John Norman Gor: Die Gegenerde (Tarnreiter von Gor)

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Ich heiße Tarl Cabot. Mein Nachname leitet sich angeblich von dem italienischen Namen Caboto her, doch ich wüßte nicht, daß da eine Verbindung bestünde, zumal unsere Familie – einfache Kaufleute in Bristol – stets mit heller Hautfarbe und ungebändigtem grellrotem Haar gesegnet war. Auch mein Vorname ist ungewöhnlich und hat mir besonders in der Schulzeit oft zu schaffen gemacht. Er wurde mir von meinem Vater gegeben, der aus meinem Leben verschwand, als ich noch sehr jung war. Ich hielt ihn für tot, bis ich fast zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden eine seltsame Botschaft von ihm erhielt, Meine Mutter war etwa zur Zeit meiner Einschulung gestorben. Biographische Details sind stets langweilig zu lesen; ich will mich daher auf die Bemerkung beschränken, daß ich ein kluges Kind war, ziemlich groß für mein Alter, und von einer Tante erzogen wurde, die mir alles gab, was sich ein Kind wünschen konnte – außer Liebe.

Auch die Universität Oxford brachte ich mit Anstand hinter mich und fand mich schließlich, angemessen gebildet, auf der Schwelle des Lebens -mit der Erkenntnis, daß ich mich nicht ohne weiteres in die Welt würde einfügen können, von der die Bücher sprachen. Da ich mit englischer Geschichte einigermaßen zurechtgekommen war, bewarb ich mich bei mehreren klein amerikanischen Colleges um einen Platz als Geschichtslehrer. Meine Oxford-Professoren waren so freundlich, die etwas übertriebene Schilderung meines Ausbildungsstands mit Empfehlungsschreiben zu bestätigen, und so fand sich schließlich ein kleines liberales College in New Hampshire, das in Verhandlungen trat. Ich war sicher, daß man drüben der Wahrheit bald auf die Spur kommen würde, aber zunächst hatte ich freie Passage nach Amerika und eine Stellung, die mindestens ein Jahr dauern würde Diesen Umstand fand ich sehr angenehm, wenn ich auch den Verdacht nicht los wurde, daß ich im wesentlichen als exotisches Element eingestellt worden war; gewiß hatte es andere amerikanische Bewerber gegeben, die mir an Gelehrsamkeit und Empfehlungen weit überlegen waren – bis auf den klaren britischen Akzent.

Amerika gefiel mir sehr, obwohl ich im ersten Semester angespannt arbeiten mußte, um meinen Studenten wenigstens um eine Nasenlänge voraus zu sein. Ich machte die enttäuschende Entdeckung, daß man als Engländer nicht automatisch auch eine Autorität auf dem Gebiet der englischen Geschichte ist. Zum Glück wußte mein Vorgesetzter, ein milder bebrillter Mann, noch weniger über das Thema als ich – oder ließ mich zumindest in dem Glauben.

Die Weihnachtsferien waren mir eine große Hilfe – ich wollte die Zeit nutzen, meine Führung vor den Studenten noch etwas auszubauen. Aber nach all den Arbeiten, Prüfungen und Beurteilungen des ersten Semesters überkam mich das unwiderstehliche Verlangen, das britische Empire links liegen zu lassen und mich einmal auszutoben; ich wollte einen Campingausflug in die nahegelegenen White Mountains machen. Ich borgte mir eine Campingausrüstung von einem der wenigen Freunde, die ich am College gewonnen hatte, und ließ mich von ihm in die Berge fahren. Wir vereinbarten, daß er mich genau in drei Tagen an der gleichen Stelle wieder abholen sollte. Als erstes überprüfte ich meinen Kompaß, als wüßte ich genau, was mir bevorstand, und kurz darauf war ich in den Wäldern unterwegs. Ich hatte keine Angst vor der Begegnung mit der Natur – ich war eher angenehm berührt, mit mir selbst, den grünen Kiefern und den Schneefeldern allein zu sein. Zwei Stunden war ich unterwegs, ehe mir das Bündel auf meinem Rücken zu schwer wurde. Ich nahm eine kalte Mahlzeit zu mir und stieß kurz darauf noch tiefer in die Berge vor.

Gegen Abend legte ich mein Bündel bei einem Felsplateau ab und begann Feuerholz zu sammeln. Ich hatte mich einige Meter von meinem provisorischen Lager entfernt, als ich verblüfft stehenblieb. In der Dunkelheit zu meiner Linken strahlte etwas einen ruhigen, blauen Schimmer aus. Ich näherte mich vorsichtig dem Objekt. Es schien sich um einen rechteckigen Metallumschlag zu handeln, kaum größer als ein gewöhnlicher Brief. Die Haare standen mir zu Berge, meine Augen weiteten sich. Auf dem Umschlag standen in veralteten englischen Lettern zwei Worte – mein Name, Tarl Cabot.

Das war natürlich ein Witz. Irgendwie war mir mein Freund gefolgt und versteckte sich jetzt in der Dunkelheit. Lachend rief ich seinen Namen. Doch es kam keine Antwort. Nach einer vergeblichen Suche, die mich recht ärgerlich stimmte, kam ich zu dem Schluß, daß er das Objekt für mich zurückgelassen hatte. Ich nahm es zur Hand. Es kam mir kälter vor, wenn es auch immer noch eine gewisse Wärme ausstrahlte. Ein seltsames Ding.

Ich nahm es mit in mein Lager und entzündete mein Feuer, das mich vor Dunkelheit und Kälte schützen sollte. Mein Atem ging schwer. Das Herz pochte mir in der Brust. Ich hatte Angst.

Mit langsamen Bewegungen machte ich mir eine Dose Bohnen heiß und verzehrte sie, um durch die gewohnte Tätigkeit meine Gedanken von dem unheimlichen Brief abzulenken. Als ich ihn schließlich wieder anschaute, glühte er nicht mehr. Wie lange hatte er dort im Wald gelegen? Es war fast, als hätte das Glühen nur den Zweck gehabt, mich auf den Umschlag aufmerksam zu machen – ein Ziel, das nun erreicht war.

Die Schrift auf dem Brief, die in das Metall eingelassen zu sein schien, erinnerte mich an die Abbildungen von Dokumenten in meinen Geschichtsbüchern. Der Umschlag hatte keine Lasche; als ich mit dem Daumen darüberfuhr, blieb keine Spur zurück. Widerstrebend nahm ich den Dosenöffner zur Hand und versuchte die Metallspitze durch den Umschlag zu drücken. So leicht der Umschlag auch zu sein schien, er setzte dem Metall Widerstand entgegen, als hätte ich es mit einem Amboß zu tun. Der Dosenöffner bog sich zur Seite, doch der Umschlag wies nicht Einmal einen Kratzer auf.

Verwirrt sah ich mir das Gebilde an. Auf der Rückseite zeigte sich ein kleiner Kreis, in dem ein Daumenabdruck zu sehen war. Ich wischte ihn an meinem Ärmel ab, doch der Fleck blieb. Ich drückte mit dem Zeigefinger darauf, doch es geschah nichts. Ich war des Herumrätseins müde und legte mich zu Bett. Ich konnte lange Zeit nicht einschlafen, denn ich fühlte mich seltsam allein. Ich kam wir wie das einzige lebendige Wesen auf dem Planeten vor: Es war mir fast, als läge mein Schicksal außerhalb unserer kleinen Welt, irgendwo in den fernen, fremden Gefilden der Sterne. Plötzlich kam mir ein Gedanke, und ich wußte, was ich tun mußte. Dieser Umschlag war kein Witz, kein Trick. Irgend etwas in meinem innern kannte die Wahrheit, hatte von Anfang an Bescheid gewußt. Halb im Traum legte ich neues Holz auf das glimmende Feuer, nahm den Umschlag und drückte langsam den rechten Daumen auf den Kreis. Und wie ich es erwartet, ja,

befürchtet hatte – der scheinbar aus einem Stück bestehende Brief öffnete sich knisternd.

Ein Gegenstand fiel heraus – ein Ring aus rotem Metall mit dem einfachen Zeichen ›C‹. In meiner Erregung nahm ich kaum Notiz davon. Eine Schrift zog sich über die Innenseite des Umschlages – in den gleichen Buchstaben wie die Anschrift.

Ich erstarrte, als ich das Datum bemerkte – der Brief war am 3. Februar 1640 geschrieben, vor über dreihundert Jahren. Seltsamerweise hatten wir auch heute den 3. Februar. Die Unterschrift unter dem Brief war in moderner Schrift gehalten.

Ich kannte diese Schriftzüge, hatte sie ein- oder zweimal auf Briefen gesehen, die meine Tante aufbewahrte. An den Mann erinnerte ich mich nicht – es war die Unterschrift meines Vaters Matthew Cabot, der in meiner frühen Jugend verschwunden war. Der Wald um mich drehte sich; ich konnte mich nicht bewegen. Es wurde mir für einen Augenblick schwarz vor Augen. Schließlich schüttelte ich mich, biß die Zähne zusammen und sagte mir, daß ich ja noch lebte, daß ich nicht träumte, daß ich hier einen Brief in Händen hielt, der über dreihundert Jahre nach seiner Niederlegung zugestellt war, von einem Mann geschrieben, der nach unserer Zeitrechnung jetzt um die fünfzig sein mußte. Noch heute erinnere ich mich an jedes Wort dieses Schreibens:

Am Dritten Tag des Februar, im Jahr Unseres Herrn 1640

Tarl Cabot, mein Sohn:

Verzeih mir, aber es bleibt keine andere Wahl. Die Entscheidung ist gefallen. Tu, was immer Du in Deinem eigenen Interesse für richtig hältst, aber Du bist auserkoren. Du kannst Deinem Schicksal nicht entgehen. Ich wünsche Dir und Deiner Mutter alles Gute. Trag den Ring aus rotem Metall bei Dir und bring mir bitte eine Handvoll grüner Erde mit.

Behalte diesen Brief nicht bei dir. Er wird vernichtet.

Mit Zuneigung Matthew Cabot.

Ich las den Text immer wieder und wurde dabei unnatürlich ruhig. Ich war sicher, daß ich noch bei Sinnen war. Ich steckte den Brief in meinen Rucksack. Ich mußte sofort in die Stadt zurück. Ich wußte nicht, wieviel Zeit mir blieb, aber wenn es einige Stunden waren, konnte ich vielleicht noch eine Landstraße, einen Fluß oder eine Hütte erreichen.

Ich sah mich unruhig um. Irgendwie hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden – ein unschöner Gedanke. Ich zog Stiefel und Mantel an, schnürte mein Bündel und trat das Feuer aus.

In der Asche schimmerte etwas. Ich bückte mich und nahm den Ring auf. Er war warm vom Feuer, doch er war hart und real ein Stück Wirklichkeit. Er existierte. Ich ließ ihn in meine Manteltasche gleiten.

Von dem unbestimmten Drang getrieben, das Lager verlassen zu müssen, marschierte ich durch die Dunkelheit davon. Ich forderte das Unglück heraus, denn ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ich hatte mich vielleicht zwanzig Minuten lang von Baum zu Baum getastet, als zu meinem Entsetzen Schlafsack und Bündel auf meinem Rücken in Flammen aufgingen. Mit hastiger Bewegung schleuderte ich das heiße Gebilde von mir. Es war, als starrte ich in einen Hochofen. Ich wußte, daß der Brief die Ursache für das Inferno war, und erschauderte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn ich den Umschlag in der Manteltasche gehabt hätte.

Wenn ich heute darüber nachdenke, ist es eigentlich seltsam daß ich nicht Hals über Kopf geflohen bin. Vielmehr untersuchte ich die Überreste meines Schlafsacks mit einer kleinen Taschenlampe und stellte fest, daß sich der Umschlag anscheinend Spur aufgelöst hatte.

Ein unbekannter Duft hing in der Luft.

Ich überlegte, ob der Ring vielleicht auf ähnliche Weise au flammen könnte, aber seltsamerweise bezweifelte ich das.

War ich in dem Brief nicht ausdrücklich gebeten worden, den Ring zu tragen und den Brief fortzuwerfen? Eine Warnung, ich leichtsinnig in den Wind geschlagen hatte.

Jedenfalls hatte ich noch den Kompaß, der eine feste Bindung zur Wirklichkeit darstellte. Der lautlose Flammenausbruch hatte mich verwirrt; ich wußte die Richtung nicht mehr. Mein Kompaß würde mir weiterhelfen. Doch als ich das Gerät öffnete, wollte mir das Herz stehenbleiben. Die Nadel fuhr wild im Kreis herum als existierten die Naturgesetze plötzlich nicht mehr.

Zum erstenmal seit meinem seltsamen Fund verlor ich die Nerven. Der Kompaß war mein Anker gewesen, meine Basis, auf die ich mich verlassen hatte. Ein lautes Geräusch ertönte – gewiß meine Stimme, ein plötzliches erschrecktes Aufheulen, das mir immer schmachvoll in Erinnerung bleiben wird.

Im nächsten Augenblick raste ich wie ein entsetztes Tier davon.

Wie lange ich gelaufen bin, weiß ich nicht mehr. Vielleicht einige Stunden lang, vielleicht auch nur Minuten. Unzählige Male stolperte ich und stürzte oder wurde von stechenden Kieferästen aufgehalten. Der Mond ging auf und tauchte den Hang in sein kaltes Licht. Ich sank atemlos zu Boden. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ungezügelte Angst verspürt, der ich mich völlig ergeben hatte, wie einer Kraft, der man keinen Widerstand entgegensetzen kann. Ich mußte mich vor dieser Macht hüten. Ich sah mich um und erblickte das Felsplateau, auf dem ich mein Lager errichtet hatte, und die Asche meines Feuers. Ich war zu meinem Lager zurückgekehrt.

Ich spürte die Erde unter mir, den Druck gegen meine schmerzenden Muskeln, den schweißüberströmten Körper. Und ich wußte, daß es gut war, Schmerz zu verspüren. Gefühle waren wichtig. Ich lebte. Ich sah das Schiff herabsinken. Einen kurzen Moment sah es wie eine Sternschnuppe aus, dann trat es deutlich hervor – als eine breite, dicke Silberscheibe. Lautlos ging es auf dem Felsplateau nieder. Ein leichter Hauch fuhr durch die Nadeln am Boden, und ich stand auf. Im gleichen Augenblick öffnete sich lautlos eine Tür in der Flanke des Schiffes. Ich mußte es betreten. Die Worte meines Vaters kamen mir in den Sinn. »Du kannst Deinem Schicksal nicht entgehen.« Ehe ich das Schiff betrat, blieb ich einen Augenblick stehen und nahm eine Handvoll grüner Erde auf, worum mich mein Vater gebeten hatte. Auch mir war es wichtig, etwas bei mir zu haben, das meine Heimat war. Erde von meinem Planeten, meiner Welt.

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