8


Nichts hatte sich verändert, seit Charity das letzte Mal hier gewesen war. Der Raum befand sich noch immer in dem gleichen, völlig verwüsteten Zustand, in dem ihn der Angriff der Jared versetzt hatte. Die Liegen waren umgeworfen und zerbrochen, Laken und Kissen zerfetzt, die Überwachungsgeräte auf den Konsolen waren zertrümmert und die großen, einseitig verspiegelten Fenster in den Seitenwänden zerborsten. Nur an die drei Reihen schmaler Pritschen konnte Charity sich nicht erinnern. Die Liegen waren ebenso unversehrt wie die Gestalten, die auf ihnen ruhten.

»Freuen Sie sich nicht zu früh, Captain Laird«, sagte Stone, der ihr Schweigen offenbar mißverstand. »Die wenigsten von ihnen werden jemals wieder aufwachen. Und wenn sie doch aufwachen, dann werden sie geistige und körperliche Wracks sein. Die Jared haben diese Menschen nicht umsonst verschont.«

»Wie ein geistiges Wrack komme ich mir eigentlich nicht vor«, sagte Harris beleidigt.

»Das war in Ihrem Falle etwas anders«, antwortete Stone. »Ihr Überwachungscomputer zeigte eine gestörte Alphawelle an. Es war ein Fehler in dem Gerät; nicht in ihrem Gehirn.«

Harris verdrehte die Augen, bis er schielte, und begann zu hecheln. »Jajajaja«, stammelte er. »I-i-i-ich f-f-f-fühle mi-mi-mich auch scho-scho-schon wie-wie-wie-der ganz priiima.«

Skudder lachte, während auf Stones Gesicht ein deutlicher Ausdruck von Verärgerung erschien. »Lassen Sie den Blödsinn!« sagte er scharf. »Wir haben keine Zeit für solche Mätzchen.«

Charity gab Stone recht; dennoch warf sie Harris ein freundliches Lächeln zu, ehe sie sich wieder den schlafenden Gestalten zuwandte.

Skudder, Stone, Harris und sie waren nicht die einzigen Besucher hier unten. Zwischen den Liegen bewegten sich die dürren, vierarmigen Gestalten von Jared; manche scheinbar ziellos, andere mit kleinen, kompliziert aussehenden Gerätschaften ausgestattet, mit denen sie sich dann und wann über einen der Schlafenden beugten oder sich an einem der kleinen Überlebenscomputer neben den Betten zu schaffen machten. Der Anblick erfüllte Charity mit einem Widerwillen, gegen den sie sich nicht wehren konnte. Stone hatte ihr auch erklärt, was die Jared hier taten: Sie untersuchten Hartmanns schlafende Armee, um vielleicht doch noch den einen oder anderen Schläfer zu erwecken. In Charity sträubte sich alles gegen dieses Bild. Es erschien ihr einfach falsch, daß die gleichen Kreaturen, die ihre Heimatwelt erobert und verheert und neunzig Prozent ihres Volkes ausgelöscht hatten, sich jetzt um das geistige und körperliche Wohl der wenigen Überlebenden kümmern sollten. Und auch wenn sie sich sagte, daß die Ameisen vor ihr nur noch aussahen wie Moroni, aber längst keine mehr waren, änderte das nichts an ihren Gefühlen.

Charity hatte so wenig wie irgendein anderer Mensch das Wesen der Jared jemals wirklich verstanden. Sie hatte immer ein wenig Angst vor ihnen gehabt, aber seit ihrer Rückkehr zur Erde empfand sie eine tiefere Furcht. Es war, als wüßte sie plötzlich, daß ihre Angst einen Grund hatte.

Ohne Stone noch eines Blickes zu würdigen, löste sie sich von ihrem Platz und trat an eine der Liegen heran. An der anderen Seite der schmalen Pritsche stand eine Ameise und machte sich an den Eingabeinstrumenten des Überlebenscomputers zu schaffen. Charity bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und sah dann auf die schlafende Gestalt vor sich herab. Es war eine junge Frau mit dunklem, militärisch kurz geschnittenem Haar und einem Gesicht, das sicher schön gewesen wäre, hätte es nicht die Farbe von Totenhaut gehabt und wäre da nicht der Ausdruck von Entsetzen und Schmerz gewesen, der sich in ihre Züge eingegraben hatte. Und ganz plötzlich kehrte die Erinnerung zurück. Plötzlich sah Charity ein ähnliches, noch fast kindliches Gesicht, das sich entsetzt gegen eine Glasscheibe preßte, einen Mund, der immer und immer wieder ihren Namen schrie und sie um Hilfe anflehte.

Mit einer fordernden Geste wandte sie sich an den Moroni auf der anderen Seite des Bettes. »Was ist mit dieser Frau?«

Die Ameise blickte sie an und antwortete mit einer Folge hoher, pfeifender Laute, und Stone sagte hinter ihr: »Er besitzt keinen Übersetzungscomputer. Aber soweit ich das verstanden habe, wurde ihr Gehirn geschädigt. Er glaubt nicht, daß er sie wieder aufwecken kann.«

»Aber sie lebt!« sagte Charity mit einem Blick auf die leuchtenden Kontrollinstrumente neben dem Bett.

Stone runzelte die Stirn. »Wenn man das Leben nennen kann«, sagte er düster. »Vielleicht wäre es besser für sie, wenn man das Ding einfach abschalten würde.«

Charity fuhr herum und funkelte ihn an, aber der erwartete Zornesausbruch kam nicht. Nach einigen Sekunden sagte Stone, als hätte er ihre Gedanken gelesen: »Ich habe diese Anlage nicht gebaut, Captain Laird. Ich war es nicht, der all diese jungen Leute überredet hat, diesen Wahnsinn mitzumachen.«

Charity starrte ihn an, dann fuhr sie wortlos auf dem Absatz herum und lief aus dem Raum. Skudder und Harris folgten ihr, während Stone bei dem Moroni zurückblieb und sich mit beiden Händen gestikulierend mit ihm zu unterhalten begann.

Charity blieb erst stehen, als sie fast beim Aufzug angelangt war. Sie fühlte sich verwirrt. Ihre Gedanken überschlugen sich.

»Was ist los mit dir?« fragte Skudder, als er sie erreicht hatte. Er atmete schnell. Die letzten Meter war er gerannt, um sie einzuholen.

»Nichts«, antwortete Charity und wollte sich abwenden, um in den Aufzug zu treten, aber Skudder ergriff sie am Arm und hielt sie fest.

»Lüg mich nicht an!« sagte er. »Irgend etwas stimmt nicht mit dir. Schon seit gestern abend!«

Die Erinnerung an den vergangenen Abend verschlechterte Charitys Laune noch mehr. Sie hatten noch lange mit Stone und Kias geredet, und sie hatten auch versucht, hinterher mit Gurk zu sprechen. Charity hatte keineswegs vergessen, was er über den außer Kontrolle geratenen Transmitter am Nordpol gesagt - und was Skudder und sie schließlich mit eigenen Augen gesehen hatten. Aber der Zwerg war ungewohnt schweigsam gewesen und hatte all ihre Fragen mit der lakonischen Bemerkung abgetan, die Jared hätten das Problem in den Griff bekommen. Danach hatte er sich unter einem Vorwand davongestohlen. Seither hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Seltsamerweise war Charity beinahe froh darüber.

Obwohl Skudder und Charity mehr als sechzehn Stunden betäubt gewesen waren, waren sie sehr müde geworden. Ihre Körper verlangten nach den Strapazen der vergangenen Wochen nach mehr als nach einigen Stunden künstlich erzwungenen Schlafes, und so hatten sie sich bald zurückgezogen, um noch ein wenig zu reden. Skudder hatte sich große Mühe gegeben. Er war charmant wie niemals zuvor gewesen, aber obwohl sie sich jetzt über ihre wirklichen Gefühle dem Indianer gegenüber mittlerweile im klaren war, hatte sie sich sehr abweisend verhalten. Mit sanfter Gewalt machte sie sich aus Skudders Griff los, trat in den Aufzug hinein und streckte die Hand nach dem Knopf für die Kommandoebene aus, drückte ihn aber noch nicht. »Ich ... weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte sie, ohne Skudder anzusehen. Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich fühle mich so ... seltsam. Irgendwie ... unwirklich.«

Skudder blickte fragend.

»Ich kann es selbst nicht erklären«, sagte Charity, »aber ich habe das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmt.« Sie machte eine Geste in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich kann es nicht beschwören, aber ich bin fast sicher, daß all diese Menschen das letzte Mal noch nicht hier waren.«

»Diese Anlage ist ziemlich groß«, sagte Skudder. »Vielleicht haben sie einfach alle auch nur halbwegs hoffnungsvollen Fälle in dieses Zimmer geschafft.«

Diese Erklärung klang zwar einleuchtend, konnte aber nicht die Wahrheit sein. Charity kam sich vor, als wäre sie in einem jener Träume gefangen, in denen man genau weiß, daß man träumt, aus denen man aber trotzdem nicht erwachen kann.

Harris erreichte als letzter den Aufzug. Die Türen schlossen sich, und der Aufzug begann beinahe lautlos nach oben zu gleiten. Sie sprachen kein Wort, bis die Kabine angekommen war und sie ausstiegen.

Charity wollte sofort zu ihrem Quartier gehen, aber wieder hielt sie Skudder mit einer wenig sanften Bewegung zurück.

Er deutete nach links den Gang hinunter. »Was ist denn noch?« fragte sie gereizt.

»Ich möchte dir etwas zeigen - falls deine kostbare Zeit es zuläßt«, sagte er in einem gereizten Tonfall.

Sie nickte wortlos und folgte ihm. Harris folgte ihnen ebenfalls, obwohl weder Charity noch Skudder ihn aufgefordert hatten, sie zu begleiten. Durch zwei weitere Korridore und über eine kurze Metalltreppe gelangten sie in einen Raum, der früher einmal als Lager gedient haben mußte. Was von dem Lager übriggeblieben war, hatte man zu einem unordentlichen Stapel zusammengeschoben, der bis unter die Decke reichte und aussah, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Vor dem Stapel stand ein knappes Dutzend niedriger Metallpritschen, die denen ähnelten, die sie unten in den Tiefschlafkammern gesehen hatten.

Charity stand wie gelähmt da und starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen auf das halbe Dutzend nackter Gestalten, die ausgestreckt auf diesen Pritschen lag. Es waren vier Männer und zwei Frauen. Obwohl sie unbekleidet waren, konnte man ihre Gesichter trotzdem nicht erkennen, denn sie waren unter bedrohlich aussehenden Hauben verborgen, die jemand über ihre Köpfe gestülpt hatte. Ein gutes Dutzend Ameisen huschte geschäftig zwischen den Liegen hin und her.

»Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Charity fassungslos. Sie trat mit wenigen raschen Schritten an eine der Liegen herab und blieb abermals stehen.

Der Anblick war seltsam und schrecklich zugleich. Der Mann lag reglos ausgestreckt auf der Pritsche, nur locker festgeschnallt, damit er sich nicht im Schlaf bewegte, oder sich eine der Nadeln herauszog, die in seinen Venen steckten. Auf seinem Gesicht lag ein buckliges Ding mit langen gekrümmten Beinen, die sich um seinen Hals, den Hinterkopf und die Schläfen schmiegten. Das Wesen sah aus wie eine riesige versteinerte Spinne.

Charity streckte die Hand nach diesem unheimlichen Etwas aus, wagte aber nicht, es zu berühren. Statt dessen fuhr sie herum und packte die erstbeste Ameise, die sie erreichen konnte. »Was geht hier vor?« herrschte sie den Jared an. »Was bedeutet das? Was geschieht mit diesen Menschen?«

Der starre Blick der Insektenkreatur verriet Charity, daß sie die Bedeutung ihrer Worte überhaupt nicht verstand. Zornig ließ sie die Ameise los, wandte sich wieder zu der reglosen Gestalt auf der Pritsche um und tat so, als wolle sie den unheimlichen Gesichtsschutz losreißen. Doch plötzlich legte sich eine schmale, chitingepanzerte Hand auf ihren Unterarm und hielt sie mit eiserner Kraft zurück. Zugleich sagte eine schnarrende Computerstimme: »Das sollten Sie nicht tun, Captain Laird. Ganz davon abgesehen, daß Sie den Mann verletzen würden, könnte es sich negativ auf die geistige Stabilität des Mannes auswirken.«

Charity starrte Kias' Hand verärgert an, und der Jared verstand und zog seine Finger fast hastig zurück. Erst dann drehte sie sich herum und blickte ins Gesicht der Ameise. Kias war offensichtlich die ganze Zeit über hier im Raum gewesen, aber sie hatte ihn unter all den knochigen schwarzen Gestalten nicht einmal erkannt. Für sie sah ein Moroni aus wie der andere.

»Was tut ihr hier?« sagte sie noch einmal. Sie beherrschte sich nur noch mühsam.

»Governor Stone versprach Ihnen, für eine Verstärkung Ihrer Truppe zu sorgen«, antwortete Kias. Er deutete mit allen vier Armen zugleich auf vier verschiedene Pritschen, ein Anblick, der so bizarr war, daß Charity einen Moment lang Mühe hatte, seinen Worten zu folgen. »Dies sind die ersten Freiwilligen. Sie erhalten eine Schnellschulung in Ihrer Sprache, Captain Laird. Unglückseligerweise gibt es auf diesem Planeten Dutzende von vollkommen unterschiedlichen Idiomen. Außerdem übertragen wir ihnen ein gewisses Grundwissen im Umgang mit der Technik und den Waffen dieser Militärbasis.«

Es dauerte einen Moment, bis Charity die umständlichen Worte des Moroni verstand. Oder zumindest zu verstehen glaubte. »Schulung?« fragte sie erstaunt.

»Direkte elektrochemische Übertragung von Wissen unter Umgehung des Bewußtseins der lernenden Person«, erklärte Kias. »Ich verstehe, daß Sie der Anblick erschreckt, aber dieses Verfahren ist seit langer Zeit bewährt und so gut wie risikolos.« Er wiederholte seine seltsame Geste. »Diese Einheiten werden erwachen und über ein Wissen verfügen, das auf herkömmlichem Wege zu erlernen sie Wochen gebraucht hätten, vielleicht sogar Monate.«

»Wie kann so etwas funktionieren?« fragte Skudder verstört.

»Eine Art Hypnose-Schulung«, sagte Charity an Skudder gewandt, aber ohne Kias aus den Augen zu lassen. »Bei uns liefen damals Testreihen, um ein ähnliches Verfahren zu entwickeln. Die Idee ist, daß du praktisch im Schlaf lernst.« Sie tippte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Schläfe. »Schnell und sicher und vor allem, ohne dich anzustrengen.«

Skudders Gesichtsausdruck nach zu schließen schien ihn diese Erklärung eher zu verwirren, aber seine Antwort bewies, daß dieser Eindruck täuschte. »Schön, wenn sie im Schlaf lernen, ein Flugzeug zu fliegen und einen Computer zu bedienen«, sagte er. »Ich frage mich nur, was sie sonst noch alles beigebracht bekommen.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, sagte Kias.

»Oh, ich glaube, du verstehst ganz gut«, knurrte Skudder. »Ich persönlich hätte etwas dagegen, wenn man an meinem Bewußtsein herumpfuscht.«

»Ich versichere Ihnen, daß sich unsere Behandlung nur auf die Übertragung von reinem Wissen beschränkt«, sagte Kias. »Es steht nicht in unserer Macht, den Willen eines Individuums zu manipulieren. Und es würde auch gegen unsere ethischen Grundsätze verstoßen, so etwas zu tun.«

Skudder setzte zu einer Antwort an, aber Charity machte eine rasche Bewegung und zog Kias' Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. »Ich möchte mit Stone reden«, sagte sie. »Sofort. Sag ihm das! Ich erwarte ihn in meinem Zimmer!«

»Governor Stone...«

»Governor Stone«, unterbrach ihn Charity kalt, »wird sicher einige Minuten seiner ach so kostbaren Zeit für mich erübrigen können. Und wenn nicht, dann erinnere ihn daran, daß ich bisher noch nicht zugesagt habe, das Kommando über die Armee zu übernehmen, für die er bereits so fleißig ...« Sie zögerte einen Moment, in dem sie einen langen, beinahe angewiderten Blick auf die reglose Gestalt vor sich warf. »... Freiwillige sammelt.«

»Ich werde es ihm ausrichten«, sagte Kias.

»Tu das«, antwortete Charity kalt und wandte sich mit einem Ruck von der Liege um. »Aber vergiß es lieber nicht. Ansonsten könnte es sein, daß Governor Stone ziemlich böse auf dich wird.«

Sie stürmte aus dem Raum und blieb erst nach ein paar Schritten wieder stehen, damit Skudder zu ihr aufholen konnte, ohne rennen zu müssen. Hinter dem Hopi verließ auch Harris den ehemaligen Lagerraum, um sich ihnen anzuschließen.

Charity fuhr ihn an, noch ehe er sie ganz erreicht hatte: »Haben Sie nichts zu tun, Harris? Oder hat Governor Stone Sie vielleicht beauftragt, uns ein wenig im Auge zu behalten?«

Harris zuckte nur mit den Schultern und verschwand hastig.

Skudder blickte ihm verwirrt nach, dann wandte er sich mit fragendem Gesichtsausdruck an Charity. »Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Er wollte nur freundlich sein.«

Charity ging weiter, ehe sie antwortete. »Ich weiß. Aber ich brauche niemanden, der wie ein Schoßhündchen hinter mir herzieht und von dem ich noch nicht einmal genau weiß, wer er ist!«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, daß ...« Charity brach mitten im Satz ab, als ihr klar wurde, daß sie ganz kurz davor stand, Skudder anzuschreien, obwohl er überhaupt keine Schuld an ihrem Zorn trug. Charity schüttelte nur zornig den Kopf und versuchte, sich zusammenzunehmen. In ihrem Quartier schloß Skudder die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. »Also?«

Charity sagte noch immer nichts, sondern trat wortlos an das Computerterminal auf dem Schreibtisch heran und klinkte sich in die Datenbank der Bunkerstation ein. Skudder trat stirnrunzelnd hinter sie, während sie mit einem Finger zu tippen begann.

»Weißt du noch, wie Harris mit Vornamen heißt?« fragte sie.

Skudder nickte verwirrt. »John, glaube ich - warum?«

Charity setzte ein Komma hinter den Namen Harris, der auf dem Bildschirm erschienen war, tippte ›John‹ ein und nickte mit einer Art grimmiger Befriedigung, als genau das geschah, was sie erwartet hatte - nämlich nichts.

»Würdest du mir vielleicht freundlicherweise verraten, was du da tust!« fragte Skudder mit hörbarer Ungeduld.

Charity deutete zornig auf den Monitor. »Sieh selbst, Skudder. Es gibt keinen John Harris in dieser Station. Der Computer wüßte es.«

Skudder schwieg ein paar Augenblicke. »Versuch es mit Jonathan«, schlug er dann vor.

Charity hätte ihm sagen können, daß das Computerprogramm ihr ganz automatisch auch alle ähnlich klingenden Namen aufgelistet hätte, aber sie tat ihm den Gefallen. Ohne Ergebnis. Es gab keinen Mann mit Namen Harris, der im Computer abgespeichert war.

»Hm«, machte Skudder und runzelte die Stirn. »Und was bedeutet das?«

»Daß es keinen John Harris in diesem Bunker gibt. Wer immer der Kerl ist - er lügt, oder er erinnert sich an etwas, das nie passiert ist.«

»Du hast also auch Angst, sie könnten ihnen falsche Erinnerungen eingegeben haben«, sagte Skudder.

Ehe Charity antworten konnte, sagte eine Stimme von der Tür her: »Ich verstehe zwar, daß Sie diese Befürchtungen haben, aber ich versichere Ihnen, daß sie völlig ungerechtfertigt sind, Captain Laird.«

Charity starrte Stone mit so voller unverhohlener Wut an, daß der Governor für eine Sekunde mitten im Schritt verharrte und sein Lächeln plötzlich sehr unsicher wirkte, als er weitersprach. »Ich versichere Ihnen, daß wir keinerlei Geheimnisse haben.«

»Stone!« sagte Charity unfreundlich. »Haben Sie nicht gelernt, daß man anklopft, ehe man ein fremdes Zimmer betritt?«

Stone überging ihre Worte. »Sie wollten mich sprechen?« Stones Atem ging schnell, und seine Hände zitterten leicht. Er mußte gerannt sein, um so schnell hier heraufzukommen.

»Was geht hier vor, Stone?« fragte Charity unvermittelt. Sie deutete auf den Bildschirm. »Es gibt keinen John Harris unter der Besatzung dieser Anlage.«

Stone zog überrascht die Augenbrauen hoch, trat wortlos hinter sie und warf einen Blick auf den Bildschirm. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie haben versucht, seine Personaldaten abzufragen, um herauszufinden, wer er wirklich ist. Der Computer hat Ihnen nicht geantwortet.« Er lachte ganz leise. »Was haben Sie erwartet?«

»Ich habe ...«

»Man kann nicht einfach den Hauptcomputer einer solchen Anlage einschalten und erwarten, daß er einem bereitwillig Auskunft gibt, Captain Laird«, fiel ihr Stone in leicht tadelndem Tonfall ins Wort. »Selbstverständlich haben nur autorisierte Personen Zugriff auf diese Daten.«

»Und das bin ich nicht?«

»Natürlich nicht.« Stone seufzte, sah sich suchend um und ließ sich unaufgefordert in einen Sessel fallen. »Oder sagen wir besser: noch nicht. Ob sich das ändert, liegt bei Ihnen.«

Charity starrte ihn an. Es war absurd, aber für einen Moment ärgerte sie sich am allermeisten über die Selbstverständlichkeit, mit der er Platz genommen hatte.

»Ich glaube, es wird Zeit, daß wir einiges klären«, sagte Stone in verändertem Ton.

»Das scheint mir auch so.«

Stone seufzte tief. »Lassen Sie mich eines klarstellen, Captain Laird«, sagte er. »Ich bin nicht Ihr Feind. Das war ich nie. Wir haben auf verschiedenen Seiten gestanden, aber ich habe nur das getan, was ich selbst für das beste hielt.«

»Für Sie?«

»Auch«, gestand Stone mit erstaunlicher Offenheit. »Aber hauptsächlich für den Rest der Menschheit. Sich mit Gewalt gegen die Invasoren von Moron stellen zu wollen, war völliger Wahnsinn!«

»Dafür waren wir gar nicht schlecht«, sagte Skudder spöttisch.

Stone schnaubte. »Bist du so dumm oder tust du nur so, Häuptling? Bildest du dir wirklich ein, daß ihr die Shait geschlagen habt?«

Er sah Skudder an. Auf dem Gesicht des Hopi spiegelte sich Zorn - aber auch eine Betroffenheit, die Charity überraschte.

»Es waren die Jared«, fuhr Stone fort. »Und es war nichts als ein geradezu phantastischer Zufall, daß der Sprung genau in diesem Moment stattgefunden hat. Du und deine sogenannten Rebellenfreunde ...« Er gab sich nicht einmal die Mühe zu verhehlen, für wie lächerlich er dieses Wort hielt. »... wart niemals mehr als ein kleines Ärgernis für die Herren der Schwarzen Festung. Und dasselbe gilt auch für Sie, Captain Laird, auch wenn Sie das vielleicht nicht gern hören.«

Er atmete seufzend aus und sah Skudder und Charity fast erwartungsvoll an. Als er keine Antwort bekam, lachte er gezwungen. »Das mußte einmal gesagt werden.«

»Gut«, sagte Charity. »Nun haben Sie es ja gesagt. Und was jetzt? Sollen wir uns bei Ihren neuen Freunden bedanken, daß sie uns am Leben gelassen haben?«

»Das wäre überflüssig«, antwortete Stone ernst. »Ich habe in den letzten Tagen sehr viel mit Kias geredet, Captain Laird. Ich glaube, er sagt die Wahrheit. Ich weiß so wenig wie Sie, was diese Jared wirklich sind. Ich glaube, niemand kann diese Wesen verstehen, der nicht zu ihnen gehört. Aber ich glaube auch, daß sie ehrlich sind. Sie stehen auf unserer Seite. Solange es noch Moroni auf diesem Planeten gibt, sind wir Verbündete, ob es uns gefällt oder nicht.«

»Und welche Rolle haben Sie uns dabei zugedacht?« fragte Charity.

»Eine sehr wichtige«, antwortete Stone. »Ich hatte gehofft, daß Sie das schon von selbst begriffen hätten.«

»Ich habe bisher nur begriffen, daß Sie ein paar Dummköpfe suchen, die für Sie die Kastanien aus dem Feuer holen«, sagte Charity.

»Auch das.« Stone lächelte. »Obwohl ich die Wahl Ihrer Worte für etwas übertrieben halte. Aber Sie haben recht - es gibt ein paar Dinge, die die Jared nicht tun können. Aber das ist im Grunde nebensächlich.« Er beugte sich leicht im Sessel vor. »Ihre wirkliche Aufgabe, Charity, ist ungleich wichtiger. Vielleicht die wichtigste Aufgabe, die die Jared einem menschlichen Wesen auf diesem Planeten im Moment überhaupt übertragen können.«

»So?« fragte Charity. Ein unangenehmes Gefühl begann sich in ihr auszubreiten. »Und welche?«

»Geben Sie ihnen Hoffnung«, sagte Stone. »Das ist es, was die Menschen dort oben im Moment am dringendsten brauchen.«

»Ich?« Charity versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht.

»Sie«, bestätigte Stone ernst. »Ich wüßte niemanden, der besser dazu geeignet wäre. Sie sind sich vielleicht selbst nicht darüber im klaren, oder vielleicht wollen Sie es auch nur nicht wahrhaben, aber Sie sind in den wenigen Monaten seit Ihrem Auftauchen bereits so etwas wie eine Legende geworden.«

»Unsinn!« sagte Charity heftig.

»Es ist die Wahrheit«, versicherte Stone. »Sie und Ihre paar Freunde waren die ersten, die sich wirklich gegen die Invasoren zur Wehr gesetzt haben. Sie haben sich gewehrt, und Sie haben all diesen Menschen dort draußen gezeigt, daß man sich gegen sie wehren kann. Das allein ist wichtig!«

Charity war verwirrt. Stone hatte mit sehr eindringlicher, ernster Stimme gesprochen, und irgendwie glaubte sie zu spüren, daß seine Worte mehr Wahrheit enthielten, als sie ihnen im ersten Augenblick zuzubilligen bereit war. Trotzdem sagte sie: »Das ... ist doch Unsinn, Stone. Wofür halten Sie mich? Für eine Art neuen Messias?«

»Es spielt keine Rolle, wofür ich Sie halte. Wichtig ist allein, was all diese Menschen dort draußen in Ihnen sehen. Auch wenn es nicht die Wahrheit ist - aber sie verbinden den Sieg über die Moroni mit Ihnen, Captain Laird, nicht mit den Jared. Ich verlange nicht, daß Ihnen der Gedanke gefällt, aber ich verlange, daß Sie Ihre Pflicht Ihrem Volk gegenüber erfüllen!«

»Indem ich es belüge?«

»Und wenn schon!« Stone machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ganze Weltreiche sind auf einer Lüge aufgebaut worden! Helfen Sie uns, Charity. Helfen Sie den Menschen, indem Sie ihnen das geben, was sie brauchen!«

»Aber wie kann ich das?« fragte Charity. Sie wandte sich wie unter Schmerzen, aber im Grunde wußte sie, daß sie bereits verloren hatte. »Sie haben es selbst gesagt, Stone! Ob ich hundert oder hunderttausend Männer habe - wir würden einfach zermalmt werden, wenn wir hinausgingen, um uns in den Kampf einzumischen.«

»Niemand verlangt das«, antwortete Stone ernst. »Überlassen Sie die großen Schlachten den Jared und gewinnen Sie ein paar kleine. Ich lasse Ihnen ein paar Ziele heraussuchen, die Sie ohne große Verluste nehmen können. Wichtig sind nicht irgendwelche militärischen Erfolge. Wichtig ist, daß Sie den Menschen zeigen, daß sie sich wehren und gewinnen können!«

»Was soll das alles, Stone?« fragte Skudder. Er deutete auf Charity. »Ich meine, auch wenn du recht hast. Hast du uns nicht vor ein paar Stunden erst erzählt, daß die Jared spielend mit den anderen Ameisen fertig werden?«

Stone nickte. »Das stimmt auch«, sagte er. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß dieser Kampf Jahre dauern kann, wenn es ihnen nicht gelingt, den Shait zu finden. Was ist dir lieber - eine Menschheit, die sich wehrt, oder eine, die sich abschlachten läßt? Und noch etwas ...« Er zögerte einen Moment. »Irgendwann wird das alles vorbei sein. Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich dann mit einer Waffe in der Hand auf der Seite der Sieger stehe.«

»Sie trauen den Jared nicht?« fragte Charity.

Stone antwortete hastig. »Doch, ich traue ihnen. Aber ich fürchte, diese Welt wird nie wieder so werden, wie sie war. Selbst wenn die Jared den Krieg gewinnen, ohne diesen Planeten dabei in Schutt und Asche zu legen, so wird es hinterher zwei intelligente Spezies auf dieser Welt geben. Und mir wäre es lieber, wenn sie gleichberechtigt wären.«

Charity schwieg für endlos lange Sekunden. Dann schüttelte sie noch einmal den Kopf, aber schon fast gegen ihre Überzeugung. »Ich glaube, Sie überschätzen mich, Stone«, sagte sie. »Ich bin nicht die, für die sie mich halten.«

»O doch«, widersprach Stone. »Diese sechs Freiwilligen, über deren ... Schulung Sie so entsetzt waren, Captain Laird, beweisen es.«

Charity sah überrascht und fragend auf, und Stone fuhr mit einer erklärenden Geste fort: »Ich bin gestern abend selbst nach Paris geflogen, um mit den Leuten dort zu reden. Die Moroni-Basis dort ist geräumt; die Menschen sind frei. Diese sechs sind nur die ersten. Ich hätte sechshundert mitbringen können, wenn ich gewollt hätte. Aber sie sind nicht mir gefolgt. Das Zauberwort hieß Charity. Fragen Sie sie, sobald sie aufwachen. Sie werden es Ihnen bestätigen.«

»Das werde ich tun«, versprach Charity.

»Und Ihre Antwort?«

Charity blickte zu Boden. Ihre Gedanken rasten. Sie konnte das nicht. Sie wollte das nicht. Aber sie schwieg.

»Darf ich Ihr Schweigen als ›ja‹ auffassen?« fragte Stone, als sie auch nach mehr als einer Minute nicht reagierte.

Charity seufzte tief. »Habe ich denn eine andere Wahl?« flüsterte sie.

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