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Pa-Kur hatte mich überlistet. Niedergeschlagen, verließ ich das Lager des Oberbefehlshabers und kehrte in Kazraks Zelt zurück. In den nächsten Tagen versuchte ich Erkundigungen einzuziehen; ich befragte Sklaven, forderte Schwertkämpfer heraus und ließ mich auf mancherlei Gefahren ein, um die gewünschte Information zu bekommen. Doch wenn ich überhaupt eine Antwort erhielt – durch das Schwert oder durch den Einsatz goldener Tarn-Münzen -, war sie immer gleich, nämlich daß Talena in dem rotgelben Zelt wohnte. Wahrscheinlich wußte nur Pa-Kur, wo sich das Mädchen wirklich aufhielt.

In meiner Verzweiflung machte ich mir klar, daß ich mit meinen hastigen Erkundigungen nur eins bewirkt hatte; Pa-Kur mußte nun wissen, daß sich jemand verzweifelt für den Aufenthaltsort des Mädchens interessierte, woraufhin der Attentäter seine Sicherheitsvorkehrungen nur noch verstärken würde. In diesen Tagen trug ich die einfache Kleidung eines Tarnsmanns; trotzdem entging ich den Suchtrupps Pa-Kurs einige Male nur mit knapper Not; sie wurden zumeist von Männern geführt, die ich in meiner Verzweiflung ausgefragt hatte. In Kazraks Zelt zog ich niedergeschlagen Bilanz – ich mußte mir eingestehen, daß Marlenus Tarnkämpfer ausgeschaltet worden war und in dem Spiel keine Rolle mehr spielte. Ich überlegte, ob ich Pa-Kur töten sollte – aber das hätte mich wahrscheinlich dem ersehnten Ziel nicht nähergebracht.

Es waren entsetzliche Tage. Ich erhielt keinerlei Nachricht von Kazrak, und die Berichte aus der Stadt über die Lage Marlenus begannen sich zu widersprechen. Es war daraus zu schließen, daß er und seine Männer überwältigt waren und sich der Zentralturm wieder voll in der Gewalt der Wissenden befand. Und wenn seine Niederlage noch nicht eingetreten war, wurde sie jedenfalls stündlich erwartet. Die Belagerung dauerte nun schon zweiundfünfzig Tage, und die Streitkräfte Pa-Kurs hatten die erste Mauer überwunden. Sie wurde an sieben Stellen methodisch abgetragen, um den Belagerungstürmen Zugang zum zweiten Wall zu gewähren. Zusätzlich wurden Hunderte von leichten ›Flugbrücken‹ konstruiert; im Augenblick des Angriffs sollten diese von der ersten zur zweiten Mauer hinübergelegt werden, und die Kämpfer Pa-Kurs würden zum hochaufragenden zweiten Verteidigungswall der Stadt hinaufklettern. Den Gerüchten zufolge reichten bereits Dutzende von Tunnels bis weit hinter die zweite Mauer und konnten an verschiedenen Stellen in der Stadt jederzeit geöffnet werden. Es war Ars großes Pech, daß es in dieser schweren Zeit ausgerechnet in der Gewalt der schwächsten aller Kasten stand, der Kaste der Wissenden, die sich nur in Mythologie und Aberglaube auskannten. Aus Berichten von Deserteuren ging hervor, daß hinter den Mauern Hunger herrschte und daß das Wasser knapp wurde.

Einige Verteidiger öffneten die Adern der Tarns und tranken ihr Blut. Hier in unserem Lager rechnete man täglich, ja, stündlich mit dem Fall der Stadt. Doch Ar wehrte sich.

Ich bin der ehrlichen Überzeugung, daß die mutigen Kämpfer Ars ihre Stadt bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hätten, doch die Wissenden wollten es anders. Überraschend erschien der Oberste Wissende der Stadt auf den Mauern. Er hob einen Schild in die Höhe und legte ihn dann zusammen mit einem Speer vor seinen Füßen ab. Diese Geste ist nach goreanischer Gepflogenheit die Bitte um eine Zusammenkunft, um einen Waffenstillstand, ein zeitweiliges Ablegen der Waffen. Bei einer Kapitulation werden die Schildgriffe und der Speerschaft gebrochen, zum Zeichen, daß sich der Unterlegene selbst entwaffnet hat und sich der Gnade des Siegers ergibt.

Kurz darauf erschien Pa-Kur auf der ersten Mauer gegenüber dem Obersten Wissenden und vollzog die gleiche Geste. Am gleichen Abend wurden Botschafter ausgetauscht, und in Noten und Konferenzen wurden die Kapitulationsbedingungen festgelegt. Bei Tagesanbruch waren die wichtigsten Bedingungen im Lager bekannt, und Ar war gefallen.

Den Wissenden ging es bei den Verhandlungen weitgehend darum, ihre eigene Sicherheit zu garantieren und nach Möglichkeit eine Verwüstung der Stadt zu verhindern. Entsprechend war ihre erste Bedingung, daß Pa-Kur ihnen eine Generalamnestie gewähren sollte. Pa-Kur ging bereitwillig auf diese Forderung ein; ein sinnloses Abschlachten der Wissenden wäre für seine Truppen ein böses Omen gewesen, außerdem konnten sie ihm bei der Kontrolle der Bevölkerung wertvolle Dienste leisten. Weiterhin forderten die Wissenden, die Stadt dürfe nur durch zehntausend bewaffnete Soldaten besetzt werden, während die übrigen Kämpfer der Horde die Tore nur unbewaffnet passieren sollten. Es folgte eine Vielzahl von kleineren, komplizierten Konzessionen und Bedingungen, die zumeist mit der Versorgung der Stadt und dem Schutz ihrer Kaufleute und Bauern zu tun hatten. Pa-Kur stellte seinerseits die harten Forderungen, die einem goreanischen Eroberer im allgemeinen zustehen. Die Bevölkerung sollte völlig entwaffnet werden. Offiziere der Kriegerkaste und ihre Familien wurden aufgespießt und in der Bevölkerung jeder zehnte Mann hingerichtet. Die tausend schönsten Frauen der Stadt wurden Pa-Kur als Freudensklavinnen zur Verfügung gestellt, der sie an seine höchsten Offiziere weiterreichte. Von den anderen freien Frauen sollten dreißig Prozent – wiederum die gesündesten und attraktivsten – an die Soldaten versteigert werden; der Ertrag kam Pa-Kur zu. Siebentausend junge Männer sollten die Reihen seiner Belagerungssklaven schließen. Kinder unter zwölf wurden beliebig auf die anderen freien Städte Gors verteilt. Und was die Sklaven Ars anging, so sollten sie dem gehören, der ihren Kragen auswechselte. Bei Morgendämmerung verließ eine gewaltige Prozession das Lager Pa-Kurs, und als sie die Hauptbrücke über den ersten Graben erreichte, begann sich in der Ferne das große Tor der Stadt zu öffnen. Ich war vermutlich der einzige in der riesigen Zuschauermenge, dem nach Weinen zumute war – vielleicht mit der Ausnahme Mintars. Pa-Kur ritt an der Spitze der zehntausend Mann Besatzungsmacht. Sein Reittier war ein juwelengeschmückter schwarzer Tharlarion, ein seltenes Tier. Verwundert sah ich, daß die große Prozession anhielt und acht Mitglieder der Kaste der Attentäter eine Sänfte herantrugen. Plötzlich merkte ich auf. Die Sänfte wurde neben Pa-Kurs Tharlarion abgesetzt. Ein Mädchen wurde herausgehoben. Sie trug keinen Schleier, und mein Herz machte einen Sprung. Es war Talena! Aber sie trug nicht die Roben einer Ubara. Sie war barfuß und war in einen langen weißen Umhang gekleidet. Zu meinem Erstaunen waren ihre Handgelenke mit goldenen Handschellen gefesselt; eine goldene Kette ging davon aus, die Pa-Kur nun am Sattel seines Tharlarion befestigte. Im dumpfen Rhythmus der Tarntrommeln setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, und Talena schritt würdevoll neben dem Tharlarion ihres Siegers einher.

Ich konnte mein Entsetzen kaum verbergen, so daß ein Tharlarionreiter neben mir amüsiert sagte: »Eine der Kapitulationsbedingungen. Talena, die Tochter Marlenus, wird aufgespießt.«

»Aber warum?« fragte ich. »Sie sollte doch Pa-Kurs Braut sein, sollte Ubara von Ar werden.«

»Als Marlenus floh«, sagte der Mann, »haben die Wissenden entschieden, daß alle Mitglieder seiner Familie aufgespießt werden.« Er lächelte grimmig. »Um nun vor den Stadtbewohnern das Gesicht zu waren, haben sie gefordert, daß sich Pa-Kur an dieses Urteil hält.« »Und Pa-Kur hat zugestimmt?«

»Natürlich«, sagte der Mann. »Ihm ist jeder Schlüssel recht, der das Stadttor öffnet.«

Mir wurde schwindlig, und ich taumelte durch die Reihen der Soldaten, die die Prozession beobachteten. Ich hastete durch die verlassenen Straßen des Lagers und suchte mir blindlings meinen Weg zu Kazraks Zelt. Ich warf mich auf den Schlafsack und begann zu weinen. Dann krallten sich meine Hände in den Stoff, und ich schüttelte heftig den Kopf, um den unkontrollierten Ansturm der Gefühle abklingen zu lassen. Der Schock, Talena wiederzusehen und das Schicksal zu erfahren, das sie erwartete, war einfach zuviel gewesen. Ich mußte mich zusammennehmen.

Mit langsamen Bewegungen stand ich schließlich auf und legte den schwarzen Helm und die Uniform der Kaste der Attentäter an. Ich lockerte das Schwert in seiner Scheide, schob den Schild auf meinen linken Arm und ergriff meinen Speer. Entschlossen verließ ich das Zelt. Mit schnellen Schritten ging ich zu dem großen Tarnstall am Eingang des Lagers.

Mein Tarn wurde mir gebracht. Er schimmerte gesund und schien voller Energie zu sein. Die Tage der Ruhe hatten ihm gutgetan; andererseits sehnte er sich bestimmt nach der Weite des Himmels. Ich warf dem Tarnwächter eine goldene Tarnmünze zu. Er hatte gute Arbeit geleistet. Ve rwirrt hielt er mir die Münze hin. Eine goldene Tarnmünze ist ein kleines Vermögen. Ich stieg in den Sattel und schnallte mich fest. Ich sagte dem Tarnpfleger, daß er das Geld behalten sollte – eine Geste, die mich seltsam erfreute. Außerdem rechnete ich nicht damit, daß ich noch die Chance hätte, das Geld selbst auszugeben. »Bringt mir vielleicht Glück«, sagte ich. Dann zog ich am ersten Zügel und ließ den gewaltigen Vogel in die Lüfte steigen.

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