Der „Kondor“

Von weitem wirkte die Rakete wie ein schiefer Turm. Die Sandmassen rings um sie verstärkten diesen Eindruck. Da der Wind ständig von Westen blies, war der Sandwall dort bedeutend höher als im Osten. Mehrere Zugmaschinen im Umkreis waren fast ganz zugeweht, sogar der außer Gefecht gesetzte Energiewerfer, der mit offener Haube dastand, war halb verschüttet. Aber das Heck ließ die Düsenöffnungen sehen, weil es in einer frei gebliebenen Bodenmulde ruhte. Man brauchte nur eine dünne Sandschicht zu entfernen, um zu den Gegenständen zu gelangen, die an der Rampe verstreut lagen.

Am Rande des Dünenwalls hielt die Gruppe an. Die Fahrzeuge, die sie vom „Unbesiegbaren“ hergebracht hatten, umringten bereits in großem Kreis das ganze Gelände, die Strahlenbündel der Emitoren hatten sich zum Schutzfeld vereinigt. Die Männer hatten die Transportmaschinen und die Inforoboter etwa hundert Meter von der Stelle entfernt zurückgelassen, wo der Sandwall das Fundament des „Kondors“ ringförmig umschloß, und blickten nun den Dünenkamm hinunter.

Fünf Meter trennten die Rampe vom Boden, als wäre sie beim Herablassen plötzlich aufgehalten worden. Der Personenaufzug war jedoch unberührt, und die offene Tür schien zum Einsteigen einzuladen. Daneben ragten ein paar Sauerstoffflaschen aus dem Sand. Ihre Aluminiumwandungen blinkten, als hätte jemand sie erst vor wenigen Minuten liegenlassen. Ein Stück weiter schimmerte es blau in einer Düne: ein Plastbehälter, wie sich herausstellte.

Außerdem fand sich in der Mulde am Fuße des Raumschiffs eine Unmenge wirr verstreuter Gegenstände: volle und leere Konservendosen, Theodoliten, Fotoapparate, Stative und Feldflaschen — manche unversehrt, andere beschädigt.

Wie haufenweise aus der Rakete geworfen, dachte Rohan und sah zu dem dunklen Loch des Personeneinstiegs hinauf.

Die Luke war nicht ganz geschlossen.

Der kleine fliegende Aufklärer de Vries' war rein zufällig auf das tote Raumschiff gestoßen. De Vries hatte gar nicht versucht hineinzugelangen, sondern sofort die Basis benachrichtigt. Erst Rohans Gruppe sollte das Geheimnis um das Schwesterschiff des „Unbesiegbaren“ ergründen.

Schon liefen die Techniker von ihren Maschinen herzu und schleppten Werkzeugkisten an.

Rohan bemerkte etwas Rundes am Boden. Mit der Schuhspitze scharrte er den feinen Sand weg, weil er annahm, ein kleiner Globus liege darunter, und grub noch immer nichtsahnend ein blaßgelbes, gewölbtes Gebilde aus.

Er fuhr zurück, beinahe hätte er laut aufgeschrien. Alle wandten sich zu ihm um. Er hatte einen Menschenschädel in der Hand.

Sie fanden dann noch andere Knochen und sogar ein ganzes Skelett im Schutzanzug. Zwischen dem herabhängenden Unterkiefer und der oberen Zahnreihe klemmte noch das Mundstück des Sauerstoffapparates. Das Manometer war bei 46 Atmosphären stehengeblieben. Kniend drehte Jarg den Hahn der Flasche auf, und das Gas strömte zischend heraus. In der ideal trockenen Wüstenluft hatte sich an den Stahlteilen des Reduktors nicht ein bißchen Rost gebildet, so daß sich die Gewinde leicht schrauben ließen.

Der Aufzug war von innen zu bedienen, aber offensichtlich war das Netz ohne Strom, denn sie drückten vergebens auf die Knöpfe. Die vierzig Meter hohe Fahrstuhlkonstruktion zu ersteigen war recht schwierig, und Rohan schwankte, ob er nicht lieber ein paar Leute mit einer fliegenden Untertasse hinaufschicken solle, aber mittlerweile kletterten bereits zwei Techniker, durch ein Seil miteinander verbunden, nach oben. Die anderen beobachteten schweigend den Aufstieg.

Der „Kondor“, ein Raumkreuzer derselben Klasse wie der „Unbesiegbare“, hatte wenige Jahre früher die Werft verlassen; äußerlich waren die beiden Schiffe nicht zu unterscheiden.

Die Männer schwiegen. Obgleich keiner es aussprach, hätte wohl jeder lieber die Trümmer von einer Havarie, ja selbst von einer Reaktorexplosion vorgefunden.

Daß das Schiff so dastand, eingegraben in den Wüstensand und leblos auf die Seite geneigt, als hätte der Boden unter dem Druck der Heckstützen nachgegeben, mitten in einem Gewirr von Gegenständen und menschlichen Gebeinen, selbst aber scheinbar unberührt, erschütterte alle.

Die Kletterer hatten inzwischen den Einstieg erreicht, öffneten ihn mühelos und entschwanden den Blicken ihrer Gefährten. Sie blieben so lange fort, daß Rohan unruhig wurde, doch da ruckte der Fahrstuhl unverhofft einen Meter nach oben und landete wieder auf dem Sand. Zugleich tauchte im offenen Eingang die Gestalt eines Technikers auf; er winkte mit der Hand, sie könnten einsteigen.

Zu viert fuhren sie hinauf: Rohan, Ballmin, der Biologe Hagerup und Kralik, einer der Techniker. Gewohnheitsgemäß musterte Rohan den gewaltigen, gewölbten Schiffskörper, der hinter dem Aufzugsgeländer vorbeiglitt, und erstarrte zum ersten, aber nicht zum letzten Male an diesem Tag. Die Panzerplatten waren von einem erstaunlich harten Werkzeug angebohrt oder zerkratzt. Die Spuren waren nicht besonders tief, aber so dicht gesät, daß die ganze Außenhaut wie von Blatternarben bedeckt schien. Rohan packte Ballmin am Arm, doch der hatte die unerhörte Erscheinung schon bemerkt. Beide versuchten, die Kerben genau zu erkennen. Sie waren klein, wie mit einem spitzen Meißel geschlagen. Aber Rohan wußte, daß es keinen Mei— ßel gab, der einer superharten Titan-Molybdän-Decke etwas hätte anhaben können. Das brachte nur eine chemische Ätzung fertig. Er gelangte jedoch nicht zu einem Ergebnis, denn der Aufzug beendete seine kurze Fahrt, und sie betraten die Schleusenkammer.

Das Schiffsinnere war erleuchtet. Die Techniker hatten bereits das preßluftbetriebene Notstromaggregat eingeschaltet.

Der sehr feine, leichte Sand bildete nur an der Schwelle, wo der Wind ihn durch den Lukenspalt hereingeweht hatte, eine etwas dickere Schicht. In den Gängen lag gar keiner. Im dritten Stock fanden die Ankömmlinge saubere, adrette und hellerleuchtete Räumlichkeiten vor.

Hier und da erblickten sie einen Gegenstand — eine Sauerstoffmaske, einen Plastteller, ein Buch oder einen Teil eines Schutzanzuges. Aber so war es eben nur im dritten Stock.

Weiter unten, in den kartographischen Kajüten und in den Sternkajüten, in den Messen, den Mannschaftskabinen, den Radarräumen, im Hauptverteiler, auf den Deck— und Verbindungskorridoren herrschte ein unbegreifliches Durcheinander.

Noch schlimmer sah es in der Steuerzentrale aus. Dort gab es an Uhren und Bildschirmen wohl nicht eine einzige unversehrte Scheibe. Das Glas bestand aus einer splitterfreien Masse und war offenbar erstaunlich heftigen Stößen ausgesetzt gewesen, denn es bedeckte als silbriges Pulver Tische, Sessel, ja Leitungen und Steckdosen. Wie aus einem Sack geschüttete Grütze häuften sich in der Bibliothek nebenan Mikrofilme, zum Teil auseinandergerollt und in große, glatte Knäuel verschlungen, zerfetzte Bücher, zerbrochene Zirkel, Rechenschieber, Spektralbänder neben Stößen von Camerons Großen Sternkatalogen, über die sich jemand wohl besonders hergemacht hatte, denn die dicken, steifen Folioblätter waren in wilder Raserei, zugleich aber mit unfaßbarer Geduld bündelweise herausgerissen.

Im Klubraum und im angrenzenden Vorführsaal waren die Gänge mit Kleiderhaufen und Lederstücken von den aufgeschlitzten Sesselbezügen versperrt. Mit einem Wort, es sah aus, als wäre, wie Bootsmann Terner sich ausdrückte, die Rakete von einer Herde wütender Paviane überfallen worden.

Die Männer, denen es angesichts dieser Verwüstung geradezu die Sprache verschlug, gingen von Deck zu Deck.

In der kleinen Navigationskajüte lag an der Wand zusammengekrümmt der verdorrte Leichnam eines Mannes in einer Leinenhose und einem fleckigen Hemd. Jetzt bedeckte ihn eine Zeltplane, die ihm der Techniker, der als erster in dem Raum gewesen war, übergeworfen hatte. Es war eigentlich eine Mumie mit brauner, an den Knochen angetrockneter Haut.

Rohan war unter den letzten, die den „Kondor“ verließen, ihn schwindelte. Ein körperliches Übelkeitsgefühl überkam ihn, und mit aller Willenskraft unterdrückte er die immer wiederkehrenden Anfälle. Ihm war, als hätte er einen fürchterlichen, unglaublichen Traum gehabt. Die Gesichter der Männer aber gaben ihm Gewißheit, daß alles, was er gesehen hatte, Wirklichkeit war.

Sie übermittelten dem „Unbesiegbaren“ kurze Funkberichte.

Ein Teil des Kommandos blieb an Bord des „Kondors“, um einigermaßen Ordnung zu schaffen. Zuvor aber hatte Rohan alle Räume des Schiffes sorgfältig fotografieren und eine ausführliche Beschreibung des Zustandes anfertigen lassen, in dem sie das Schiff vorgefunden hatten.

Mit Ballmin und Gaarb, einem der Biophysiker, fuhr er zurück. Lenker des Transporters war Jarg. Sein breites, sonst immer lächelndes Gesicht schien jetzt schmaler und finsterer. Die viele Tonnen schwere Maschine holperte, von Stößen geschüttelt, die man bei der üblichen, glatten Fahr— weise dieses beherrschten Mannes nicht gewohnt war, über die Dünen und warf beiderseits hohe Sandfontänen auf.

Ihnen voraus schob sich ein unbemannter Energoboter und schützte sie mit dem Kraftfeld. Sie schwiegen die ganze Zeit, jeder war mit den eigenen Gedanken beschäftigt.

Rohan fürchtete sich fast vor der Begegnung mit dem Astrogator, weil er nicht wußte, was er ihm eigentlich sagen sollte. Eine der schrecklichsten, völlig zusammenhanglosen, ja irrsinnigen Entdeckungen hatte er für sich behalten. Im Badezimmer des achten Stocks hatte er Seifenstücke gefunden, die eindeutig Spuren menschlicher Zähne trugen. Aber dort konnte es noch keine Hungersnot gegeben haben. Die Lager waren von unangerührten Lebensmittelvorräten überfüllt. Sogar die Milch in den Kühlräumen war noch einwandfrei.

Auf halbem Wege empfingen sie Funksignale von einem kleinen Fahrzeug mit Steuerautomat, das, eine Staubwand hinter sich, auf sie zurollte. Sie bremsten, die andere Maschine hielt ebenfalls an. Zwei Männer saßen darin: der nicht mehr ganz junge Techniker Magdow und der Neurophysiologe Sax. Rohan schaltete das Feld aus, und so konnten sie sich durch Rufe verständigen.

Nach Rohans Aufbruch war im Hibernator des „Kondors“ der eingefrorene Körper eines Menschen entdeckt worden. Dieser Mann konnte vielleicht wieder zum Leben erweckt werden. Sax brachte deshalb die erforderliche Apparatur vom „Unbesiegbaren“. Rohan entschloß sich, Sax zu folgen mit der Begründung, das Fahrzeug des Wissenschaftlers habe kein Schutzfeld. In Wahrheit aber war er froh, das Gespräch mit Horpach hinausschieben zu können.

Sie wendeten an Ort und Stelle und jagten, Sand aufwirbelnd, zurück.

Beim „Kondor“ war reges Treiben. Noch immer wurden die unterschiedlichsten Dinge aus den Dünen zu Tage gefördert. Abseits lagen unter weißen Tüchern in einer Reihe die Leichen. Es waren inzwischen mehr als zwanzig geworden.

Die Rampe funktionierte, sogar der Reaktor für Bodenbetrieb lieferte bereits Strom.

Von weitem hatte man sie an der Staubwolke erkannt und ihnen den Durchgang in das Kraftfeld geöffnet. Ein Arzt, der kleine Dr. Nygren, war schon zur Stelle, aber ohne Assistenten wollte er den Mann aus dem Hibernator nicht untersuchen.

Rohan machte von seinem Recht Gebrauch — er vertrat hier immerhin den Kommandanten — und ging mit den beiden Ärzten an Bord. Die zertrümmerten Apparaturen, die beim erstenmal die Tür des Hibernators versperrt hatten, waren beiseite geräumt worden. Die Zeiger standen auf siebzehn Grad unter Null. Die beiden Ärzte verständigten sich mit Blicken, aber Rohan wußte von der Hibernation, um zu verstehen, daß die Temperatur für einen reversiblen Tod zu hoch, für einen hypothermischen Schlaf hingegen zu niedrig war. Es sah nicht aus, als wäre der Mann im Hibernator für ein Oberdauern unter geeigneten Bedingungen vorgesehen gewesen. Er war wohl vielmehr durch Zufall dort hineingeraten, ebenso unbegreiflich und widersinnig, wie alles andere, das an Bord des „Kondors“ geschehen war.

'Und wirklich, als sie, bereits in den thermostatischen Skaphandern, das Handrad aufgedreht und die schwere Klappe angehoben hatten, sahen sie auf dem Fußboden ausgestreckt, mit dem Gesicht nach unten, den Körper eines nur mit Unterwäsche bekleideten Mannes. Rohan half den Ärzten, ihn zu einem kleinen, gepolsterten Tisch hinüberzutragen, über dem drei Leuchten hingen, die schattenfreies Licht gaben. Es war kein Operationstisch, sondern eine Art Liege für kleine Eingriffe, wie sie bisweilen im Hibernator vorgenommen wurden.

Rohan hatte Angst, das Gesicht des Mannes zu erblicken, denn er hatte viele Besatzungsmitglieder des „Kondors“ gekannt.

Aber dieser Mann war ihm fremd. Wären die Glieder nicht eiskalt und steif gewesen, so hätte man meinen können, der Gefundene schlafe. Die Lider waren geschlossen. In dem trockenen, hermetisch abgedichteten Raum hatte die Haut nicht einmal die natürliche Farbe eingebüßt, sondern war lediglich bleich. Aber das Gewebe darunter wimmelte von mikroskopisch kleinen Eiskristallen. Wieder verständigten sich die beiden Ärzte wortlos, durch Blicke. Dann machten sie ihre Instrumente fertig.

Rohan ließ sich auf einer der leeren, frisch bezogenen Ruhestätten nieder, die zwei lange Reihen bildeten. Im Hibernator war die ursprüngliche, tadellose Ordnung erhalten.

Ein paarmal klirrten die Instrumente, die Ärzte flüsterten, schließlich trat Sax von dem Tisch zurück und sagte: „Nichts mehr zu machen.“

„Also tot“, stieß Rohan hervor. Es war weniger eine Frage als eine Schlußfolgerung, die einzig mögliche, die er aus den Worten des Arztes ziehen konnte.

Nygren hatte unterdessen die Klimaanlage eingeschaltet.

Wenig später drang ein warmer Luftstrom in den Raum.

Rohan erhob sich, um hinauszugehen, da sah er, daß Sax an den Tisch zurückkehrte. Der Arzt nahm eine kleine, schwarze Tasche vom Boden auf, öffnete sie, und nun kam jener Apparat zum Vorschein, von dem Rohan schon so oft gehört hatte, der aber bisher in seinem Beisein nie benutzt worden war. Mit ruhigen, fast pedantischen Bewegungen entwirrte Sax die Leitungsstränge, an deren Ende flache Elektroden hingen. Er legte sechs Stück an den Schädel des Toten und befestigte sie mit einem elastischen Band. Dann hockte er nieder und zog drei Paar Kopfhörer aus der Tasche. Er setzte selbst ein Paar auf und drehte, noch immer vornübergebeugt, an den Knöpfen des Apparates, der in einer Hülle stak. Die Augen hatte er geschlossen, sein Gesicht wirkte nun völlig konzentriert. Plötzlich runzelte er die Stirn, beugte sich noch tiefer und hielt den Knopf an und riß sich gleich darauf die Kopfhörer herunter.

„Kollege Nygren…“, sagte er mit sonderbarer Stimme.

Der kleine Doktor nahm ihm die Kopfhörer ab.

„Was ist?“ flüsterte Rohan mit bebenden Lippen.

Der Apparat wurde, zumindest in der Bordsprache, „Gräberabklopfer“ genannt. Bei einem Verstorbenen, bei dem der Tod erst kurz zuvor eingetreten oder der noch nicht verwest war, wie dieser Leichnam infolge der niedrigen Temperatur, konnte man „das Gehirn abhorchen“, oder genauer, den letzten Inhalt des Bewußtseins ermitteln.

Der Apparat sandte elektrische Impulse ins Schädelinnere; sie suchten sich den Weg des geringsten Widerstandes, das heißt, sie liefen an den Nervenfasern entlang, die in der präagonalen Phase eine funktionelle Einheit bildeten.

Die Ergebnisse waren nie sicher, aber es hieß, auf diese Weise sei es mehrmals gelungen, außerordentlich bedeutsame Informationen zu erhalten. In solchen Fällen wie gerade jetzt, da soviel daran lag, zumindest ein wenig das Geheimnis um die Tragödie des „Kondors“ zu lüften, war die Anwendung des „Gräberabklopfers“ dringend geboten.

Rohan hatte schon geahnt, daß der Neurologe überhaupt nicht mit der Wiederbelebung des Mannes gerechnet hatte, und war eigentlich nur gekommen, um zu hören, was ihnen dessen Gehirn entdecken würde. Reglos stand er da und spürte Trockenheit im Mund und ein dumpfes Herzklopfen, als Sax ihm das zweite Kopfhörerpaar reichte. Wäre diese Geste nicht so einfach und natürlich gewesen, er hätte nicht gewagt, die Hörer aufzusetzen. Aber er tat es unter dem ruhigen Blick von Sax' dunklen Augen, der, auf ein Knie gestützt, vor dem Apparat hockte und mit sparsamen Bewegungen den Verstärkerknopf drehte.

Anfangs hörte er nichts, nur das Rauschen des Stroms, und er war im Grunde erleichtert, weil er nichts hören wollte.

Es wäre ihm angenehmer gewesen — obwohl er sich dessen nicht bewußt war —, wenn das Hirn des unbekannten Mannes stumm geblieben wäre. Sax richtete sich auf und rückte ihm die Hörer an den Ohren zurecht. In dem Licht, das auf die weiße Kajütenwand fiel, sah Rohan etwas hindurchschimmern: ein graues, wie von Asche verschleiertes und in unbestimmter Ferne schwebendes Bild. Unwillkürlich preßte er die Lider aufeinander, und da war, was er eben erblickt hatte, fast deutlich zu erkennen. Es sah aus wie ein Gang im Schiffsinnern mit Rohren, die an der Decke entlangführten.

Der Gang war in seiner ganzen Breite von menschlichen Leibern versperrt. Sie schienen sich zu bewegen, aber es war das Bild, das zitterte und hin und her wogte. Die Menschen waren halb nackt, Kleiderreste hingen in Fetzen an ihnen herab, und ihre unnatürlich weiße Haut schien mit dunklen Sprenkeln oder einer Art Ausschlag bedeckt. Vielleicht war es auch nur eine zufällige Begleiterscheinung, denn von solchen schwarzen Pünktchen wimmelte es ebenfalls auf dem Fußboden und an den Wänden. Das ganze Bild schwankte wie eine unscharfe, durch eine starke Schicht fließenden Wassers aufgenommene Fotografie, dehnte sich aus, zog sich wieder zusammen und wogte. Von Entsetzen geschüttelt, riß Rohan die Augen auf. Das Bild verblaßte und verschwand fast ganz, nur ein Schatten war noch in dem hellerleuchteten Raum.

Sax drehte von neuem an dem Apparat, und Rohan vernahm wie aus seinem Innern ein schwaches Flüstern: „… ala… ama… lala… ala… ma… mama…“ Sonst nichts. In dem Kopfhörer mauzte es plötzlich, fiepte und krähte in hohen Tönen, die sich wie ein irrsinniger Schluckauf oder ein wildes, entsetzliches Hohngelächter immerzu wiederholten. Aber das war nur der Verstärkerstrom. Die Heterodinlampe erzeugte einfach zu schwache Schwingungen.

Sax rollte die Leitungsdrähte zusammen und stopfte sie in die Tasche. Nygren nahm ein Laken und warf es über Körper und Gesicht des Toten. Dessen Mund war bisher geschlossen gewesen und hatte sich jetzt leicht geöffnet, wohl unter der Wärmeeinwirkung (im Hibernator war es inzwischen heiß geworden — Rohan zumindest rann der Schweiß über den Rücken), und das Gesicht hatte einen ungeheuer erstaunten Ausdruck angenommen. So verschwand er unter dem weißen Tuch.

„Sagt doch was… Warum sagt ihr denn nichts?“ stieß Rohan hervor.

Sax zog die Riemen an der Apparathülle fest, erhob sich und trat einen Schritt an ihn heran. „Beherrschen Sie sich, Navigator!“

Rohan kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste — doch vergebens. Wie üblich in solchen Augenblicken, erwachte in ihm der Jähzorn, den zu bändigen ihm besonders schwerfiel.

„Verzeihung“, stammelte er. „Aber was bedeutet das nun?“

Sax knöpfte den Skaphander auf, der zu Boden glitt, und von seiner Stattlichkeit war nichts mehr vorhanden. Er war wieder der hagere, gebeugte Mann mit den schmalen Schultern und den feinnervigen Händen.

„Ich weiß nicht mehr als Sie“, antwortete er. „Vielleicht sogar weniger.“

Rohan begriff nichts mehr, aber er klammerte sich an Sax' letzte Worte.

„Wieso? Warum weniger?“

„Weil ich nicht hier war. Ich habe außer diesem Leichnam nichts gesehen. Sie sind doch heute morgen hier gewesen.

Sagt Ihnen dieses Bild nichts?“

„Nein. Die. die haben sich bewegt. Ob sie da noch gelebt haben? Was war das nur an ihnen? Diese Flecke?“

„Sie haben sich nicht bewegt. Das war eine Täuschung. Die Engramme werden wie eine Fotografie festgehalten. Manchmal ist es ein übereinander von mehreren Bildern. In diesem Fall war es das nicht.“

„Aber die Flecke? Sind sie auch eine Täuschung?“

„Ich weiß nicht. Alles ist möglich. Aber ich glaube es nicht.

Was meinen Sie, Nygren?“

Der kleine Arzt hatte sich schon aus seinem Skaphander gepellt.

„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Vielleicht war es auch kein Artefakt. An der Decke waren keine, nicht wahr?“

„Solche Flecke? Nein. Nur an den Leichen und auf dem Fußboden. Und ein paar an den Wänden…“

„Wenn das die zweite Projektion gewesen wäre, dann hätten sie wohl das ganze Bild bedeckt“, meinte Nygren.

„Aber das ist nicht sicher. Bei solchen Engrammen hängt =viel vom Zufall ab.“

„Und die Stimme? Dieses… Gestammel?“ forschte Rohan verzweifelt.

„Ein Wort war deutlich zu verstehen: Mama. Haben Sie es gehört?“

„Ja. Aber da war noch etwas. ›Ala… lala‹. Das wiederholte sich unablässig.“

„Ja, weil ich die ganze Hinterhauptlappenrinde abgesucht habe“, brummte Sax. „Das heißt die ganze Gegend des akustischen Gedächtnisses“, erklärte er Rohan. „Das war das Ungewöhnliche.“

„Diese Wörter?“

„Nein, die nicht. Ein Sterbender kann an alles mögliche denken. Wenn er an seine Mutter gedacht hätte, dann wäre das durchaus normal. Aber sein Hörbereich ist leer. Verstehen Sie?“

„Nein, keine Ahnung. Wieso leer?“

„Meistens ist die Untersuchung der Hinterhauptlappen ergebnislos“, erläuterte Nygren. „Dort sind zu viele Engramme, zu viele gespeicherte Wörter. Das ist so, als wollten Sie hundert Bücher auf einmal lesen. Ein Chaos entsteht. Aber er…“ — er warf einen Blick auf die längliche Gestalt unter dem weißen Laken — „hatte dort gar nichts. Keine Wörter, nur die paar Silben.“

„Ja, stimmt. Ich habe vom sensorischen Sprachzentrum bis zum Sulcus Rolandi alles abgesucht“, sagte Sax. „Deswegen sind die Silben immer wiedergekehrt. Es waren die einzigen phonematischen Strukturen, die erhalten geblieben sind.“

„Und der Rest, die anderen?“

„Sind nicht da.“ Sax hob, als.hätte er die Geduld verloren, den schweren Apparat so heftig vom Boden auf, daß der Ledergriff knirschte. „Sie sind nicht da, und fertig. Fragen Sie mich bitte nicht, was damit geschehen ist. Dieser Mann hat das ganze akustische Gedächtnis verloren.“

„Und das Bild?“

„Das ist etwas anderes. Das hat er gesehen. Er brauchte nicht einmal zu verstehen, was er sah. Ein Fotoapparat versteht auch nichts und hält doch fest, worauf man ihn richtet. Übrigens weiß ich nicht, ob er es verstanden hat oder nicht.“

„Würden Sie mir helfen, Herr Kollege?“ Die beiden Ärzte gingen mit den Apparaten hinaus, die Tür fiel hinter ihnen zu.

Rohan war allein. Da packte ihn eine solche Verzweiflung, daß er an den Tisch trat, das Laken beiseite schleuderte, dem Toten das Hemd aufknöpfte, das bereits aufgetaut und weich geworden war, und aufmerksam die Brust untersuchte.

Er zitterte bei der Berührung, denn sogar die Haut war geschmeidig geworden. Mit dem Auftauen des Gewebes war eine Muskelerschlaffung eingetreten. Der bis dahin unnatürlich angehobene Kopf war kraftlos hinuntergesunken, als schliefe der Mann wirklich. Rohan suchte an dem toten Körper Spuren einer rätselhaften Epidemie, einer Vergiftung oder Insektenstiche, aber er fand nichts. Zwei Finger der linken Hand spreizten sich, so daß eine kleine, leicht geöffnete Wunde zu sehen war, die zu bluten begann. Die roten Tropfen fielen auf den weißen Schaumgummibezug des Tisches. Das war zuviel für Rohan. Ohne auch nur das Tuch wieder über den Toten zu decken, stürzte er aus der Kajüte, stieß die Leute draußen zur Seite und lief dem Hauptausgang zu, als wäre jemand hinter ihm her. An der Schleusenkammer hielt Jarg ihn an, half ihm, den Sauerstoffapparat umzuschnallen und steckte ihm sogar das Mundstück zwischen die Lippen.

„Nichts gefunden, Navigator?“

„Nein, Jarg. Nichts. Nichts!“

Er merkte nicht, mit wem er im Fahrstuhl war. Draußen heulten die Motoren. Der Sturm war stärker geworden, Sandwolken fegten vorbei und prasselten auf die rauhe, unebene Oberfläche des Schiffskörpers, die Rohan ganz und gar vergessen hatte. Er ging ans Heck, reckte sich auf die Zehenspitzen und tastete das dicke Metall ab. Der Panzer fühlte sich an wie Gestein, verwittertes, altes Gestein, mit harten Knötchen übersät. Zwischen den Transportern erblickte er die hohe Gestalt des Ingenieurs Ganong, versuchte aber gar nicht erst, ihn zu fragen, was er über dieses Phänomen dachte. Der Ingenieur wußte ebensoviel wie er selbst, das heißt nichts. Gar nichts.

In dem größten Transporter fuhr er mit einem Dutzend Leuten zurück. Er saß in einer Ecke der Kabine und hörte ihre Stimmen wie von fern. Bootsmann Terner sprach von Vergiftung, wurde aber überschrien.

„Vergiftung? Womit? Alle Filter sind in ausgezeichnetem Zustand, die Wasservorräte unangerührt, die Sauerstoffbehälter voll. Lebensmittel im Überfluß…“

„Habt ihr gesehen, wie der aussah, den wir in der kleinen Navigationskajüte gefunden haben?“ fragte Blank. „Ich habe ihn gekannt.. Doch ich hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn er nicht wie immer einen Siegelring getragen hätte.“

Keiner antwortete. In der Basis begab sich Rohan unverzüglich zu Horpach. Der wußte schon Bescheid durch die Fernsehübertragung und die Berichte der Gruppe, die früher zurückgekommen war und einige hundert Fotos mitgebracht hatte. Rohan fühlte sich unwillkürlich erleichtert, daß er dem Kommandanten nicht zu schildern brauchte, was er gesehen hatte.

Der Astrogator musterte ihn aufmerksam und stand vom Tisch auf, wo eine von Fotokopien bedeckte Geländekarte lag. Sie waren allein in der großen Navigationskajüte.

„Nehmen Sie sich zusammen, Rohan“, sagte er. „Ich verstehe, wie Ihnen zumute ist, aber wir brauchen vor allem Vernunft. Und Beherrschung. Wir müssen dieser verrückten Geschichte auf den Grund kommen.“

„Sie verfügten über alle Schutzvorrichtungen: Energoboter, Lasergeräte und Teilchenwerfer. Der große Antimat steht unmittelbar bei dem Raumschiff. Alles, was wir auch haben“, sagte Rohan mit tonloser Stimme. Er ließ sich in einen Sessel fallen. „Entschuldigen Sie.“

Der Astrogator entnahm einem Wandschränkchen eine Flasche Kognak.

„Ein altes Hausmittel, manchmal kann man's gebrauchen.

Trinken Sie, Rohan. Das hat man früher angewandt, auf den Schlachtfeldern… Schweigend schluckte Rohan die scharfe Flüssigkeit hinunter.

„Ich habe die Zähler aller Energieaggregate überprüft“, sagte er in vorwurfsvollem Ton. „Die Besatzung ist keinesfalls angegriffen worden. Sie haben nicht einmal einen Schuß abgefeuert. Sie sind einfach, einfach…“

„Verrückt geworden“, half der Astrogator gelassen nach.

„Wenn wir doch wenigstens das genau wüßten! Aber wie wäre das möglich gewesen?“

„Haben Sie das Bordbuch gesehen?“

„Nein. Gaarb hatte es mitgenommen. Haben Sie es hier?“

„Ja. Nach dem Landedatum gibt es nur vier Eintragungen.

Sie betreffen die Ruinen, die Sie untersucht haben, und… die Fliegen.“

„Was für Fliegen?“

„Das weiß ich nicht. Wörtlich heißt es dort…“

Er nahm das aufgeschlagene Buch vom Tisch.

„›Keinerlei Lebenszeichen an Land. Zusammensetzung der Atmosphäre…‹ Das sind die Analysenergebnisse.

Aber hier, sehen Sie: ›Um 18 Uhr 40 geriet die zweite Raupenpatrouille auf dem Rückweg von den Ruinen in einen örtlichen Sandsturm mit starker Aktivität atmosphärischer Entladungen. Trotz Störungen Funkverbindung hergestellt. Die Patrouille meldet eine erhebliche Menge winziger Fliegen am… ‹“

Der Astrogator legte das Buch beiseite.

„Und weiter! Warum lesen Sie nicht zu Ende?“

„Das ist ja das Ende. Hier bricht die letzte Eintragung ab.“

„Weiter steht da nichts?“

„Den Rest sehen Sie sich am besten selbst an.“

Er schob Rohan das Buch hinüber. Das Blatt war mit unleserlichen Krakeln bedeckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Rohan das Liniengewirr an.

„Das hier sieht aus wie ein B“, sagte er leise.

„Ja. Und das hier wie ein G. Ein großes G. Als hätte ein kleines Kind es geschrieben. Meinen Sie nicht auch?“

Rohan schwieg, das leere Glas in der Hand, das wegzustellen er vergessen hatte. Er dachte an die Ambitionen, die er noch kurz zuvor gehabt hatte, an seinen Traum, selbst Kommandant des „Unbesiegbaren“ zu sein. Nun war er dankbar, daß er nicht über das weitere Schicksal der Expedition zu entscheiden hatte.

„Bitte, rufen Sie die Leiter der Spezialistengruppen zusammen.

Rohan, wachen Sie auf!“

„Verzeihen Sie. Eine Beratung, Astrogator?“

„Ja. Alle sollen in die Bibliothek kommen.“

Eine Viertelstunde später saßen Sie bereits in dem großen, quadratischen Saal, hinter dessen bunt emaillierten Wänden Bücher und Mikrofilme untergebracht waren. Am wenigsten erträglich war wohl die unheimliche Ähnlichkeit zwischen den Räumen im „Kondor“ und im „Unbesiegbaren“. Es waren ja Schwesterschiffe. Aber Rohan vermochte nicht — gleichzeitig, in welche Ecke er blickte —, die Bilder des Wahnsinns zu verdrängen, die sich ihm ins Hirn gefressen hatten.

Jeder hatte hier seinen Stammplatz. Der Biologe, der Arzt, der Planetologe, die Elektroniker und die Nachriditentechniker, die Kybernetiker und die Physiker saßen im Halbkreis in ihren Sesseln. Diese neunzehn Männer bildeten das strategische Hirn des Raumschiffes.

Der Astrogator stand allein unter der halb heruntergelassenen, weißen Leinwand.

„Kennen alle Anwesenden die Lage an Bord des ›Kondors‹?“

Als Antwort ertönte zustimmendes Murmeln.

„Bis jetzt haben die Suchtrupps im Umkreis des ›Kondors‹ neunundzwanzig Tote gefunden und auf dem Schiff selbst vierunddreißig, darunter einen, der sich durch Einfrieren im Hibernator ausgezeichnet gehalten hat. Dr. Nygren, der gerade von dort kommt, wird uns berichten…“

„Da gibt es nicht viel zu berichten“, sagte der kleine Doktor und erhob sich. Langsam ging er auf den Astrogator zu. Er war einen ganzen Kopf kleiner.

„Unter den Leichen sind neun mumifizierte Körper.

Außer dem, von dem der Kommandant gesprochen hat und der gesondert untersucht wird. Eigentlich sind es aus dem Sand gegrabene Skelette oder Skelettreste. Die Mumifikation hat im Schiffsinnern stattgefunden, wo günstige Bedingungen dafür vorhanden waren: geringe Luftfeuchtigkeit, so gut wie keine Fäulnisbakterien und keine allzu hohe Temperatur. Die Körper, die im Freien waren, sind der Verwesung anheimgefallen, die sich in Regenzeiten beschleunigt, weil hier der Sand einen beträchtlichen Prozentsatz an Eisenoxyden und Eisensulfiden enthält, die mit schwachen Säuren reagieren… Aber diese Einzelheiten sind, glaube ich, unwesentlich. Sollte eine genaue Erläuterung der auftretenden Reaktionen erwünscht sein, so müßte man die Kollegen Chemiker damit beauftragen.

Jedenfalls war außerhalb des Schiffes eine Mumifikation unmöglich, zumal da hier obendrein das Wasser und die darin gelösten Substanzen und der Sand eine Reihe von Jahren hindurch eingewirkt haben. So ist auch die blankpolierte Oberfläche der Gebeine zu erklären.“

„Entschuldigen Sie, Doktor“, unterbrach ihn der Astrogator.

„Das wichtigste ist im Augenblick die Todesursache dieser Leute.“

„Es gibt keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod, zumindest nicht an den guterhaltenen Leichen“, antwortete der Arzt sofort. Er blickte keinen an, es war, als beobachtete er etwas Unsichtbares in seiner hochgehobenen Hand.

„Allem Anschein nach sind sie eines natürlichen Todes gestorben.“

„Das heißt?“

„Ohne äußere Einwirkung. Manche einzeln aufgefunde— nen Arm— und Beinknochen weisen Brüche auf, aber sie können späteren Datums sein. Um das festzustellen, sind längere Untersuchungen erforderlich. Bei denen, die bekleidet waren, sind weder Epidermis noch Knochengerüst beschädigt.

Keinerlei Verletzungen, von ein paar Kratzwunden abgesehen, die ganz gewiß nicht Todesursache gewesen sein können.“

„Wie sind sie also umgekommen?“

„Ich weiß es nicht. Man könnte meinen, sie seien verhungert oder verdurstet…“

„Die Wasser— und Lebensmittelvorräte sind nicht aufgebraucht“, warf Gaarb von seinem Platz aus ein.

„Ich weiß.“

Einen Augenblick lang schwiegen alle.

„Mumifikation bedeutet in erster Linie vollständige Entwässerung des Körpers“, erläuterte Nygren. Noch immer blickte er keinen der Anwesenden an. „Die Fettgewebe unterliegen zwar Veränderungen, aber sie gehen nicht verloren.

Diese Leute hatten faktisch keine. Gerade so, als hätten sie lange Zeit gehungert.“

„Aber bei dem im Hibernator war das nicht so“, bemerkte Rohan, der hinter der letzten Sesselreihe stand.

„Das stimmt. Er ist wahrscheinlich erfroren. Mir ist unerklärlich, wie er in den Hibernator geraten ist. Vielleicht ist er einfach eingeschlafen, während die Temperatur absank.“

„Besteht die Möglichkeit einer Massenvergiftung?“ fragte Horpach.

„Nein.“

„Aber, Doktor, Sie können doch nicht so kategorisch…“

„Das kann ich sehr wohl“, erwiderte der Arzt. „Eine Vergiftung unter planetaren Bedingungen ist nur über die Lunge denkbar, durch eingeatmete Gase, über die Speiseröhre oder die Haut. Eine der guterhaltenen Leichen trug einen Sauerstoffapparat. Der Sauerstoffbehälter war gefüllt und hätte für mehrere Stunden gereicht.“

Stimmt, dachte Rohan. Er erinnerte sich an diesen Mann, an die Haut, die den Schädel umspannte, die bräunlichen Flecken auf den Backenknochen, an die Augenhöhlen, aus denen der Sand rieselte.

„Die Leute können nichts Giftiges gegessen haben, weil es hier überhaupt nichts Eßbares gibt. Das heißt an Land.

Und zum Fang im Ozean sind sie nicht ausgezogen. Die Katastrophe ist kurz nach der Landung eingetreten. Sie hatten erst einen einzigen Erkundungstrupp ins Innere der Ruinen geschickt. Das war alles. Aber ich sehe da eben McMinn. Sind Sie fertig, Kollege McMinn?“

„Ja“, antwortete der Biochemiker an der Tür.

Alle Köpfe flogen herum. Er bahnte sich einen Weg durch die Sesselreihen und blieb neben Nygren stehen. Er hatte noch die lange Laborschürze umgebunden.

„Haben Sie die Analysen?“

„Ja.“

„Dr. McMinn hat den Körper des Mannes untersucht, der im Hibernator gefunden wurde“, erklärte Nygren.

„Vielleicht sagen Sie uns gleich, was Sie festgestellt haben.“

„Nichts“, erwiderte McMinn. Er hatte so helles Haar, daß man nicht wußte, ob es blond oder grau war, und ebenso helle Augen. Sogar die Lider waren mit Sommerprossen bedeckt. Doch in diesem Augenblick reizte dieses große Pferdegesicht niemanden zum Lachen.

„Keinerlei organische oder anorganische Gifte. Alle enzymatischen Gewebegruppen normal. Das Blut ohne Abweichung von der Norm. Im Magen Reste von verdautem Zwieback und Konzentrat.“

„Wie ist er also umgekommen?“ fragte Horpach. Er war immer noch ruhig.

„Er ist einfach erfroren“, antwortete McMinn und bemerkte erst jetzt, daß er noch die Schürze umgebunden hatte. Er knöpfte die Träger ab und warf die Schürze neben sich über einen leeren Sessel. Der glatte Stoff rutschte ab und fiel auf den Boden.

„Welcher Meinung sind Sie also, meine Herren?“ Der Astrogator ließ nicht locker.

„Gar keiner“, entgegnete McMinn. „Ich kann nur sagen, daß diese Leute keiner Vergiftung erlegen sind.“

„Vielleicht einer rasch zerfallenden, radioaktiven Substanz?

Oder harter Strahlung?“

„Harte Strahlung in tödlichen Dosen hinterläßt Spuren: Schädigung der Kapillarwände, Petechien, Veränderungen im Blutbild. Solche Veränderungen liegen nicht vor. Es gibt auch keine radioaktive Substanz, die bei tödlicher Dosis innerhalb von acht Jahren spurlos verschwindet. Die Radioaktivität ist hier niedriger als auf der Erde. Diese Leute sind nicht mit irgendeiner Form von Strahlung in Berührung gekommen. Dafür kann ich garantieren.“

„Aber etwas muß sie doch getötet haben“, sagte der Planetologe Ballmin mit erhobener Stimme.

McMinn schwieg. Nygren flüsterte ihm etwas zu. Der Biochemiker nickte und ging durch die Sesselreihen hinaus.

Dann stieg auch Nygren vom Podium und setzte sich auf seinen Platz.

„Das sieht ja traurig aus“, meinte der Astrogator. „Jedenfalls brauchen wir von den Biologen keine Hilfe zu erwarten.

Möchte einer der Herren sich äußern?“

„Ja, ich.“ Der Atomphysiker Sarner erhob sich.

„Die Erklärung für den Untergang des ›Kondors‹ liegt in ihm selbst begründet“, sagte er und sah alle der Reihe nach mit seinen weitsichtigen Vogelaugen an. Neben dem schwarzen Haar wirkte seine Iris fast weiß. „Das heißt, es gibt eine Erklärung, wir sehen sie im Moment nur noch nicht. Das Durcheinander in den Kajüten, die unangerührten Vorräte, Zustand und Lage der Toten, die beschädigten Einrichtungen — all das hat etwas zu bedeuten.“

„Wenn Sie nicht mehr zu sagen haben“, warf Gaarb ärgerlich ein.

„Immer langsam! Wir tappen im dunkeln, müssen einen Weg suchen. Vorläufig wissen wir nur sehr wenig.

Ich habe den Eindruck, uns fehlt der Mut, gewisse Dinge, die wir an Bord des ›Kondors‹ gesehen haben, beim Namen zu nennen. Deshalb klammern wir uns so hartnäckig an die Hypothese einer Vergiftung und eines dadurch hervorgerufenen Massenwahnsinns. Wir müssen jedoch in unserem eigenen Interesse und mit Rücksicht auf die Leute vom ›Kondor‹ den Tatsachen unerschrocken ins Auge sehen.

Ich bitte Sie, vielmehr, ich fordere kategorisch, daß jeder von uns sofort ausspricht, was ihn an Bord des Schiffes am meisten schockiert hat, was er vielleicht noch niemandem anvertraut hat, was er eigentlich lieber vergessen wollte.“

Sarner setzte sich. Rohan überwand sich und erzählte von den Seifenstücken, die er im Baderaum bemerkt hatte.

Danach stand Gralew auf. Unter den Stößen der zerrissenen Landkarten und der zerfetzten Bücher sei das ganze Deck voll vertrockneter Exkremente gewesen.

Ein anderer sprach von einer Konservendose, die Spuren von Zähnen zeigte, als hätte jemand versucht, das Blech zu durchbeißen. Gaarb war am meisten von den Krakeleien im Bordbuch und der Notiz über die „Fliegen“ erschüttert.

Damit ließ er es jedoch nicht bewenden.

„Nehmen wir an, aus dem tektonischen Graben in der,Stadt‹ ist eine Welle Giftgas gedrungen, die der Wind zur Rakete getragen hat. Wenn aus Unvorsichtigkeit die Luke nicht richtig geschlossen war…“

„Nur die' Außenluke war nicht richtig geschlossen, Kollege Gaarb. Davon zeugt der Sand in der Schleusenkammer.

Die Innenluke war zu.“

„Die können sie später zugemacht haben, als sie bereits die Wirkung des Gases zu spüren begannen.“

„Das ist unmöglich, Gaarb. Wenn die Außenluke geöffnet ist, bekommen Sie die Innenluke nicht auf. Sie öffnen sich nie zusammen, dadurch ist jede Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit ausgeschlossen.“

„Aber in einem gibt es für mich keinen Zweifel: Es muß plötzlich geschehen sein. Massenwahnsinn — ich behaupte gar nicht, daß auf dem Flug im All keine Psychosefälle auftreten können, aber noch niemals auf einem Planeten, obendrein buchstäblich wenige Stunden nach der Landung. Ein Massenwahnsinn, der die ganze Besatzung erfaßt hat, kann nur die Folge einer Vergiftung gewesen sein…“

„Oder der Infantilität“, bemerkte Sarner.

„Wie? Was reden Sie da?“ Gaarb war verblüfft. „Soll das ein Scherz sein?“

„In einer solchen Situation scherze ich nicht. Ich habe Infantilität gesagt, weil es bisher niemand anders gesagt hat, trotz der Kritzeleien im Bordbuch, trotz der zerfetzten Sternalmanache, der mühsam gemalten Buchstaben. Das haben Sie doch alle gesehen, nicht wahr?“

„Aber was heißt das?“ fragte Nygren. „Soll das eine Krankheit sein?“

„Nein. Es ist wohl keine, nicht wahr, Doktor?“

„Ganz bestimmt nicht.“

Wieder trat Schweigen ein. Der Astrogator zögerte.

„Das kann uns auf eine falsche Fährte bringen. Die Ergebnisse nekroskopischer Untersuchungen sind immer unsicher.

Aber im Augenblick weiß ich nicht, was uns sonst drohen könnte. Dr. Sax…“

Der Neurophysiologe schilderte das Bild, das sie im Gehirn des im Hibernator Erfrorenen vorgefunden hatten, und erwähnte auch die Silben im akustischen Gedächtnis des Toten. Das löste einen regelrechten Sturm von Fragen aus. Auch Rohan geriet in ihr Kreuzfeuer, weil er bei dem Experiment zugegen gewesen war. Aber sie kamen nicht zu einem Schluß.

„Bei diesen Flecken denkt man unwillkürlich an die ›Fliegen‹“,sagte Gaarb. „Moment mal, vielleicht waren dieTodesursachen unterschiedlich. Sagen wir, die Besatzung wurde von giftigen Insekten angefallen. Kleine Stiche lassen sich schließlich auf der mumifizierten Haut nicht feststellen. Und der, den wir im Hibernator gefunden haben, hat sich ganz einfach vor diesen Insekten retten wollen, um dem Schicksal seiner Gefährten zu entgehen… und ist erfroren.“

„Und warum trat bei ihm vor dem Tode eine Amnesie ein?“

„Ein Gedächtnisverlust? Ist das mit Sicherheit festgestellt worden?“

„Soweit man sich überhaupt auf die Ergebnisse der nekroskopischen Untersuchung verlassen kann.“

„Aber was sagen Sie zu der Insektenhypothese?“

„Zu dieser Frage mag sich Lauda äußern.“

Lauda war der Chefpaläobiologe des Raumschiffs. Er stand auf und wartete, bis sich alle beruhigt hatten.

„Es ist kein Zufall, daß wir nicht über die sogenannten Fliegen gesprochen haben. Wer sich auch nur ein bißchen in der Biologie auskennt, der weiß, daß außerhalb eines bestimmten Biotops, das heißt einer übergeordneten Einheit, die sich aus dem Milieu und allen darin auftretenden Arten zusammensetzt, keinerlei Organismen leben können. So ist es im ganzen bisher erforschten Kosmos. Das Leben erzeugt entweder eine riesige Formenvielfalt, oder es entsteht überhaupt nicht. Insekten konnten also nicht entstehen, ohne daß sich gleichzeitig Pflanzen auf dem Lande, andere symmetrische, wirbellose Organismen und so weiter entwickelten.

Ich will Ihnen keinen Vortrag über die allgemeine Evolutionstheorie halten, ich denke, es genügt, wenn ich Ihnen versichere, daß es unmöglich ist. Hier gibt es weder giftige Fliegen noch andere Gliederfüßler wie Hautflügler oder Spinnentiere. Es gibt auch keinerlei verwandte Formen.“

„Wie können Sie dessen so sicher sein?“ warf Ballmin ein.

„Wenn Sie mein Schüler wären, Ballmin, so wären Sie jetzt nicht an Bord dieses Raumschiffes, weil Sie bei mir die Prüfung nicht bestanden hätten“, sagte der Paläobiologe unberührt, und die Anwesenden lächelten unwillkürlich.

„Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen mit der Planetologie bestellt ist, aber in Evolutionsbiologie hätten Sie ›ungenügend‹ bekommen!“

„Typische Fachsimpelei. Ist das nicht schade um die Zeit?“ flüsterte jemand Rohan von hinten zu. Rohan wandte sich um und blickte in das braungebrannte, breite Gesicht Jargs, der ihm verständnissinnig zuzwinkerte.

„Vielleicht sind es keine Insekten einheimischen Ursprungs“, beharrte Ballmin. „Vielleicht sind sie eingeschleppt worden…“

„Woher aber?“

„Von den Planeten der Nova.“

Jetzt redeten alle auf einmal. Es dauerte eine ganze Weile, bevor es gelang, sie zu beschwichtigen.

„Kollegen!“ sagte Sarner. „Ich weiß, woher Ballmins Gedanke stammt. Von Dr. Gralew.“

„Nun ja, ich bestreite nicht, daß ich der Urheber bin“, gestand der Physiker.

„Ausgezeichnet. Nehmen wir also an, wir könnten uns den Luxus wahrscheinlich klingender Hypothesen nicht mehr leisten und brauchten ganz verrückte. Gut, meinetwegen.

Meine Herren Biologen! Nehmen wir an, ein Raumschiff von einem Planeten der Nova hat die dortigen Insekten hierhergebracht. Hätten sie sich den örtlichen Bedingungen anpassen können?“

„Natürlich, wenn es schon eine verrückte Hypothese sein soll“, gab Lauda von seinem Platz aus zu. „Aber auch die muß für alles eine Erklärung liefern.“

„Das heißt?“

„Das heißt, sie muß erklären, was den Außenpanzer des ›Kondors‹ zerfressen hat, und zwar so, daß das Schiff, wie mir die Ingenieure sagen, gar nicht flugtauglich ist, bevor es generalüberholt wird. Glauben Sie denn, irgendwelche Insekten hätten sich so angepaßt, daß sie eine Molybdänlegierung konsumieren? Das ist eine der härtesten Substanzen im ganzen Kosmos. Ingenieur Petersen, was kann einen solchen Panzer zerstören?“

„Wenn er richtig gehärtet ist, eigentlich nichts“, antwortete der stellvertretende Chefingenieur. „Man kann ihn mit Diamanten ein wenig anbohren, aber dazu brauchte man eine Tonne Bohrköpfe und tausend Stunden Zeit. Dann schon eher mit Säuren. Aber mit anorganischen. Sie müßten bei einer Temperatur von wenigstens zweitausend Grad und bei entsprechenden Katalysatoren einwirken.“

„Und was hat Ihrer Meinung nach den Panzer des ›Kondors‹ zerfressen?“

„Keine Ahnung. Wenn er in einem Säurebad gelegen hätte, und zwar bei der geeigneten Temperatur, dann sähe er nicht anders aus. Aber wie das hier geschehen ist, ohne Lichtbogen-Plasmabrenner und Katalysatoren, kann ich mir nicht vorstellen.“

„Da haben Sie Ihre Fliegen, Kollege Ballmin“, sagte Lauda und setzte sich.

„Ich glaube, es hat keinen Sinn, weiterzudiskutieren“, bemerkte der Astrogator, der bis dahin geschwiegen hatte.

„Vielleicht war es noch zu früh dafür. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Untersuchungen fortzuführen. Wir teilen uns in drei Gruppen. Eine befaßt sich mit den Ruinen, eine mit dem ›Kondor‹, und eine macht ein paar Abstecher ins Innere der Westwüste. Das ist das Maximum unserer Möglichkeiten, denn ich kann nicht mehr als vierzehn Energoboter aus dem Permimeter nehmen, selbst wenn einige Maschinen des ›Kondors‹ in Betrieb genommen werden. Wir haben nach wie vor dritte Alarmstufe.“

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