7


Es dauerte eine gute Stunde, bis auch die letzte Ameise aus dem Schacht verschwunden war, und weitere zwanzig Minuten, bis es Hartmann und Net mit vereinten Kräften gelungen war, Kyle durch die Tür zu heben und die zehn Meter hohe Wand hinunter zu schaffen. Zum Glück betrug die Schwerkraft an diesem unheimlichen Ort kaum die Hälfte des Normalen.

Hartmann rechnete in jeder Sekunde damit, daß sich die Tür auf der anderen Seite des feuergefüllten Schachtes öffnen und ein Dutzend Ameisen ausspeien würde oder gar die entsetzliche Kreatur, die Kyle als Shait bezeichnet hatte. Aber weder das eine noch das andere geschah. Zu Tode erschöpft, aber unbehelligt erreichten sie den Boden und luden Kyle behutsam ab, ehe sie neben ihm niedersanken.

Kyle hatte das Bewußtsein verloren. Die innere Seite der Tür lag anderthalb Meter über dem Boden - die äußere gute zehn. Wer immer diese Anlage erbaut hatte, schien mit der Geometrie auf Kriegsfuß zu stehen. Oder einen wirklich sehr sonderbaren Körperbau zu haben ...

»Seltsam«, sagte Net nach einer Weile.

Hartmann hob müde den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war bleich, und auch ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie zitterte vor Erschöpfung.

»Was?«

Net deutete mit einer Kopfbewegung auf Kyle herab. »Daß er das Bewußtsein verloren hat.«

Statt einer direkten Antwort warf Hartmann einen bezeichnenden Blick auf Kyles Beine. Der unheimliche Selbstheilungsprozeß hatte bereits eingesetzt, aber die Verletzung war nichtsdestotrotz furchtbar. »Sei froh«, sagte er. »Er muß fast wahnsinnig vor Schmerzen geworden sein.«

»Das meine ich nicht.« Net schüttelte heftig mit dem Kopf und strich sich mit einer unbewußten Geste eine Strähne aus der Stirn. »Ich kenne Kyle. Ich weiß, was er aushalten kann. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er regelrecht in Stücke gerissen wurde - und eine Stunde später war er wieder auf den Beinen.« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Irgend etwas stimmt nicht mit ihm.«

»Vielleicht ... liegt es an der Art der Verletzung«, erwiderte Hartmann nachdenklich. Als Net ihn fragend anblickte, fügte er hinzu: »Sie wurde durch den Transmitter hervorgerufen. Vielleicht liegt es ja daran.«

»Es könnte auch eine Schußwunde sein«, sagte Net. »Er war der letzte, der durch den Transmitter ging. Und es liefen noch genug Moroni herum, die nichts besseres zu tun hatten, als auf uns zu schießen.«

Hartmann schüttelte überzeugt den Kopf. Er zwang sich ein paar Sekunden lang, Kyles schrecklich zugerichtete Unterschenkel anzublicken, bis ihm klar wurde, wie sinnlos das war. Alles, was er damit erreichte, war, daß ihm schlecht wurde. Rasch sah er wieder weg.

»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vielleicht ist das Gerät im gleichen Moment ausgefallen, in dem er hindurchging.« Er machte eine erklärende Handbewegung. »Er ist gesprungen, erinnerst du dich? Möglicherweise wurde er irgendwie ... falsch zusammengesetzt.«

Er konnte sehen, wie Net allein bei der Vorstellung zusammenfuhr. »Vielleicht«, sagte sie nach einer Weile. Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Glaubst du, daß er ... die Wahrheit gesagt hat?« fragte sie schließlich.

»Mit seiner Geschichte über die Shait und Moron?« Hartmann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Nach einigen Sekunden korrigierte er sich: »Doch. Ich glaube es.«

Er konnte diese Überzeugung nicht begründen, aber Net hatte recht. Irgend etwas stimmte mit dem Megamann nicht. Kyle begann sich zu verändern.

»Was mag das hier sein?« fragte Hartmann mit einer Handbewegung in die Runde. Natürlich wußte aber auch Net nicht, wo sie waren. Was Hartmann auf den ersten Blick für einen mit Magma gefüllten Schlund eines Vulkans gehalten hatte, erwies sich bei genauerem Hinsehen als kreisrunder Schacht, dessen Wände entschieden zu glatt waren, um natürlichen Ursprungs zu sein. Jemand hatte diesen Schacht gemacht. Hartmann fragte sich nur, aus welchem Grund. Er gab Net mit einem Blick zu verstehen, daß sie wieder aufbrechen sollten. Dies war wahrlich nicht der richtige Ort, um herumzusitzen und über die Geheimnisse der Moroni-Technologie nachzusinnen. Es kam ihm ohnehin mit jeder Minute unwahrscheinlicher vor, daß sie noch nicht entdeckt worden waren.

Kyle erwachte stöhnend, als sie ihn vorsichtig hochhoben. Er konnte allerdings immer noch nicht sprechen. In diesem Moment war Hartmann jedoch beinahe froh darüber. Das letzte Mal, als Kyle mit ihm geredet hatte, hatte der Megamann ihm wenig erfreuliche Neuigkeiten berichtet.

Sie umkreisten den Schacht in respektvollem Abstand und näherten sich dem Ausgang, einer wuchtigen Tür aus Stahl, die Tonnen wiegen mußte. Hartmann deutete mit einer Kopfbewegung auf eine buckelige Maschine unmittelbar daneben, und Net verstand. Behutsam luden sie Kyle im Schutz dieser Maschine ab, und Hartmann wollte sich wieder aufrichten, um zur Tür zu gehen.

Net kam ihm zuvor. Ehe er überhaupt richtig begriff, was sie vorhatte, huschte sie los, näherte sich geduckt und mit schußbereiter Waffe der Tür und berührte eine Stelle an der Wand daneben. Sie mußte sehr gut zugesehen haben, was die Ameisen taten, denn die Tür schwang auf, und Net verschwand in der Dunkelheit dahinter.

Hartmann blickte ihr mit einer Mischung aus Zorn und Schrecken nach. Einen Moment überlegte er, ihr nachzulaufen und sie zurückzuholen, dann wurde ihm klar, wie sinnlos das gewesen wäre. Als er den Blick senkte, sah er, daß Kyle die Augen geöffnet hatte und ihn ansah. »Ist sie fort?«

»Net?«

»Kann sie uns hören?« fragte Kyle.

»Kaum.« Hartmann ließ sich neben ihn in die Hocke sinken und musterte Kyle mit einem langen, forschenden Blick. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, allein mit Ihnen zu reden«, sagte Kyle.

Hartmann war nicht sehr überrascht. »So? Warum?«

»Weil ich möchte, daß Sie mir etwas versprechen«, sagte Kyle. Das Reden fällt ihm immer noch schwer, dachte Hartmann erschrocken. Der Zustand des Megamanns besserte sich keineswegs - er verschlechterte sich zusehends.

»Und was wäre das?«

Kyle sammelte seine letzten Kräfte, um zu antworten. »Falls ich es nicht schaffe, ihn zu vernichten, dann müssen Sie mich töten, Hartmann«, sagte er.

Hartmann erschrak nicht einmal. Es war fast, als hätte er diese Worte erwartet. »Ich denke, das wird er dann schon selbst erledigen.«

»Sie verstehen nicht.« Kyle schüttelte mühsam den Kopf. »Sie müssen mich töten. Ich darf ... auf gar keinen Fall lebend in seine Gewalt geraten. Es ist wichtig, verstehen Sie? Nicht für mich. Für Sie. Für Ihre Freunde. Für Ihren ganzen Planeten, Hartmann. Wenn der Shait Gewalt über mich erlangt, dann wird alles noch hundertmal schlimmer, als es war.«

»Sie meinen, er würde ... wie Sie«, vermutete Hartmann.

»Nicht er. Seine Krieger.« Kyle holte rasselnd Atem und versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht mehr die nötige Kraft und sank mit einem lautlosen Seufzer zurück. »Ich habe es Ihnen bisher nicht gesagt. Aber es gibt einen Grund, aus dem die Jared auf der Erde den Moroni so hoffnungslos überlegen sind.«

»Sie.«

Kyle wirkte ehrlich überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Ich habe Augen im Kopf«, antwortete Hartmann. »Ich habe gesehen, wie Ihre Leute mit den Ameisen umgesprungen sind. Und ich kann zwei und zwei zusammenzählen.« Er lachte humorlos. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich die Jared zehn Jahre lang bekämpft habe, Kyle. Die ganze Zeit über war die Jared-Kolonie in Köln nichts als ein kleines Ärgernis für Moron. Nicht wahr? Und dann tauchen Sie auf, und plötzlich fegen sie die Beherrscher dieses Planeten praktisch über Nacht davon.«

Er legte eine kleine, genau bemessene Pause ein, ehe er die Frage stellte, vor der er die meiste Angst hatte: »Sind sie alle wie Sie? Eine ganze Armee von Megakriegern?«

»Nicht ganz«, erwiderte Kyle schwach. »Die Königin hat einen Teil meiner Fähigkeiten assimiliert und gibt sie jetzt an ihre Untergebenen weiter. Ihre Untertanen sind zehnmal so stark wie die Moroni und ungleich zäher und klüger.«

Hartmann lächelte humorlos. »Wäre es nicht so grausam, würde ich darüber lachen«, sagte er. »Sie haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt, als sie Sie riefen, um Charity und ihre Freunde auszuschalten.« Mit einem Kopfschütteln kehrte er wieder zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Und jetzt haben Sie Angst, daß der Shait dasselbe tun könnte, wenn er sich Ihrer bemächtigt.« Hartmann blickte an Kyle vorbei ins Leere. »Könnte er es?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Kyle. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich über die Shait weiß. Es ist nicht viel. Aber schon die bloße Möglichkeit ... Verstehen Sie, Hartmann? Nie zuvor in der Geschichte Morons ging eine Jared-Königin eine Symbiose mit einem Megakrieger ein. Sie wußten bisher nicht einmal, daß so etwas möglich ist. Wenn die Shait davon erfahren, dann wird ein Sturm über die Galaxis hereinbrechen, gegen den Morons bisherige Feldzüge nur ein friedlicher Spaziergang waren.«

Der Megamann hatte sehr leise gesprochen, und Hartmann spürte erneut ein eisiges Frösteln. Er sah Kyle noch immer nicht an, als er antwortete. »Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie mir da gerade gesagt haben, Kyle?«

»Ja.« Ein Keuchen folgte. »Wenn meine Befürchtung zutrifft, dann müßten sie mich eigentlich auf der Stelle töten. Ich würde das verstehen - und akzeptieren.«

Hartmann schwieg lange. Dann wandte er sich mit einem heftigen Kopfschütteln und einem gezwungenen Lächeln wieder an den Megamann. »So, wie es aussieht, bin ich nicht einmal sicher, ob wir sie lebend hier herauskriegen, Kyle.«

Kyle blieb ernst. »Sie müssen es mir versprechen, Hartmann.«

Hartmann nickte. »Das tue ich.«

»Und ...« Kyle zögerte einen winzigen Augenblick. »Es wäre auch besser, wenn sie Net und sich selbst erschießen würden, wenn es soweit ist. Glauben Sie mir - der Tod ist dem vorzuziehen, was sie erwartet, sollten sie lebend in seine Gewalt gelangen.«

Nach allem, was Kyle ihm vorhin über die Shait erzählt hatte, glaubte ihm Hartmann aufs Wort. Und trotzdem machte er plötzlich eine zornige Geste. »Sie reden ein wenig zuviel vom Sterben für einen Mann, der angeblich nicht umzubringen ist. Was ist los mit Ihnen? Hat der Transmitter Ihnen auch Ihren Mut geraubt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kyle. »Etwas ... ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, was es ist.«

»Nicht mehr da? Was soll das heißen?«

Kyles Gesicht zuckte, ob als Antwort auf seine Frage oder vor Schmerz, konnte Hartmann nicht sagen. »Ich fühle mich ... als ob ein Teil von mir fort wäre«, sagte er. »Irgend etwas fehlt. Ich kann nicht sagen, was, aber ... es ist fort.«

Die Tür glitt auf, und Net kam zurück.

Hartmann empfing die Wasteländerin wenig freundlich. »Was, zum Teufel, sollte dieses kleine Kunststück?« schnappte er. »Bist du verrückt geworden?«

Net blinzelte irritiert. »Mir ist nichts passiert. Aber es tut gut zu wissen, daß da jemand ist, der sich Sorgen um einen macht.«

»Das habe ich tatsächlich!« fauchte Hartmann. Er begriff selbst, daß sein Ton alles andere als angemessen war. Und es war auch eher der Schrecken, mit dem ihn Kyles Worte erfüllt hatten, der sich nun auf Net entlud.

Zu seinem Erstaunen reagierte sie noch immer nicht gereizt, sondern mit nur noch größerer Verwirrung. »Dort draußen ist nichts«, sagte sie. »Nur ein kurzer Gang und eine Art Schacht. Keine Ameisen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich natürlich täuschen, aber ich glaube fast, die ganze Anlage ist verlassen.« Sie sah wieder auf Kyle herab. »Wie geht es ihm?«

Kyle hatte die Augen wieder geschlossen und spielte den Bewußtlosen; vielleicht war er es auch. Das Reden hatte ihn sehr angestrengt.

»Unverändert«, sagte Hartmann. »Bist du sicher, daß keine Moroni in der Nähe sind?«

»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Net. »Aber sieh dich doch um! Wenn diese Anlage nicht abgeschaltet ist, dann weiß ich nicht, was man darunter versteht.«

Hartmann sagte nichts, aber er gab ihr im stillen recht. Die Halle enthielt zahllose seltsam geformte Maschinen, aber soweit er dies beurteilen konnte, war keine davon in Betrieb. Das einzige Licht war der blutrote, flackernde Schein, der aus dem Schacht heraufdrang. Und sie hörten nicht den mindesten Laut. Sie waren bisher davon ausgegangen, daß all diese Geräte irgendwie durch die Katastrophe am Nordpol in Mitleidenschaft gezogen worden waren, aber das mußte gar nicht so sein. Sie waren nicht sicher, ob sie sich überhaupt noch in der Nähe des Nordpols aufhielten - im Grunde wußten sie nicht einmal, ob sie sich überhaupt noch auf der Erde aufhielten.

Vor Hartmanns innerem Auge entstand eine schreckliche Vision: Er sah eine verlassene Weltraumstation auf irgendeinem öden Meteoriten, die einzig und allein dazu gedient hatte, den Shait an Bord eines wartenden Raumschiffes gehen zu lassen und danach aufgegeben wurde, um für alle Zeiten durch den Kosmos zu treiben.

»Also gut«, sagte er. »Komm!«

Sie nahmen Kyle zwischen sich und trugen ihn, ohne daß er aufwachte. Net öffnete die Tür. Dahinter lag ein kurzer, metallverkleideter Gang, der nach kaum zehn Metern in einen kreisrunden und vielleicht fünf Meter messenden Schacht mündete, genau wie es Net gesagt hatte. Wahrscheinlich war es ein Aufzugschacht.

Hartmann beugte sich vor und blickte schaudernd in die schwarze Tiefe, die unter ihm klaffte. Von irgendwoher kam blasses, rötliches Licht. Vorsichtig lud er Kyle auf dem Boden ab, suchte mit der Hand an der metallverkleideten Wand neben sich nach Halt und beugte sich vor, soweit er es wagte, um in die Höhe zu blicken.

In der Mitte des Schachtes hing ein dünnes, silberfarbenes Drahtseil herab, das sich in unmöglich zu schätzender Höhe in rotem Dunst verlor. Unter normalen Umständen hätte Hartmann nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, daran emporzusteigen; zumal er keine Vorstellung hatte, wie lang dieses Seil war. Aber die Umstände waren alles andere als normal. Sie hatten sich gründlich genug in der Halle umgesehen, um zu wissen, daß es keinen zweiten Ausgang gab.

»Also gut«, murmelte er, während er sich mit einem kräftigen Ruck wieder zurück in den Gang stieß. »Versuchen wir es.«

Net riß die Augen auf. »Versuchen wir was!«

Hartmann deutete mit einer Kopfbewegung zuerst auf Kyle, dann auf das Drahtseil. »Du kannst doch gut klettern, oder?«

Nets Augen wurden noch größer. »Bist du verrückt? Das meinst du nicht ernst!«

»Und ob«, antwortete Hartmann. »Oder hast du eine bessere Idee?«

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