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Ich riß schützend den rechten Arm hoch, wobei der Tarnstab, der an dem Lederriemen hing, einen weiten Bogen beschrieb. Ich griff danach, benutzte ihn als Waffe, schlug damit nach dem zuschnappenden Schnabel, der mich packen wollte, als wäre ich ein Stück Nahrung auf dem flachen Teller des Zylinderdaches. Der Tarn stieß zweimal zu, und zweimal wehrte ich ihn ab. Dann zog er den Kopf zurück und öffnete den Schnabel, um erneut anzugreifen. In diesem Augenblick schaltete ich den Tarnstab ein und schlug kräftig zu. Hellschimmernde Funkenkaskaden sprühten, und ein Schrei der Wut und des Schmerzes ertönte, während der Tarn mit den Flügeln flatterte und sich mit einem plötzlichen Luftstoß aus meiner Reichweite brachte, der mich fast in die Tiefe geblasen hätte. Ich hockte auf Händen und Knien und versuchte mich wieder aufzurappeln. Der Tarn umkreiste den Zylinder und stieß durchdringende Schreie aus; dann begann er davonzufliegen.

Ohne nachzudenken, ergriff ich meine Tarnpfeife und blies hinein. Als der schrille Ton erklang, schien der Riesenvogel in der Luft zu erzittern, begann zu kreisen, verlor an Höhe, stieg dann wieder an. In seiner Brust tobte der Kampf zwischen der wilden Natur des Tarn, dem Ruf der fernen Berge und des freien Himmels mit dem Training, das er in seiner Jugend durchgemacht hatte.

Mit lautem Wutschrei kehrte er schließlich zum Zylinder zurück. Ich ergriff die kurze Leiter, die vom Sattel herabhing, erkletterte sie, setzte mich im Sattel zurecht und zog den breiten Purpurgurt fest der mich vor dem Sturz in die Tiefe bewahren sollte.

Der Tarn wird durch einen Halsgurt gelenkt, an dem gewöhnlich sechs Lederriemen befestigt sind, die in einem Metallring am Vorderteil des Sattels zusammenlaufen. Die Zügel sind verschieden gefärbt und führen zu verschiedenen, weit auseinanderliegenden Ringen am Halsriemen des Vogels. Um den Kurs zu bestimmen, zieht man nun den Zügel, dessen Ende am ehesten in die gewünschte Richtung zeigt. Wenn man etwa an Höhe verlieren oder landen will, benutzt man den vierten Zügel, der unmittelbar vor dem Hals des Tarn ausläuft. Zum Starten zieht man den ersten Zügel, der einen Druck auf den Ring an der Rückseite des Vogelhalses ausübt.

Gelegentlich wird auch der Tarnstab benutzt, um den Tarn zu lenken; dabei berührt man den Vogel in der entgegengesetzten Richtung, die man einschlagen will; beim Zurückweichen vor dem Stab wird der Vogel entsprechend fliegen. Diese Methode ist allerdings nicht sehr genau, weil die Reaktion ausschließlich instinktiv erfolgt.

Ich zog am ersten Zügel, und mit Entsetzen und Freude spürte ich den kräftigen Schlag der Flügel, die durch die Luft peitschten. Ich wurde heftig zurückgeworfen, aber der Sattelgurt hielt. Eine Minute lang vermochte ich nicht zu atmen; ich klammerte mich furchtsam an den Sattelring, die Hand um den ersten Zügel verkrampft. Der Tarn stieg immer weiter, und die Stadt der Zylinder fiel unter mir zurück. So etwas hatte ich noch nicht erlebt, und wenn ich mich noch nie wie ein Gott gefühlt hatte, dann bestimmt in diesem ersten Augenblick. Ich sah hinab und erblickte den Älteren Tarl auf seinem Tier, das mich zu überholen versuchte.

»Hallo, Kleiner!« rief er undeutlich herüber. »Willst du zu den Monden Gors aufsteigen?«

Ich spürte plötzlich, daß mir schwindlig wurde. Die Hügel und Ebenen Gors waren ein vielscheckiges, verschwommenes Muster unter mir; ich glaubte fast schon die Krümmung des Globus auszumachen, doch das muß eine Sinnestäuschung gewesen sein.

Ehe ich das Bewußtsein verlor, zog ich am vierten Zügel, und der Tarn begann wie ein angreifender Falke zu fallen – mit einer Geschwindigkeit, die mir den letzten Atem raubte. Ich ließ die Zügel fahren, was das Zeichen für einen beständigen Geradeausflug ist. Der große Tarn flatterte mit den Flügeln, fing Luft darunter ein und begann langsamer zu fliegen. Der Ältere Tarl, der sehr erfreut zu sein schien, manövrierte seinen Vogel in meine Nähe. Er deutete auf die Stadt, die nun mehrere Kilometer unter uns lag.

»Ein Rennen!« rief ich.

»Einverstanden!« brüllte er zurück, ließ seinen Tarn herumwirbeln und flog los. Ich war ärgerlich. Er war so geschickt im Umgang mit seinem Tier, daß er sofort in Führung ging und unmöglich zu überholen war.

Endlich vermochte auch ich den Tarn zu wenden und versuchte ihn anzuspornen. Mir kam der Gedanke, daß die Vögel doch eigentlich auch auf Laute reagieren mußten. Ich brüllte auf Goreanisch und Englisch:

»Har-ta! Har-ta! Schneller! Schneller!«

Der große Vogel schien zu spüren, was ich wollte. Eine bemerkenswerte Veränderung ging mit ihm vor. Er reckte den Kopf vor, und die Flügel schlugen die Luft plötzlich wie mit Peitschen, die Augen glühten auf, und jeder Muskel und Knochen schien Kraft auszustrahlen. Wir rasten davon.

Nach kaum einer Minute überholten wir den überraschten Tarl und waren gleich darauf auf dem großen Zylinder gelandet, von dem wir vor wenigen Minuten gestartet waren.

»Bei den Barten der Priesterkönige!« dröhnte der Ältere Tarl, als er seinen Vogel landete. »Das ist der Tarn aller Tarns!«

Die freigelassenen Tarns kehrten aus eigenem Antrieb zu ihren Ställen zurück, und der Ältere Tarl und ich gingen in meine Wohnung hinab. Er platzte förmlich vor Stolz. »Was für ein Tarn!« sagte er. »Ich hatte ein ganzes Pasang Vorsprung, und doch hast du mich überholt.« Das Pasang ist eine Entfernungseinheit auf Gor, die etwa einem Kilometer entspricht. »Dieser Tarn ist bestens geeignet für dich!« »Ich dachte, er wollte mich umbringen«, sagte ich. »Ich habe fast den Eindruck, daß die Tarnwächter ihre Tiere doch nicht ausreichend zähmen.«

»Nein!« rief der Ältere Tarl. »Das Training ist ausgezeichnet. Der Wille des Tarns darf nicht gebrochen werden – jedenfalls nicht bei einem Kampftarn. Er ist so weit gezähmt, daß es auf die Stärke seines Herrn ankommt, ob das Tier ihn auffrißt oder ihm gehorcht. Du wirst deinen noch kennenlernen, und er dich. Ihr beide werdet am H immel eins sein -der Tarn der Körper und du sein Wille. Du wirst in ständigem Waffenstillstand mit ihm leben. Wenn du schwach oder hilflos bist, tötet er dich. Solange du aber stark bleibst und dich als sein Herr behauptest, achtet und respektiert er dich.« Er schwieg einen Augenblick. »Wir waren uns deiner nicht sicher, dein Vater und ich, aber heute weiß ich es ganz genau. Du hast einen Tarn, einen Kampf tarn gezähmt. In deinen Adern muß das Blut deines Vaters fließen, der einmal Ubar, der Kriegsherr von Ko-ro-ba, der Stadt der Zylinder, war und jetzt ihr Administrator ist.«

Ich war überrascht, denn ich hatte nicht gewußt, daß mein Vater Kriegsherr dieser Stadt gewesen war und nun als ihr Oberster ziviler Beamter fungierte.

Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. Das Brausen von Flügeln ertönte vor unserem Fenster, und der Ältere Tarl stürzte sich auf mich und zog mich zu Boden. Im gleichen Augenblick zischte der Eisenbolzen einer Armbrust durch eines der schmalen Fenster herein, prallte sirrend gegen die Wand hinter meinem Stuhlbein und flog kreiselnd durch das Zimmer. Ich erhaschte einen Blick auf den schwarzen Helm eines Tarnsmannes, der schon wieder davonflatterte. Rufe ertönten, hastige Schritte waren zu hören. Ich eilte an das Fenster und sah, daß mehrere Armbrustbolzen hinter dem Angreifer herflogen, der schon fast ein halbes Pasang entfernt war.

»Ein Mitglied der Kaste der Attentäter«, sagte der Ältere Tarl. »Marlenus, der gern Ubar von ganz Gor wäre, weiß von deiner Existenz.«

»Wer ist Marlenus?« fragte ich mit zittriger Stimme.

»Das erfährst du morgen«, erwiderte der Ältere Tarl. »Und morgen wird man dir auch sagen, warum du nach Gor gebracht wurdest.«

»Warum kann ich das nicht jetzt erfahren?«

»Weil der Morgen schnell genug heranrückt«, antwortete der Ältere Tarl.

Ich starrte ihn an. »Und heute abend?« fragte ich.

»Heute abend«, sagte er, »besaufen wir uns.«

Am nächsten Morgen erwachte ich auf der Schlafmatte in der Ecke meiner Wohnung. Mir war kalt. Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen, und es war, als stachen mir unzählige Speerspitzen durch das Gehirn. Ich stemmte mich vorsichtig hoch, stand auf, stolperte zur Waschschüssel auf dem Tisch und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Was gestern abend vorgefallen war, wußte ich nicht mehr so recht. Der Ältere Tarl und ich hatten eine Runde durch die Tavernen der Stadt gemacht, und ich wußte noch, daß ich singend über schmale, geländerlose Brücken gestolpert war. Der Ältere Tarl hatte ebenfalls von dem gegorenen Kornsaft zuviel getrunken; Pagar-Sa-Tarna hieß er, Vergnügen der Lebenstochter. Er wurde aber stets nur ›Paga‹ genannt. Ich hatte keine große Lust, das Zeug jemals wieder zu probieren. Ich erinnerte mich auch an die Mädchen in der letzten Taverne, herrliche Gestalten in seidenen Tanzkleidern, Unterhaltungssklaven, wie Tiere zur Leidenschaft gezüchtet. Wenn es geborene Sklaven und geborene Freie gab, wie der Ältere Tarl behauptete, dann waren jene Mädchen geborene Sklavinnen gewesen. Es war unmöglich, sie sich anders vorzustellen; aber auch sie hatten sicherlich ein schmerzhaftes Erwachen, rappelten sich auf, säuberten sich. Ich erinnerte mich besonders an ein Mädchen, ein gertenschlanker Körper, das schwarze Haar wirr auf den braunen Schultern, die Glocken an ihren Fußgelenken, das leise Klingen in der verhängten Nische. Ich mußte plötzlich daran denken, daß ich dieses Mädchen gern länger besessen hätte, als die eine Stunde, für die ich sie bezahlt hatte. Ich verbannte den Gedanken aus meinem schmerzenden Kopf und knöpfte eben meine Tunika zu, als der Ältere Tarl den Raum betrat. »Wir gehen jetzt in den Ratssaal«, sagte er.

Ich folgte ihm.

Der Ratssaal ist der Raum, in dem die gewählten Vertreter der Hohen Kasten Ko-ro-bas ihre Zusammenkünfte abhalten. Jede Stadt hat einen solchen Raum. Er befand sich im größten Zylinder, und die Decke war mindestens sechsmal so hoch wie ein gewöhnlicher Raum. Die Lichtpunkte, die mich an den Sternenhimmel erinnerten, funkelten an der Decke, und die Wände waren waagerecht mit Farbstreifen bemalt – von unten nach oben in weißer, blauer, gelber, grüner und roter Farbe, gemäß den Farben der Kasten. Steinbänke für die Ratsmitglieder erhoben sich in fünf Ebenen an diesen Wänden – eine Ebene für jede der Hohen Kasten. Die Bänke entsprachen der Färbung der Wand hinter ihnen.

Die unterste Bank, weißgestrichen, war den Wissenden Vorbehalten, den Interpreten des Willens der Priesterkönige. Hinter ihnen saßen – in dieser Reihenfolge – die Vertreter der Schriftgelehrten, Hausbauer, Ärzte und Krieger.

Ich stellte fest, daß Torm nicht zu den Vertretern der Schriftgelehrten gehörte, und lächelte. »Ich bin zu praktisch veranlagt«, hatte Torm gesagt, »um mich mit den unnützen Dingen des Regierens zu beschäftigen.«

Angenehm fiel mir auf, daß meiner eigenen Kaste, der Kaste der Krieger, der geringste Status zukam; wenn es nach mir gegangen wäre, hätten die Krieger überhaupt nicht zu den Hohen Kasten gezählt. Andererseits hatte ich sehr viel dagegen einzuwenden, daß die Kaste der Wissenden den Ehrenplatz einnahm, da sie mir noch mehr als die Soldaten unproduktive Mitglieder der Gesellschaft zu sein schienen. Die Krieger boten der Stadt wenigstens ihren Schutz, während die Wissenden allenfalls Heilung von Krankheiten und Plagen zu bieten hatten, die sie weitgehend selbst suggeriert hatten.

In der Mitte des kreisförmigen Saals erhob sich eine Art Thron, auf dem in seiner Staatskleidung – einem einfachen braunen Umhang – mein Vater saß, Administrator Ko-ro-bas, einst Ubar, Kriegsherr der Stadt. Zu seinen Füßen lagen ein Helm, ein Schild, ein Speer und ein Schwert. »Tritt vor, Tarl Cabot«, sagte mein Vater, und ich stand vor seinem Thron und spürte die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen. Hinter mir wartete der Ältere Tarl, dem nichts von der vergangenen Nacht anzumerken war.

Der Ältere Tarl ergriff das Wort: »Ich, Tarl, Schwertkämpfer Ko-ro-bas, gebe mein Wort, daß dieser Mann geeignet ist, Mitglied der Hohen Kaste der Krieger zu werden.«

Mein Vater antwortete ihm nach dem festgelegten Ritual: »Kein Turm in Ko-ro-ba ist stärker als das Wort Tarls, des Schwertkämpfers unserer Stadt. Ich, Matthew Cabot von Ko-ro-ba, akzeptiere sein Wort.«

Von der unteren Bank an aufwärts stand nun jedes Ratsmitglied auf, nannte seinen Namen und erklärte, daß er auch seinerseits das Wort des blonden Schwertkämpfers anerkenne. Als alle fertig waren, überreichte mir mein Vater die Waffen, die vor dem Thron gelegen hatten. Um meine Schulter legte er das Stahlschwert, befestigte an meinem linken Arm den runden Schild, drückte mir den Speer in die rechte Hand und senkte langsam den Helm auf meinen Kopf.

»Wirst du den Kodex der Krieger einhalten?« fragte mein Vater.

»Ja«, sagte ich.

»Welches ist dein Heimstein?« fragte mein Vater.

Ich ahnte, welche Antwort von mir erwartet wurde, und antwortete: »Mein Heimstein ist der Heimstein Ko-ro-bas.«

»Und dieser Stadt verpfändest du dein Leben, deine Ehre und dein Schwert?« fragte mein Vater.

»Ja«, sagte ich.

»Dann« fuhr mein Vater fort und legte mir feierlich die Hände auf die Schultern, »erkläre ich dich hiermit in meiner Eigenschaft als Administrator dieser Stadt in Gegenwart des Rates der Hohen Kasten zum Krieger von Ko-ro -ba.«

Mein Vater lächelte. Ich nahm den Helm ab und war sehr stolz, als ich die Zustimmung des Rates vernahm, die goreanische Abart des Beifalls, die darin bestand, daß die rechte Hand in schneller Folge auf die linke Schulter geschlagen wird. Abgesehen von den Kandidaten, die in die Kaste der Krieger aufgenommen werden sollten, durfte niemand den Ratssaal bewaffnet betreten. Wären sie bewaffnet gewesen, hätten meine Kastenbrüder auf der letzten Bank ihren Beifall mit Speer und Schild kundgetan; so begnügten sie sich mit der allgemein üblichen Beifallsbezeigung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie stolz waren auf mich, obwohl ich mir den Grund dafür nicht vorstellen konnte.

Jedenfalls hatte ich noch nichts geleistet, was ihr Interesse rechtfertigte. Im Gefolge des Älteren Tarls verließ ich den Ratssaal und beitrat einen kleinen Nebenraum, um dort auf meinen Vater zu warten. Der Raum enthielt einen Tisch, auf dem einige Landkarten lagen. Der Altere Tarl beugte sich sofort darüber. Er rief mich an seine Seite, begann sich eingehend damit zu beschäftigen und zeigte mir diese und jene Stelle. »Und hier«, sagte er schließlich und setzte seinen Finger auf das Blatt, »liegt die Stadt Ar, der Erzfeind Ko-ro-bas, die Hauptstadt Marlenus, der Ubar von ganz Gor werden will.« »Hat das etwas mit mir zu tun?« fragte ich. »Ja«, sagte der Ältere Tarl. »Du wirst nach Ar reisen. Du sollst den Heimstein Ars stehlen und ihn nach Ko-ro-ba bringen.«

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