

Bewegung, vorübergehende Verwirrung der Sinne. Das brauchten wir jetzt . . .

Wir rasten weiter, und der Wind bedrängte uns, schmerzte und brüllte. Die Schneewehen rückten bis auf die Straße vor.

Wir kamen um eine Kurve und verließen den Sturm. Noch war die Welt ein eisbedecktes Etwas, noch wehte dann und wann eine Schneeflocke vorbei, doch die Sonne löste sich aus den Wolken, schüttete ihr Licht über das Land, und wieder fuhren wir bergab . . .

. . . Kamen durch einen Nebel und erreichten eine schroffe schneelose Felseinöde . . .

. . . Wir hielten uns rechts, gelangten wieder in die Sonne, folgten einem gewundenen Weg durch hohes, glattes, blaugraues Gestein auf eine Ebene . . .

. . . Wo fern zur Rechten die schwarze Straße Schritt hielt. Hitzewogen überrollten uns, und das Land dampfte. Blasen platzten in brodelnden Massen, die die Krater füllten, entließen ihre giftigen Dämpfe in die stickige Luft. Flache Pfützen erstreckten sich vor uns wie eine Handvoll verstreuter alter Bronzemünzen.

Die Pferde galoppierten dahin, halb irrsinnig vor Angst, als neben dem Weg Geysire auszubrechen begannen. Kochendheißes Wasser sprühte in schimmernden, dampfenden Kaskaden über die Fahrspur, verfehlte uns knapp. Der Himmel schien aus Messing zu bestehen, und die Sonne sah aus wie ein verfaulter Apfel. Der Wind war ein hechelnder Hund mit übelriechendem Atem.

Der Boden erzitterte, und in der Ferne spuckte ein Berg seinen Gipfel zum Himmel empor und warf ihm Feuersbrünste hinterher. Ein ohrenbetäubendes Krachen folgte, und Luftwogen bestürmten uns.

Der Wagen schwankte und brach aus der Spur.

Wir rasten auf eine Reihe schwarzer Berge zu, und die ganze Zeit über bebte der Boden, und der Wind bedrängte uns mit der Stärke eines Hurrikans. Als sich das, was von dem Weg noch übrig war, in die falsche Richtung wandte, verließen wir die Spur und fuhren holpernd und dröhnend über die Ebene. Die Berge wuchsen langsam vor uns empor, tanzten in der aufgewühlten Luft.

Ich wandte mich um, als ich Ganelons Hand auf meinem Arm spürte. Er brüllte irgend etwas, doch ich vermochte ihn nicht zu verstehen. Dann deutete er nach hinten, und ich blickte in die Richtung. Aber dort zeigte sich nichts Überraschendes. Die Luft war turbulent, bewegte Staub, Erdbrocken und Asche. Ich zuckte die Achseln und konzentrierte mich wieder auf die Berge.

Am Fuße der nächsten Anhöhe tat sich eine tiefe Dunkelheit auf. Ich hielt darauf zu.

Als sich der Boden wieder abwärts senkte, wuchs die Schwärze vor mir empor, eine gewaltige Höhlenöffnung, verdeckt durch einen Vorhang aus Staub und fallenden Steinen.

Ich ließ die Peitsche knallen, und wir legten die letzten fünf- oder sechshundert Meter zurück und stürzten uns hinein.

Dann hielt ich die Pferde zurück, ließ sie im Schritt gehen.

Der Weg führte weiter nach unten. Wir bogen um eine Ecke und befanden uns in einer breiten und hohen Grotte. Durch Löcher, die sich hoch über uns befanden, sickerte Licht herein, beleuchtete Stalaktiten und fiel auf zuckende grüne Seen. Der Boden beruhigte sich nicht. Mein Gehör erholte sich. Ich sah einen gewaltigen Stalagmiten zusammenbrechen und vernahm ein leises Klirren.

Wir überquerten einen schwarzen Abgrund auf einer Brücke, die aus Kalkstein zu bestehen schien – ein Bauwerk, das hinter uns zusammenbrach und in der Tiefe verschwand.

Felsbrocken regneten von oben herab. In Ecken und Spalten schimmerte es grün von Moos und rot von Pilzkulturen. Streifen von Mineralien krümmten sich funkelnd, große Kristalle und flache Blumen aus hellem Gestein trugen zu der feuchten, unheimlichen Schönheit dieses Ortes bei. Wir rollten durch Höhlen, die mich an eine Folge von Seifenblasen erinnerten, und fuhren mit einem schäumenden Strom um die Wette, der schließlich in einem schwarzen Loch verschwand.

Ein langer, gewundener Tunnel führte uns schließlich wieder nach oben, und ich hörte schwach und widerhallend Ganelons Stimme: »Ich glaube, ich habe eine Bewegung gesehen – könnte ein Reiter sein – oben auf dem Berg – nur einen Augenblick lang.«

Wir erreichten eine etwas hellere Höhle.

»Wenn das Benedict war, hat er alle Mühe, uns auf der Spur zu bleiben!« rief ich, gefolgt von einem Beben und gedämpften Krachen, als weitere Felsmauern hinter uns zusammenbrachen.

Wir fuhren aufwärts, bis sich schließlich Öffnungen über uns zeigten und den Blick auf einige Stellen des blauen Himmels freigaben. Das Klirren der Hufe und das Grollen des Wagens klangen wieder einigermaßen normal, und wir nahmen wieder ein Echo wahr. Das Beben hörte auf, kleine Vögel schwirrten über uns dahin, und das Licht wurde stärker.

Dann noch eine Wegbiegung, und der Ausgang lag vor uns, eine breite niedrige Öffnung in den Tag. Wir mußten die Köpfe einziehen, als wir unter dem ausgezackten Überhang hindurchfuhren.

Wir hüpften und tanzten über einen Vorsprung aus moosbedecktem Gestein und schauten schließlich auf ein Kiesbett hinab, das sich wie eine Sensenspur über den Hang zog und zwischen Riesenbäumen unter uns verschwand. Ich schnalzte mit der Zunge, trieb die Pferde von neuem an.

»Die Tiere sind sehr müde«, bemerkte Ganelon.

»Ich weiß. Sie können bald ausruhen – so oder so.«

Der Kies knirschte unter unseren Rädern. Die Bäume dufteten angenehm.

»Habt Ihr es bemerkt? Dort unten, zur Rechten?«

»Was . . .?« begann ich und wandte den Kopf. »Oh«, sagte ich dann.

Die widerliche schwarze Straße war noch immer neben uns, etwa eine Meile entfernt.

»Durch wie viele Schatten zieht sie sich?« fragte ich.

»Offenbar durch alle«, meinte Ganelon.

Grimmig schüttelte ich den Kopf. »Hoffentlich nicht.«

Und wir fuhren in die Tiefe, unter einem blauen Himmel und einer goldenen Sonne, die sich ganz normal dem Westen entgegensenkte.

»Ich hatte beinahe Angst, die Höhle zu verlassen«, sagte Ganelon nach einer Weile. »Was hätte uns hier draußen nicht alles auflauern können!«

»Die Pferde machen nicht mehr lange mit. Ich muß die Sache abschließen. Wenn wir vorhin Benedict gesehen haben, muß sein Pferd in ausgezeichneter Verfassung sein. Er hat es ziemlich stark angetrieben. Und dann all die Hindernisse . . . Ich glaube, er ist zurückgefallen.«

»Vielleicht kennt sich das Tier mit solchen Hindernissen aus«, sagte Ganelon, während wir knirschend in eine Rechtskurve fuhren und der Höhlenschlund unseren Blicken entschwand.

»Die Möglichkeit besteht natürlich«, sagte ich, dachte an Dara und fragte mich, was sie in diesem Augenblick wohl machte.

Allmählich kamen wir immer tiefer, dabei schoben wir uns langsam und unmerklich durch die Schatten. Der Weg führte immer mehr nach rechts, und ich fluchte, als ich erkannte, daß wir uns wieder der schwarzen Straße näherten.

»Verdammt! Das Ding ist ja so aufdringlich wie ein Versicherungsvertreter!« sagte ich, und mein Zorn schlug in eine Art Haß um. »Im geeigneten Augenblick werde ich das Ding vernichten!«

Ganelon antwortete nicht. Er trank gerade einen großen Schluck Wasser. Dann reichte er mir die Flasche, und ich tat es ihm nach.

Schließlich erreichten wir ebenes Terrain, und wie bisher krümmte und wand sich der Weg beim geringsten Anlaß. Ich gab den Pferden die Zügel frei. Hier mußte sogar ein berittener Verfolger das Tempo mäßigen.

Etwa eine Stunde später ließ meine Spannung nach, und wir machten Rast, um zu essen. Wir waren gerade fertig, als Ganelon – der unentwegt den Berg beobachtete – aufstand und die Hand über die Augen legte.

»Nein!« sagte ich und sprang auf. »Ich glaube es einfach nicht!«

Ein einsamer Reiter war aus der Höhle gekommen. Ich sah, wie er einen Augenblick zögerte und dann unserem Weg folgte.

»Was jetzt?« fragte Ganelon.

»Wir suchen unsere Sachen zusammen und fahren weiter. Auf diese Weise können wir das Unvermeidliche vielleicht noch ein Weilchen hinausschieben. Ich brauche noch etwas Zeit zum Nachdenken.«

Und wieder rollten wir dahin, noch immer in einem gemächlichen Tempo, das so gar nicht zur Hast meiner Gedanken paßte. Es mußte eine Möglichkeit geben, ihn aufzuhalten! Wenn möglich, ohne ihn umzubringen!

Doch mir fiel nichts ein.

Abgesehen von der schwarzen Straße, die sich wieder einmal heranschlängelte, war es ein herrlicher Nachmittag an einem wunderschönen Ort. Es war eine Schande, diese Erde mit Blut zu beflecken, besonders wenn es mein eigenes Blut sein sollte. Obwohl Benedict die Klinge nur noch links führen konnte, hatte ich Angst, ihm gegenüberzutreten. Ganelon konnte mir da gar nichts nützen. Benedict würde kaum Notiz von ihm nehmen.

An der nächsten Kurve schob ich uns weiter durch die Schatten. Gleich darauf stieg mir schwacher Rauchgeruch in die Nase. Wieder nahm ich eine leichte Verschiebung vor.

»Er kommt schnell näher!« verkündete Ganelon. »Ich habe ihn eben noch gesehen, wie er . . . Da steigt Rauch auf! Flammen! Der Wald brennt!«

Ich lachte und blickte zurück. Die Hälfte des Hangs war unter Rauchwolken verborgen, und ein orangerotes Phantom raste durch das Grün, und erst in dieser Sekunde erreichte das Krachen und Knistern meine Ohren. Aus eigenem Antrieb erhöhten die Pferde die Geschwindigkeit.

»Corwin! Habt Ihr . . .?«

»Ja! Wenn der Hang steiler und unbewaldet gewesen wäre, hätte ich es mit einer Steinlawine versucht.«

Minutenlang war die Luft voller Vögel. Wir näherten uns dem schwarzen Weg. Feuerdrache warf den Kopf hoch und wieherte. Schaumflocken flogen ihm vom Maul. Er versuchte auszubrechen, stieg auf die Hinterhand und ließ die Vorderläufe durch die Luft wirbeln. Star stieß einen erschreckten Laut aus und zog nach rechts. Ich kämpfte einen Augenblick lang dagegen an, gewann die Kontrolle zurück, beschloß, die Tiere ein Weilchen laufen zu lassen.

»Er kommt trotzdem!« rief Ganelon.

Ich fluchte, und wir holperten dahin. Schließlich führte uns der Weg unmittelbar an der schwarzen Straße entlang. Wir befanden uns auf einer langen Geraden, und ein Blick über die Schulter zeigte mir, daß der ganze Berg in Flammen stand – ein rotes Meer, durch das sich wie eine fürchterliche Narbe der Weg zog. Und jetzt sah ich den Verfolger. Er war auf halbem Wege nach unten und galoppierte wie ein Derbyreiter dahin. Gott! Was für ein Pferd das sein mußte! Ich fragte mich, welcher Schatten das Tier geboren hatte.

Ich zog die Zügel an, zunächst sanft, dann fester, bis wir schließlich wieder langsamer fuhren. Wir waren nur noch wenige hundert Fuß von der schwarzen Straße entfernt, und ich hatte dafür gesorgt, daß es ganz in der Nähe eine Stelle gab, wo die Entfernung nur noch dreißig oder vierzig Fuß betrug. Es gelang mir, die Pferde an diesem Punkt zum Stehen zu bringen. Schweratmend standen sie vor dem Wagen. Ich reichte Ganelon die Zügel, zog Grayswandir und sprang auf die Straße.

Warum auch nicht? Es war ein gutes, ebenes Fleckchen, und vielleicht sprach das schwarze, verkohlte Stück Erde, das so sehr von den Farben des Lebens und Wachsens daneben abstach, einen morbiden Instinkt in mir an.

»Was nun?« wollte Ganelon wissen.

»Wir können ihn nicht abschütteln«, sagte ich. »Und wenn er es durch das Feuer schafft, ist er in wenigen Minuten hier. Eine weitere Flucht wäre sinnlos. Ich erwarte ihn an dieser Stelle.«

Ganelon drehte die Zügel um einen Pflock und griff nach seinem Schwert.

»Nein«, sagte ich. »Ihr könnt das Ergebnis des Kampfes nicht beeinflussen, so oder so. Ich bitte Euch um folgendes: Fahrt mit dem Wagen ein Stück weiter und wartet dort auf mich. Wenn die Sache zu meiner Zufriedenheit ausgeht, reisen wir weiter. Wenn nicht, müßt Ihr Euch Benedict sofort ergeben. Er hat es auf mich abgesehen, und er wäre der einzige, der Euch nach Avalon zurückführen könnte. Er wird es tun. Wenigstens könntet Ihr auf diese Weise in Eure Heimat zurückkehren.« Er zögerte.

»Fahrt los«, sagte ich. »Tut, was ich gesagt habe.«

Er blickte zu Boden. Er löste die Zügel. Er sah mich an.

»Viel Glück«, sagte er und trieb die Pferde an.

Ich verließ den Weg, nahm vor einer kleinen Gruppe junger Bäume Aufstellung und wartete. Ich behielt Grayswandir in der Hand, schaute einmal kurz auf die schwarze Straße und richtete schließlich den Blick auf unseren Weg.

Nach kurzer Zeit erschien er am Rand der Flammen, umgeben von Rauch und Feuer und brennenden Ästen. Es war Benedict; er hatte das Gesicht zum Teil verdeckt, der Stumpf seines rechten Arms war zum Schutz der Augen hochgewinkelt – und er galoppierte herbei wie ein Flüchtling aus der Hölle. Er brach durch einen Schauer aus Funken und glimmenden Aschestücken und erreichte schließlich das Freie und stürmte auf dem Weg herbei.

Schon bald vermochte ich den Hufschlag zu hören. Es wäre nun eines Gentlemans würdig gewesen, die Klinge in der Scheide stecken zu lassen, solange ich wartete. Doch wenn ich das tat, hatte ich vielleicht keine Gelegenheit mehr, sie zu ziehen.

Unwillkürlich überlegte ich, wie Benedict seine Klinge tragen mochte und was für ein Schwert er wohl mitführte. Eine gerade Klinge? Oder gekrümmt? Lang? Kurz? Er verstand sich auf alle. Er hatte mir den Umgang mit Hieb- und Stichwaffen beigebracht . . .

Es mochte nicht nur höflich, sondern auch klug sein, Grayswandir wegzustecken. Vielleicht wollte er sich zuerst nur mit mir unterhalten; die blanke Waffe mochte ihn zur Unbedachtsamkeit herausfordern. Doch als der Hufschlag lauter wurde, machte ich mir klar, daß ich Angst hatte, die Klinge wegzustecken.

Ehe er in Sicht kam, wischte ich mir einmal kurz die Handfläche trocken. An der Kurve hatte er sein Tier gezügelt, und er mußte mich im gleichen Augenblick gesehen haben wie ich ihn. Er ritt direkt auf mich zu und ließ sein Pferd dabei immer langsamer gehen. Doch er schien nicht die Absicht zu haben, sein Tier anzuhalten.

Es war geradezu ein mystischer Augenblick, ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Während er näher kam, lief mein Verstand schneller als die Zeit, so daß ich den Eindruck hatte, als stünde mir eine Ewigkeit zur Verfügung, die Annäherung dieses Mannes zu verfolgen, der mein Bruder war. Seine Kleidung war verschmutzt, sein Gesicht geschwärzt, der Stumpf des rechten Arms erhoben, wild hin und her zuckend. Das große Tier unter ihm war schwarz und rot gescheckt und besaß eine wilde rote Mähne und einen ebensolchen Schwanz. Doch es war wirklich ein Pferd, das die Augen rollte, Schaum vor dem Maul hatte und rasselnd atmete. Im nächsten Augenblick erkannte ich, daß er die Klinge auf dem Rücken trug; der Griff ragte über seiner rechten Schulter empor. Sein Pferd zügelnd, den Blick starr auf mich gerichtet, verließ er die Straße und steuerte auf eine Stelle links von mir zu, zog einmal die Zügel an und ließ sie dann los, lenkte das Pferd nur noch mit den Knien. Die linke Hand fuhr in einer grußähnlichen Bewegung an seinem Kopf vorbei nach oben und packte den Griff der Waffe. Sie löste sich geräuschlos und beschrieb einen anmutigen Bogen über ihm, ehe sie in einer tödlichen Position schräg vor seiner linken Schulter zur Ruhe kam – wie ein einzelner Flügel aus mattem Stahl mit einer winzigen Vorderkante, die wie ein Streifen Spiegelglas schimmerte. Sein Anblick brannte sich mit einer gewissen Pracht in meinen Verstand, mit einer Großartigkeit, mit einem Glanz, der irgendwie anrührend war. Die Klinge war eine lange sensenähnliche Waffe, mit der ich ihn schon im Kampf beobachtet hatte. Nur hatten wir damals als Verbündete gegen einen gemeinsamen Gegner gekämpft, den ich für unbesiegbar gehalten hatte. Benedict hatte mir in jener Nacht das Gegenteil bewiesen. Als sich die Waffe nun gegen mich erhob, überfiel mich der Gedanke an meine Sterblichkeit – ein Gedanke, der mich nie zuvor in dieser Weise betroffen hatte. Es war, als sei ein Schutz von der Welt genommen worden, als werfe plötzlich jemand ein grelles Schlaglicht auf den Tod höchstpersönlich.

Der Augenblick war vorbei. Ich wich zwischen die Bäume zurück. Ich hatte mich dort aufgestellt, um die jungen Stämme auszunutzen. Ich wich etwa zehn, zwölf Fuß weit zwischen die Stämme zurück und machte zwei Schritte nach links. Das Pferd stieg im letzten Augenblick auf die Hinterhand und schnaubte und wieherte mit geblähten Nüstern. Dann wandte es sich zur Seite, wobei es große Erdbrocken aufwirbelte. Benedicts Arm bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit, wie die Zunge einer Schildkröte, und seine Klinge fuhr durch einen jungen Baum, dessen Stamm ich auf drei Zoll schätzte. Der Baum blieb noch einen Augenblick lang stehen, ehe er langsam umkippte.

Seine Stiefel prallten auf den Boden, und er schritt auf mich zu. Auch aus diesem Grund hatte ich mir die Baumgruppe ausgesucht – er sollte zu mir kommen müssen an einen Ort, da eine lange Klinge durch Äste und Stämme behindert werden mußte.

Doch im Voranstürmen schwang er die Waffe geradezu beiläufig hin und her, und ringsum stürzten die Bäume. Wenn er nur nicht so schrecklich gut gewesen wäre . . .! Wenn er nur nicht Benedict gewesen wäre . . .!

»Benedict«, sagte ich ganz ruhig. »Sie ist längst erwachsen und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

Doch er ließ nicht erkennen, ob er mich gehört hatte. Er schritt weiter und schwang dabei die mächtige Klinge hin und her. Sie sirrte durch die Luft, und immer wieder war ein weicher Laut zu hören, wenn sie einen weiteren Baum durchtrennte und davon nur geringfügig verlangsamt wurde.

Ich hob Grayswandir und richtete es auf seine Brust.

»Nicht weiter, Benedict«, sagte ich. »Ich möchte nicht mit dir kämpfen.«

Er hob die Waffe in Angriffsposition und sagte nur ein Wort: »Mörder!«

Dann zuckte seine Hand vor, und fast gleichzeitig wurde mein Schwert zur Seite geschlagen. Ich parierte den nachfolgenden Stich, und er fegte meine Riposte zur Seite und griff von neuem an.

Diesmal machte ich mir nicht die Mühe einer Riposte. Ich parierte einfach, zog mich zurück und trat hinter einen Baum.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich und schlug seine Klinge nieder, die an dem Stamm entlangglitt und mich beinahe aufgespießt hätte. »Ich habe in letzter Zeit niemanden getötet. Jedenfalls nicht in Avalon.«

Wieder ein dumpfer Laut, und der Baumstamm stürzte auf mich zu. Ich brachte mich in Sicherheit und wich, seine Schläge abwehrend, zurück.

»Mörder!« sagte er wieder.

»Ich verstehe nicht, was das soll, Benedict!«

»Lügner!«

Nun endlich blieb ich stehen und verteidigte meine Position. Verdammt! Es war so sinnlos, für etwas zu sterben, das gar nicht stimmte. Ich ripostierte, so schnell ich konnte, suchte überall nach einer Ansatzmöglichkeit. Doch die gab es nicht.

»Dann sag´s mir wenigstens!« rief ich. »Bitte!«

Doch er schien nicht mehr reden zu wollen. Er bedrängte mich, und ich mußte erneut zurückweichen. Es war, als versuchte ich mit einem Gletscher zu kämpfen. Mit der Zeit festigte sich meine Überzeugung, daß er den Verstand verloren hatte – was mir allerdings nicht im geringsten weiterhelfen konnte. Bei jedem anderen hätte der Wahnsinn die Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt. Doch Benedict hatte im Laufe der Jahrhunderte seine Reflexe perfektioniert.

Unbarmherzig trieb er mich zurück. Ich duckte mich zwischen den Bäumen hindurch, und er hieb sie nieder und bedrängte mich weiter. Ich machte den Fehler anzugreifen und vermochte seine Gegenattacke erst im letzten Augenblick von meiner Brust abzulenken. Ich kämpfte eine Woge der Panik nieder, als ich erkannte, daß er mich auf den Rand der Baumgruppe zutrieb. Bald hatte er mich im Freien, wo ihn keine Bäume mehr behinderten.

Meine Aufmerksamkeit war so total auf ihn gerichtet, daß ich die Störung von außen erst mitbekam, als es zu spät war.

Mit lautem Schrei sprang Ganelon von irgendwo herbei, legte die Arme um Benedict und hielt seinen Schwertarm fest.

Selbst wenn ich es wirklich gewollt hätte – es fehlte mir in diesem Augenblick die Gelegenheit, ihn zu töten. Er war zu schnell, und Ganelon kannte die Kräfte dieses Mannes nicht.

Benedict wendete sich nach rechts und brachte Ganelon auf diese Weise zwischen sich und mich. Gleichzeitig ließ er seinen Armstumpf wie einen Knüppel herum wirbeln und traf Ganelon an der linken Schläfe. Dann zerrte er den linken Arm frei, packte Ganelon am Gürtel, riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn in meine Richtung. Als ich zur Seite trat, bückte er sich, nahm die Waffe wieder auf, die vor ihm niedergefallen war, und griff erneut an. Ich hatte kaum Zeit für einen Blick nach hinten, wo Ganelon zehn Fuß entfernt zu Boden gegangen war.

Ich parierte und setzte meinen Rückzug fort. Ich hatte nur noch einen Trick im Ärmel, und es betrübte mich, daß Amber seines rechtmäßigen Herrschers beraubt sein würde, wenn der Versuch mißlang.

Es ist irgendwie schwieriger, mit einem guten Linkshänder zu kämpfen als mit einem guten Rechtshänder; dieser Umstand wirkte sich zusätzlich gegen mich aus. Doch ich mußte einen kleinen Versuch wagen. Ich mußte etwas ausprobieren, auch wenn ich damit ein Risiko einging.

Ich machte einen großen Schritt zurück, entfernte mich vorübergehend aus seiner Reichweite. Dann beugte ich mich vor und griff an. Der Zug war sorgfältig überlegt und wurde sehr schnell vorgetragen.

Ein unerwartetes Ergebnis, das sicher zum Teil auf Glück beruhte, war der Umstand, daß ich ihn tatsächlich traf, allerdings nicht dort, wo ich wollte. Einen Augenblick lang rutschte Grayswandir über eine seiner Paraden und traf ihn am linken Ohr. Dies machte ihn vorübergehend langsamer, doch die Verwundung war minimal und führte sogar dazu, daß er sich noch intensiver einsetzte. Obwohl ich weiter angriff, kam ich einfach nicht mehr durch. Es war nur ein kleiner Schnitt, doch das Blut trat ihm aus dem Ohrläppchen und rann tropfenweise herab.

Nun kam der gefährliche Teil, doch ich mußte es wagen. Ich bot ihm eine kleine Chance, nur einen Sekundenbruchteil lang – wußte ich doch, daß er die Möglichkeit sofort ausnutzen würde.

Das tat er auch, und ich parierte im letzten Augenblick. Ungern erinnere ich mich daran, wie nahe seine Klingenspitze meinem Herzen kam.

Dann gab ich erneut nach, wich zurück, verließ rückwärts die Baumgruppe. Parierend und mich zurückziehend bewegte ich mich an Ganelon vorbei, der am Boden lag. Ich gab weitere fünfzehn Fuß nach, defensiv und konservativ kämpfend.

Dann offerierte ich Benedict eine zweite Möglichkeit.

Wie schon einmal griff er an, und ich vermochte ihn noch einmal abzuwehren. Nun verstärkte er seine Bemühungen noch mehr, drängte mich bis zum Rand der schwarzen Straße zurück.

Dort hielt ich inne und wehrte mich ernsthafter, wobei ich langsam an die Stelle rückte, die ich ausgesucht hatte. Ich mußte ihn noch ein paar Sekunden lang halten, mußte ihn in die richtige Position bringen . . .

Diese Sekunden fielen mir sehr schwer, doch ich kämpfte verzweifelt und hielt mich bereit.

Dann gab ich ihm zum drittenmal dieselbe Chance.

Ich wußte, daß er versuchen würde, sie auf die gleiche Art zu nutzen. Mein rechtes Bein stand hinter dem linken, spannte sich an, als er attackierte. Ich versetzte seiner Klinge nur einen leichten seitlichen Schlag, während ich rückwärts auf die schwarze Straße sprang und dabei sofort den Arm auf volle Länge ausstreckte, um ein Nachstoßen zu verhindern.

Und er tat, was ich gehofft hatte. Er hieb auf meine Klinge ein und rückte normal vor, als ich eine Quarte vollführte . . .

. . . und er trat zwischen die schwarzen Grasbüschel, die ich im Zurückweichen übersprungen hatte.

Im ersten Augenblick wagte ich nicht nach unten zu blicken. Ich setzte mich zur Wehr, ohne zurückzuweichen, und gab der Flora eine Chance.

Es dauerte nur wenige Sekunden. Benedict merkte es, als er sich das nächstemal zu bewegen versuchte. Ich sah den verwirrten Ausdruck auf seinem Gesicht, dann die Anstrengung. Da wußte ich, daß er in meiner Gewalt war.

Doch ich bezweifelte, daß ihn das Hindernis lange aufhalten würde, und schritt sofort zur Tat.

Ich tänzelte außerhalb der Reichweite seiner Klinge zur Seite, stürmte vor und sprang über den Grasrand von der schwarzen Straße. Er versuchte sich zu drehen, doch die Halme hatten sich bis zu den Knien um seine Beine gewunden. Er schwankte einen Augenblick, konnte sich aber auf den Beinen halten.

Ich ging hinter ihm nach rechts. Mit einem Stich hätte ich ihn nun mühelos töten können, aber dazu bestand natürlich keine Veranlassung mehr.

Er schwang den Arm hinter sich, drehte den Kopf und richtete die Klinge auf mich. Er begann sein linkes Bein freizuziehen.

Doch ich fintete nach rechts, und als er zu parieren versuchte, hieb ich ihm mit aller Kraft die Breitseite Grayswandirs in den Nacken.

Er war betäubt, und ich vermochte mich zu nähern und ihm mit der linken Hand in die Nieren zu schlagen. Er krümmte sich leicht zusammen, und ich blockierte seinen Schwertarm und versetzte ihm einen zweiten Hieb in den Nacken, diesmal mit der Faust. Bewußtlos stürzte er zu Boden, und ich nahm ihm die Klinge aus der Hand und warf sie zu Boden. Das Blut aus dem Ohrläppchen zog sich wie ein exotischer Ohrring an seinem Hals entlang.

Ich legte Grayswandir zur Seite, packte Benedict an den Achselhöhlen und zog ihn von der schwarzen Straße fort. Das Gras leistete heftigen Widerstand, doch ich stemmte mich dagegen und vermochte ihn schließlich loszureißen.

Ganelon hatte sich langsam aufgerichtet. Er humpelte herbei, stellte sich neben mich und starrte auf Benedict hinab.

»Was für ein Bursche!« sagte er. »Was für ein Bursche . . . Was machen wir nur mit ihm?«

Ich stemmte mir meinen Bruder im Feuerwehrgriff auf die Schultern und richtete mich auf.

»Ich bringe ihn zunächst zum Wagen«, sagte ich. »Schafft Ihr bitte die Waffen herbei.«

»Ja.«

Ich schritt die Straße entlang, und Benedict blieb bewußtlos – was ich sehr begrüßte, wollte ich ihn doch nicht noch einmal niederschlagen, wenn es sich vermeiden ließ. Ich deponierte ihn am Stamm eines großen Baumes neben der Straße.

Als Ganelon mich eingeholt hatte, steckte ich die Klingen wieder in die Scheiden und bat ihn, von mehreren Kisten die Seile zu entfernen. Während er damit beschäftigt war, durchsuchte ich Benedict und fand das Gewünschte.

Anschließend fesselte ich ihn an den Baum, während Ganelon sein Pferd holte. Wir banden das Tier an einen benachbarten Busch, an den ich auch seine Klinge hängte.

Dann bestieg ich den Kutschbock des Wagens, und Ganelon kam herbei.

»Wollt Ihr ihn einfach so zurücklassen?« fragte er.

»Zunächst.«

Wir fuhren weiter. Ich schaute nicht zurück; dafür sah sich Ganelon um so öfter um.

»Er hat sich noch nicht bewegt«, berichtete er und fuhr fort: »Noch nie hat mich ein Mann so vom Boden hochgerissen und fortgeschleudert. Und dazu noch mit einer Hand!«

»Deshalb habe ich Euch auch gebeten, am Wagen zu warten und nicht gegen ihn zu kämpfen, falls ich besiegt worden wäre.«

»Was soll nun aus ihm werden?«

»Ich sorge dafür, daß er gerettet wird – bald.«

»Er kommt doch durch, oder?«

Ich nickte.

»Gut.«

Wir fuhren etwa zwei Meilen weiter, ehe ich die Pferde zügelte. Ich stieg vom Wagen.

»Regt Euch jetzt nicht auf«, sagte ich, »egal was passiert. Ich hole für Benedict Hilfe.«

Ich entfernte mich von der Straße und stellte mich in den Schatten. Dann nahm ich die Trumpfkarten zur Hand, die Benedict bei sich gehabt hatte. Ich blätterte sie durch, fand Gérard und nahm die Karte aus dem Stapel. Den Rest legte ich wieder in den seidenbespannten Intarsienkasten, in dem Benedict das kostbare Spiel aufbewahrte.

Ich hielt Gérards Trumpf vor mich hin und betrachtete ihn.

Nach einer Weile wurde das Bild real und schien sich zu bewegen. Ich spürte Gérards Gegenwart. Er war in Amber. Er schritt durch eine Straße, die ich kannte. Er sah mir ziemlich ähnlich und war nur größer und massiger. Ich bemerkte, daß er noch immer seinen Bart trug.

Er blieb stehen und riß die Augen auf.

»Corwin!«

»Ja, Gérard. Du siehst gut aus.«

»Deine Augen! Du kannst sehen?«

»Ja, ich kann wieder sehen.«

»Wo bist du?«

»Komm zu mir, dann zeige ich es dir.«

Er kniff die Augen zusammen.

»Ich weiß nicht recht, ob ich das wirklich tun sollte, Corwin. Ich bin im Augenblick ziemlich beschäftigt.«

»Es geht um Benedict«, sagte ich. »Du bist der einzige, bei dem ich mich darauf verlassen kann, daß er ihm hilft.«

»Benedict? Ist er in Not?«

»Ja.«

»Warum ruft er mich dann nicht selbst?«

»Das könnte er gar nicht. Er ist verhindert.«

»Warum? Wie denn?«

»Die Geschichte ist zu lang und zu kompliziert, um sie jetzt zu erzählen. Glaub mir, er benötigt deine Hilfe, auf der Stelle.«

Er biß sich auf die bärtige Unterlippe.

»Und du wirst allein nicht damit fertig?«

»Auf keinen Fall.«

»Und du glaubst, ich schaffe es?«

»Ich weiß es.«

Er lockerte seine Klinge in der Scheide.

»Ich will nicht hoffen, daß das eine Art Trick ist, Corwin.«

»Ich versichere dir, daß nichts dahintersteckt. Die lange Zeit, die seither vergangen ist, hätte mir doch sicher Gelegenheit gegeben, eine raffiniertere List auszutüfteln.«

Er seufzte. Dann nickte er.

»Na gut. Ich komme zu dir.«

»Bitte.«

Er verharrte einen Augenblick lang, dann machte er einen Schritt vorwärts.

Und schon stand er neben mir. Er streckte die Hand aus und berührte mich an der Schulter. Er lächelte.

»Corwin«, sagte er. »Es freut mich, daß du dein Augenlicht wieder hast.«

Ich wandte den Blick ab.

»Mich auch. Mich auch.«

»Wer ist das auf dem Wagen?«

»Ein Freund. Er heißt Ganelon.«

»Wo ist Benedict? Was hat er für Probleme?«

Ich machte eine Armbewegung.

»Dort hinten«, sagte ich. »Etwa zwei Meilen von hier an der Straße. Er ist an einen Baum gefesselt. Sein Pferd grast in der Nähe.«

»Was machst du hier?«

»Ich fliehe.«

»Wovor?«

»Vor Benedict. Ich bin derjenige, der ihn gefesselt hat.«

Er runzelte die Stirn.

»Ich verstehe das alles nicht . . .«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es gibt da zwischen uns ein Mißverständnis, das ich nicht habe aufklären können. Er wollte mir nicht zuhören, und da haben wir gekämpft. Ich habe ihn bewußtlos geschlagen und gefesselt. Befreien könnte ich ihn nicht – er würde mich sofort wieder angreifen. Andererseits kann ich ihn nicht hilflos zurücklassen. Er könnte Schaden nehmen, ehe er sich selbst befreien kann. Deshalb habe ich dich gerufen. Bitte geh zu ihm, befreie ihn, begleite ihn nach Hause.«

»Was tust du inzwischen?«

»Ich verschwinde von hier, so schnell ich kann, und verliere mich in den Schatten. Wenn du ihn davon abhältst, mir erneut zu folgen, würdest du uns beiden einen Gefallen tun. Ich möchte nicht noch einmal gegen ihn kämpfen müssen.«

»Ich verstehe. Kannst du mir nicht sagen, was geschehen ist?«

»Ich weiß es nicht genau. Er hat mich einen Mörder genannt. Ich gebe dir mein Wort, daß ich während meines Aufenthalts in Avalon keinen Menschen getötet habe. Bitte berichte ihm, daß ich das gesagt habe. Ich hätte gar keinen Grund, dich anzulügen, und ich schwöre, daß ich die Wahrheit sage. Es gibt da noch eine andere Sache, die ihn vielleicht erzürnt hat. Wenn er darauf zu sprechen kommt, sag ihm, dabei müßte er sich mit Daras Erklärung begnügen.«

»Und die wäre?«

Ich zuckte die Achseln. »Du weißt schon Bescheid, wenn er das Thema anschneidet. Wenn nicht, vergiß die Sache.«

»Dara war der Name?«

»Ja.«

»Na schön. Ich tue, was du von mir erbittest . . . Sagst du mir noch schnell, wie du deine Flucht aus Amber bewerkstelligt hast?«

Ich lächelte. »Ist das ein rein akademisches Interesse? Oder hast du das Gefühl, daß du dieses Wissen eines Tages brauchen könntest?«

Er lachte leise. »Die Information könnte eines Tages ganz nützlich sein.«

»Es tut mir leid, lieber Bruder, daß die Welt für diese Erkenntnis noch nicht reif ist. Wenn ich es jemandem erzählen müßte, dann dir – aber es gibt keine Möglichkeit, daß dir die Erkenntnis nützen könnte, während mir meine Verschwiegenheit auch künftig noch von Vorteil sein kann.«

»Mit anderen Worten – du kennst einen Geheimweg von und nach Amber. Was hast du vor, Corwin?«

»Was glaubst du denn?«

»Die Antwort liegt auf der Hand. Allerdings sehe ich die Sache mit gemischten Gefühlen.«

»Würdest du mir das bitte erklären?«

Er deutete auf einen Teil der schwarzen Straße, die von unserem Standort aus sichtbar war.

»Das Ding«, sagte er. »Es führt bereits bis zum Fuße Kolvirs. Eine Unzahl von Geschöpfen benutzt diese Straße, um Amber anzugreifen. Wir verteidigen uns, wir sind noch immer siegreich. Doch die Angriffe werden heftiger und kommen häufiger. Es wäre kein günstiger Augenblick für einen Staatsstreich, Corwin.«

»Oder genau der richtige Zeitpunkt«, erwiderte ich.

»Für dich gewiß, aber nicht unbedingt für Amber.«

»Wie wird Eric mit der Situation fertig?«

»Angemessen. Wie ich schon sagte, wir sind immer noch siegreich.«

»Ich meine nicht die Angriffe. Ich meine das ganze Problem – die Ursachen.«

»Ich bin selbst schon auf der schwarzen Straße gereist – ein weites Stück.«

»Und?«

»Ich vermochte sie nicht bis zum Ende zu beschreiten. Du weißt doch, daß die Schatten wilder und unheimlicher werden, je weiter man sich von Amber entfernt?«

»Ja.«

». . . Bis einem der Verstand verdreht und zum Wahnsinn hin gezwungen wird.«

»Ja.«

». . . Und irgendwo dahinter liegen die Gerichte des Chaos. Die Straße führt weiter, Corwin. Ich bin überzeugt, sie überspannt die volle Strecke.«

»Dann haben sich meine Befürchtungen also bewahrheitet«, sagte ich.

»Das ist der Grund, warum ich unabhängig von meiner Einstellung zu dir davon abrate, jetzt zu handeln. Die Sicherheit Ambers muß über allem anderen stehen.«

»Ich verstehe. Dann brauchen wir uns im Augenblick nicht weiter darüber zu unterhalten.«

»Und deine Pläne?«

»Da du sie nicht kennst, ist es sinnlos, dir zu eröffnen, daß sie unverändert sind. Aber das sind sie.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir Glück wünschen soll – jedenfalls wünsche ich dir alles Gute. Ich freue mich, daß du wieder sehen kannst.« Er ergriff meine Hand. »Jetzt sollte ich mich aber um Benedict kümmern. Er ist doch nicht etwa schwer verletzt?«

»Von mir nicht. Ich habe ihn nur geschlagen. Vergiß nicht, ihm meine Worte auszurichten.«

»Nein.«

»Und bring ihn nach Avalon zurück.«

»Ich werd´s versuchen.«

»Dann zunächst Lebewohl, Gérard,«

»Leb wohl, Corwin.«

Er machte kehrt und ging die Straße entlang. Ich blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann erst kehrte ich zum Wagen zurück, schob seinen Trumpf zwischen die anderen Karten und setzte meinen Weg nach Antwerpen fort.

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