Laudas Hypothese

Dr. Lauda klopfte an die Kabinentür des Astrogators. Als er eintrat, sah er ihn etwas in eine fotogrammetrische Karte einzeichnen.

„Was gibt's?“ fragte Horpach, ohne den Kopf zu heben.

„Ich wollte Ihnen etwas sagen.“

„Eilt es? In fünfzehn Minuten starten wir.“

„Ich weiß nicht. Wie es scheint, begreifen wir allmählich, was hier vorgeht“, sagte Lauda.

Der Astrogator legte die Zirkel aus der Hand. Ihre Blicke trafen sich. Der Biologe war nicht jünger als der Kommandant, merkwürdig, daß man ihm noch erlaubte zu fliegen. Offensichtlich war ihm besonders daran gelegen. Er glich mehr einem alten Mechaniker als einem Wissenschaftler.

„Wie scheint es, Doktor? Ich höre.“

„Im Ozean ist Leben vorhanden“, antwortete der Biologe.

„Im Ozean ist Leben, und auf dem Festland nicht.“

„Wieso? Auf dem Festland hat es auch Leben gegeben, Ballmin hat doch Spuren gefunden.“

„Ja, aber sie sind mehr als fünf Millionen Jahre alt.

Später wurde alles, was auf dem Festland lebte, ausgerottet.

Was ich sage, Astrogator, klingt phantastisch, und ich habe eigentlich so gut wie keine Beweise, aber… es war so: Stellen Sie sich vor, daß einstmals, eben vor Jahrmillionen, hier eine Rakete aus einem anderen System gelandet ist, vielleicht aus den Regionen einer Nova.“

Er sprach jetzt schneller, aber ruhig.

„Wir wissen, daß vor der Explosion der Zeta der Leier vernunftbegabte Wesen den sechsten Planeten des Systems bewohnt haben. Sie hatten eine hockentwickelte, technische Zivilisation. Nehmen wir an, ein Aufklärer der Leierbewohner ist hier gelandet, und es hat eine Havarie gegeben oder ein anderes Unglück, dem die ganze Besatzung zum Opfer gefallen ist — sagen wir, eine Reaktorexplosion, eine Kettenreaktion… Jedenfalls hatte das Wrack, als es auf der Regis aufsetzte, nicht ein einziges lebendes Wesen mehr an Bord. Unversehrt waren nur die Automaten. Nicht solche wie unsere, keine menschenähnlichen. Die Leierbewohner waren wahrscheinlich auch nicht menschenähnlich.

Die Automaten blieben also unversehrt und verließen das Schiff. Es waren hochspezialisierte homöostatische Mechanismen, fähig, unter den schwierigsten Bedingungen zu überdauern. Sie hatten jetzt niemanden mehr über sich, der ihnen hätte befehlen können. Die Automaten, die in ihrer geistigen Struktur den Leierbewohnern am nächsten standen, versuchten vielleicht, das Schiff zu reparieren, obwohl das in dieser Situation sinnlos war. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Ein Reparaturroboter wird stets alles reparieren, was zu seinem Aufgabenbereich gehört, ganz gleich, ob es von Nutzen ist oder nicht. Dann gewannen jedoch die anderen Automaten die Oberhand. Sie machten sich von den anderen unabhängig. Vielleicht versuchte die einheimische Fauna, sie anzugreifen. Hier lebten echsenähnliche Reptilien, es gab also auch Raubtiere, und bestimmte Raubtiere greifen alles an, was sich bewegt. Die Automaten nahmen den Kampf mit ihnen auf und besiegten sie. Für diesen Kampf mußten sie gewappnet sein. Sie wandelten sich also, um sich so gut wie möglich den planetaren Bedingungen anzupassen.

Wesentlich war dabei meines Erachtens, daß diese Automaten imstande waren, je nach Bedarf andere Automaten zu produzieren. Sagen wir also für die Bekämpfung fliegender Echsen wurden Flugmaschinen gebraucht. Natürlich kenne ich keinerlei konkrete Einzelheiten. ich stelle mir nur eine ähnliche Situation unter den Bedingungen der natürlichen Evolution vor. Vielleicht gab es hier gar keine Flugechsen, sondern unterirdisch lebende Wühlreptilien.

Ich weiß es nicht. Jedenfalls paßten sich die Mechanismen auf dem Festland im Laufe der Zeit den Bedingungen ausgezeichnet an, und es gelang ihnen, alle Formen des Lebens auf dem Planeten zu besiegen. Das pflanzliche übrigens auch.“

„Die pflanzlichen auch? Wie erklären Sie sich das?“

„Ich weiß nicht recht. Ich könnte mehrere Hypothesen aufstellen, aber ich will es lieber nicht tun. Im übrigen habe ich das Wichtigste noch nicht erwähnt. Im Laufe ihres Bestehens auf dem Planeten, Hunderte Generationen später, hörten die nachfolgenden Mechanismen auf, jenen ähnlich zu sein, von denen sie ausgegangen waren, das heißt den Produkten der Leierzivilisation. Verstehen Sie? Damit begann eine tote Evolution, eine Evolution von Maschinen.

Denn was ist schließlich das oberste Prinzip der Homöostase?

Unter veränderlichen Bedingungen überdauern, sogar unter den feindlichsten und schwierigsten. Den weiteren Formen dieser Evolution von Metallsystemen, die sich selbst organisierten, drohte die Hauptgefahr keineswegs von der einheimischen Tier— und Pflanzenwelt. Sie waren gezwungen, zu Energie- und Rohstoffquellen zu gelangen, um Ersatzteile und Nachfolgeorganismen produzieren zu können. Auf der Suche nach Erzen entwickelten sie folglich eine Art Bergbau. Ihre Vorfahren, die mit jenem hypothetischen Raumschiff hergekommen waren, hatten zweifellos ursprünglich Strahlungsenergieantrieb. Aber auf der Regis gibt es keine radioaktiven Elemente. Daher war ihnen die Energiequelle verschlossen, und sie mußten sich eine andere suchen. Dabei ist wohl eine akute Energiekrise entstanden, und so ist dann, glaube ich, ein Kampf zwischen den Mechanismen ausgebrochen. Ganz einfach ein Kampf um das überdauern, ums Dasein. Auf ihm beruht schließlich die Evolution. Auf der Selektion. Die intellektuell hochstehen— den, vielleicht aber wegen ihrer Ausmaße, die wieder bedeutende Energien erforderten, zum überdauern ungeeigneten Mechanismen waren der Konkurrenz der weniger entwickelten, dafür aber sparsameren und produktiveren nicht gewachsen…“

„Halt! Das klingt zwar alles recht phantastisch, doch das soll uns nicht stören. Aber in der Evolution, im Evolutionsspiel siegt doch immer das Wesen mit dem höher entwickelten Nervensystem, nicht wahr? In diesem Fall war das Nervensystem durch ein, sagen wir, elektronisches System ersetzt, aber das Prinzip bleibt das gleiche.“

„Das stimmt, Astrogator. Aber nur für gleichartige, auf dem Planeten natürlich entstandene Organismen, nicht für solche, die aus anderen Systemen gekommen sind.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ganz einfach. Die biochemischen Voraussetzungen für das Funktionieren von Organismen waren und sind auf der Erde fast immer die gleichen. Algen, Amöben, Pflanzen, niedere und höhere Tiere — sie alle sind aus beinahe identischen Zellen aufgebaut, haben fast denselben Stoffwechsel — Eiweiß —, und von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt aus wird das, wovon Sie gesprochen haben, ein Unterscheidungsmerkmal.

Es ist nicht das einzige, aber immerhin eins der wichtigsten. Doch hier war es anders. Von den Mechanismen, die auf der Regis gelandet waren, bezogen die hochentwickelten ihre Energie aus eigenen radioaktiven Vorräten; die einfacheren Einrichtungen, kleine Reparatursysteme, hatten vielleicht etwas wie Batterien, die sich mit Hilfe der Sonnenenergie aufluden. So waren sie den anderen gegenüber beträchtlich im Vorteil.“

„Aber die Höherstehenden können sie ja gerade der Sonnenbatterien beraubt haben. Übrigens — wohin soll unsere ganze Diskutiererei führen? Vielleicht lohnt es gar nicht, darüber zu sprechen. Was, Lauda?“

„Doch, doch. Das ist wesentlich, Astrogator, ein sehr wichtiger Punkt, weil meiner Ansicht nach hier eine tote Evolution von sehr eigenartigem Charakter stattgefunden hat, hervorgerufen durch zufällig entstandene, außergewöhnliche Bedingungen. Ich sehe das, kurz gesagt, so: In dieser Evolution haben sich erstens die Systeme durchgesetzt, die es in der Miniaturisierung am weitesten gebracht, und zweitens jene, die sich an einem bestimmten Ort angesiedelt hatten. Die ersten waren der Anfang der sogenannten schwarzen Wolken. Ich halte sie für sehr kleine Pseudoinsekten, die sich nach Bedarf, gewissermaßen im gemeinsamen Interesse, zu übergeordneten Systemen verbinden können, eben in Gestalt von Wolken. So verlief die Evolution der beweglichen Mechanismen. Die ortsgebundenen hingegen waren Ausgangspunkt für diese sonderbare Metallvegetation, aus der die Ruinen der sogenannten Städte bestehen…“

„Ihrer Meinung nach sind es also keine Städte?“

„Nein, natürlich nicht. Es sind lediglich große Ansammlungen seßhaft gewordener Mechanismen, toter Gebilde, die imstande sind, sich zu vermehren und mit besonderen Organen — ich vermute, mit den kleinen dreieckigen Platten — Sonnenenergie zu speichern.“

„Sie meinen also, daß diese ›Stadt‹ noch immer vegetiert?“

„Nein. Ich habe den Eindruck, diese › Stadt‹, oder vielmehr der Metallwald, ist aus einem uns unbekannten Grund in dem Kampf ums Dasein unterlegen und jetzt nur noch verrosteter Schrott. Nur eine Form hat überlebt: die das ganze Festland beherrschenden, beweglichen Systeme.“

„Warum?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe zahlreiche Berechnungen angestellt. Vielleicht ist die Sonne der Regis in in den letzten drei Millionen Jahren rascher als zuvor erkaltet, so daß die großen, ortsgebundenen ›Organismen‹ keine ausreichende Energiezufuhr mehr hatten. Aber das sind nur Vermutungen.“

„Nehmen wir an, es ist so, wie Sie sagen. Glauben Sie, daß diese ›Wolken‹ an der Oberfläche oder im Innern des Planeten eine Steuerzentrale haben?“

„Ich glaube nicht, daß so etwas existiert. Vielleicht werden diese Mikroorganismen, wenn sie sich auf bestimmte Weise miteinander verbinden, selbst eine solche Zentrale, eine Art totes Gehirn. Getrennt zu leben mag für sie günstiger sein. Sie bilden lockere Schwärme und können dadurch dauernd im Sonnenlicht sein oder auch Gewitterwolken nacheilen, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß sie den atmosphärischen Entladungen Energie entnehmen.

Aber in Augenblicken der Gefahr oder, umfassender gesagt, einer plötzlichen, ihre Existenz bedrohenden Veränderung verbinden sie sich…“

„Diese Reaktion muß aber doch von etwas ausgelöst werden. Wo ist übrigens während des ›Schwärmens‹ das unerhört komplizierte Gedächtnis, das sich an das ganze System erinnert? Ein Elektronengehirn ist doch klüger als alle seine Elemente, Lauda. Sollten die Elemente so schlau sein, nach der Demontage von selbst wieder auf die richtigen Plätze zu springen? Als erstes müßte ein Plan des ganzen Hirns entstehen. “

„Nicht unbedingt. Es genügt, daß jedes Element behält, mit welchem anderen es unmittelbar verbunden war. Sagen wir, Element Nummer eins soll sich an den Außenflächen mit sechs anderen verbinden, deren jedes dasselbe von sich weiß. So kann die im einzelnen Element enthaltene Informationsmenge verschwindend gering sein, und nur ein bestimmter Auslöser, ein bestimmtes Signal: Achtung! Gefahr! Ist erforderlich, damit alles in die richtige Konfiguration tritt und sofort das ›Hirn‹ entsteht. Doch das ist nur als primitives Schema dargestellt, Astrogator. Ich nehme an, die Sache ist komplizierter, schon allein, weil solche Elemente sicherlich häufig vernichtet werden, ohne daß sich das auf die Funktionstüchtigkeit des großen Ganzen auswirken darf.“

„Gut. Wir haben keine Zeit, länger Einzelheiten zu erörtern.

Ergeben sich aus Ihrer Hypothese konkrete Schlußfolgerungen für uns?“

„In gewissem Sinne ja, aber negative. Millionen Jahre ›Maschinenevolution‹ und diese Erscheinung, der der Mensch in der Galaxis bisher nicht begegnet ist. Bitte, beachten Sie das Hauptproblem. Alle uns bekannten Maschinen sind nicht für sich selbst da, sondern um jemandem zu dienen. So ist also vom menschlichen Standpunkt aus die Existenz des sich vermehrenden Metallgestrüpps auf der Regis oder der Eisenwolken sinnlos, allerdings könnte man zum Beispiel die Kakteen in der irdischen Wüste ebenso als sinnlos bezeichnen. Der Kern der Sache liegt darin, daß sie sich im Kampf gegen Lebewesen ausgezeichnet angepaßt haben. Ich habe den Eindruck, daß sie nur in den ersten Phasen dieses Kampfes getötet haben, als es hier auf dem Festland von Leben wimmelte. Dann erwies sich der Energieverbrauch beim Töten als unökonomisch. Deshalb griffen sie zu anderen Methoden, denen sowohl die Katastrophe des ›Kondors‹ als auch der Fall Kertelen und schließlich die Vernichtung von Regnars Gruppe zuzuschreiben sind.“

„Und was sind das für Methoden?“

„Worauf sie zurückzuführen sind, weiß ich nicht genau.

Ich kann nur meine eigene Meinung äußern: Bei Kertelen handelt es sich um Vernichtung fast der gesamten, im menschlichen Hirn enthaltenen Information. Das trifft sicherlich auch bei Tieren zu. Derart verstümmelte Lebewesen müssen natürlich umkommen. Das ist zugleich einfacher, rascher und ökonomischer als Töten… Meine Schlußfolgerung daraus ist leider pessimistisch. Vielleicht ist das noch sehr gelinde ausgedrückt. Wir sind in einer unvergleichlich schlimmeren Lage als sie, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst läßt sich ein Lebewesen bedeutend leichter vernichten als ein Mechanismus oder eine technische Einrichtung.

Darüber hinaus haben sie sich unter Bedingungen entwickelt, die sie zwangen, gegen Lebewesen und gegen ihre ›Metallbrüder‹, vernunftbegabte Automaten, gleichzeitig zu kämpfen. Sie haben also einen Zweifrontenkrieg geführt, haben jegliche Adaptionsmechanismen lebender Systeme sowie jedes Intelligenzsymptom bei vernunftbegabten Maschinen bekämpft. Das Ergebnis dieses jahrmillionenlangen Ringens ist zweifellos eine ungewöhnliche Universalität und Perfektion in den Vernichtungsmethoden gewesen. Ich fürchte, wir müßten, um sie zu besiegen, eigentlich alle vernichten, und das ist so gut wie unmöglich.“

„Meinen Sie?“

„Ja. Das heißt, selbstverständlich könnte man bei geeigneter Konzentration der Mittel den ganzen Planeten vernichten, aber das ist schließlich nicht unsere Aufgabe, ganz davon abgesehen, daß unsere Kräfte dafür nicht ausreichen.

Die Situation ist, wie ich sie sehe, tatsächlich einmalig in ihrer Art. Intellektuell sind wir ihnen überlegen. Die Mechanismen sind keineswegs eine geistige Macht, sie haben sich nur ausgezeichnet auf die Bedingungen des Planeten eingestellt, darauf, alles, was vernunftbegabt ist und alles, was lebt, zu vernichten. Sie selbst hingegen sind tot. Deshalb kann das, was für sie noch harmlos ist, für uns bereits den Tod bedeuten.“

„Aber woher nehmen Sie die Gewißheit, daß sie keinen Verstand haben?“

„Ich könnte mich um eine Antwort drücken, Unkenntnis vorschützen, aber ich sage Ihnen, wenn ich mir überhaupt einer Sache sicher bin, dann gerade dieser. Warum sie keine intellektuelle Macht darstellen? Ach! Wenn sie Verstand hätten, dann wären sie längst mit uns fertig geworden. Gehen Sie mal in Gedanken alle Ereignisse auf der Regis seit unserer Landung durch — Sie werden feststellen, daß sie keinen strategischen Plan haben. Sie greifen immer nur von Fall zu Fall an.“

„Hm… Die Art, in der sie die Verbindung zwischen Regnar und uns unterbrochen haben, und der Angriff auf unsere Aufklärer…“

„Aber sie tun doch nur, was sie bereits vor Jahrtausenden getan haben. Die höheren Automaten, die von ihnen vernichtet wurden, haben sich doch zweifellos auch über Radiowellen untereinander verständigt. Diesen Informationsaustausch zu verhindern, die Verbindung zu zerrütten, war eine ihrer ersten Aufgaben. Die Lösung drängte sich geradezu von selbst auf, denn in der Welt ist wohl nichts besser als Abschirmungsmittel geeignet als eine Metallwolke. Und jetzt? Was ist zu tun? Wir müssen uns und unsere Automaten und Maschinen, ohne die wir nichts wären, schützen.

Während sie völlige Manövrierfähigkeit haben. Sie verfügen an Ort und Stelle über faktisch unerschöpfliche Reproduktionsquellen, sie können sich vermehren, wenn wir einen Teil von ihnen vernichten, und bei alldem können ihnen lebensgefährdende Mittel gar nichts anhaben. Unsere stärkste Macht, der Beschuß mit Antimaterie, ist also unerläßlich.

Doch damit können wir nicht alle vernichten. Haben Sie bemerkt, wie sie reagieren, wenn sie getroffen werden?

Sie zerfallen einfach. Überdies müssen wir uns immer unter dem Schutzfeld aufhalten, und das schränkt unsere strategischen Möglichkeiten ein. Sie hingegen können sich nach Belieben verkleinern, von einem Ort an den anderen bewegen… Und wenn wir sie auf diesem Kontinent schlagen, dann verziehen sie sich auf einen anderen. Und sie alle zu vernichten ist schließlich nicht unser Anliegen. Ich meine, wir sollten abfliegen.“

„Ach, so ist es.“

„Ja, so ist es. Da wir nun einmal gewiß apsychische Gebilde einer toten Evolution als Gegner haben, können wir das Problem nicht nach Kategorien von Rache und Vergeltung für den ›Kondor‹ und das Schicksal seiner Besatzung lösen. Das wäre so, als wollte man den Ozean verprügeln, weil er ein Schiff mit Mann und Maus verschlungen hat.“

„An dem, was Sie sagen, wäre vieles logisch, wenn es sich wirklich so verhielte“, sagte Horpach und erhob sich. Er stützte sich mit beiden Händen auf die mit Zeichnungen bedeckte Karte. „Aber es ist ja nur eine Hypothese, und mit Hypothesen können wir nicht zurückkehren. Wir brauchen Gewißheit. Nicht Rache, sondern Gewißheit. Eine exakte Diagnose, Ermittlung von Fakten. Wenn wir die ermittelt haben, wenn ich in den Containern des ›Unbesiegbaren‹ Proben von dieser… dieser fliegenden Maschinenfauna habe — sofern sie wirklich existiert —, dann werde ich selbstverständlich ebenfalls der Auffassung sein, daß wir hier nichts mehr zu suchen haben. Dann ist es Sache der Erdstation, unser weiteres Verhalten zu bestimmen. Nebenbei gesagt, es gibt keine Garantie, daß diese Gebilde auf dem Planeten bleiben, vielleicht entwickeln sie sich und gefährden schließlich die Raumschiffahrt in diesem Bereich der Galaxis.“

„Wenn das geschehen sollte, dann frühestens in einigen hunderttausend oder vielmehr Millionen Jahren. Ich fürchte, Astrogator, Sie lassen sich noch immer von der Vorstellung leiten, daß wir einem denkenden Gegner gegenüberstehen.

Was einst nur Werkzeug vernunftbegabter Wesen war, das hat sich nach deren Verschwinden selbständig gemacht und ist im Laufe von Jahrmillionen eigentlicher Teil der Naturgewalten des Planeten geworden. Das Leben ist im Ozean geblieben, weil die ›Maschinenevolution‹ dort nicht hinreicht und andererseits diesen Lebensformen den Zutritt zum Festland verwehrt. So sind der mäßige Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre — er wird von den Meeresalgen ausgeschieden — und die Oberflächengestaltung der Kontinente zu erklären. Der Planet ist eine Wüste, da diese Systeme nichts aufbauen, da sie keine Zivilisation haben, keinerlei Werte schaffen, da sie nichts haben als sich selbst. Deshalb sollten wir sie als Naturgewalt betrachten.

Auch die Natur bringt weder Bewertungen noch Werte hervor.

Diese Gebilde ruhen einfach in sich, sie existieren und verhalten sich so, wie sie sich verhalten, um weiterzuexistieren…“

„Wie erklären Sie sich die Vernichtung der Flugzeuge?

Sie waren doch im Schutz des Kraftfeldes.“

„Ein Kraftfeld kann durch ein anderes Kraftfeld zermalmt werden. Im übrigen — wenn man im Bruchteil einer Sekunde das gesamte im Hirn eines Menschen enthaltene Gedächtnis auslöschen will, so muß man in diesem Moment rings um seinen Kopf ein so starkes Magnetfeld erzeugen, Astrogator, wie es selbst uns mit den Mitteln, über die wir hier an Bord verfügen, schwerfallen würde. Dafür wären gigantische Umspanner, Transformatoren und Elektromagnete erforderlich.“

„Und Sie meinen, daß die all das haben?“

„Aber nein! Sie haben überhaupt nichts. Sie sind ganz einfach Bausteine, aus denen jeweils das entsteht, was gerade notwendig ist. Trifft das Signal ›Gefahr‹ ein, so heißt das: Da ist etwas aufgetaucht. Sie nehmen es durch Veränderungen wahr, die eintreten, zum Beispiel durch die Veränderung des elektrostatischen Feldes. Und gleich setzt sich der fliegende Schwarm zu diesem ›Wolkenhirn‹ zusammen, und sein kollektives Gedächtnis erwacht: Aha, solche Wesen waren schon mal da, man verfuhr mit ihnen so und so und vernichtete sie. Und sie wiederholen ihr Verhalten von damals.“

„Gut“, sagte Horpach, der eine geraume Weile dem alten Biologen nicht mehr zugehört hatte. „Ich verschiebe den Start. Wir berufen jetzt eine Versammlung ein, obwohl ich das lieber nicht täte, weil es wieder auf einen Riesendisput hinausläuft. Die Wissenschaftler werden sich ereifern, aber ich weiß mir keinen anderen Rat. In einer halben Stunde in der Hauptbibliothek, Dr. Lauda.“

„Sollten sie mich überzeugen, daß ich mich irre, dann wird es einen wahrhaft zufriedenen Menschen mehr an Bord geben“, sagte Dr. Lauda ruhig und verließ die Kajüte so leise, wie er gekommen war. Horpach richtete sich auf, trat an den Wandinformator, drückte die Taste der Innenlautsprecheranlage und rief alle Wissenschaftler zusammen.

Wie sich herausstellte, hegten die meisten Spezialisten ähnliche Vermutungen wie Lauda; er war nur der erste gewesen, der sie so bestimmt ausgesprochen hatte. Meinungsverschiedenheiten entbrannten lediglich um das Problem, ob die „Wolke“ psychisch oder apsychisch sei. Die Kybernetiker neigten zu der Ansicht, sie sei ein denkendes System mit der Fähigkeit, strategisch vorzugehen. Lauda wurde scharf angegriffen; Horpach war sich bewußt, daß die Ursache dieser leidenschaftlichen Kontroversen weniger in Laudas Hypothese zu suchen war als vielmehr darin, daß er sie zuerst mit dem Kommandanten statt mit seinen Kollegen durchgesprochen hatte. Trotz aller Bindungen zur Besatzung bildeten die Wissenschaftler an Bord eine Art „Staat im Staate“ und richteten sich nach einem gewissen ungeschriebenen Verhaltenskodex.

Chefkybernetiker Kronotos fragte Lauda, wie die „Wolke“ wohl gelernt haben sollte, Menschen anzugreifen, obwohl sie keinen Intellekt habe.

„Ganz einfach“, antwortete der Biologe. „Sie hat Jahrmillionen hindurch nichts anderes getan. Ich denke an den Kampf gegen die urtümlichen Bewohner der Regis. Das waren Tiere mit zentralem Nervensystem. Sie hat gelernt, sie genauso anzugreifen, wie ein Erdeninsekt sein Opfer angreift, und tut das mit derselben Präzision, mit der eine Wespe ihr Gift in die Nervenstränge eines Heupferdchens oder eines Maikäfers spritzt. Das ist kein Intellekt, das ist Instinkt.“

„Aber woher wußten sie, wie Flugzeuge anzugreifen sind? Mit Flugzeugen war sie doch vorher nicht in Berührung gekommen.“

„Das können wir nicht wissen, Herr Kollege. Sie kämpfte, wie ich Ihnen schon gesagt habe, an zwei Fronten. Gegen die lebenden Bewohner der Regis und gegen die toten, das heißt gegen andere Automaten. Diese Automaten haben notgedrungen die unterschiedlichsten Arten von Energie für Verteidigung und Angriff eingesetzt.“

„Aber wenn es unter ihnen keine Flugautomaten gegeben hat…“

„Ich kann mir denken, worum es Dr. Lauda geht“, bemerkte der stellvertretende Chefkybernetiker Saurahan.

„Diese riesigen Automaten, diese Makroautomaten, hatten miteinander Verbindung, um gemeinsam zu operieren, und waren am leichtesten durch Isolierung zu vernichten, durch Zersplitterung. Am besten war ihnen dadurch beizukommen, daß man die Nachrichtenübermittlung blockierte…“

„Es handelt sich gar nicht darum, ob sich die einzelnen Verhaltensweisen der ›Wolke‹ ohne Intellekthypothese erklären lassen oder nicht“, entgegnete Kronotos, „denn wir brauchen die scharfe Occamsche Trennung nicht zu beachten.

Zumindest jetzt ist es nicht unsere Aufgabe, eine Hypothese zu suchen, die mit sparsamsten Mitteln über alles Aufschluß gibt, sondern eine, die uns ein Maximum an Sicherheit bei unseren weiteren Aktionen gewährleistet.

Deshalb sollten wir lieber annehmen, daß die ›Wolke‹ durchaus über einen bestimmten Grad von Intelligenz verfügt, das ist klüger. Wir würden dann bedachtsamer zu Werke gehen. Wenn wir hingegen mit Lauda meinten, die ›Wolke‹ habe keinen Intellekt, und sie hätte ihn in Wirklichkeit doch, dann könnten wir für diesen Irrtum leicht einen erschreckend hohen Preis zahlen müssen… Ich spreche jetzt nicht als Theoretiker, sondern vor allem als Stratege.“

„Ich weiß nicht, wen Sie bezwingen wollen, mich oder die ›Wolke“‹, entgegnete Lauda ruhig. „Ich bin nicht gegen Vorsicht, aber die ›Wolke (hat nur soviel Intellekt wie ein Insekt, ja eigentlich nicht mal wie ein einzelnes Insekt, sondern, sagen wir, wie ein Ameisenhaufen. Wäre es anders, so lebten wir doch längst nicht mehr.“

„Beweise!“

„Wir waren für sie nicht der erste Gegner der Gattung Mensch. Sie hatte schon mit ihr zu tun. Ich mache darauf aufmerksam, daß vor uns der ›Kondor‹ hier war. Na, und um ins Kraftfeld einzudringen, brauchten sich die mikroskopisch kleinen ›Fliegen‹ lediglich durch den Sand zu graben.

Das Feld reicht nur bis an seine Oberfläche. Sie kannten die Kraftfelder des ›Kondors‹, also hätten sie sich auch die Angriffsmethode aneignen können. Das haben sie aber nicht getan. Die ›Wolke‹ ist also ohne Intellekt, oder sie handelt rein instinktiv.“

Kronotos wollte nicht aufgeben, aber da schritt Horpach ein und schlug vor, die Diskussion aufzuschieben. Er bat um konkrete Vorschläge auf Grund der Zusammenhänge, die nun als sehr wahrscheinlich anzusehen seien.

Nygren fragte, ob man die Leute nicht mit Metallhelmen ausrüsten könne, die die Wirkung eines Magnetfeldes aufhöben.

Die Physiker meinten jedoch, das sei zwecklos, denn ein kräftiges Feld erzeuge in dem Metall Wirbelströme, die den Helm stark erhitzten. Und wenn er dann zu heiß sei, bleibe nichts übrig, als ihn vom Kopf zu reißen. Die Wirkung könne man sich ausmalen.

Unterdessen war es Nacht geworden. In einer Ecke des Raumes unterhielt sich Horpach mit Lauda und den Ärzten.

Die Kybernetiker bildeten eine andere Gruppe.

„Es ist immerhin ungewöhnlich, daß die Wesen mit der höheren Intelligenz, die Makroautomaten, nicht gesiegt haben“, sagte einer. „Das wäre die Ausnahme, die die Regel bestätigt, daß nämlich die Evolution in Richtung der Komplizierung, der Vervollkommnung der Homöostase verläuft, der Information und ihrer Nutzung.“

„Diese Automaten hatten keine Chance, eben weil sie von Anfang an so hochentwickelt und so kompliziert waren“, widersprach Saurahan. „Begreifen Sie doch, sie waren hochspezialisiert und für die Zusammenarbeit mit ihren Konstrukteuren, den Leierbewohnern, bestimmt. Als es die nicht mehr gab, waren sie gewissermaßen verstümmelt, ihres Kopfes beraubt. Die Formen hingegen, aus denen die heutigen ›Fliegen‹ entstanden sind — ich behaupte keineswegs, daß sie schon damals existierten; ich halte das sogar für ausgeschlossen, sie müssen bedeutend später entstanden sein —, diese Formen waren verhältnismäßig primitiv, deshalb standen ihnen viele Entwicklungsmöglichkeiten offen.“

„Vielleicht hat ein noch wesentlicherer Faktor eine Rolle dabei gespielt“, warf Dr. Sax ein, der zu ihnen getreten war. „Wir haben es mit Mechanismen zu tun, und Mechanismen weisen niemals Regenerationstendenzen auf wie ein lebendes Wesen, ja überhaupt lebendes Gewebe, das sich nach einer Verletzung selbständig erneuert. Selbst wenn ein Makroautomat imstande wäre, einen anderen zu reparieren, brauchte er dazu Werkzeuge, einen ganzen Maschinenpark. Folglich genügte es, sie von ihren Werkzeugen zu trennen, um sie außer Gefecht zu setzen. So sind sie fast wehrlos den fliegenden Geschöpfen zum Opfer gefallen, denen es weit weniger ausmachte, beschädigt zu werden.“

„Sehr interessant“, sagte Saurahan plötzlich. „Daraus folgt, daß man Automaten, damit sie wirklich universell sind, ganz anders bauen muß, als wir es tun: Man muß von kleinen Elementarbausteinen ausgehen, von Pseudozellen, die einander ersetzen können.“

„Das ist gar nicht so neu“, entgegnete Sax lächelnd, „denn lebende Formen entwickeln sich eben auf diese Weise, und nicht von ungefähr. Deswegen besteht auch die ›Wolke‹ gewiß nicht rein zufällig aus solchen austauschbaren Elementen.

Es ist eine Frage des Materials. Ein beschädigter Makroautomat benötigt Teile, die nur eine hockentwickelte Industrie zu erzeugen vermag. Ein System hingegen, das sich aus ein paar Kristallen, Thermistoren oder anderen einfachen Elementen zusammensetzt, kann ohne weitere Folgen zerstört werden, weil es sofort durch eins von den Milliarden ähnlicher Systeme ersetzt wird.“

Horpach sah, daß von ihnen nicht viel zu erwarten war, und verließ die Versammelten; sie bemerkten es kaum, so sehr waren sie in die Diskussion vertieft. Er ging in die Steuerzentrale, um Rohans Truppe von der Hypothese der „toten Evolution“ zu unterrichten. Es war bereits dunkel, als der „Unbesiegbare“ Verbindung mit dem Superkopter im Krater bekam. Am Mikrofon meldete sich Gaarb.

„Ich habe hier nur sieben Leute“, sagte er, „unter ihnen zwei Ärzte bei den Verunglückten. Die anderen schlafen, außer dem Funker, der neben mir sitzt. Ja, wir haben vollständigen Feldschutz. Aber Rohan ist noch nicht zurück.“

„Noch nicht zurück? Und wann ist er aufgebrochen?“

„Gegen 18 Uhr. Er hat sechs Maschinen mitgenommen und die ganze übrige Mannschaft. Wir haben vereinbart, daß er nach Sonnenuntergang zurückkommt. Die Sonne ist vor zehn Minuten untergegangen.“

„Haben Sie Funkverbindung mit ihm?“

„Die ist seit einer Stunde unterbrochen.“

„Gaarb! Warum haben Sie mich nicht sofort verständigt?“

„Weil Rohan angekündigt hat, daß die Verbindung eine Zeitlang abreißen würde. Sie wollten in eine der tiefen Schluchten vordringen, wissen Sie. Die Hänge sind dort mit diesem Sauzeug aus Metall bewachsen. Das reflektiert so stark, daß nicht die Spur von einem Signal zu kriegen ist.“

„Bitte, verständigen Sie mich unverzüglich, wenn Rohan wieder da ist. Er wird sich dafür zu verantworten haben.

So können wir im Handumdrehen alle unsere Leute verlieren.“

Der Astrogator hatte noch nicht ausgeredet, als Gaarbs Aufschrei ihn unterbrach: „Sie sind da, Astrogator! Ich sehe Lichter, sie kommen den Hang herauf, das ist Rohan.

Eins, zwei, nein, nur eine Maschine… Gleich werden wir mehr wissen.“

„Ich warte.“

Als Gaarb das Scheinwerferlicht erblickte, das flach über den Boden wischte, bald Lichtgarben über das Lager schleuderte, bald hinter Bodenwellen verschwand, ergriff er eine Leuchtpistole und schoß zweimal. Der Erfolg war großartig — alle wurden aus dem Schlaf gerissen und sprangen auf die Beine. Unterdessen beschrieb die Maschine einen Bogen, der wachhabende Funker der Zentrale öffnete einen Durchlaß in der Wand des Kraftfeldes, und über den mit blauen Blinkfeuern abgesteckten Geländestreifen rollte ein staubbedecktes Raupenfahrzeug herein und bremste vor der Düne, auf der der Superkopter stand. Zu seinem Entsetzen erkannte Gaarb in der kleinen Maschine die Drei-Mann— Aufklärungsamphibie, den Funkwagen der Gruppe. Im Licht der eilig ausgerichteten Scheinwerfer lief er mit den anderen dem Ankömmling entgegen. Noch ehe der Wagen richtig hielt, sprang ein Mann in zerfetztem Skaphander heraus. Sein Gesicht war von Dreck und Blut so verkrustet, daß Gaarb ihn erst erkannte, als er zu sprechen anfing.

„Gaarb“, stöhnte der Mann und faßte den Wissenschaftler an den Schultern, und die Beine sackten unter ihm zusammen.

Die anderen Männer sprangen herbei, stützten ihn und fragten aufgeregt: „Was ist geschehen? Wo sind die anderen?“

„Sie… sind.. nicht mehr… Keiner…“, hauchte Rohan und sank ihnen ohnmächtig in die Arme.

Gegen Mitternacht gelang es den Ärzten, ihn zu Bewußtsein zu bringen. Er lag unter dem Aluminiumschutz der Baracke im Sauerstoffzelt und erzählte, was Gaarb eine halbe Stunde später dem „Unbesiegbaren“ telegrafierte.

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