12


Hartmann schob sich langsam vor. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Er registrierte jedes noch so winzige Geräusch, jede winzige Erschütterung des Bodens in seiner Nähe. Bei Gott, er glaubte fast, die Ameisen riechen zu können, wenn sie sich ihm näherten. Was um alles in der Welt hatte Kyle mit ihm getan?

Aber im Grunde wollte Hartmann die Antwort auf diese Frage gar nicht wissen. Der Megamann hatte eine bestimmte Stelle an seinem Rückgrat berührt, was ihm für einen Moment schier übermächtige Schmerzen verursacht hatte. Danach hatte ihn ein Gefühl von Kraft und Energie durchströmt, wie er es nie zuvor im Leben empfunden hatte. Es war, als wäre er zum ersten Mal wirklich wach. Doch Kyle hatte ihn gewarnt: Dem Ausbruch berserkerhafter Kräfte würde ein ebenso heftiger Zusammenbruch folgen. Hartmann hatte nicht viel Zeit. Eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Bis dahin mußte er sein Ziel erreicht haben.

Die Hälfte dieser Frist war abgelaufen, aber Hartmann schätzte, daß er es schaffen konnte. Das Wrack des so unheimlich veränderten Gleiters lag vor ihm. In seinem momentanen Zustand, so vermutete Hartmann, konnte er die Distanz in weniger als zwei Sekunden zurücklegen und im Inneren des Schiffes verschwinden.

Theoretisch.

Praktisch bestanden diese fünf oder sechs Schritte aus völlig freiem Gelände. Er traute sich durchaus zu, das Schiff zu erreichen und in der Schleuse verschwinden zu können, ehe auch nur eine der Ameisen auf die Idee kam, auf ihn zu schießen, aber leider würde ihnen das nichts nutzen. Wichtig war, daß er unbemerkt an Bord des Schiffes gelangte.

Hartmann wunderte sich, wie gelassen er über den eigenen Tod nachzudenken imstande war. Er hatte sich solch gefährliche Situationen mehr als einmal ausgemalt, und er hatte gehofft, daß er in der Lage sein würde, sie ruhig und gefaßt zu meistern. Der Gedanke, daß er in wenigen Minuten tot sein würde, wenn er Erfolg hatte, berührte ihn nicht einmal. Vielleicht, überlegte er, hatte Kyle irgend etwas getan, um ihm seine Angst zu nehmen.

Er hatte das Ende der schmalen Gasse erreicht, die zwischen den zyklopischen Maschinenblöcken hindurch zum Sternentransmitter führte, und richtete sich behutsam auf. Sein Blick tastete das freie Stück vor sich ab. Er zählte ein Dutzend Ameisen. Er mußte warten. Nervös sah er auf die Uhr. Sie hatten zwanzig Minuten ausgemacht, und achtzehn waren verstrichen. Ohne die übermenschliche Schärfe seiner Sinne und die unheimliche Schnelligkeit seiner Reaktionen wäre Hartmann nicht einmal bis hierher gekommen.

Wieder sah er auf die Uhr. Noch eine Minute. Dreißig Sekunden, zwanzig, zehn ...

Hartmann spannte sich, als der Sekundenzeiger sich der zwölf näherte. Jetzt!

Nichts geschah. Die Moroni vor ihm bewegten sich mit der Gleichmäßigkeit von Maschinen weiter, und zum allerersten Mal kam Hartmann die Möglichkeit zu Bewußtsein, daß ihr Plan vielleicht nicht funktionieren würde, weil diese Insektengeschöpfe einfach ihre ihnen aufgetragenen Arbeiten weiterverfolgten, auch wenn rings um sie herum die Welt unterging. Was, wenn ...

Ein greller Lichtblitz zerriß das Halbdunkel der Halle, und eine Sekunde später ließ eine donnernde Explosion den Boden wanken. Ein zweiter und dritter Laserblitz folgten, und plötzlich war die Luft voll vom Kreischen und Zirpen der Moroni. In die Gestalten vor Hartmann kam hektische Bewegung. Sie warfen ihre Lasten davon, wirbelten herum und hielten plötzlich Waffen in den Händen, während sie an Hartmann vorbei in die Richtung stürmten, in der die Schüsse gefallen waren und noch immer fielen.

Wieder zuckten kurz hintereinander zwei, drei Laserstrahlen auf, und plötzlich erscholl ein ungeheures Krachen und Bersten, und eine Woge orangeroten Lichtes überflutete die Halle. Offensichtlich hatte Net eine der Maschinen zur Explosion gebracht.

Hartmann blinzelte, wartete sicherheitshalber noch zwei weitere Sekunden in seinem Versteck, dann rannte er los.

Er brauchte tatsächlich kaum eine Sekunde, um das Gleiterwrack zu erreichen, und das Wunder, auf das sie gehofft hatten, geschah: Er wurde weder entdeckt noch angegriffen, sondern warf sich mit weit vorgestreckten Armen in die offenstehende Schleuse des Schiffes. Er kam mit einer eleganten Rolle wieder auf die Beine und hechtete mit einem zweiten gewaltigen Satz ins Innere des Schiffes.

Direkt in die weit ausgebreiteten Arme einer Ameise hinein.

Hartmann wußte nicht, wer überraschter war - der Moroni oder er.

Die Ameise prallte mit einem schrillen, überraschten Pfeifen zurück und versuchte gleichzeitig nach ihm zu schlagen, aber Hartmann wich dem dreifachen Hieb mit einer geschickten Bewegung aus und rammte dem Rieseninsekt den Lauf seines Lasers in den Leib. Die Ameise taumelte und krachte hilflos gegen die Wand. Sofort wollte sie sich wieder aufrichten, aber wieder war Hartmann schneller. Er packte den Moroni, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn ein zweites Mal gegen das Metall des Korridors.

Aus dem wütenden Pfeifen der Kreatur wurde ein schmerzerfülltes Zischeln, das eine Sekunde später abbrach, als Hartmann sein Gewehr herumdrehte und mit dem Kolben zuschlug. Mit zuckenden Gliedmaßen sackte der Moroni vollends in sich zusammen und blieb liegen. Hartmann glaubte nicht, daß die Ameise tot war, aber sie war benommen und würde ein paar Minuten brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.

Hartmann konnte hören, wie die Halle draußen in einer raschen Folge weiterer, schwerer Explosionen erbebte, als Kyle und Net ihre Laserfeuer auf die Maschinen konzentrierten, um möglichst viel Schaden anzurichten und somit für die notwendige Ablenkung zu sorgen, die ihm selbst die entscheidenden Sekunden verschaffen sollten. Hartmann stürmte den kurzen Gang entlang, warf sich mit einem Satz durch die offenstehende Tür zur Zentrale und feuerte blindlings in die Runde. Sein Laserstrahl traf das Steuerpult und verwandelte es in einen funkensprühenden Trümmerhaufen, tötete eine der drei Ameisen, die sich in der Zentrale aufhielten, und verwundete eine zweite so schwer, daß er sich keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchte.

Die dritte stürzte sich auf ihn, aber sie beging den Fehler, ihn als das abzuschätzen, was er vor einer knappen halben Stunde noch gewesen war: einen verwundbaren schwachen Menschen.

Hartmann taumelte unter einem Krallenhieb zurück, der seinen rechten Arm übel zurichtete. Aber es war nur die pure Wucht des Schlages, die ihn wanken ließ. Er spürte keinen Schmerz, keine Schwäche.

Dafür war der Kolbenhieb, mit dem er den Moroni niederstreckte, um so heftiger.

Keuchend richtete er sich auf und sah sich um. Das Steuerpult brannte, und auch die Wand dahinter glühte in dunklem, flackerndem Rot, von dem erstaunlicherweise aber nicht die mindeste Hitze ausging. Bis auf die drei Moroni, die er erledigt hatte, war er allein. Rasch fuhr er herum, ließ das Panzerschott zugleiten und zerstörte das Schloß mit einem Schuß aus seinem Lasergewehr. Dann kniete er neben dem brennenden Steuerpult nieder.

Er fand fast sofort, wonach er suchte. Die Wartungsklappe war so perfekt in den Boden eingepaßt, daß er sie normalerweise übersehen hätte, aber Kyle hatte ihm genau gesagt, wonach er zu suchen hatte. Seine Finger tasteten über das glatte Metall, fanden eine rauhere Stelle und drückten zu.

Ein metallisches Klicken erscholl, und ein Stück des Bodens schob sich lautlos unter Hartmann zur Seite. Darunter kam ein rechteckiger Schacht zum Vorschein, in dessen Wand eine sonderbare Leiter eingelassen war.

Hartmann machte sich nicht die Mühe, sie benutzen zu wollen. Bei der niedrigen Schwerkraft brauchte er das auch nicht. Er überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß die beiden verwundeten Moroni nicht in der Lage waren, ihm zu folgen, dann sprang er kurzerhand in den Schacht herab.

Er befand sich in einem runden, mit Maschinen, Computern und Kabeln vollgestopften Raum, der so niedrig war, daß er sich erneut auf Hände und Knie herablassen mußte, um sein Ziel zu erreichen, eine niedrige, runde Klappe in der Wand, die einen äußerst massiven Eindruck machte.

Hinter der Wand schlug das atomare Herz des Gleiters, ein winziger Fusionsreaktor, in dem Temperaturen wie im Inneren einer Sonne herrschten. Und plötzlich spürte Hartmann doch Angst. Seine Hände begannen zu zittern, und sein Herz schlug plötzlich so fest, daß es weh tat. Trotzdem streckte er die Finger nach dem Schott aus und berührte das komplizierte, elektronische Schloß.

Dies war seine letzte Chance. Wenn er diese gepanzerte Klappe öffnete und tat, was Kyle ihm erklärt hatte, dann würde er in wenigen Augenblicken tot sein, er und Net und Kyle und jedes lebende Wesen im Umkreis von zwei Meilen. Kyle hatte ihm nicht sagen können, wie verheerend die Wirkung eines durchgehenden Fusionsreaktors in dieser unterirdischen Basis war. Vielleicht würde nur diese Halle einstürzen, vielleicht würden sie aber auch die gesamte Station vernichten, wenn sie eine Kettenreaktion auslösten.

Aber Hartmann wollte plötzlich nicht mehr sterben. Er wußte, daß sein Tod die einzige Möglichkeit war, den zweiten Transmitter zu vernichten, ehe es den Moroni gelang, ihn in Betrieb zu nehmen, aber dieser Preis erschien ihm zu hoch. Viel zu hoch. Er drehte entschlossen das wuchtige Metallrad. Die Tür schwang lautlos und so rasch auf, als wäre sie schwerelos, und Hartmann blinzelte in das grellweiße, harte Licht der kontrollierten Atomexplosion, die dahinter ablief. Er wußte, daß nur ein Bruchteil des sonnenhellen Lichtes wirklich nach außen drang, denn das nukleare Herz des Gleiters war nicht allein durch Stahl abgeschirmt. Kein bekanntes Metall hätte die höllischen Temperaturen der Kernfusion auf Dauer ausgehalten. Was er sah, war auch nicht der Reaktorkern selbst, sondern die leuchtenden Energiefelder, die die Kernfusion bändigten.

Er zögerte noch einmal. Alles in ihm schrie danach, es nicht zu tun. Er wollte nicht sterben, und er wollte vor allem nicht, daß Net starb.

Aber wahrscheinlich war sie schon tot. Ihre Chance, den Ablenkungsangriff zu überleben, den Kyle und sie gestartet hatten, war ungefähr so groß wie die Möglichkeit, daß Hartmann die Explosion des Reaktors überlebte.

Er hob seine Waffe. Seine Augen schmerzten unerträglich, aber er zwang sich, direkt in das höllische weiße Lodern zu blicken. Es war völlig sinnlos, einfach einen ungezielten Schuß auf das Energiefeld abzugeben, aber Kyle hatte ihm gesagt, worauf er zu zielen hatte.

Hartmanns Finger näherten sich dem Auslöser, verharrten noch einmal einen letzten Moment lang darauf - und drückten ihn.


*


Charity brauchte über zehn Minuten, um die hundert Meter bis zum Wrack des abgestürzten Gleiters zurückzulegen, denn der Wald war so dicht, daß sie manchmal kaum von der Stelle kam. Zweimal mußte sie ihren Laser einsetzen, um sich einen Weg durch das seit fünfzig Jahren ungehindert wuchernde Gestrüpp zu brennen.

Natürlich kam sie zu spät. Der Gleiter war auf die Seite gestürzt und zerborsten. Neben ihm war eines der beiden anderen Scheibenschiffe niedergegangen. Das Wrack brannte lichterloh, und auf der Charity abgewandten Seite hatte das Feuer bereits auf den Wald übergegriffen. Dichter Qualm nahm ihr die Sicht, und der nahezu unerträgliche Gestank nach glühendem Metall und brennendem Kunststoff reizte sie zum Husten. Die Absturzstelle wimmelte von Jared, die aus dem gelandeten Gleiter hervorgekommen waren und die Trümmer nach Überlebenden durchsuchten, um sie zu einem der ihren zu machen.

Charity suchte auch nach Überlebenden. Aber aus einem anderen Grund.

Sie wußte, wie völlig unlogisch und falsch sie handelte, aber das war ihr in diesem Moment gleichgültig. Sie wollte eines dieser Biester haben, um es für das bezahlen zu lassen, was Tribeaux und Jean und den anderen angetan worden war.

»Sie sollten das nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich herum und erblickte Harris. Wie Skudder war auch er ihr gefolgt, allerdings ohne zu versuchen, sie zurückzuhalten. Vermutlich hatten sie beide gespürt, was in Charity vorging.

»Sollte ich nicht?« fragte Charity kalt.

Harris antwortete nicht gleich, sondern sah sie nur beinahe mitleidig an, aber vielleicht war es gerade sein Schweigen, das ihr klarmachte, wie töricht sie sich verhielt.

»Wenn Sie wollen, daß sie dafür bezahlen, dann bringen Sie die beiden anderen zurück zur Basis«, sagte Harris. »Und helfen Sie Stone, diese Ungeheuer dahin zurückzujagen, wo sie hergekommen sind.«

»Und wenn mir das nicht reicht?«

Skudder trat hinter Harris aus dem Wald. Schrecken malte sich auf seinem Gesicht ab, als er das Wrack des Gleiters und die Flammen sah.

»Ich glaube nicht, daß es Überlebende gibt«, sagte Harris. »Und wenn doch...« Er ließ den Satz unvollendet, aber sie wußte, was er hatte sagen wollen. ›Und wenn doch, dann gehörten sie in ein paar Augenblicken zu ihnen‹. Aber gerade das trieb Charity in diesem Augenblick fast in den Wahnsinn. Sie drehte sich mit einem Ruck von Harris weg und blickte die Jared an, die mit den eckigen Bewegungen großer, aufrecht gehender Ameisen zwischen den Trümmern einherstolzierten und sich dann und wann über einen reglosen Körper beugten, und sie versuchte vergeblich, sich vor Augen zu halten, daß es genau diese Wesen waren, die ihnen allen vor Minuten das Leben gerettet hatten. Alles, was sie in den vierarmigen, schlanken Geschöpfen sah, waren ihre Feinde. Die Kreaturen, die vor einem halben Jahrhundert von den Sternen gekommen und den Menschen ihre Welt und ihre Zukunft gestohlen hatten. Und sie würden nie etwas anderes für sie sein, ganz egal, was geschah. Das wußte sie.

Aber Harris hatte trotzdem erreicht, was er wollte. Ihr Zorn war so schnell verraucht, wie er gekommen war, und zurück blieb nur ein Gefühl tiefer Bitterkeit. Minutenlang stand sie einfach so da und blickte auf die Richtung hinaus, und weder Harris noch Skudder sprachen sie in diesen Momenten an. Schließlich schaltete sie ihr Gewehr aus, hängte es sich über die Schulter und begann langsam auf den gelandeten Gleiter zuzugehen.

Skudder war mit einem schnellen Schritt neben ihr. »Was hast du vor?«

Charity deutete auf das Wrack des Gleiters. »Wir brauchen Hilfe. Delgard ist verletzt. Und ich hatte eigentlich auch nicht vor, zu Fuß zur Basis zurückzugehen.«

Skudder blickte zweifelnd, enthielt sich aber jedes Kommentars, und Harris folgte ihnen schweigend.

Sie schlugen einen Bogen, um einem brennenden Trümmerstück auszuweichen, und Charity beobachtete zwei Jared, die sich über die reglose Gestalt eines Moroni beugten. Die Ameise wies keine sichtbaren Verletzungen auf, mußte aber tot sein, denn sie reagierte nicht auf die Berührung der Jared.

Nicht, solange die beiden Insektengeschöpfe neben ihr standen.

Charity blieb überrascht stehen und betrachtete den Moroni genauer. Es war schwer, in dem Wesen mehr als einen wirren Haufen durcheinandergewirbelter Glieder zu erkennen - und doch war sie fast sicher, eine Bewegung ausgemacht zu haben.

»Was hast du?« fragte Skudder. Statt zu antworten, ging Charity auf den Moroni zu und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Die beiden Jared, die das gestürzte Insekt untersucht hatten, stolzierten an ihr vorüber und maßen sie im Vorbeigehen mit einem Blick aus ihren kalten, wie geschliffenes Glas funkelnden Facettenaugen. Charity wartete ganz bewußt, bis sie vorüber waren, dann machte sie einen weiteren Schritt, beugte sich vorsichtig vor ...

... und warf sich im allerletzten Moment zur Seite, als drei der vier Arme des vermeintlich toten Moroni zuckten und wie tödliche Messer nach ihr schlugen.

Sie stürzte, rollte über die Schulter ab und versuchte in die Höhe zu kommen, ließ sich aber schnell zur Seite fallen, als der Moroni mit einer unglaublich rasanten Bewegung seinerseits auf die Füße sprang und sie abermals zu packen versuchte.

Diesmal erwischte eine seiner Krallen ihre Jacke und riß ein Stück Stoff heraus. Skudder schrie erschrocken auf und hob sein Gewehr, wagte es aber nicht zu schießen, aus Angst, sie zu treffen.

Der Arm des Moroni stieß auf Charity herab, die Klaue aus stahlhartem Horn grub sich neben ihr in den Waldboden. Sie blockte den Hieb eines zweiten Armes mit dem Unterarm ab und schrie vor Schmerz auf, als die dritte Hand des Ungeheuers ihre Wange aufriß. Instinktiv zog sie die Beine an den Leib und trat mit aller Kraft zu. Der Tritt schleuderte den Moroni zwar nicht zurück, nahm seinem Angriff aber den entscheidenden Schwung. Statt sie einfach zu überrennen und ihr mit seinen rasiermesserscharfen Klauen den Leib aufzureißen, stolperte der Moroni ungeschickt über sie hinweg, fuhr herum und stürzte plötzlich rücklings zu Boden, als sich eine zweite Insektenkreatur auf ihn warf. Während die beiden Ameisen über den Boden rollten, sprang Charity hastig auf die Füße und stolperte rückwärts gehend zwei Schritte davon. Skudder ergriff sie am Arm und stützte sie, und seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als er ihre blutende Wange sah. Aber Charity winkte nur hastig ab, als er etwas sagen wollte, und verfolgte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen den bizarren Zweikampf der Rieseninsekten vor sich.

Sie konnte nicht unterscheiden, wer wer war - aber das spielte auch gar keine Rolle. Das Entscheidende war, daß dieser Kampf überhaupt nicht hätte stattfinden dürfen!

Daß es dem Moroni gelungen war, sich totzustellen und die Jared zu täuschen, das war unglaublich genug.

Aber wieso wehrte er sich noch?

Auch Skudder verfolgte den Zweikampf der Insekten mit wachsender Fassungslosigkeit. Der stumme Kampf wurde mit einer Verbissenheit geführt, die Charity schaudern ließ. Die Ameisen schlugen und hackten mit ihren fürchterlichen Krallen aufeinander ein, versuchten mit den Mandibeln die Augen oder den dürren Hals des Gegners zu packen, ohne daß einer dem anderen wirklich überlegen war.

Charity spürte die unvorstellbar Wut, die beide Gegner beseelte. Ein Haß, der weit über alles hinausging, was sie jemals erlebt hatte. Es war nicht nur einfach Feindschaft, sondern ein Haß, der so alt wie die beiden unterschiedlichen Wesen war, auf deren Seiten die Ameisen kämpften.

Ein grellweißer Laserstrahl schnitt vor Charity durch die Luft und traf eine der Ameisen in den Rücken. Der Gestank von brennendem Horn und Fleisch erfüllte die Luft, und die beiden Ameisen erschlafften.

Erschüttert wandte sich Charity um. Vier, fünf Jared waren herbeigeeilt und hatten ihre Waffen abgefeuert. Für einen Moment war sie fassungslos, dann machte sich ein kaltes, lähmendes Gefühl von Entsetzen in ihr breit. Es war nicht das erste Mal, daß sie miterlebte, wie gnadenlos die Jared ihre eigenen Kameraden opferten, wenn sie glaubten, einen Nutzen davon zu haben. Sie dachte an Leßter, und obwohl sie sich dagegen zu wehren versuchte, brachte diese Erinnerung die Frage mit sich, ob die Jared vielleicht eines Tages das Leben eines ganzen Volkes opfern würden, wenn es ihrer absurden Auffassung von Logik entsprach.

Einer der Jared trat vor und senkte seine Waffe. »Sie sind verletzt«, schnarrte eine metallische Stimme.

Charity wich hastig einen Schritt zurück, als das Wesen eine seiner vier Hände hob und nach ihr greifen wollte. »Rühr mich nicht an!« sagte sie.

»Sie sind verletzt«, wiederholte der Jared stur, ohne auf ihren zornigen, fast schon hysterischen Ton zu reagieren. Vermutlich hatte er ihn nicht einmal zur Kenntnis genommen. »Bitte begleiten Sie mich an Bord unseres Schiffes. Wir werden Sie dort ärztlich versorgen.«

Charity hob die Hand an die verletzte Wange, spürte Blut und erst in diesem Moment den brennenden Schmerz. Trotzdem sagte sie: »Das ist nicht nötig.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte der Jared. »Bitte, verzeihen Sie die Gefahr, in die Sie durch unseren Fehler gerieten. Er wird sich nicht wiederholen.«

Wie eine Maschine, die alles getan hatte, was ihr eingespeichertes Programm vorsah, wandte sich der Jared und im gleichen Moment auch seine Begleiter um und stakste davon. Und nur einen Augenblick später blitzte es überall auf der Lichtung grell und weiß auf. Voller neuerlichem Entsetzen begriff Charity, daß die Jared aufgehört hatten, nach Überlebenden zu suchen, und statt dessen auf die reglos daliegenden Moroni-Krieger schossen.

Schaudernd wandte sie sich um und sah noch einmal auf die beiden toten Ameisen neben sich herab. Die beiden Geschöpfe hielten sich noch im Tod umklammert. Die ungeheure Hitze der Laserstrahlen hatte sie regelrecht zusammengeschmolzen, so daß es Charity fast unmöglich war zu sagen, welche Gliedmaßen zu welchem Wesen gehörten. Trotzdem zwang sie sich, die Ameisen noch eingehender zu betrachten.

»Es ist vorbei«, sagte Skudder hinter ihr. »Sie sind tot. Und jetzt vergiß deinen albernen Stolz und laß dich verarzten.«

Charity ignorierte ihn, ließ sich neben den toten Ameisen in die Hocke sinken und streckte eine zitternde Hand aus.

»Was, zum Teufel, tust du da?« fragte Skudder. Es klang gereizt, aber auch besorgt, daß das Ungeheuer noch einmal von den Toten auferstehen und zu Ende bringen könnte, was er begonnen hatte.

Charity antwortete noch immer nicht, sondern streckte mit einem Gefühl größten Widerwillens die Hand aus und berührte den verbrannten Schädel einer der beiden Ameisen. Mit aller Macht überwand sie ihren Widerwillen, griff fester zu und zog die Hand schließlich zurück. In ihren Fingern glitzerte ein dünnes, netzartiges Gebilde, das Schläfen und Hinterkopf des Moroni bedeckt hatte.

»Was hast du da?« fragte Skudder und beugte sich neugierig vor.

Charity stand auf, zuckte mit den Schultern und hielt das Netzgewebe am ausgestreckten Arm so weit von sich fort, wie sie nur konnte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Oder vielleicht doch.«

Plötzlich schloß sie die Faust um das Netz, zog die Hand an den Körper zurück und ließ ihren Fund in der Jackentasche verschwinden. Skudder blickte verwirrt.

»Komm«, sagte sie entschlossen, »ich will mir noch ein paar von den anderen ansehen. Und wenn ich das finde, was ich vermute, dann wird mir Governor Stone eine ganze Menge Fragen beantworten müssen.«


*


Nichts geschah. Hartmann drückte noch einmal ab, aber es erklang nur ein leises, metallenes Klicken.

Verzweifelt und zornig zugleich senkte er die Waffe, drehte sie herum - und starrte fassungslos auf das, was vor Momenten noch ein funktionierendes Lasergewehr gewesen war.

Doch was Hartmann nun in der Hand hielt, das war ein stark verändertes Gewehr. Die Waffe war nicht etwa beschädigt worden, der Lauf war lediglich gekappt worden. Wo die klobige Zielautomatik samt der Energiekontrolle und des Nachtsichtgerätes gewesen waren, da begann jetzt übergangslos der Gewehrlauf.

Hartmann schrie und ließ die Waffe fallen, als wäre das Metall plötzlich glühend heiß geworden. Er prallte ein Stück zurück. Er stieß unsanft mit dem Hinterkopf gegen eines der Instrumente, die von der niedrigen Decke hingen und drehte sich in der Hocke herum. Sein Herz stockte. Eine unsichtbare, eisige Hand schien sich um seinen Hinterkopf zu legen und ihn zusammenzupressen.

Hinter ihm stand ein Gespenst.

Hartmann hatte weder Net noch Kyle von seinem unheimlichen Erlebnis erzählt, aber die Gestalt stand vor ihm, groß, in ein unheimliches, inneres grünes Licht getaucht und so transparent, daß er die Umrisse der Gegenstände dahinter wie durch einen Vorhang aus grün leuchtendem Wasser erkennen konnte. Er konnte spüren, wie sich jedes Haar auf seinem Körper aufrichtete. Seine Gesichtshaut spannte sich und begann zu prickeln, als befinde er sich in der Nähe einer starken elektrischen Quelle, und plötzlich raste sein Puls. Er bekam kaum noch Luft. Aus hervorquellenden Augen starrte er die Gestalt an, und obwohl er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, spürte er irgendwie, daß sie seinen Blick erwiderte.

Dann hob die Gestalt die Hand und trat auf ihn zu. Hartmann rührte sich nicht, sondern hockte gelähmt und starr da, und das Gespenst führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern verhielt seine grün leuchtende, transparente Hand ein kurzes Stück vor seinem Gesicht. Es schien einen Moment zu überlegen - und zog die Hand dann wieder zurück. Hartmann wußte, daß er vor Angst gestorben wäre, hätte das Gespenst ihn berührt.

Einen letzten Moment noch stand das Gespenst da und blickte ihn an, dann drehte es sich um und trat mit einem Schritt in die Wand des Maschinenraumes hinein und war verschwunden. Hartmann starrte die Stelle an, an der es gestanden hatte. Er war wie gelähmt, unfähig, zu denken und irgend etwas zu fühlen.

So fanden ihn die Moroni, die eine Viertelstunde später den Eingang zur Steuerzentrale des Gleiters aufschweißten und zu ihm herunterkamen. Er wehrte sich nicht, als sie ihn ergriffen und fortschleppten.


Ende des achten Teils

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