Die lange Nacht

Rohan wurde vor Kälte wach. Verschlafen kuschelte er sich unter seiner Decke zusammen und preßte das Gesicht ins Kissen. Er versuchte, das Gesicht mit den Händen zuzudecken, aber immer heftigere Kälte umfing ihn. Er wußte, daß er zu sich kommen mußte, aber er zögerte den Augenblick hinaus, ohne zu wissen warum. Mit einemmal richtete er sich im Dunkeln in seiner Koje auf. Ein eisiger Lufthauch traf ihn mitten ins Gesicht. Er sprang aus der Koje und tastete sich leise fluchend zur Klimaanlage. Als er sich hingelegt hatte, war ihm so heiß gewesen, daß er den Knopf auf kalt gedreht hatte.

Allmählich erwärmte sich die Luft in der kleinen Kajüte, trotzdem konnte er, unter der Decke zusammengekauert, nicht wieder einschlafen. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr — drei Uhr Bordzeit. Wieder nur drei Stunden Schlaf, dachte er wütend. Er fror noch immer.

Die Beratung hatte lange gedauert, erst um Mitternacht waren sie auseinandergegangen. Soviel Gerede um nichts und wieder nichts, dachte er. Jetzt, in dieser Dunkelheit, hätte er wer weiß was darum gegeben, in der Raumstation zu sein. Nichts mehr hören und sehen von der verfluchten Regis iii, von ihrem toten und wie der Tod erfinderischen Alptraum! Die meisten Strategen hatten geraten, auf Umlaufbahn zu gehen, nur der Chefingenieur und der Chefphysiker hatten von Anfang an Horpachs Meinung vertreten: bleiben, solange wie möglich. Die Chance, die vier Vermißten aus Regnars Gruppe zu finden, stand vielleicht eins zu hunderttausend, oder nicht einmal soviel. Wenn sie nicht schon vorher umgekommen waren, dann konnte nur große Entfernung vom Kampfplatz sie vor der Atomhölle gerettet haben. Rohan hätte sehr gern erfahren, ob der Astrogator nur wegen der vier Leute nicht gestartet war oder ob dabei andere Überlegungen eine Rolle gespielt hatten.

Wie sich die Sache hier ansah, das war eine Seite; ganz anders würde sie in den dürren Worten eines Berichts und im ruhigen Licht der Raumstätion wirken. Dort würde man sagen, daß sie die Hälfte der Geländefahrzeuge und die Hauptwaffe, den Zyklopen mit dem Antimateriewerfer, eingebüßt hatten, der künftig eine zusätzliche Gefahr für jedes Raumschiff darstellen würde, das auf dem Planeten landete, daß sie sechs Menschenleben zu beklagen hatten und daß darüber hinaus die halbe Besatzung krankenhausreif und für Jahre, vielleicht für immer, fluguntauglich war. Und wegen dieser Verluste an Menschen, Maschinen und der besten Geräte waren sie vor mikroskopisch winzigen Kristallen, den Geschöpfen eines kleinen Wüstenplaneten, dem toten Überbleibsel der auf der Erde längst überholten Leierzivilisation, davongelaufen — denn was wäre jetzt eine Umkehr anderes als eine ganz gewöhnliche Flucht.

Aber war Horpach ein Mensch, der solche Beweggründe berücksichtigte?

Vielleicht wußte er selbst nicht genau, warum er nicht startete? Vielleicht wartete er auf irgend etwas?

Aber auf was? Freilich, die Biologen hatten von der Möglichkeit gesprochen, jene toten Insekten mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen. Wenn diese Art eine Evolution durchgemacht hatte, schlußfolgerten sie, so könnte man ihre weitere Entwicklung steuern. Zunächst müsse man bei einer erheblichen Menge eingefangener Exemplare Mutationen, bestimmte Erbveränderungen, hervorrufen, die im Laufe der Vermehrung bei den nachfolgenden Generationen wieder auftreten und die ganze kristalline Rasse unschädlich machen würden.

Es müsse eine sehr spezifische Veränderung sein, eine Veränderung, die sofort einen Nutzeffekt verspreche und zugleich bewirke, daß der neue Typ eine Achillesferse, einen wunden Punkt aufweise, den man angreifen könne. Aber das war eben das übliche, spekulative Geschwätz von Theoretikern: Sie hatten keine Ahnung, was für eine Mutation, was für eine Veränderung das sein sollte, wie sie zu erreichen war, wie viele dieser verfluchten Kristalle zu fangen waren, ohne abermals einen Kampf wagen zu müssen, in dem eine Niederlage noch größer sein könnte als am Tage zuvor. Selbst wenn alles gut ginge, wie lange müßte man auf die Ergebnisse dieser neuen Evolution warten? Doch nicht nur Tage und Wochen. Sollten sie etwa um die Regis kreisen wie auf einem Karussell, ein Jahr, zwei oder gar zehn Jahre? All das hatte keinen Sinn.

Rohan merkte, daß er die Klimaanlage zu weit aufgedreht hatte: Wieder war es zu heiß geworden. Er schleuderte die Decke weg, stand auf, wusch sich, kleidete sich rasch an und verließ die Kabine.

Der Fahrstuhl war nicht da. Er drückte auf den Knopf, und während er in dem Halbdunkel wartete, das nur die hüpfenden Lichter des Indikators erhellten, horchte er, die dumpfe Last durchwachter Nächte und angespannter Tage im Schädel, mit hämmernden Schläfen in die nächtliche Stille hinein, die über dem Raumschiff lag. Manchmal blubberte es in unsichtbaren Leitungen, aus den unteren Stockwerken drang das gedämpfte Murmeln der leerlaufenden Triebwerke herauf, die dauernd startbereit waren. Ein trockener, metallisch riechender Lufthauch wehte aus den vertikalen Schächten neben der Plattform, auf der er stand.

Die Tür schob sich zur Seite, er betrat den Fahrstuhl. Im achten Stock stieg er aus. Hier bog der Korridor ab und führte am Hauptpanzer entlang, von einer Kette blauer Lämpchen beleuchtet. Er ging, ohne zu wissen, wohin. Unwillkürlich hob er die Füße an den richtigen Stellen, um über die hohen Schwellen der hermetischen Trennwände zu steigen, bis er die Schatten des Bedienungspersonals am Hauptreaktor erblickte. Der Raum war dunkel, nur ein paar Dutzend Zeiger blinkten an den Tafeln. Darunter, in den vorgezogenen Sesseln, saßen die Männer.

„Die leben nicht mehr“, sagte einer. Rohan konnte nicht erkennen, wer es war.

„Wetten? Im Umkreis von fünf Meilen waren tausend Röntgen. Die leben nicht mehr, darauf kannst du dich verlassen.“

„Wozu sitzen wir dann noch hier herum?“ brummte ein zweiter. Nicht die Stimme, sondern der Platz, den er einnahm — er saß an der gravimetrischen Kontrollapparatur — verriet Rohan, daß es Bootsmann Blank war.

„Weil der Alte nicht umkehren will.“

„Und du, würdest du's tun?“

„Was bleibt uns übrig?“

In dem Raum war es warm, und in der Luft lag der eigenartige, künstliche Fichtennadelduft, durch den die Klimaanlagen den Geruch zu mildern suchten, den die bei der Arbeit des Reaktors erhitzten Plastteile und Bleche des Gehäuses ausströmten. Am Ende entstand daraus ein Gemisch, das nur hier im achten Stock zu finden war.

Rohan hatte sich, für die Männer in den Sesseln unsichtbar, mit dem Rücken gegen die Schaumgummiverkleidung derTrennwand gelehnt. Nicht daß er sich absichtlich verbarg, er wollte einfach nicht an diesem Gespräch teilnehmen.

„Gleich hat er uns erreicht“, fuhr ein anderer nach kurzem Schweigen fort. Der Mann beugte sich vor, und augenblickslang war sein Gesicht zu sehen, halb rosa, halb gelb vom Schein der Kontrollämpchen, mit denen die Reaktorwand die davor hockenden Männer anzustarren schien. Wie alle, erfaßte Rohan sofort, von wem die Rede war.

„Wir haben das Feld und das Radargerät“, knurrte der Bootsmann unwillig.

„Das Feld nützt gerade was, wenn er auf ein Billierg Beschuß herankommt!“

„Der Radar läßt ihn nicht ran.“

„Wem sagst du das? Ich kenne ihn doch wie meine Westentasche.“

„Na und?“

„Er hat immerhin einen Antiradar. Störsysteme…“

„Aber er ist doch völlig durcheinander, ein elektronischer Geistesgestörter.“

„Ein schöner Geistesgestörter. Warst du in der Steuerzentrale?“

„Nein, hier.“

„Aber ich. Schade, daß du nicht gesehen hast, wie er unsere Sonden zertrümmert hat.“

„Soll das vielleicht heißen, daß sie ihn umprogrammiert haben, daß er bereits unter ihrer Kontrolle steht?“

Alle sagen „sie“, dachte Rohan, als wären es wirklich vernunftbegabte Lebewesen.

„Wer weiß. Angeblich ist nur die Verbindung gestört.“

„Warum sollte er also auf uns feuern?“

Wieder trat Stille ein.

„Steht denn nicht fest, wo er ist?“ fragte der Mann, der nicht in der Steuerzentrale gewesen war.

„Nein. Die letzte Meldung ist um elf eingetroffen. Kralik hat es mir gesagt. Sie haben ihn gesehen, als er sich durch die Wüste trollte.“

„Weit von hier?“

„Dir geht wohl die Düse? Neunzig Meilen. Für ihn ist das eine knappe Stunde. Oder weniger.“

„Jetzt habt ihr aber genug leeres Stroh gedroschen!“ fuhr Bootsmann Blank, dessen scharfes Profil sich von dem bunten Flackern der Lämpchen abhob, ärgerlich dazwischen.

Die Männer verstummten, Rohan drehte sich langsam um und entfernte sich ebenso leise, wie er gekommen war.

Sein Weg führte ihn an beiden Laboratorien vorbei; im großen waren die Lampen gelöscht, im kleinen brannte Licht. Er sah den Schein der Deckenleuchten auf den Gang fallen. Rohan warf einen Blick hinein. An dem runden Tisch, saßen nur Kybernetiker und Physiker — Jazon, Kronotos, Sarner, Liwin, Saurahan und einer, der den anderen den Rücken zuwandte und im Schatten der schrägen Trennwand ein großes Elektronengehirn programmierte.

„Es gibt zwei Eskalationslösungen. Annihilation oder Selbstvernichtung. Alles andere läuft auf veränderte Existenzbedingungen der Wolke hinaus“, sagte Saurahan. Rohau rührte sich nicht von der Stelle. Wieder einmal stand er da und lauschte.

„Die erste beruht darauf, einen Lawinenprozeß auszulösen.

Dazu braucht man einen Antimateriewerfer, der in die Schlucht fährt und dort bleibt.“

„Einer war schon dort“, sagte jemand.

„Wenn er kein Elektronengehirn hat, dann ist er selbst bei Temperaturen von mehr als einer Million Grad noch aktionsfähig. Einen Plasmawerfer braucht man dazu.

Plasma ist unempfindlich gegen Sterntemperaturen. Die Wolke wird sich genauso verhalten wie früher — sie wird versuchen, ihn abzuwürgen, Resonanz zu finden in den Steuerstromkreisen, aber Stromkreise werden nicht da sein.

Nichts wird sich abspielen außer einer unterschwelligen Kernreaktion. Je mehr Materie in die Reaktion einbezogen wird, um so heftiger wird sie sein. Auf diese Weise kann man die ganze Nekrosphäre des Planeten an einer Stelle zusammenfassen und annihilieren…“

Nekrosphäre, dachte Rohan. Ach so, weil diese winzigen Kristalle leblos sind. Nein, diese Wissenschaftler! Die finden doch immer einen hübschen, neuen Namen.

„Am besten gefällt mir die Variante der Selbstvernichtung“, sagte Jazon. „Aber wie stellen Sie sich das vor?“

„Na, sie beruht darauf, daß man zunächst eine getrennte Konsolidierung zweier großer ›Wolkengehirne‹ herbeiführt und sie dann zusammenstoßen läßt. Damit soll erreicht werden, daß jede Wolke die andere für einen Konkurrenten im Existenzkampf hält.“

„Schön. Aber wie wollen Sie das anfangen?“

„Es ist nicht einfach, aber immerhin möglich, sofern die Wolke nur ein Pseudogehirn ist, also unfähig, logisch zu folgern.“

„Das sicherste ist trotzdem die Veränderung der Existenzbedingungen über die Senkung der durchschnittlichen Strahlungsintensität“, sagte Sarner. „Vier Wasserstoffentladungen von fünfzig bis hundert Megatonnen pro Hemisphäre, insgesamt knapp achthundert, genügen. Das Wasser der Ozeane verdampft und verdichtet die Wolkendecke, die Albedo wächst, und die Symbionten am Boden können nicht mehr das zu ihrer Vermehrung notwendige Energieminimum an sie abgeben.“

„Diese Rechnung geht nicht auf“, wandte Jazon ein. Als Rohan sah, daß gleich ein fachlicher Streit ausbrechen würde, trat er von der Tür zurück und ging weiter.

Statt mit dem Fahrstuhl kehrte er über eine stählerne Wendeltreppe zurück, die sonst kaum benutzt wurde. Ein Stockwerk nach dem anderen blieb unter ihm. Er sah in der Reparaturhalle des Vries' Männer mit sprühenden Schweißbrennern an den dunklen, reglosen großen Arctanen arbeiten.

Von weitem bemerkte er die Bullaugen des Lazaretts, die ein gedämpftes lila Licht verbreiteten. Ein Arzt in weißem Kittel lief lautlos den Korridor entlang; ihm folgte ein kleiner Automat, der einen Satz blitzender Instrumente trug. Rohan ließ die Messen hinter sich, die leer und dunkel waren, die Klubräume, die Bibliothek, und langte schließlich in seinem Stockwerk an. Vor der Kabine des Astrogators verlangsamte er den Schritt; als wollte er auch hier lauschen; aber durch die glatte Türfläche drang kein Laut, kein Lichtstrahl, und die Bullaugen waren mit Kupfermuttern fest verschlossen. Erst in der Kabine spürte er wieder, wie müde er war. Gefühllos hingen ihm die Arme am Körper herab, er ließ sich schwer auf die Koje fallen, streifte die Schuhe von den Füßen und faltete die Hände im Nakken.

So blieb er sitzen und sah zu der niedrigen, vom Nachtlämpchen nur spärlich beleuchteten, blaulackierten Decke auf, die in der Mitte einen Riß hatte.

Weder Pflichtgefühl noch Neugier auf die Gespräche und das Privatleben der anderen hatten ihn durch das Raumschiff getrieben. Er fürchtete sich einfach vor den einsamen Nachtstunden, denn dann suchten ihn Bilder heim, die er gerne vergessen hätte. Am schlimmsten verfolgte ihn die Erinnerung an den Mann, den er mit einem Nahschuß getötet hatte, damit er nicht die anderen umbrachte. Er hatte es tun müssen, aber das machte es ihm nicht leichter. Er wußte, wenn er jetzt das Licht löschte, dann müßte er jene Szene von neuem erleben, dann sähe er wieder den Mann vor sich, der mit mattem, gedankenverlorenem Lächeln dem schwankenden Weyr-Werfer in seiner Hand gehorchte und über den Toten hinwegstieg, der mit abgerissenem Arm auf den Steinen lag.

Dieser Tote wäre Jarg, der zurückgekehrt und nun, nachdem er wie durch ein Wunder davongekommen war, so sinnlos starb. Sekunden später würde der andere mit in Brusthöhe zerfetztem, qualmendem Schutzanzug über dem Leichnam zusammenbrechen. Vergebens würde er sich bemühen, die Bilder zu verdrängen, die ihm immer wieder gegen seinen Willen vor Augen traten — er spürte geradezu den scharfen Ozongeruch, den heißen Rückstoß des Kolbens, den er mit schwitzenden Fingern umkrampfte, und er vernahm das Winseln der Männer, die er kurz darauf hetzend und keuchend einen nach dem anderen herbeischleppte und wie Garben band, und jedesmal ließ ihn die verzwei— felte Hilflosigkeit der vertrauten, jetzt gleichsam erblindeten Gesichter bis ins Innerste erschauern.

Ein dumpfes Klappen — das Buch, das er noch in der Raumstation angefangen hatte, war heruntergefallen. Als Lesezeichen hatte er ein weißes Blatt hineingelegt, aber er hatte nicht eine Zeile gelesen, wann sollte er auch. Er streckte sich auf der Koje aus und dachte an die Strategen, die jetzt beisammensaßen und Pläne für die Vernichtung der Wolke schmiedeten, und sein Mund verzog sich zu einem geringschätzigen Lächeln. Hat ja alles keinen Sinn, dachte er. Sie wollen vernichten, wir auch, wir alle wollen jenes Etwas vernichten, aber damit retten wir niemanden. Die Regis ist unbewohnt, der Mensch hat auf ihr nichts zu suchen.

Wozu also diese halsstarrige Verbissenheit? Es ist doch nicht anders, als wären die Männer bei einem Gewitter oder einem Erdbeben ums Leben gekommen. Niemandes bewußte Absicht, kein feindlich gesinnter Wille ist uns entgegengetreten. Ein lebloser Selbstorganisierungsprozeß… Lohnt es denn, die ganze Kraft und Energie daran zu verschwenden, ihn zu zerstören, und nur, weil wir ihn von vornherein für einen lauernden Feind gehalten haben, der erst den „Kondor“ und dann uns aus dem Hinterhalt angefallen hat? Wie viele unheimliche, menschlichen Begriffen fremde Erscheinungen mag der Kosmos in sich bergen?

Sollen wir überall mit unseren Raumschiffen landen, Vernichtungswaffen an Bord, um all das, was unser Fassungsvermögen übersteigt, zu zerschlagen? Wie haben sie es kurzerhand genannt? Nekrosphäre. Folglich auch Nekroevolution.

Entwicklung toter Materie. Vielleicht könnten die Bewohner der Leier hier mitreden, die Regis ui gehörte zu ihrem Bereich. Möglich, daß sie sich auf ihr ansiedeln wollten, denn als ihre Astrophysiker die Verwandlung ihrer Sonne in eine Nova.ankündigten, war das vielleicht ihre letzte Hoffnung. Wenn wir in einer solchen Lage wären, dann würden wir selbstverständlich kämpfen und die schwarze Kristallbrut ausrotten. Aber so? Ein Parsek von der Raumstation entfernt, die wieder so viele Lichtjahre von der Erde entfernt ist… Wem zuliebe hocken wir eigentlich hier und verlieren unsere Leute, weshalb suchen die Strategen nächtelang nach der besten Annihilationsmethode?

Von Rache kann doch nicht die Rede sein.

Wenn Horpach jetzt vor ihm stände, würde er ihm all das sagen. Wie tollkühn und lächerlich zugleich dieses „Siegen um jeden Preis“ sei, dieses „heldenhafte Ausharren des Menschen“, diese Sucht nach Vergeltung für den Tod der Gefährten, die doch umgekommen waren, weil man selbst sie in den Tod geschickt hatte… Wir sind einfach unvorsichtig gewesen, haben zu fest auf unsere Werfer und Indikatoren gebaut. Wir haben Fehler begangen, und nun haben wir die Folgen zu tragen. Einzig und allein uns trifft die Schuld.

All das dachte er beim schwachen Schein der Lampe mit geschlossenen Augen, die ihm brannten, als hätte sich unter den Lidern Sand angesammelt. Der Mensch — das erkannte er in diesem Augenblick — hatte die wahren Höhen noch nicht erreicht, er hatte sich die so schön bezeichnete, seit alters gepriesene galaktozentrische Idee noch nicht zu eigen gemacht, deren Sinn nicht darin bestehen konnte, nur ähnliche Wesen zu suchen und zu begreifen, sondern darin, sich nicht in fremde, außermenschliche Angelegenheiten einzumischen.

Die Leere erobern, natürlich, warum nicht. Aber nicht das angreifen, was existiert, was sich in Jahrmillionen ein eigenes, unabhängiges, außer den Kräften der Strahlung und der Materie niemandem und nichts unterworfenes Gleichgewicht seiner Existenz geschaffen hat, einer tätigen Existenz, die weder besser noch schlechter ist als die Existenz der Eiweißverbindungen, die Tier oder Mensch genannt werden.

Rohan schwelgte in dem Gedanken an diese erhabene Idee, war von Verständnis für jede existierende Form erfüllt, da traf ihn wie ein spitzer Pfeil das hohe, entnervende, anhaltende Heulen der Alarmsirenen.

Alles, was er eben noch gedacht hatte, war mit einemmal verschwunden, wie weggeblasen von dem aufdringlichen Lärm, der sich in allen Stockwerken breitmachte. Schon stürzte er auf den Gang hinaus und lief zusammen mit den anderen in warmem, menschlichem Atem in schwerem, müdem Trab dahin. Aber noch ehe er den Fahrstuhl erreichte, spürte er — nicht mit einem bestimmten Sinnesorgan, ja überhaupt nicht mit seinem Körper, sondern wie mit dem Leib des Raumschiffs, von dem er jetzt ein Teilchen war — einen Stoß, der zwar sehr weit entfernt und schwach war, aber doch den Rumpf des Raumkreuzers von den Heckstützen bis zum Bug durchfuhr. Es war ein Schlag von ungeheurer Heftigkeit, den — auch das spürte er — etwas Größeres als der „Unbesiegbare“ entgegennahm und geschickt parierte.

„Das ist er! Das ist er!“ schrien die vorwärtsstürmenden Männer. Einer nach dem anderen verschwand im Fahrstuhl, zischend schlossen sich die Türen. Andere Besatzungsmitglieder polterten die Wendeltreppe hinunter, weil sie nicht warten wollten, bis sie an der Reihe waren. Da bohrte sich durch das Stimmengewirr, durch die Rufe, die Pfiffe der Bootsleute, durch das anhaltende Sirenengeheul und das aus den oberen Stockwerken dringende Getrappel die zweite, lautlose, dafür um so heftigere Erschütterung des nächsten Treffers. Die Ganglichter flackerten und wurden wieder hell.

Niemals hätte Rohan geglaubt, daß ein Fahrstuhl so langsam sein konnte. Er merkte nicht einmal, daß er noch immer mit aller Kraft auf den Knopf drückte. Nur ein Mann stand noch neben ihm, der Kybernetiker Liwin. Der Fahrstuhl hielt, und Rohan hörte beim Aussteigen ein Pfeifen, wie man es sich feiner nicht vorstellen kann und dessen hohe Töne, wie er ebenfalls wußte, für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbar waren. Es war, als stöhnten alle Titanverbindungen des Raumkreuzers zugleich auf. Er erreichte die Tür der Steuerzentrale und begriff, daß der „Unbesiegbare“ Feuer mit Feuer beantwortet hatte.

Damit war das Gefecht eigentlich schon zu Ende. Vor dem flammenden Hintergrund des Bildschirms stand schwarz und groß der Astrogator. Die Deckenbeleuchtung war, vielleicht absichtlich, ausgeschaltet, und durch die Streifen, die von oben nach unten über den Bildschirm rieselten und das ganze Blickfeld verschwimmen ließen, schimmerte ein gigantischer, bauchiger Explosionspilz, der mit dem Fuß am Boden haftete, seine blasigen Knäuel in alle Himmelsrichtungen ausstreckte und scheinbar völlig reglos war. Diese Explosion hatte den Zyklopen vernichtet, in seine Atome aufgelöst, und hinterließ in der Luft ein furchtbares, glasiges Zittern, durch das man die monotone Stimme des Technikers vernahm: „Zwanzig Strich sechshundert im Nullpunkt. Neun Strich achthundert im Umkreis. Eins Strich vier zweiundzwanzig im Feld.“

Wir haben 1420 Röntgen im Feld, das bedeutet, daß die Strahlung die Barriere des Kraftfeldes durchbrochen hat, überlegte Rohan. Er hatte nicht gewußt, daß so etwas möglich war. Aber als er auf die Skala des Hauptleistungsverteilers blickte, sah er, welch starke Ladung der Astrogator eingesetzt hatte. Mit dieser Energie konnte man ein Binnenmeer mittlerer Größe zum Sieden bringen. Nun, Horpach hatte kein weiteres Feuergefecht riskieren wollen.

Vielleicht war er dabei zu weit gegangen, jedenfalls aber hatten sie jetzt wieder nur einen Gegner.

Auf den Bildschirmen entfaltete sich indessen ein ungewöhnliches Schauspiel: Der krause, blumenkohlähnliche Pilzhut loderte in allen Regenbogenfarben, vom feinsten silbrigen Grün bis zu satten orange— und karminroten Tönungen.

Rohan bemerkte erst jetzt, daß die Wüste gar nicht zu sehen war. Wie eine dichte Nebelschicht überzog sie der einige Dutzend Meter hochgewirbelte Sand, der auf und ab wogte, als hätte sich die Wüste in ein Meer verwandelt.

Der Techniker las noch immer von der Skala ab: „Neunzehntausend im Nullpunkt. Acht Strich sechshundert im Umkreis. Eins Strich eins null zwei im Feld.“

Der Sieg über den Zyklopen wurde in dumpfem Schweigen hingenommen: Der Triumph, die eigene stärkste Waffe zerschlagen zu haben, reizte nicht zum Feiern. Allmählich gingen die Leute auseinander, während der Explosionspilz immer weiter in die Atmosphäre stieg und plötzlich an seiner Spitze in einem neuen Farbenspiel aufloderte, diesmal von den Strahlen der Sonne getroffen, die noch nicht aufgegangen war. Er hatte die obersten Schichten der eisigen Zirruswolken durchstoßen und nahm jetzt noch über ihnen goldlila, bernsteingelbe und platinweiße Schattierungen an, deren Lidft von den Bildschirmen in die Steuerzentrale fiel. Der ganze Raum schillerte, als hätte jemand auf den weißemaillierten Pulten bunte irdische Blumen zerrieben.

Noch einmal staunte Rohan, und zwar, als er Horpachs Äußeres sah. Der Astrogator hatte den schneeweißen Galamantel umgelegt, den er das letztemal bei den Abschiedsfeierlichkeiten in der Raumstation getragen hatte. Anscheinend hatte er das erste beste Kleidungsstück ergriffen, an das er geraten war. Er stand da, die Hände in den Taschen, das graue Haar an den Schläfen zerzaust, und ließ den Blick über die Versammelten schweifen.

„Kollege Rohan“, sagte er unverhofft mit weicher Stimme. „Bitte zu mir.“

Rohan trat näher und straffte sich unwillkürlich. Da wandte sich der Astrogator um und schritt zur Tür. Hintereinander gingen sie den Korridor entlang, und durch die Ventilationsscheibe hörten sie im Rauschen der Preßluft das dumpfe, wie ärgerliche Murmeln der Menschen, die die unteren Stockwerke füllten.

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