9

Wir wanderten zusammen durch die Nacht, Flüchtlinge unter den drei Monden Gors. Kurz nach Verlassen der Lichtung hatte ich eine spöttische Talena von Haube und Fesseln befreit. Als wir die Kornfelder überquerten, erklärte sie mir die Gefahren, die uns hier drohten – von den Raubtieren der Ebenen und von vorbeiziehenden Fremden. Übrigens ist es von Interesse festzuhalten, daß in der goreanischen Sprache die Bezeichnung für einen Fremden mit dem Wort Feind identisch ist.

Talena schien von neuem Leben erfüllt, als wäre sie sehr froh über ihre Flucht aus den Hohen Gärten. Sie war nun eine relativ freie Person. Der Wind zerrte an ihrem Haar, und sie atmete ihn ein wie Ka-la-na-Wein. Ich spürte, daß sie sich in meiner Begleitung freier fühlte, als sie je zuvor gewesen war. Ihre Fröhlichkeit war seltsam ansteckend, und wir unterhielten uns und scherzten miteinander, als wären wir nicht die schlimmsten Feinde auf Gor.

Ich versuchte die Richtung nach Ko-ro-ba einzuschlagen. Nach Ar konnten wir unmöglich zurückkehren, da uns beiden dort der Tod drohte. In den meisten goreanischen Städten stand uns vermutlich ein ähnliches Schicksal bevor; die Freien Städte waren nicht gerade für ihre Gastfreundschaft bekannt. Im Hinblick auf den Haß, den die meisten Goreaner der Stadt Ar entgegenbrachten, war es unbedingt erforderlich, die Identität meiner schönen Begleiterin geheimzuhalten. Aber ich machte mir Sorgen. Was sollte Talena geschehen, wenn wir das unvorstellbare Glück hatten, Ko-ro-ba zu erreichen? Würde sie dort öffentlich aufgespießt oder den Wissenden von Ar übergeben werden? Oder gedachte man sie für den Rest ihrer Tage in ein Verlies unterhalb der Stadt zu verbannen? Vielleicht gestattete man ihr auch das Leben einer Sklavin.

Wenn sich Talena für diese Spekulationen interessierte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie erklärte mir ihren Plan: »Ich werde als Tochter eines reichen Händlers auftreten, die du erobert hast«, erklärte sie. »Dein Tarn wurde von den Männern meines Vaters getötet, und du führst mich nun in deine Stadt, wo ich dein Sklave sein soll.« Widerstrebend stimmt e ich dieser Geschichte zu, die einigermaßen logisch klang. Talena und ich waren uns einig, daß die Gefahr, erkannt zu werden, relativ gering war, denn man würde allgemein annehmen, daß der Mann, der den Heimstein gestohlen und mit der Tochter des Ubar verschwunden war, seine unbekannte Ausgangsbasis längst wieder erreicht hatte.

Gegen Morgen aßen wir von unseren Rationen und füllten unsere Wasserflaschen an einer verborgenen Quelle. Anschließend badeten wir und legten uns schlafen. Zu Talenas Ärger band ich sie einige Meter entfernt fest, indem ich ihre Arme um einen jungen Baumstamm legte und zusammenband. Ich hatte keine Lust, während des Schlafes erdolcht zu werden.

Am Nachmittag zogen wir weiter und wagten uns schließlich sogar auf eine der breiten gepflasterten Straßen, die von Ar fortführten – eine Straße wie eine Mauer aus festen, zusammengefügten Steinen, die tausend Jahre lang halten sollte. Es herrschte sehr wenig Verkehr hier oben, vielleicht wegen des Chaos in der Stadt. Wenn es Flüchtlinge gab, waren sie sicher noch hinter uns, und nur wenige Händler näherten sich der Stadt. Wer wollte schon seine Güter in einem Chaos aufs Spiel setzen? Und wenn

uns von Zeit zu Zeit ein Reisender entgegenkam, näherten wir uns nur vorsichtig. Wie in meinem Heimatland England hält man sich auf der linken Seite der Straße – was mehr als nur eine Angewohnheit ist. Wenn man nämlich links geht, ist der Schwertarm dem Entgegenkommenden zugewandt.

Unsere Besorgnis schien unbegründet, und bald hatten wir mehrere Pasangsteine passiert, ohne etwas Bedrohliches gesehen zu haben als einige Bauern, die Schilf auf dem Rücken trugen, und zwei dahineilende Wissende. Einmal jedoch zog mich Talena von der Straße, und wir vermochten unser Entsetzen kaum zu verbergen, als ein Aussätziger an uns vorüberschritt. Er litt an der unheilbaren Dar-Kosis – Krankheit. Er war in gelbe Lumpen gekleidet und betätigte eine hölzerne Rassel, die alle Entgegenkommenden warnte.

Langsam wurde es einsamer; die Straße schien überhaupt weniger begangen zu sein. Gras wuchs in den Steinritzen, die Radspuren verloren sich fast. Wir passierten mehrere Kreuzungen, doch ich hielt die Richtung nach Ko-ro-ba. Was wir tun sollten, wenn wir den verwüsteten Landgürtel und das Ufer des Vosk-Flusses erreichten, wußte ich nicht. »Wir werden nie nach Ko-ro-ba kommen«, sagte Talena verzweifelt. In dieser Nacht aßen wir die letzten Rationen auf und leerten eine der Wasserflaschen. Als ich das Mädchen fesseln wollte, stieß sie mich zur Seite.

»Wir müssen ein besseres Arrangement finden«, sagte sie und warf die Armfessel zu Boden. »Das ist unbequem.« »Was schlägst du vor?«

Sie sah sich um und lächelte plötzlich. »Hier«, sagte sie, nahm eine Sklavenkette aus meinem Beutel, wickelte sie mehrmals um ihr schlankes Fußgelenk und verschloß sie. Den Schlüssel drückte sie mir in die Hand. Dann brachte sie die Kette zu einem nahen Baum, bückte sich und schlang das lose Ende um den Stamm. »Gib mir die Sklavenfessel!« befahl sie. Ich brachte ihr das Gewünschte, und sie führte die beiden Ringe der Handfessel durch den Teil der Kette, der um den Baum gewickelt war, schloß sie und überließ mir ebenfalls den Schlüssel. »Siehst du, kühner Tarnsmann«, sagte sie. »Ich will dich lehren, wie man eine Gefangene behandelt! Du kannst nun in Frieden schlafen, und ich verspreche dir, ich schneide dir heute nacht nicht die Kehle durch.«

Ich lachte und nahm sie kurz in die Arme. Plötzlich spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Auch Talena reagierte auf meine Berührung. Ich wollte sie überhaupt nicht mehr loslassen, wollte sie nur noch für mich.

Nur unter Aufbietung aller Willenskräfte konnte ich mich dem magischen Zwang ihrer Augen entziehen.

»So«, sagte sie verächtlich, »so behandelt also ein Tarnkämpfer die Tochter eines reichen Kaufmanns!«

Ich legte mich ins Gras und wandte mich ab. Lange Zeit konnte ich nicht einschlafen.

Am Morgen verließen wir sehr früh unser Lager. Unser Frühstück bestand aus einem Schluck Wasser und einigen kleinen trockenen Beeren, die wir an Büschen fanden. Wir waren noch nicht lange unterwegs, als Talena meinen Arm ergriff. Ich horchte und machte das Stampfen eines Tharlarions aus. »Ein Krieger«, sagte ich.

»Schnell«, befahl sie. »Die Haube!«

Ich stülpte ihr die Haube über und fesselte sie hastig.

Das Klirren der Klauen des Tharlarions wurde lauter.

Gleich darauf kam der Reiter in Sicht, ein prächtiger, bärtiger Krieger mit goldenem Helm und Tharlarionlanze. Er brachte die Reitechse wenige Meter vor mir zum Stehen. Er ritt einen Tharlarion von der Art, die man als Großen Tharlarion bezeichnet, ein Tier, das sich in großen Sprüngen auf den Hinterbeinen fortbewegt. Die beiden lächerlichen kleinen Vorderbeine hingen nutzlos herab.

»Wer bist du?« fragte der Mann.

»Ich bin Tarl aus Bristol«, antwortete ich.

»Bristol?« erwiderte der Krieger ratlos.

»Hast du noch nie davon gehört?« fragte ich ungläubig.

»Nein«, gab er offen zu. »Ich bin Kazrak aus Port Kar, im Dienste Mintars aus der Kaste der Kaufleute.«

Port Kar war mir bekannt. Es handelte sich um eine Stadt im Voskdelta, die ziemlich verrufen war.

Der Krieger deutete mit seiner Lanze auf Talena. »Wer ist das?« fragte er.

»Du brauchst ihren Namen oder ihre Herkunft nicht zu kennen«, sagte ich.

Der Krieger lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Du willst mir wahrscheinlich einreden, daß sie aus einer Hohen Kaste stammt«, sagte er. »Sicher ist sie nur die Tochter eines Ziegenhüters.«

»Gibt es Neuigkeiten aus Ar?« fragte ich, ohne mich um Talenas nervöses Zusammenzucken zu kümmern.

»Dort herrscht Krieg«, sagte der Reiter erfreut. »Während die Bewohner Ars miteinander um die Zylinder kämpfen, sammelt sich eine Armee aus fünfzig Städten an den Ufern des Vosk. Sie will in Ar einfallen. Dort unten gibt es ein Lager, wie man es selten sieht – eine Stadt aus Zelten, pasanggroße Tharlarionweiden, und die Flügel der Tarns klingen wie Donner aus dem Himmel.«

Ihre Stimme klang gedämpft unter der Haube, als Talena jetzt sagte: »Die Geier kommen und fallen über die verwundeten Tarnkämpfer her.«

Es war ein goreanisches Sprichwort.

»Ich habe das Mädchen nicht angesprochen«, sagte der Krieger. »Sie trägt ihre Fesseln wohl noch nicht lange.«

»Welches ist dein Ziel?« fragte ich.

»Die Stadt der Zelte am Ufer des Vosk«, erwiderte der Krieger.

»Was gibt es Neues vom Ubar Marlenus?« fragte Talena.

»Du solltest sie schlagen«, sagte der Krieger, gab jedoch Antwort.

»Nichts. Er ist geflohen.«

»Und was gibt es Neues über den Heimstein von Ar und die Tochter des Marlenus?« fragte ich. So etwas mußte jeden Mann in Ar interessieren.

»Der Heimstein wird in hundert Städten vermutet. Man sagt auch, daß er vernichtet wurde. Nur die Priesterkönige wissen das!«

»Und die Tochter von Marlenus?«

»Sie ist bestimmt im Schlafgemach des kühnsten Tarnkämpfers auf Gor«, sagte der Krieger lachend. »Ich hoffe, er hat so viel Glück mit ihr wie mit dem Heimstein. Sie soll das Temperament eines Tharlarion haben – und ein entsprechendes Gesicht dazu.«

Talena erstarrte. »Ich habe gehört«, sagte sie hochmütig, »daß die Tochter des Ubar die schönste Frau auf ganz Gor ist.«

»Das Mädchen gefällt mir«, sagte der Krieger. »Überlaß sie mir!«

»Nein«, erwiderte ich.

»Überlaß sie mir, oder mein Tharlarion zertritt dich«, schnappte er. »Oder möchtest du lieber von meiner Lanze aufgespießt werden?«

»Du kennst die Regeln«, sagte ich ruhig. »Wenn du sie willst, mußt du mich herausfordern und mir die Wahl der Waffen überlassen.«

Das Gesicht des Kriegers verdunkelte sich. Dann warf er den prächtigen Kopf zurück und lachte. Seine Zähne schimmerten hell durch seinen buschigen Bart. »Einverstanden!« brüllte er, befestigte seine Lanze am Sattel und glitt zu Boden. »Ich fordere dich!«

»Schwert«, sagte ich.

»Gut«, erwiderte er.

Wir schoben die erschreckte Talena zur Seite, die nun mit ansehen mußte, wie zwei entschlossene Krieger um sie kämpften. Kazrak aus Port Kar war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, doch wir wussten bereits nach den ersten Sekunden, daß ich ihm überlegen war. Sein Gesicht war bleich unter seinem Helm, als er meinen wilden Angriff zu parieren versuchte. Einmal trat ich zurück und senkte die Schwertspitze zum Boden, die symbolische Gnadenbezeigung, falls er den Kampf abbrechen wollte. Aber das schien ihn noch mehr aufzubringen, denn er nahm seinen Angriff mit doppelter Kraft wieder auf.

Schließlich gelang es mir nach einem besonders heftigen Schlagwechsel, meine Klinge in seine Schulter zu bohren, und als sein Schwertarm herabsank, schlug ich ihm die Waffe aus der Hand. Stolz stand er auf der Straße und wartete auf den tödlichen Streich.

Ich wandte mich um und trat neben Talena, die niedergschlagen am Straßenrand stand und nun dem Augenblick entgegenfieberte, da ihr der Sieger die Haube abnehmen würde.

Als sie mich erblickte, stieß sie einen kleinen Freudenschrei aus. Dann sah sie den verletzten Krieger. Sie erschauderte. »Töte ihn!« befahl sie.

»Nein«, sagte ich.

Der Krieger, der sich seine blutende Schulter hielt, lächelte bitter. »Sie war den Kampf wert«, sagte er und musterte Talena.

Das Mädchen zerrte ihren Dolch aus meinem Gürtel und rannte auf den Mann zu. Im letzten Augenblick konnte ich verhindern, daß sie ihm die Klinge in die Brust stieß.

Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Du solltest sie mal auspeitschen«, sagte er sachlich.

Ich trennte einige Zentimeter Stoff vom Saum ihres Kleides ab, was Talena wütend über sich ergehen ließ. Ich hatte die Wunde kaum verbunden, als ich metallische Geräusche vernahm und mich plötzlich von berittenen Lanzenträgern umgeben sah, die die gleiche Kleidung trugen wie Kazrak. Hinter ihnen war eine lange Reihe breiter Tharlarions sichtbar, die die vierbeinige Abart der Rasse sind. Diese Ungeheuer zogen mächtige Wagen, die vollbepackt waren unter roten Planen. »Das ist die Karawane Mintars aus der Kaste der Kaufleute«, sagte Kazrak.

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