Der Erste

Schwelende, schlüpfrige Schwärze umfing ihn. Er drohte zu ersticken. Verzweifelt rang er mit den immateriellen Schlingen, die ihn fesselten, wollte sie von sich abschütteln, aber er versank nur immer tiefer. Der Schrei blieb ihm in der geschwollenen Kehle stecken. Vergebens suchte er nach einer Waffe. Er war nackt. Ein letztes Mal spannte er alle Kräfte an, um zu schreien. Ohrenbetäubender Lärm riß ihn aus dem Schlaf. Rohan sprang benommen aus seiner Koje.

Er wußte nur so viel, daß er von Dunkelheit umgeben war und daß unablässig das Alarmsignal klingelte. Das war kein Traum mehr. Er schaltete Licht an, schlüpfte in den Skaphander und rannte hinaus. In allen Stockwerken drängten sich die Leute vor dem Fahrstuhl. Nur das anhaltende Läuten der Signale war zu hören. Von den Wänden leuchtete in roter Schrift das Wort Alarm. Er lief in die Steuerzentrale. Der Astrogator stand in normaler Tageskleidung vor dem großen Bildschirm. „Ich habe den Alarm schon abgeblasen“, sagte er ruhig. „Es ist nur Regen, Rohan, schauen Sie mal. Ein schöner Anblick.“

Wirklich sprühten auf dem Bildschirm, auf dem die obere Hälfte des nächtlichen Himmels zu sehen war, unzählige Funken von Entladungen. Die Regentropfen, die aus großer Höhe herabfielen, prallten auf die unsichtbare Schutzhülle des Kraftfeldes, die den „Unbesiegbaren“ wie eine riesige Schüssel bedeckte, verwandelten sich augenblicklich in mikroskopisch kleine, feurige Explosionen und tauchten die ganze Landschaft in flimmerndes Licht, ähnlich einem hundertfach verstärkten Nordlicht.

„Die Automaten hätten besser programmiert werden müssen“, sagte Rohan mit schwacher Stimme. Er war nun hellwach, der Schlaf war ihm vergangen. „Ich muß Terner sagen, daß er die Annihilation nicht einschalten soll. Sonst jagt uns jede Handvoll Sand, die der Wind anweht, mitten in der Nacht hoch.“

„Nehmen wir an, es war ein Probealarm, eine Art Manöver“, entgegnete der Astrogator, der unverhofft guter Laune zu sein schien. „Jetzt ist es vier Uhr. Sie können wieder in Ihre Kabine gehen, Rohan.“

„Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust dazu. Und Sie?“

„Ich habe ausgeschlafen. Mir genügen vier Stunden.

Nach sechzehn Jahren Weltraum ist von dem alten Schlafrhythmus, wie er auf der Erde war, nichts übriggeblieben.

Rohan, ich mache mir Gedanken über die maximale Sicherheit der Forschungsgruppen. Es ist ziemlich umständlich, überall Energoboter mitzuschleppen und ein Schutzfeld zu entfalten. Was meinen Sie?“

„Man könnte den Leuten eigene Emitoren mitgeben.

Aber damit ist es auch nicht getan. Wenn man von einer Schutzblase umgeben ist, kann man nichts anfassen… Sie wissen, wie das ist. Und wenn man den Radius des Kraftfeldes zu sehr verkürzt, dann kann man sich eine Verbrennung zuziehen. Ich habe das schon erlebt.“

„Ich habe sogar daran gedacht, keinen an Land zu lassen und mit Hilfe von ferngesteuerten Robotern zu arbeiten“, gestand der Astrogator. „Allerdings ginge das nur für ein paar Stunden oder für einen Tag. Aber ich glaube, wir werden länger hierbleiben.“

„Was gedenken Sie also zu tun?“

„Jede Forschungsgruppe erhält eine Ausgangsbasis, die durch ein Kraftfeld geschützt ist. Aber die einzelnen Mitglieder müssen über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügen, sonst kommen wir vor lauter Schutzmaßnahmen nicht zu einem Ergebnis. Unter einer Bedingung: Jeder hat bei Arbeiten außerhalb des Kraftfeldes einen abgeschützten Mann hinter sich, der ihn ständig beobachtet. Keinen aus den Augen verlieren — das ist oberster Grundsatz auf Regis iu.“

„Welcher Gruppe teilen Sie mich zu?“

„Möchten Sie beim ›Kondor‹ arbeiten? Wie ich sehe, nicht. Gut. Bleiben die Stadt oder die Wüste. Sie dürfen wählen.“

„Ich wähle die Stadt, Astrogator. Ich glaube noch immer, daß das Geheimnis dort verborgen ist.“

„Möglich. Sie nehmen also morgen — nein, es ist ja schon heute, draußen dämmert es bereits — Ihre Gruppe von gestern.

Ich gebe Ihnen einige Arctane mit. Ein paar Handlaser wären auch nicht verkehrt. Ich habe nämlich den Eindruck, daß es aus geringer Entfernung wirkt.“

„Was eigentlich?“

„Wenn ich das wüßte… Ach so, eine Küche nehmen Sie auch mit, damit Sie völlig unabhängig sind und notfalls ohne Proviantzufuhr vom Raumschiff arbeiten können.“

Die rote, kaum wärmende Sonne war über das Firmament gerollt. Die Schatten der grotesken Bauten wurden länger und verschmolzen miteinander. Der Wind wehte die Wanderdünen zwischen den Metallpyramiden von einer Stelle zur anderen. Vom Dach eines schweren Geländefahrzeugs aus beobachtete Rohan durch das Fernrohr Gralew und Chen, die sich außerhalb des Schutzfeldes am Fuße einer schwärzlichen „Honigwabe“ zu schaffen machten.

Der Riemen, an dem sein Handlichtwerfer hing, schnitt in den Nacken ein. Ohne die beiden Männer aus den Augen zu lassen, schob er ihn so weit wie möglich nach hinten. Der Plasmabrenner in Chens Hand funkelte wie ein winziger, aber sprühender Brillant. Aus dem Wageninnern drang das Rufzeichen zu ihm, das sich in gleichmäßigen Abständen wiederholte, aber er wandte nicht ein einziges Mal den Kopf. Er hörte den Fahrer antworten.

„Navigator! Befehl des Kommandanten! Wir sollen sofort zurück!“ schrie Jarg aufgeregt und steckte den Kopf durch das Turmluk.

„Zurück? Warum?“

„Das weiß ich auch nicht. Sie senden dauernd das Rückkehrsignal und schon viermal EV.“

„EV? Oje, ich bin ganz steif! Dann müssen wir uns aber beeilen. Geben Sie mir das Mikrofon und holen Sie die Blinkfeuer heraus.“

Zehn Minuten später waren alle Leute aus der Außenzone bereits in den Fahrzeugen. Rohan trieb seine kleine Kolonne zu der höchsten Geschwindigkeit an, die in dem hügeligen Gelände möglich war. Blank, der jetzt bei ihm als Funker arbeitete, reichte ihm plötzlich die Kopfhörer.

Rohan stieg in den stählernen Leib des Fahrzeugs, wo es nach heißem Plast roch, und hörte beim Surren des Ventilators, dessen Luftzug ihm die Haare durcheinanderwehte, die Funksprüche mit, die zwischen Gallaghers Gruppe in der Westwüste und dem „Unbesiegbaren“ gewechselt wurden.

Ein Gewitter schien heraufzuziehen. Schon seit dem Morgen hatten die Barometer niedrigen Luftdruck angezeigt, aber erst jetzt krochen flache, dunkelblaue Wolken über den Horizont hoch. Oben war der Himmel klar. An atmosphärischen Störungen mangelte es wahrlich nicht — es knisterte dermaßen in den Kopfhörern, daß nur Morseverbindung möglich war. Rohan fing eine Gruppe verschlüsselter Signale auf. Er hatte sich zu spät eingeschaltet und wußte nicht, worum es ging. Er verstand lediglich, daß auch Gallaghers Gruppe mit Höchstgeschwindigkeit zurückkehrte, daß an Bord des Raumschiffes Alarmbereitschaft befohlen war und alle Ärzte an ihre Plätze beordert worden waren.

„Alarmbereitschaft für die Ärzte“, sagte er zu Ballmin und Gralew, die ihn erwartungsvoll ansahen. „Ein Unfall, aber sicherlich nichts Ernsthaftes. Vielleicht hat es einen Erdrutsch gegeben, und jemand ist verschüttet worden.“

Er sagte das, weil bekannt war, daß Gallaghers Leute an einer bei der Geländeerkundung bestimmten Stelle geologische Ausgrabungen vornehmen sollten. Im Grunde aber glaubte er selbst nicht, daß es sich um einen gewöhnlichen Arbeitsunfall handelte.

Knapp sechs Kilometer waren sie vom Raumschiff entfernt, aber die andere Gruppe war offensichtlich viel früher zurückgerufen worden, denn als sie die steile, schwarze Silhouette des „Unbesiegbaren“ erblickten, überquerten sie ganz frische, von Raupenfahrzeugen stammende Spuren, die sich bei diesem Wind keine halbe Stunde gehalten hätten.

Sie näherten sich der Grenze des Außenfeldes und riefen die Steuerzentrale, die ihnen den Durchgang öffnen sollte.

Sie mußten erstaunlich lange auf Antwort warten. Endlich leuchteten die üblichen blauen Signale auf, und sie fuhren in die Schutzzone ein. Die Gruppe vom „Kondor“ war schon da. Also war sie es gewesen, die vor ihnen hereingeholt worden war, und nicht Gallaghers Geologen. Neben der Rampe und in der Einfahrt standen Raupenfahrzeuge im Wege, Menschen liefen planlos durcheinander, bis an die Knie im Sand einsinkend. Automaten blinkten mit Scheinwerfern.

Es dämmerte bereits. Zunächst fand sich Rohan in diesem Wirrwarr nicht zurecht. Plötzlich stürzte aus der Höhe ein greller Lichtstrahl herab. Der große Scheinwerfer verwandelte die Rakete in einen riesigen Leuchtturm. Der Scheinwerfer hatte weit hinten in der Wüste eine Lichterkolonne aufgespürt, die hin und her tanzte, als wäre eine ganze Kriegsflotte im Anzug. Wieder flammten die Leuchtfeuer des Kraftfeldes auf, und es öffnete sich. Die Maschinen standen noch nicht, da sprangen Gallaghers Männer schon in den Sand. Von der Rampe rollte ein zweiter Scheinwerfer heran und durch das dichte Spalier der abgestellten Maschinen schritt eine Gruppe von Leuten mit einer Trage, auf der jemand lag.

Als sie an Rohan vorbeikamen, stieß er seine Vordermänner zur Seite und erstarrte. Im ersten Moment glaubte er wirklich an einen Unfall, aber dem Mann auf der Trage waren Arme und Beine gefesselt.

Er wand sich so, daß die Stricke ächzten, mit denen er gebunden war, und gab dabei mit weit aufgerissenem Mund furchtbare, winselnde Laute von sich. Die Gruppe war den Lichtkegeln der Scheinwerfer gefolgt und entfernte sich immer weiter, aber das menschenunähnliche jaulen, unvergleichbar allem, was er jemals gehört hatte, drang noch immer zu ihm, der jetzt im Dunkeln stand. Der weiße Fleck mit den Gestalten darin wurde kleiner, glitt die Rampe hinauf und verschwand in dem schwarz gähnenden Loch der Ladeluke. Rohan erkundigte sich, was denn vorgefallen sei, aber in seiner Nähe waren nur Leute von der „Kondorgruppe“, die genausowenig wußten wie er.

Eine ganze Weile verging, bevor er so weit zu sich gekommen war, daß er einigermaßen Ordnung schaffen konnte.

Die Maschinenkolonne setzte sich wieder in Bewegung und zog lärmend die Rampe hinauf, am Fahrstuhl flammten die Lichter auf, die Schar derer, die unten warteten, wurde kleiner.

Als einer der letzten fuhr Rohan mit den schwerbeladenen Arctanen hinauf, deren unerschütterliche Ruhe ihm als besonders gehässiger Spott erschien. Im Schiffsinnern war das anhaltende Klingeln der Informatoren und der Telefone zu hören, an den Wänden leuchteten noch immer die Alarmsignale für die Ärzte, doch bald darauf erloschen sie.

Die Gänge leerten sich. Ein Teil der Besatzung fuhr in die Messe hinunter. Er hörte Gespräche auf dem Gang und hallende Schritte. Ein verspäteter Arctan strebte stampfend der Roboterabteilung zu. Schließlich hatten sich alle zerstreut.

Er aber blieb wie gelähmt zurück, als hätte er keine Hoffnung mehr, das Geschehene jemals zu begreifen, und als wäre er plötzlich zu der Erkenntnis gelangt, daß es für all das keine Erklärung gab und niemals geben würde.

„Rohan!“

Gaarb stand vor ihm. Der Anruf rüttelte ihn wach. Er zuckte zusammen.

„Ach Sie, Doktor? Haben Sie es auch gesehen? Wer war das?“

„Kertelen.“

„Was? Unmöglich!“

„Ich habe ihn fast bis zuletzt gesehen.“

„Bis zuletzt?“

„Ich war mit ihm zusammen“, sagte Gaarb mit unnatürlich ruhiger Stimme. Rohan sah die Ganglampen in seinen Brillengläsern funkeln.

„Bei der Expeditionsgruppe in der Wüste?“ stieß er hervor.

„Ja.“

„Und was ist mit ihm?“

„Gallagher hatte die Stelle dort nach seismographischen Sondierungen ausgesucht. Wir gerieten in ein Labyrinth von engen, gewundenen Schluchten“, sagte Gaarb schleppend, als spräche er zu sich selbst und wollte sich noch einmal den genauen Ablauf der Ereignisse vergegenwärtigen. „Dort ist weiches, ausgespültes Felsgestein organischen Ursprungs, voller Grotten und Höhlen. Die Raupenfahrzeuge mußten wir draußen lassen… Wir gingen dicht hintereinander. Elf Mann. Die Ferrometer zeigten größere Eisenmengen an.

Die suchten wir. Kertelen meinte, dort seien irgendwo Maschinen verborgen…“

„Ja, mir hat er auch so was gesagt. Und dann?“

„In einer Höhle fand er dicht unter der Schlammschicht — dort gibt es sogar Stalaktiten und Stalakmiten — etwas wie einen Automaten.“

„Tatsächlich?“

„Nein nicht, was Sie denken. Es war ein Wrack, nicht einmal verrostet — das muß eine nichtrostende Legierung sein —, aber korrodiert, halb verbrannt, eben nur Trümmer.“

„Vielleicht sind noch andere…“

„Aber dieser Automat ist wenigstens 300 000 Jahre alt!“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„An der Oberfläche hat sich Kalkstein abgesetzt von dem Wasser, das von den Stalaktiten am Felsengewölbe heruntergetropft und verdunstet ist. Gallagher selbst hat anhand derVerdunstungsgeschwindigkeit, der Niederschlagsbildung und der Niederschlagsmenge berechnet, daß 300000 Jahre der bescheidenste Näherungswert sind. Wissen Sie übrigens, wie dieser Automat aussieht? Beinahe wie die Ruinen!“

„Also ist es gar kein Automat!“

„Nein. Er muß sich fortbewegt haben, aber nicht auf zwei Beinen. Auch nicht wie eine Krabbe. Wir hatten übrigens keine Zeit, das zu untersuchen, weil gleich darauf…“

„Was war gleich darauf?“

„In gewissen Zeitabständen hatte ich die Leute gezählt.

Ich war im Kraftfeld und sollte sie beobachten, Sie wissen schon. Aber sie alle hatten ja Masken auf, wie das so ist, alle sind dadurch einander ähnlich, die Schutzanzüge waren auch nicht mehr bunt, sondern mit Lehm beschmiert. Auf einmal fehlte einer. Ich rief alle zusammen, und wir machten uns auf die Suche. Kertelen hatte sich sehr über seinen Fund gefreut und war weitergepirscht… Ich dachte, er hätte sich bloß in eine Abzweigung der Schlucht verlaufen.

Sie ist voller Nebenwege, die aber alle kurz, flach und ausgezeichnet beleuchtet sind. Plötzlich bog er um eire Ecke.

Bereits in diesem Zustand. Nygren war bei uns. Er glaubte, es sei ein Hitzschlag…“

„Was ist nun wirklich mit ihm?“

„Er ist bewußtlos. Obwohl auch nicht richtig. Er kann gehen, sich bewegen, nur ist es unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Zudem hat er die Sprache verloren. Haben Sie seine Stimme gehört?“

„Ja.“

„Jetzt scheint er ein bißchen matt geworden zu sein. Vorher war es noch schlimmer. Er hat keinen von uns erkannt.

Das war im ersten Moment das furchtbarste. ›Kertelen, wo stecken Sie denn?‹ rief ich ihn an, doch er ging wie taub an mir vorbei, zwischen uns hindurch und die Schlucht hinauf, aber in einer Haltung, auf eine Weise, daß es uns allen kalt.

den Rücken hinunterlief. Einfach wie ausgewechselt. Er reagierte nicht auf unser Rufen, also mußten wir ihn einfangen.

Was sich da alles abgespielt hat… Kurz und gut, wir mußten ihn fesseln, sonst hätten wir ihn nicht mitbringen können.“

„Und was sagen die Ärzte?“

„Die reden wie üblich lateinisch, aber sonst wissen sie auch nichts. Nygren ist mit Sax beim Kommandanten, dort können Sie nachfragen.“

Gaarb ging mit schweren Schritten davon, den Kopf wie immer zur Seite geneigt. Rohan stieg in den Aufzug und fuhr nach oben in den Steuerraum. Er fand ihn leer, als er aber an den kartographischen Kajüten vorbeikam, hörte er durch den Türspalt Sax' Stimme. Er trat ein.

„Anscheinend völliger Gedächtnisschwund. So sieht es zumindest aus“, sagte der Neurophysiologe. Er stand mit dem Rücken zu Rohan und betrachtete eine Röntgenaufnahme, die er in der Hand hielt. Am Schreibtisch saß der Astrogator vor dem aufgeschlagenen Bordbuch. Seine Hand lag auf einem der mit zusammengerollten Sternkarten vollgestopften Regale. Schweigend hörte er Sax zu, der bedächtig die Aufnahme in einen Umschlag steckte.

„Amnesie, aber ein Sonderfall. Nicht nur, daß er nicht mehr weiß, wer er ist, er hat auch die Sprache verloren, die Fähigkeit zu schreiben und zu lesen eingebüßt. Eigentlich ist das sogar mehr als Amnesie. Es ist völliger Verfall, Zerstörung der Persönlichkeit. Außer den primitiven Reflexen ist nichts übriggeblieben. Er ist imstande, zu gehen und zu essen, aber nur, wenn ihm das Essen in den Mund gesteckt wird. Er nimmt es an, aber…“

„Hört und sieht er?“

„Ja, gewiß. Aber er begreift nicht, was er sieht. Er kann Menschen nicht von Gegenständen unterscheiden.“

„Und die Reflexe?“

„Normal. Es ist eine zentrale Sache.“

„Eine zentrale?“

„Ja, eine Sache des Gehirns. Anscheinend sind alle Spuren des Gedächtnisses mit einem Schlage völlig gelöscht worden.“

„Dann war dieser Mann vom ›Kondor‹ also auch…“

„Ja. Jetzt bin ich sicher. Das war das gleiche.“

„Ich habe so etwas ein einziges Mal gesehen“, sagte der Astrogator leise, fast flüsternd. Er blickte zu Rohan hinüber, nahm aber nicht Notiz von ihm. „Das war im Raum.“

„Ach, ich weiß! Daß mir das nicht gleich eingefallen ist!“

stieß der Neurophysiologe mit hoher Stimme hervor.

„Amnesie durch magnetischen Schock, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ein solcher Fall ist mir noch nicht begegnet. Ich kenne diese Krankheit nur aus der Theorie. So was ist doch vor langer Zeit vorgekommen, wenn starke Magnetfelder mit hoher Geschwindigkeit durchflogen wurden?“

„Ja. Das heißt unter spezifischen Bedingungen. Die Feldstärke ist weit weniger von Bedeutung als der Gradient und die Heftigkeit der Veränderung. Treten im Raum große Gradienten auf — und mitunter gibt es ganz hübsche Sprünge —, dann stellen die Meßuhren sie auf Entfernung fest. Früher war das nicht möglich…“

„Stimmt“, pflichtete der Arzt bei. „Das ist wahr.

Ammerhatten hat solche Versuche an Affen und Katzen vorgenommen. Er setzte sie der Wirkung riesiger Magnetfelder aus, bis sie das Gedächtnis verloren…“

„Ja, das hat schließlich etwas mit der Beantwortung elektrischer Reize durch das Gehirn zu tun.“

„Aber in diesem Fall haben wir außer Gaarbs Bericht die Aussagen seiner Leute“, überlegte Sax laut. „Gewaltige Magnetfelder, das müssen doch wohl Hunderttausende Gauß sein?“

„Das reicht nicht. Dazu sind Millionen nötig“, sagte der Astrogator schroff. Erst jetzt traf sein Blick auf Rohan.

„Kommen Sie herein, und schließen Sie die Tür!“

„Millionen? Würden die Bordapparaturen ein solches Feld nicht ausfindig machen?“

„Soweit sie dazu imstande sind“, entgegnete Horpach.

„Wenn es auf sehr kleinem Raum konzentriert wäre — wenn es, sagen wir, den Umfang dieses Globus hätte und von außen abgeschirmt wäre…“

„Kurz gesagt, wenn Kertelen den Kopf zwischen die Pole eines gigantischen Elektromagneten gesteckt hätte…?“

„Auch das genügt noch nicht. Das Feld muß in einer bestimmten Frequenz oszillieren.“

„Aber dort gab es weder Magneten noch eine Maschine, außer diesen verrosteten Trümmern. Nichts, nur ausgewaschene Schluchten, Kies und Sand…“

„Und Höhlen“, fügte Horpach ruhig, fast gleichgültig hinzu.

„Und Höhlen. Glauben Sie, daß ihn jemand in eine solche Höhle gezogen hat und daß dort ein Magnet ist. Nein, das ist doch…“

„Und wie erklären Sie es sich?“ fragte der Kommandant, als wäre er des Gesprächs überdrüssig.

Der Arzt schwieg.

Um drei Uhr vierzig nachts gellten die Alarmsignale durch alle Stockwerke des „Unbesiegbaren“. Die Männer fuhren aus dem Schlaf hoch und eilten, kräftig fluchend und sich unterwegs fertig anziehend, an ihre Plätze. Fünf Minuten nach dem ersten Schnarren der Klingeln war Rohan im Steuerraum. Der Astrogator war noch nicht da. Rohan lief an den großen Bildschirm. Die schwarze Nacht wurde im Osten von unzähligen, weißen Blitzen erhellt. Es sah aus, als griffe ein von einem Radianten ausgehender Meteoritenschwarm die Rakete an. Er blickte auf die Feldkontrolluhren.

Die Automaten hatte er selbst programmiert, also konnten sie nicht auf Regen oder Sandstürme reagieren.

Aus der Wüste, die in der Dunkelheit nicht zu erkennen war, sauste es heran und zerstob zu Feuerregen. Die Entladungen fanden an der Feldoberfläche statt. Die geheimnisvollen Geschosse prallten ab und flogen auf einer parabelförmigen Bahn als Flammen zurück, deren Schein zusehends verblaßte, oder sie glitten an der Wölbung des Kraftfeldes entlang. Die Dünenkämme tauchten für Augenblicke aus der Finsternis und versanken wieder darin, die Zeiger schlugen träge aus — das System der Dirac-Emitoren hatte eine verhältnismäßig geringe Leistung gebraucht, um die rätselhafte Bombardierung abzuwehren. Rohan hörte bereits die Schritte des Kommandanten hinter sich, als er zu der Spektrometeranlage hinüberblickte.

„Nickel, Eisen, Mangan, Beryllium, Titan“, las der Astrogator von der hellerleuchteten Skala ab und blieb neben ihm stehen. „Ich gäbe viel darum, wenn ich mit eigenen Augen sehen könnte, was das eigentlich ist.“

„Ein Regen aus Metallteilchen“, sagte Rohan gedehnt.

„Den Entladungen nach zu urteilen sind sie ziemlich klein.“

„Ich würde sie mir gern von nahem anschauen“, brummte der Kommandant. „Was meinen Sie, sollen wir es riskieren?“

„Das Feld auszuschalten?“

„Ja. Für den Bruchteil einer Sekunde. Einige wenige werden in die Schutzzone gelangen, die anderen stoßen wir zurück, indem wir das Feld wieder einschalten.“

Eine ganze Weile antwortete Rohan nicht.

„Nun, man könnte ja…“, sagte er schließlich zögernd.

Aber noch ehe der Kommandant ans Steuerpult getreten war, erlosch das Flackern ebenso plötzlich, wie es aufgeleuchtet war, und eine Dunkelheit brach herein, wie sie nur mondlose Planeten kennen, die weitab von den zentralen Sternanhäufungen der Galaxis kreisen.

„Pech gehabt“, brummte Horpach. Die Hand am Hauptschalter, stand er eine Zeitlang da, dann nickte er Rohan flüchtig zu und verließ den Raum. Die Entwarnungssignale gellten durch alle Stockwerke.

Rohan seufzte, warf noch einen Blick auf die Bildschirme, auf denen jetzt schwarze Dunkelheit lag, und ging schlafen.

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