Der Aufzugschacht war etwas über hundert Meter tief, und trotz der verminderten Schwerkraft und des Umstandes, daß es in regelmäßigen Abständen schmale Vorsprünge in seinen Wänden gab, auf denen sie ausruhen konnten, kam es Hartmann hinterher wie ein Wunder vor, daß sie es geschafft hatten.
Seine Arme fühlten sich an, als hätte sie jemand aus den Gelenken gerissen. Es gab buchstäblich keine Stelle an seinem Körper, die nicht weh tat. Er hob das rechte Augenlid, sah einen verschwommenen hellen Fleck vor sich und identifizierte ihn nach einigem Nachdenken als Nets Gesicht.
Im ersten Moment war er nicht einmal sicher, daß die Wasteländerin noch lebte. Als er mit einer gewaltigen Kraftanstrengung die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen ihre Wange berührte, fühlte sich ihre Haut eiskalt an.
Hartmann schloß die Augen wieder, sammelte minutenlang neue Kraft und drehte sich auf die andere Seite, um nach Kyle zu sehen. Von ihnen dreien schien der Megamann am meisten zu Kräften gekommen zu sein. Natürlich, dachte Hartmann, schließlich war er den Schacht hinaufgetragen worden.
»Alles in Ordnung?« fragte Kyle.
Hartmann zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Ja«, sagte er grimmig. Mühsam und wie ein Betrunkener wankend setzte er sich auf, überzeugte sich mit einem neuerlichen, besorgten Blick davon, daß auch Net nur erschöpft und nicht ernsthafter verletzt war, und fuhr erschrocken zusammen, als er ihre Hände sah. Das Drahtseil hatte ihr Fleisch stellenweise bis auf die Knochen aufgescheuert. Blut lief in dunklen, glitzernden Bahnen bis zu ihren Ellbogen hinab.
Mit klopfendem Herzen blickte Hartmann auf seine eigenen Hände hinunter. Sie boten keinen wesentlich besseren Anblick als die Nets, und wie es oft der Fall war, spürte er den Schmerz erst, als er die Wunden sah. Stöhnend ballte er die Hände zu Fäusten und setzte sich wankend auf.
Im dritten Versuch endlich kam er auf die Beine. Unsicher wandte er sich um und ging zum Rand des Schachtes zurück, durch den sie heraufgekommen waren. Er war jetzt nicht mehr sicher, daß es sich wirklich um einen Aufzugschacht handelte. Es hatte auch hier oben keine Liftkabine gegeben, sondern nur dieses dünne, aber äußerst stabile Seil aus silberfarbenen Metallfasern. Aber wenn es kein Aufzugschacht war, was war es dann?
Vorsichtig drehte er sich herum und unterzog ihre Umgebung einer ersten, flüchtigen Inspektion. Der Raum war niedrig, aber sehr groß. An den Wänden drängten sich Reihen großer, sonderbar aussehender Geräte und Maschinen, aber auch Apparaturen, deren Konstruktion ihm sonderbar vertraut erschien, ohne daß er sagen konnte, warum. Die Geräte waren allesamt abgeschaltet. Hartmann hatte nicht einmal eine Ahnung, was sie bedeuten mochten. Wo zum Teufel waren sie?
Er stellte eine entsprechende Frage an Kyle, erntete aber nur ein Achselzucken. Nachdem er sich wieder um Net gekümmert hatte, machte er sich auf den Weg zur anderen Seite der Halle. Der Weg betrug vielleicht vierzig oder fünfzig Meter, und die niedrige Schwerkraft half ihm, ihn in weniger als fünf Etappen zurückzulegen. An seinem Ziel angelangt, lehnte er sich mit geschlossenen Augen einen Moment lang gegen die Wand, um neue Kraft zu schöpfen. Er war noch immer so müde und ausgelaugt, daß er sich am liebsten auf dem Boden ausgestreckt und geschlafen hätte. Aber er spürte auch, daß seine Kräfte allmählich zurückkehrten.
Hartmann begann, die Wand neben der Tür einer gründlichen Inspektion zu unterziehen - und erlebte eine Überraschung, als er begriff, wieso es Net so leicht gefallen war, das Tor unten in der Halle zu öffnen: In der Wand neben dem Rahmen befanden sich zwei große, deutlich mit ›OPEN‹ und ›CLOSE‹ beschriftete Tasten ...
Der Raum hinter der Tür war vollkommen leer. Durch ein rundes, zu groß geratenes Fenster fiel silbernes, bleiches Licht herein. Nachdem er sich vorsichtig umgeblickt hatte, ging Hartmann zu diesem Fenster hinüber. Er stand lange Zeit reglos und wie gelähmt da und blickte auf die bizarre schwarz-weiße Landschaft auf der anderen Seite des Fensters.
Spätestens jetzt mußte er es zugeben.
Hartmann hatte nun wirklich alles getan, um die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und sich selbst zu belügen. Er hatte sich eingeredet, daß sie sich irgendwo im Inneren der Erde befanden und daß die drastisch verminderte Schwerkraft künstlich erzeugt worden war, um vielleicht für die Shait oder die Ameisen angenehmere Lebensbedingungen zu schaffen. Aber für das, was er auf der anderen Seite des Fensters sah, gab es keine Erklärung mehr.
Schroffe, wie mit einem Messer aus weichem Ton herausgeschnittene Berge und Grate erhoben sich vor einem Nachthimmel, der von dem tiefsten, reinsten Schwarz war, das Hartmann jemals gesehen hatte. Gewaltige Risse und Schlünde durchzogen den Boden, und hier und da entdeckte er riesige Krater. Es gab keine Farben, sondern nur ein Grau in allen vorstellbaren Schattierungen. Nein - alle Versuche, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, waren einfach lächerlich geworden.
Sie befanden sich nicht mehr auf der Erde.
Hartmann brauchte einige Minuten, um diese Erkenntnis zu verarbeiten. Dann drehte er sich abrupt um und wandte sich von dem Fenster ab. Doch was er plötzlich vor sich sah, erschreckte ihn noch mehr als die leblose Landschaft draußen. Er sah Gespenster, die lautlos hinter ihm auf der anderen Seite der Kammer erschienen waren, die ihn einen Moment lang wortlos anblickten und sich dann alle im gleichen Moment umwanden und wieder gingen.
Aber sie benutzten nicht die Tür oder einen anderen, verborgenen Ausgang.
Sie verschwanden einfach in der Wand.
*
Charitys erster Einsatz kam bereits am übernächsten Tag, und er verlief völlig anders, als sie geglaubt hatte.
Sie war Stone eine direkt Antwort auf seine Frage weiterhin schuldig geblieben, aber ihnen war beiden klar gewesen, daß sie sich im Grunde schon längst entschieden hatte, denn die Umstände sprachen für sich. Nachdem sie ihre erste Verwirrung so weit überwunden hatte, daß sie wieder einigermaßen ruhig über Stones Worte nachdenken konnte, mußte sie zugeben, daß sie gar nicht mehr anders konnte, als einzuwilligen. Die einzige Alternative wäre tatsächlich gewesen, ihre Sachen zu packen und zu gehen, um die Welt der Gnade der Jared zu überlassen.
Sie verbrachte fast den gesamten nächsten Tag damit, sich einen ersten allgemeinen Überblick über die Lage zu verschaffen. Zumindest in einem Punkt waren Stones Vorhersagen eingetroffen: Das Raketenbombardement hatte noch im Laufe der Nacht nachgelassen und schließlich fast ganz aufgehört. Dann und wann fingen die radargesteuerten Rubinlaser des Bunkers noch eine vereinzelte Rakete ab, doch keines der Geschosse kam auch nur in die Nähe der Basis oder Kölns. Aber damit hörten die guten Nachrichten auch schon auf.
Der Feldzug der Jared gegen ihre entarteten Brüder lief auf vollen Touren; aber nicht halb so gut, wie die Kollektivintelligenz es gern gehabt hätte. Kias wich ihren Fragen zwar mit einem erstaunlichen Geschick aus, aber Charity war nicht blind. In den zwei Tagen, die seit ihrer Rückkehr zur Erde vergangen waren, waren anscheinend überall auf dem Planeten heftige Kämpfe entbrannt; Kämpfe, aus denen die Jared meistens als Sieger hervorgingen, aber sie rückten nicht annähernd so schnell vor, wie Kias Charity und Skudder bei ihrem ersten Gespräch hatte Glauben machen wollen. Die Moroni versuchten zwar nicht weiter, die Eifelbasis oder das Nest der entarteten Königin in Köln mit atomaren Waffen zu zerstören, aber das bedeutete nicht, daß sie ihre Angriffe einstellten. Bei einer der wenigen Gelegenheiten, als Charity unversehens die Bunkerzentrale betrat und Stone die Monitorwand nicht rasch genug abschaltete, so daß sie einen Blick auf die Außenwelt werfen konnte, sah sie es hoch oben am Himmel noch immer silbern und weiß aufblitzen; Kampfgleiter, die versuchten, die elektronischen Barrieren der Festung zu unterlaufen, um eine Kommandoeinheit abzusetzen oder vielleicht sogar in selbstmörderischer Manier eine Bombe ins Ziel zu bringen. Charity sagte nichts dazu. Sie war sich immer noch nicht darüber im klaren, ob Stone nun wirklich auf ihrer Seite stand. Aber wenn er log, dann tat er es perfekt und hatte auf jede nur erdenkbare Frage eine glaubwürdige Antwort parat.
Also bedachte Charity Stone nur mit einem eisigen Blick und steuerte auf Gurk zu, der, heftig mit Händen und Füßen gestikulierend, in eine Diskussion mit zwei Jared verwickelt war. Sie hatte Gurk seit ihrer Rückkehr insgesamt nicht länger als fünf Minuten gesehen, und er war in dieser Zeit jeder konkreten Antwort auf irgendeine Frage ausgewichen. Sie fragte sich, was plötzlich mit dem Zwerg los war.
Im allerersten Moment glaubte Charity, Gurk würde sie einfach ignorieren, aber dann registrierte er das warnende Glitzern in ihren Augen, denn er machte eine komplizierte Geste zu seinen beiden horngesichtigen Gesprächspartnern und wandte sich Charity zu. Ungeduld spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Was willst du?« fragte er unwillig. »Ich habe eine Menge zu tun. Wir können uns später unterhalten.«
»Nein«, antwortete Charity. »Jetzt.« Sie wies mit einer Kopfbewegung über die Schulter zurück auf Stone. »Ist es dir lieber hier oder draußen?«
»Ich habe keine Geheimnisse vor Stone«, antwortete Gurk. »Aber ich glaube, es ist dir lieber«, fügte er hinzu und ging an ihr vorbei zur Tür. Charity folgte ihm. Sie spürte Stones Blicke. Er wirkte irritiert, vielleicht auch ein wenig besorgt.
»Also?« fragte Gurk ungeduldig, kaum daß sie auf dem Gang angelangt waren und Charity die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was willst du wissen? Und bitte, beeil dich - ich habe wirklich viel zu tun.«
»Genau darum geht es«, entgegnete Charity mühsam beherrscht. »Was für furchtbar wichtige Dinge hast du zu tun? Wir sind jetzt seit drei Tagen hier, und ich habe dich in dieser Zeit nicht einmal fünf Minuten gesehen.«
Gurk zog eine Grimasse. »Bist du nicht diejenige, die sich einmal darüber beschwert hat, daß ich ihr manchmal auf die Nerven falle?«
Charity machte eine ärgerliche Handbewegung. »Weich mir nicht aus«, sagte sie. »Du weißt ganz genau, wovon ich rede.«
Gurk setzte zu einer seiner typischen Antworten an, aber dann besann er sich doch noch eines besseren, schwieg einige Sekunden lang und sah sie sehr nachdenklich an. »Ich habe wirklich wenig Zeit gehabt, Charity«, sagte er. Er deutete auf die Tür zur Zentrale. »Sie brauchen meine Hilfe, ob du es glaubst oder nicht.«
»Ich glaube es«, antwortete Charity. »Ich frage mich nur, wobei.«
Gurk verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, in kleinen Kreisen auf dem Flur auf und ab zu gehen. »Es geht um den Transmitter«, sagte er.
Charity erschrak. »Ist etwas damit nicht in Ordnung?«
Gurk lachte humorlos. »Nicht in Ordnung? Du machst Scherze! Du hast das Ding gesehen, oder?«
»Sicher, aber ich verstehe nicht ...«
»Es besteht kein Grund zur Sorge«, unterbrach sie Gurk hastig. »Ich habe vielleicht im ersten Moment ein wenig überreagiert. Der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum scheint sich zu stabilisieren.«
»Scheint?« fragte Charity mißtrauisch.
Gurk zuckte mit den Achseln und breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus, um sie gleich darauf wieder hinter dem Rücken zu verschränken. »Ich gebe zu, ich verstehe ein wenig von diesen Dingen - schließlich hatte ich Zeit genug, mich damit zu beschäftigen und sie zu beobachten. Aber ich bin auch kein Spezialist für Transmitter. Auf jeden Fall hat er aufgehört zu wachsen. Leider wird er auch nicht kleiner.«
»Und was bedeutet das?« fragte Charity. Sie spürte eine Beunruhigung, die sie sich im ersten Moment nicht erklären konnte, die aber mit jeder Sekunde stärker wurde.
»Wenn ich das wüßte, wären wir ein schönes Stück weiter«, gestand Gurk. »Ich schätze, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder er schließt sich eines Tages von selbst wieder, oder er bleibt, wie er ist.«
»Oder er beginnt wieder zu wachsen«, vermutete Charity.
Gurk nickte widerwillig. »Sicher ... Das ist möglich. Aber sehr unwahrscheinlich.« Er registrierte ihren wenig überzeugten Blick und fügte mit einem nervösen Lächeln hinzu. »Ich hänge genauso auf diesem öden Planeten fest wie du, Charity. Ich würde mit solchen Dingen keine Scherze treiben. Ich schätze, die Wahrscheinlichkeit, daß die Erde von einem großen Meteoriten getroffen und zerstört wird, ist ungefähr genauso hoch wie die, daß der Raum-Zeit-Riß plötzlich wieder wächst und sie verschlingt.« Er zögerte einen Moment. »Was mir Sorgen macht, ist ein ganz anderer Gedanke.«
»Und welcher?«
»Die Vorstellung«, antwortete Gurk seufzend, »daß unsere Freunde von Moron eines Tages einen Weg finden, ihn wieder zu dem zu machen, was er war. Sie oder der Shait, falls wir ihn nicht früh genug erwischen. Bei allem guten Willen, aber die Jared neigen dazu, sich zu überschätzen. Und ihre Gegner zu unterschätzen.« Er zuckte abermals mit den Schultern. »Ich habe natürlich keine Ahnung, wie es draußen in der Galaxis aussieht. Vielleicht sind sämtliche Transmitter zusammengebrochen, vielleicht aber nur dieser eine hier oder einige wenige in der Nähe dieses Sonnensystems. Wenn sie alle ausgeflippt sind, dann haben wir Glück, denn dann haben die Moroni für die nächsten fünfhundert Jahre genug zu tun. Aber wenn es nur dieser eine ist ...« Wieder breitete er die Hände aus. »Sie werden nicht untätig herumsitzen und der Dinge harren, die da kommen. Ich bin im Gegenteil sicher, daß sie sich schon emsig die Köpfe zerbrechen, auf welchem Weg sie uns wieder einen Freundschaftsbesuch abstatten können.«
»Dann zerstört dieses verdammte Ding doch!« sagte Charity. »Jagt es in die Luft! Schießt ein paar Atomraketen hinein oder tut sonst irgend etwas!«
Gurk schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »So einfach ist das leider nicht«, antwortete er. »Ich weiß, du hast gedacht, ich hätte den Verstand verloren, als ich auf Kias losgegangen bin, aber ich hatte meine Gründe, so zu reagieren.« Plötzlich wurde seine Stimme sehr ernst, so ernst, daß Charity bei seinen nächsten Worten ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Diese Narren wollen es nicht wahrhaben, aber wir haben großes Glück gehabt, Charity. Wir alle. Und nicht nur diese Welt. Es hätte gut sein können, daß sie das gesamte Universum in die Luft gejagt hätten.«
»Du übertreibst«, sagte Charity.
»Nicht im geringsten«, erwiderte Gurk, noch immer in diesem ernsten, fast beschwörenden Ton. »Verlange nicht, daß ich versuche, dir etwas zu erklären, das ich selbst kaum verstehe, aber das Gefüge von Raum und Zeit ist eine sehr, sehr empfindliche Sache. Die Mauern zwischen den Dimensionen sind dünn, Charity. Wären sie es nicht, wären Materietransmitter nicht möglich. Und diese Bombe hat millionenmal mehr Energie gehabt, als nötig ist, eine Transmitterverbindung herzustellen. Es hätte zu einer Kettenreaktion kommen können, die zuerst diesen Planeten, dann dieses Sonnensystem, dann diese ganze Galaxis und am Ende vielleicht das gesamte Universum vernichtet hätte.«
»Du ... übertreibst«, sagte Charity mit bebender Stimme. »Wenn ... wenn das möglich wäre, dann wäre es schon geschehen.«
»Wieso?« fragte Gurk verblüfft.
»Weil das Universum unendlich ist, Gurk. Und unvorstellbar alt. Ich glaube, daß alles, was nötig ist, auch geschieht und auch schon geschehen ist.«
Zu ihrer Überraschung dachte Gurk einige Sekunden ganz ernsthaft über dieses Argument nach. Dann lächelte er wieder. »Und wer sagt dir, daß es nicht bereits passiert ist?« fragte er. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was vor dem Ereignis war, das eure Wissenschaftler den Urknall genannt hatten? Und von dem sie niemals wirklich herausgefunden haben, was er war?«
Darauf wußte Charity keine Antwort. Und nach einigen Augenblicken zuckte Gurk mit den Schultern, machte eine wedelnde Bewegung mit beiden Händen und deutete auf die Tür hinter ihr. »Und jetzt muß ich wirklich zurück. Ich verspreche dir, daß ich dir über alles Rede und Antwort stehen werde, sobald wir dieses Problem gelöst haben.«
Charity versuchte nicht noch einmal, ihn aufzuhalten, sondern sah ihm nur wortlos nach, bis er wieder verschwunden war. Dann wandte auch sie sich um und ging in ihr Quartier zurück, wo Skudder und Harris auf sie warteten.
Sie hörte Skudders Lachen durch die geschlossene Tür, noch ehe sie den Raum betrat. Die beiden Männer saßen am Tisch und spielten eine Partie Schach, aber das war offensichtlich nur ein Vorwand, um beieinandersitzen und reden zu können, denn die Konstellation der Figuren hatte sich nicht geändert, seit Charity vor fast einer Stunde den Raum verlassen hatte. Sie war ein wenig erstaunt, wie schnell Skudder und der Engländer Freundschaft geschlossen hatten; eigentlich war es nicht Skudders Art, binnen weniger Tage Vertrauen zu einem Menschen zu fassen. Bei Harris verhielt es sich anders. Auch Charity mochte ihn. Er war sympathisch, und daran hatte nicht einmal das Mißtrauen etwas ändern können, das sie ihm eine Weile lang entgegengebracht hatte. Aber es war kein Mißtrauen, das ihm selbst galt. Sie war immer noch der Meinung, daß mit Harris und auch den anderen angeblichen Überlebenden von Hartmanns schlafendem Heer irgend etwas nicht stimmte. Aber wenn, dann war es nichts, was sie getan hatten, sondern etwas, das mit ihnen getan worden war.
Sie verscheuchte den Gedanken, lächelte Skudder flüchtig zu und ging an den beiden vorbei zur Kochnische, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken. Sie war nicht durstig, aber ihr Mund war trocken vom langen Reden. Bevor sie zu Stone hinaufgegangen war, hatte sie eine halbe Stunde mit den Freiwilligen verbracht, die sie zwei Tage zuvor das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte ihnen eine Menge Fragen gestellt - und eine Menge überraschender Antworten erhalten. Was Kias über das Verfahren der Jared behauptet hatte, Menschen im Schlaf binnen weniger Stunden ein Wissen vermitteln zu können, das sie normalerweise nur in Monaten oder Jahren erwerben konnten, entsprach der Wahrheit. Obwohl die vier Männer und zwei Frauen in der Kolonie in Paris geboren und aufgewachsen waren und Zeit ihres Lebens nicht einmal ein so simples Gerät wie einen Fernsehapparat zu Gesicht bekommen hatten, verstanden sie sich perfekt auf den Umgang mit sämtlichen Waffen und Fahrzeugen der Basis. Charity war sicher, hätte sie sich mehr Zeit genommen, um noch mehr Fragen zu stellen, dann hätte sie noch etwas von ihnen lernen können.
Was ihre Zweifel an der Schlagkraft ihrer improvisierten Truppe allerdings nur wenig milderte. Es war eine Sache, etwas zu wissen. Es zu tun, eine völlig andere.
Sie nippte an ihrem Kaffee, schlenderte zum Tisch und legte Skudder in einer vertrauten Geste die linke Hand auf die Schulter. Mit einer ebenso selbstverständlichen, fast unbewußten Bewegung griff er nach ihren Fingern und drückte sie. Charity lächelte flüchtig. Das war eine der ganz wenigen positiven Veränderungen, mit denen sie in den letzten beiden Tagen umzugehen gelernt hatten. Zwischen ihnen war keine falsche Scheu mehr. Sie hatte bisher nicht mit Skudder darüber gesprochen, aber sie war sicher, daß es ihm genauso erging: Während ihres Aufenthaltes im Hyperraum war irgend etwas mit ihnen geschehen. Es war, als wären sie für einen winzigen Moment eins gewesen. Sie erinnerte sich nicht mehr daran. Sie fühlte nur noch die Erinnerung an eine Erinnerung, aber selbst dieses Gefühl war von unbeschreiblicher Wärme und Tiefe. Für einen zeitlosen Moment hatten sie mehr miteinander geteilt als Menschen jemals zuvor, der eine hatte die Gedanken des anderen, seine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte, aber auch Ängste gespürt und geteilt.
»Wie steht die Partie?« fragte sie, als Harris nach einem Bauern griff und die Hand dann wieder zurückzog, ohne die Figur zu berühren.
»Nicht besonders gut, fürchte ich«, sagte Harris.
Skudder winkte ab.
»Glaub ihm kein Wort. Er läßt mich absichtlich gewinnen.«
»Ich spiele nicht besonders konzentriert«, gestand Harris mit einem verlegenen Lächeln. »Um ehrlich zu sein - ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie ich Governor Stone unter vier Augen sprechen könnte.« Er sah Charity fragend an. »Sie könnten mir nicht dabei helfen?«
Charity nippte erneut an ihrem Kaffee und zuckte mit den Schultern. Sie verzog das Gesicht; der Kaffee schmeckte widerlich. »Das kommt darauf an, weshalb.«
»Ich habe es durchgerechnet«, antwortete Harris. »Mein Sold betrug damals rund zweihundert Pfund die Woche. Bei siebenundfünfzig Jahren macht das über den Daumen gepeilt hundertdreißigtausend Pfund, die mir die Army schuldet. Ich hätte gern gewußt, ob und wann ich sie bekomme.«
Eine Sekunde lang starrte Charity Harris erstaunt an, dann bemerkte sie das spöttische Glitzern in seinen Augen und begann schallend zu lachen. Auch Skudder lachte, während Harris sich mit erstaunlicher Schauspielkunst völlig ernst hielt und sogar eine gewisse Empörung auf seine Züge zauberte.
»Ich verstehe überhaupt nicht, was es da zu lachen gibt«, sagte er. »Das ist eine Menge Geld.«
»Ihre Sorgen möchte ich haben«, sagte Charity kopfschüttelnd und trank wieder einen Schluck von dem ekelhaften Kaffee. Sie überlegte einen Moment, ob etwas mit dem Wasser nicht in Ordnung war. Aber wahrscheinlich lag es an ihr. Sie war auch an diesem Morgen mit hämmernden Kopfschmerzen und einem widerwärtigen Geschmack im Mund wach geworden, und im Grunde hatte sie sich den ganzen Tag über nicht besonders wohlgefühlt. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Körper in den letzten Monaten einfach zuviel zugemutet. Selbst eine berufsmäßige Heldin brauchte vielleicht ab und zu eine Verschnaufpause.
»Sie haben ganz andere Sorgen«, sagte Harris, als sie sich wieder zu ihm herumdrehte.
Charity tauschte einen raschen Blick mit Skudder, ehe sie antwortete. Sie fragte sich, ob der Hopi Harris von ihrem Verdacht erzählt hatte. »Sorgen ist vielleicht zuviel gesagt«, gestand sie. »Ich ...« Sie suchte einen Moment nach Worten und rettete sich dann in ein fast verlegenes Lächeln. »Es ist einfach alles zuviel«, sagte sie. »Und es ging zu schnell. Sie können das wahrscheinlich nicht verstehen, Harris. Aber es fällt mir einfach schwer, die Jared plötzlich als unsere Verbündeten zu sehen.«
Harris nickte. Er nahm den kleinen Bauern, machte aber keinen Zug, sondern begann mit der kleinen Figur zu spielen. »Warum sollte ich das nicht verstehen?« fragte er.
»Weil Sie erst vor wenigen Tagen aus dem Schlaftank gekommen sind«, antwortete Charity. »Für Sie muß das alles hier neu und erschreckend sein, so wie es für mich damals war, als ich aufwachte.«
Harris nickte. »Ich habe einen Heidenschrecken bekommen, als ich diese Spinnengesichter das erste Mal gesehen habe«, sagte er.
»So wie ich«, antwortete Charity. »Und trotzdem ist es ein Unterschied. Sehen Sie, Harris - ich kämpfe jetzt seit Monaten gegen diese Wesen. Skudder kennt sie sein Leben lang als seine Feinde. Ich habe gesehen, wie sie Menschen getötet und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht haben. Ich habe Geschöpfe wie Kias gejagt und bin von ihnen gejagt worden. Und ich mußte mit ansehen, wie sie meine Freunde umgebracht haben. Ich weiß, daß es falsch ist und vermutlich dumm. Aber ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut. Ich brauche Zeit, um zu begreifen, daß sie plötzlich unsere Freunde sein sollen.«
Harris hörte auf, die kleine Elfenbeinfigur in den Fingern zu drehen. »Sein sollen?« fragte er.
»Sind«, verbesserte sich Charity achselzuckend. »Oder zumindest unsere Verbündeten.«
»Sie trauen ihnen nicht«, stellte Harris fest.
Charity schüttelte heftig den Kopf. »Das ist es nicht«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich ihnen vertrauen kann. Die Jared lügen nicht. Sie sind die Todfeinde Morons. Und ich glaube sogar, daß sie ihr Wort halten und uns unsere Welt zurückgeben werden, wenn es ihnen gelingt, die Moroni zu schlagen. Es ist nur ...« Sie brach ab, zuckte wieder mit den Schultern und seufzte. »Sehen Sie? Ich kann es nicht einmal in Worte fassen. Vielleicht liegt es an mir. Ich fühle mich einfach nicht wohl, seit sie wieder hier sind.«
»Vielleicht ist das schon der Grund«, vermutete Harris und setzte die Schachfigur mit einem Ruck auf das Feld zurück, von dem er sie genommen hatte. »Ich bin zwar kein Psychologe, aber ich glaube, ich kann mir vorstellen, was in Ihnen vorgeht, Captain Laird. So ungefähr dasselbe wie in mir, als ich das erste Mal mit dem Aufzug nach oben kam und all diese ... Geschöpfe sah, die den Bunker übernommen haben. Mir geht es ähnlich wie Ihnen - ich glaube ehrlich, daß sie auf unserer Seite stehen. Aber ich glaube nicht, daß wir jemals Freunde werden können.«
Plötzlich glaubte Charity etwas zu begreifen. Daß Menschen und Jared vielleicht eines Tages als gleichberechtigte Partner auf dieser Welt leben konnten. Daß sie vielleicht lernen würden, sich gegenseitig als vernunftbegabte und verantwortungsvolle Wesen zu akzeptieren, daß sie Kampfgefährten, vielleicht sogar Verbündete darüber hinaus werden konnten. Aber niemals Freunde. Sie waren einfach zu verschieden. Charity wußte mit einem Mal, daß die Jared etwas ganz anderes waren als das, wofür sie alle sie bisher gehalten hatten. Sie wußte nicht einmal, woher dieses Wissen kam, aber es war zu sicher, um auch nur eine Sekunde lang daran zu zweifeln. Vielleicht lag es nicht einmal an den Jared oder den Moroni. Vielleicht war es einfach so, daß Wesen, die in verschiedenen Schöpfungen entstanden, unter unterschiedlichen Sonnen geboren und auf verschiedenen Welten aufgewachsen waren, einfach nicht miteinander existieren konnten. Möglicherweise konnten sie nebeneinander existieren, in respektvoller Entfernung und ohne daß der eine dem anderen jemals zu nahe kam.
Der Gedanke stürzte sie in eine tiefe Verwirrung, und ihr Gefühl mußte sich deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Harris sah sie plötzlich sehr besorgt an, und Skudder fragte:
»Was ist mit dir?«
»Nichts«, antwortete Charity hastig. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich mußte nur gerade an etwas ... denken. Aber es ist nicht wichtig.«
Sie versuchte den Gedanken zu verscheuchen und wechselte abrupt das Thema, indem sie sich mit einer fragenden Geste abermals an Harris wandte. »Haben Sie vor, diese Schachpartie zu Ende zu spielen?«
»Wieso?«
»Ich habe vorhin mit unseren Rekruten gesprochen.« Sie betonte das Wort absichtlich so, daß Skudder abermals die Stirn runzelte und sie verwirrt anblickte. »Kias scheint die Wahrheit gesagt zu haben. Theoretisch sind sie genauso gut ausgebildet wie Sie und ich. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich sie einmal in der Praxis erleben könnte.« Sie sah nur noch Skudder an, um ihn in ihre Einladung mit einzubeziehen. »Ich habe Kias gebeten, uns einen Helikopter zur Verfügung zu stellen.«
»Wozu?« fragte Skudder.
»Nur ein kleiner Spazierflug«, antwortete Charity. Sie machte eine beruhigende Geste. »Keine Sorge - ich habe nicht vor, sie in einen Kampf zu schicken, um den Überlebenden dann zu sagen, was sie falsch gemacht haben. Ich möchte einfach sehen, wie sie sich verhalten, wenn sie wirklich einen Steuerknüppel in der Hand halten.«
»Hältst du das für eine gute Idee?« frage Skudder. »Ich meine«, fuhr er in leicht spöttischem Ton fort. »Nur für den Fall, daß Sie es vergessen haben, Captain Laird - dort draußen herrscht Krieg.«
»Nicht im Umkreis von zehn Meilen«, erwiderte Charity. »Und weiter gedenke ich nicht zu fliegen. Ich möchte endlich wieder etwas tun.«
Sie sah an Skudders Reaktion, daß es dieses Argument war, das ihn überzeugte. Er zögerte noch eine Sekunde, aber dann nickte er. »In Ordnung«, sagte er. »Ich komme mit.« Er wandte sich wieder dem Schachbrett zu, nahm seinen Springer zur Hand und machte einen Zug. »Du gestattest, daß wir unsere Partie zu Ende spielen?« An Harris gewandt fügte er mit einem Grinsen hinzu: »Matt in drei Zügen, John.«
Harris runzelte die Stirn, starrte wortlos auf das Schachfeld herunter. Wie sich zeigen sollte, trat Skudders Vorhersage nicht ganz ein. Sie machten noch fünf Züge, bevor Harris ihn mattsetzte.