Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Alles in allem war sie nicht mehr als zweiundsiebzig Stunden in der Bunkerfestung gewesen, und trotzdem kam es ihr vor, als sähe sie nach monatelanger Gefangenschaft zum ersten Male wieder Tageslicht.
So sehr Charity dieses Gefühl auch genoß, es verwirrte sie auch ein wenig. Hartmanns Bunkerstation war einer der wenigen Orte gewesen, an denen sie sich beinahe zu Hause gefühlt hatte, erinnerte er sie doch auf Schritt und Tritt an die Welt, in der sie geboren und aufgewachsen war. Doch während der letzten drei Tage war sie sich sonderbar fremd vorgekommen, ein Eindringling, der nicht an jenen Ort gehörte. Vielleicht lag es an der Nähe der Jared.
Der Stalscopter gewann langsam an Höhe und wandte sich nach Norden, als Charity dem Piloten ein Zeichen gab. Sie konnte das Gesicht des jungen Mannes nicht erkennen, denn es lag unter dem einseitig verspiegelten Visier des Neurohelmes verborgen. Aber sie behielt ihn trotzdem scharf im Auge. Seine Körperhaltung und die Hände, die mit kräftigem Griff auf dem Steuerknüppel lagen, verrieten Anspannung, aber nicht die mindeste Nervosität oder gar Unsicherheit. Der Stalscopter flog langsam und so ruhig, als bewege er sich auf Schienen, und auch der Start hätte nicht perfekter sein können. Es war mehr als unheimlich. Noch vor drei Tagen war dieser junge Mann nicht einmal in der Lage gewesen, ein Automobil zu fahren. Und jetzt beherrschte er eines der kompliziertesten und empfindlichsten Luftfahrzeuge, das Menschen jemals gebaut hatten, so perfekt, als hätte er sein Lebtag lang nichts anderes getan. Offensichtlich funktionierte die Hypnose-Schulung der Jared tatsächlich so perfekt, wie Kias behauptet hatte.
Charity tauschte ihren Platz neben dem Piloten nach einem auffordernden Blick mit Skudder und ging geduckt ins hintere Abteil des Stalscopters zurück, wo Harris und drei der anderen Kadetten saßen und gebannt aus den Fenstern in die Tiefe sahen. Unter ihnen spulte sich ein wechselndes Muster aus Wald und Trümmerlandschaft ab. Manche der kleinen Städte und Dörfer, die die Moroni bei ihrem Angriff vor einem halben Jahrhundert in Schutt und Asche gelegt hatten, waren schon völlig von Gestrüpp und Bäumen überwuchert. Die Natur hatte nicht lange gebraucht, das verlorene Terrain zurückzuerobern.
Der Anblick der wuchernden Landschaft tröstete Charity irgendwie. Ganz plötzlich begriff sie, wie unwichtig sie alle waren. Selbst wenn die Moroni den letzten Menschen auf diesem Planeten getötet hatten, würde das Leben doch weitergehen.
Plötzlich tauchte unter dem Helikopter eine weitere, völlig zerstörte Stadt auf. Die meisten Häuser waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und im aufgebrochenen Asphalt des Straßenbelages glitzerten ölige Pfützen. Kein Grün zeigte sich zwischen den verlassenen Straßenblocks. Die Stadt mußte von einem Nuklearsprengkopf getroffen worden sein, der eine ganz besonders harte Strahlung zurückgelassen hatte. Vielleicht würde es noch einmal fünfzig Jahre dauern, bis Leben zurückkehrte.
Mit einer fast übertrieben heftigen Geste wandte Charity sich vom Fenster ab und ließ sich Harris gegenüber auf eine der schmalen, ungepolsterten Sitzbänke sinken. Sie lächelte, und Harris lächelte zurück, aber er schien ihre Betroffenheit wohl zu spüren, denn sein Blick blieb ernst. Trotzdem stellte er keine Frage, sondern deutete nur mit einer Kopfbewegung zur Kanzel. »Nun?«
»Perfekt«, sagte Charity. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kias hat nicht übertrieben. Er fliegt dieses Ding, als wäre er mit einem Neurohelm auf dem Kopf geboren worden.«
Harris' Augen verengten sich. »Wieso werde ich den Eindruck nicht los, daß es Ihnen nicht gefällt?«
Charity sah ihn überrascht an. »Merkt man es so deutlich?«
»Ja«, antwortete Harris. »Ich spüre das schon seit einiger Zeit.«
Eine Sekunde lang dachte Charity darüber nach, was sie von dieser Antwort zu halten hatte, dann zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht muß ich mich erst an den Gedanken gewöhnen«, erwiderte sie. Sie sah Harris ganz bewußt nicht an, sondern musterte die Gesichter der drei anderen Kadetten. Die drei - zwei junge Männer und ein Mädchen - waren jünger als sie selbst, Skudder und Harris. Kleine Metallschildchen an der Brust ihrer grüngefleckten Tarnuniformen, mit denen Stone sie aus den schier unerschöpflichen Lagerhallen der Bunkerfestung versorgt hatte, verrieten ihre Namen: Lerou, Delgard und Tribeaux. Die drei kamen aus Paris, ebenso wie ihr Pilot und zwei oder drei Dutzend anderer Freiwilliger, die Stones Helfer in den letzten beiden Tagen herangebracht hatten. Charity hatte mit jedem einzelnen gesprochen, und natürlich hatte sie auch darauf bestanden, zumindest mit einigen zu reden, bevor sie sich der Hypnosebehandlung der Jared unterzogen. Sie hatte jedesmal die gleiche Geschichte gehört. Mit Gurks Hilfe war es Stone gelungen, das Vertrauen der Freien Kolonie in Paris zu erringen. Viele junge Männer und Frauen hatten sich als Freiwillige gemeldet. Was nicht zuletzt an Charity lag. Schon die Erwähnung ihres Namens schien ausgereicht zu haben, aus diesen halben Kindern zu allem entschlossene Kämpfer zu machen, die mit Freuden ihr Leben geopfert hätten, wäre es von ihnen verlangt worden.
Charity verstand das nicht. Natürlich wußte sie, daß Stone in einem Punkt recht hatte: Die Menschen hatten immer und zu allen Zeiten einen Führer gebraucht, eine Figur, zu der sie aufsehen und der sie ihre Bewunderung und ihr Vertrauen entgegenbringen konnten. Aber was Skudder und sie bisher erreicht hatten, das war entschieden zu wenig, um sie selbst gegen ihren Willen in diese Rolle zu drängen. Ihr Aufenthalt in Paris war nur kurz und nicht sonderlich erfolgreich gewesen.
»Wohin fliegen wir?« drang Harris' Stimme in ihre Gedanken.
Charity zuckte mit den Schultern. »Ich wollte einfach sehen, wie sie sich verhalten.« Sie stand auf. »Gut, daß Sie mich daran erinnern. Ich habe Stone versprochen, der Stadt nicht zu nahe zu kommen.«
»Wieso?«
Erneut zuckte Charity die Achseln und begann auf das Cockpit zuzugehen. »Fragen Sie die Jared«, sagte sie.
Sie duckte sich durch die niedrige Tür zum Cockpit hindurch, tauschte einen fragenden Blick mit Skudder und sah dann durch die Kanzel nach vorn. Weit im Norden wurde das matte Grün der Eifelwälder zum schwarzgrauen Schattenmuster einer zerstörten Stadt. Sie würden sicherlich noch eine Viertelstunde brauchen, um den Fluß und somit die Demarkationslinie zu erreichen, die sie nicht überschreiten durften. Aber sie hatte Stone tatsächlich ihr Wort gegeben, sich der Stadt nicht zu nähern. Es war ihr nicht schwergefallen, dieses Versprechen abzulegen. Mit dieser Stadt, dem Dom und der Jaredkönigin waren zu viele schmerzliche Erinnerungen für sie verbunden.
Sie stützte sich lässig mit den Unterarmen auf die Rückenlehne von Skudders Sitz - und runzelte überrascht die Stirn. »Was ist das?«
Skudder sah auf, um ihr ins Gesicht zu blicken. »Was?«
Charity deutete nach vorn. »Dort zwischen den Bäumen. Siehst du?«
Skudder beugte sich im Sitz vor und sah einen Moment lang in die Richtung, in die Charity deutete. »Das sieht aus wie ... Schnee«, sagte er überrascht.
»Im August?« fragte Charity zweifelnd. Sie gab dem Piloten einen Wink. »Ändern Sie den Kurs. Das will ich mir ansehen.«
Der junge Mann antwortete nicht, aber der Stalscopter schwenkte gehorsam herum und ging tiefer, während er sich der kleinen Waldlichtung näherte, auf die Charity gedeutet hatte. Nach einigen Augenblicken hatte er sie erreicht und blieb in der Luft stehen.
Es ist tatsächlich Schnee, dachte Charity verwirrt.
Das weiße Glitzern, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war das Schimmern von Rauhreif im Gras. Nur hier und da stoben weiße Schneewehen von den Ästen der Bäume oder vom Boden hoch, als der Sturmwind der Rotoren den Schnee aufwirbelte.
»Aber wie ist denn das möglich?« wunderte sich Skudder.
Charity schwieg. Der Anblick der pulvrigen Schneewehen verstärkte das ungute Gefühl in ihr. Niemand wußte wirklich, was die Moroni in den letzten fünfzig Jahren mit dem Klima dieses Planeten angestellt hatten oder welche Auswirkungen die zahllosen Atomsprengköpfe gehabt haben mochten, die bei der Ankunft der Außerirdischen in der Erdatmosphäre gezündet worden waren. Wahrscheinlich gab es auch noch eine ganze Reihe anderer, ebenso einleuchtender Erklärungen. Und doch ... Dieses Phänomen irritierte sie nicht nur, es erschreckte sie.
»Notieren Sie die Position im Computer«, befahl sie dem Piloten. »Vielleicht schauen wir es uns später noch einmal an.« Sie gab ihm ein Zeichen, weiterzufliegen, behielt die kleine, in mattem Weiß schimmernde Lichtung jedoch im Auge, bis sie ihren Blicken entschwunden war.
Sie flogen weitere drei oder vier Minuten dicht über den Baumwipfeln dahin in nördlicher Richtung, ohne auf ein weiteres Anzeichen dafür zu stoßen, daß mit diesem Wald irgend etwas nicht stimmte, dann wandte sich Charity um und machte einen Schritt zur Tür zurück. »Tribeaux?« fragte sie. »Haben Sie Lust zu übernehmen?«
Die junge Französin stand mit einem wortlosen Nicken auf, und Charity trat wieder neben den Piloten. »Suchen Sie einen Landeplatz«, sagte sie.
Der Helikopter verlor weiter an Geschwindigkeit und ging tiefer. Der Wald war an dieser Stelle sehr dicht, und Charity hatte nicht genug Vertrauen in die Fähigkeiten des Jungen, um eine Landung zwischen den Bäumen zu riskieren. So bedeutete sie ihm mit einer Geste, ein Stück weiter zu fliegen, bis Bäume und Unterholz unter ihnen wieder dem graugrünen Fleckenmuster zerstörter Straßenzüge Platz machten. Automatisch warf sie einen Blick auf die Instrumente des Helikopters, ehe sie dem Piloten gestattete, endgültig zu landen. Der Geigerzähler zeigte keine gefährliche Strahlung an.
Der Helikopter setzte so sanft auf, daß Charity nicht einmal eine Erschütterung spürte, und der Pilot erhob sich aus seinem Sitz und streifte den Helm ab. Er wollte ihn an Tribeaux weiterreichen, aber Charity schüttelte den Kopf.
»Schalten Sie die Motoren aus«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten uns ein wenig umsehen.«
Skudder sah sie überrascht an, schwieg aber. Er war dabei gewesen, als Charity Stone versprochen hatte, nirgends zu landen, sondern nur ein paar Runden mit der Maschine zu drehen und dann unverzüglich zurückzukehren. Und sie hatte eigentlich auch gar keinen Grund, dieses Versprechen zu brechen.
Sie verließen die Maschine. Charity ließ Lerou als Wächter zurück und sprang als erste aus dem Helikopter. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß ihre Funkgeräte alle auf die gleiche Frequenz eingestellt waren, entfernte sie sich ein paar Schritte von dem gelandeten Hubschrauber und blieb stehen. Das Heulen der Turbine verklang allmählich, aber auch danach kehrte keine wirkliche Stille ein. Sie hörte das Rauschen des Windes im nahen Wald und ein fernes, anhaltendes Rollen und Donnern wie das Geräusch eines weit entfernten Gewitters oder einer schweren Meeresbrandung. Doch in Wahrheit war es das Echo der Schlacht, die fünfzig Meilen von ihnen entfernt tobte.
Trotzdem überkam Charity für einen Moment das Gefühl eines viel zu lang vermißten Friedens, als sie dastand und die kalte, nach Blättern und Gras duftende Luft einatmete. Zum allerersten Mal, seit sie auf die Erde zurückgekehrt war, waren ihre Kopfschmerzen verflogen, und zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein.
Nach einer Weile wurde ihr klar, daß die anderen hinter ihr stehengeblieben waren und sie erwartungsvoll anblickten. Sie sah sich kurz um und deutete dann beinahe wahllos auf einen zu vier Fünfteln von Unkraut überwucherten Trümmerblock, vielleicht fünfzig Meter entfernt. Die Reste einer zerborstenen, gelben Lichtreklame reflektierten das Licht der tiefstehenden Sonne, und hier und da war sogar noch eine Fensterscheibe erhalten geblieben.
»Dieses Gebäude dort«, sagte sie. »Nehmen wir an, es wäre von Moroni besetzt, die genau wissen, daß wir kommen. Versucht, es zu stürmen.«
Skudder blickte sie mit noch größerer Überraschung an, und auch Harris runzelte mißbilligend die Stirn, aber die drei Kadetten nahmen unverzüglich ihre Gewehre von der Schulter und begannen auf die Ruine zuzulaufen. Charity beobachtete sie aufmerksam. Sie stellten sich nicht einmal ungeschickt an. Trotzdem dauerte es nur Augenblicke, bis Charity den Kopf schüttelte und mit einem enttäuschten Seufzer die Luft ausstieß. Es war so, wie sie befürchtet hatte: Die drei mochten wissen, wie man einen Helikopter flog oder einen Panzer bediente, aber sie hatten keinerlei Kampferfahrung.
»Was soll das?« fragte Skudder.
Charity antwortete nicht, sondern bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Delgard! Sie können zurückkommen!«
Der junge Franzose blieb mitten im Schritt stehen, warf einen verwirrten Blick zu ihr zurück, gehorchte dann aber, während sich die beiden anderen durchaus geschickt weiter der Ruine näherten.
»Captain?« Delgard salutierte übertrieben zackig, als er vor ihr stehenblieb.
»Sparen Sie sich das«, sagte Charity lächelnd. »Sie sind nämlich tot. Sie waren mindestens zwanzig Sekunden ohne Deckung.«
»Aber ich ...«
»Die Moroni haben moderne Waffen, vergessen Sie das nicht«, fuhr Charity fort. »Ein Busch ist kein besonders zuverlässiger Schutz gegen das Lasergewehr.«
Delgard wirkte enttäuscht. Er schien Charitys Meinung auch nicht zu teilen, widersprach aber nicht, sondern nickte nur knapp.
»Wenn es Sie tröstet, Delgard«, fuhr Charity fort, »die beiden anderen stellen sich auch nicht sehr viel geschickter an.« Sie seufzte. »Nehmen Sie es nicht zu tragisch, junger Mann. Zu wissen, wie eine Waffe funktioniert, bedeutet noch lange nicht, ein guter Soldat zu sein.«
Skudders Gesichtsausdruck verdüsterte sich weiter, aber Charity gab ihm keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen, sondern schlenderte beinahe gemächlich hinter den beiden anderen her. Wären in dem Gebäude wirklich Moroni-Soldaten versteckt gewesen, dann wären auch sie längst nicht mehr am Leben. Aber die Reaktion auf Delgards Gesicht hatte ihr klargemacht, daß sie vielleicht etwas zu hart mit ihm umgesprungen war. Trotz aller Begeisterung und allem künstlich eingetrichterten Wissens waren die drei nicht mehr als Rekruten, die gerade ihre erste Unterrichtsstunde bekamen.
Während die beiden jungen Franzosen weiter Krieg spielten, steuerte Charity ein Gebäude auf der anderen Straßenseite an. Es war ausgebrannt und von Unkraut und Büschen überwuchert, aber seine Vorderfront war beinahe unbeschädigt geblieben. Geschwungene gelbe Schriftzeichen über der gesplitterten Glastür verrieten ihr, daß es einmal eine Bankfiliale gewesen war.
Sie blieb stehen, überlegte einen Moment - und lachte plötzlich leise auf. Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich herum und winkte Skudder zu. »Paß einen Moment auf sie auf!« rief sie. »Ich bin gleich zurück.«
Sie betrat die Bank, durchquerte den verwüsteten Schalterraum und fand beinahe auf Anhieb, wonach sie gesucht hatte. In einem fensterlosen, kahlen Zimmer, dessen gesamte Einrichtung aus einem Tisch und einem Plastikstuhl bestand, erhob sich ein wuchtiger Tresor. Charity nahm ihr Gewehr von der Schulter, stellte den Laser auf höchste Energieabgabe ein und feuerte zwei kurze, gezielte Schüsse ab. Das Schloß glühte rot auf und verwandelte sich in schmelzendes Metall. Charity benutzte den Lauf des Gewehres, um die Tür ganz aufzuhebeln, ohne sich die Finger an dem heiß gewordenen Stahl zu versengen.
Der Anblick der gestapelten Banknoten, Wertpapiere und Dokumente in dem Safe gab Charity einen tiefen, unerwarteten Stich. Vor nicht einmal sehr langer Zeit hätte der Inhalt dieses kleinen Tresores ausgereicht, ihr ein sorgenfreies Leben für den Rest ihrer Tage zu garantieren. Was dort vor ihr lag, hatte einmal die Welt beherrscht. Menschen waren dafür gestorben oder hatten getötet, hatten ihre Freunde und ihre Familie verraten oder verlassen, hatten Leben zerstört und ihre eigenen ruiniert. Und jetzt war es nicht mehr als wertloses Papier.
Sie begriff, daß sie auf dem besten Wege war, sich selbst in Melancholie zu versetzen, verscheuchte den Gedanken und griff sich eines der Banknotenbündel. Sorgfältig zählte sie nicht weniger als eine halbe Million Deutscher Mark ab und verließ den Raum.
Skudder sah ihr verwirrt entgegen, als sie wieder auf die Straße hinaustrat, während auf Harris' Stirn eine steile, fragende Falte entstand. Erstaunt erblickte er das Banknotenbündel, das Charity in beiden Händen trug.
Seine Überraschung steigerte sich noch, als Charity es ihm in die Hand drückte. »Was ...?«
»Das ist eine halbe Million«, sagte Charity fröhlich.
Harris starrte die Geldscheine an und konnte vor Verwirrung nicht einmal eine Frage stellen.
»Ihr ausstehender Sold«, erklärte Charity. »Sie baten mich doch, mit Stone darüber zu reden.«
Harris' Unterkiefer klappte verblüfft herunter, während Skudder sie eine Sekunde lang verdattert ansah - und dann schallend zu lachen begann. Nach einigen Augenblicken stimmte Harris in dieses Lachen ein, ließ sich in die Hocke sinken und legte den Stapel Banknoten behutsam vor sich auf den Boden. Vorsichtig zog er eine der Banknoten unter der Banderole hervor, faltete sie zu einem dünnen Streifen zusammen und klaubte dann eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Uniform. Mit einer fast zeremoniellen Bewegung ließ er sein Feuerzeug aufschnappen, steckte den Hunderter in Brand und entzündete an der Flamme seine Zigarette.
»Das habe ich mir schon immer gewünscht«, sagte er.
»Zu mehr ist es wohl auch nicht mehr zu gebrauchen«, erklärte Skudder. »Was beweist, daß es nichts gibt, das nicht auch seine guten Seiten hat. Wenigstens diesen Irrsinn haben uns die Ameisen abgewöhnt.«
Charitys Funkempfänger meldete sich mit einem Piepsen. Sie schaltete das Gerät ein und hielt das Armbandmikrophon an die Lippen. »Ja?«
»Lerou hier«, meldete sich der junge Franzose, der im Helikopter zurückgeblieben war. »Ein Funkspruch aus der Basis, Captain. Commander Stone verlangt Sie zu sprechen.«
»So, tut er das?« murmelte Charity. Lauter sagte sie: »Okay. Ich komme.«
Sie gingen zurück zum Helikopter, und Charity nahm im Sitz des Piloten Platz, ehe sie das Bildfunkgerät am Armaturenbrett einschaltete. Stones Gesicht erschien auf dem winzigen Bildschirm, und für einen ganz kurzen Moment hatte sie das Gefühl, einen erschrockenen Ausdruck auf seinen Zügen zu sehen. Als er aber sprach, klang seine Stimme so ruhig und hochmütig wie immer.
»Captain Laird! Wo waren Sie?«
»Ich habe mir ein wenig die Beine vertreten«, antwortete Charity lächelnd. »Haben Sie etwas dagegen?«
»Sie sind gelandet?«
»Ja«, sagte Charity. Sie lächelte weiter, aber sie bemühte sich, dieses Lächeln möglichst herausfordernd wirken zu lassen, obgleich sie sich selbst sagte, wie albern ihr Benehmen war.
»Das ist gut«, sagte Stone. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Und geben Sie mir Ihre genaue Position durch.«
Charitys Lächeln erlosch wie abgeschaltet. »Warum?« fragte sie alarmiert.
»Eine Anzahl Gleiter ist durchgebrochen«, erklärte Stone. Er machte eine hastige Handbewegung. »Kein Grund zur Sorge. Wir erwischen sie. Aber es ist besser, wenn Sie am Boden bleiben, bis unsere Schiffe sie heruntergeholt haben.«
»Gleiter?« wiederholte Charity verwirrt. »Aber wieso?«
»Woher soll ich das wissen?« schnappte Stone. »Tun Sie, was ich gesagt habe. Ich melde mich, sobald die Gefahr vorüber ist.« Er schaltete ab, bevor Charity eine weitere Frage stellen konnte, und für eine Sekunde blickte sie den erloschenen Bildschirm wütend und erschrocken zugleich an.
Die Vorstellung, daß die Moroni hierherkamen, war völlig absurd. Sie alle hatten mit eigenen Augen gesehen, daß schon die flüchtigste Berührung eines Jared reichte, um aus den Ameisen einen Teil der Kollektivintelligenz werden zu lassen. Jeder Soldat, den der Shait hierher schickte, war ein potentieller Kämpfer für seinen Gegner.
»Was tun wir?« fragte Skudder, der hinter sie getreten war und das kurze Gespräch mit angehört hatte.
»Hierbleiben und die Köpfe einziehen«, antwortete Charity nach kurzem Überlegen.
Skudder sah aus, als hätte er eine andere Antwort erwartet. »Er wirkte ziemlich nervös, findest du nicht auch?« fragte er.
Charity drehte sich zu ihm herum. »Dir ist es auch aufgefallen?«
»Irgendwas stimmt nicht«, bemerkte Skudder nachdenklich. »Ich werde ihn danach fragen, sobald wir zurück sind.«
Charity stand auf, ging nach hinten in die Kabine des Helikopters und unterrichtete Harris und die drei anderen, was geschehen war. »Ich glaube nicht, daß wir Grund haben, uns Sorgen zu machen«, schloß sie. »Trotzdem ist es besser, wir tun so, als wäre es ernst.« Sie machte eine befehlende Geste und deutete dann auf Jean, den Jungen, der sie auch hierhergeflogen hatte. »Schnallt euch an. Und Sie übernehmen das Steuer.«
»Sie fliegen nicht selbst?« fragte Harris überrascht.
»Wir fliegen überhaupt nicht«, antwortete Charity. »Ganz davon abgesehen, kann ich so ein Ding überhaupt nicht fliegen.« Sie hatte es einmal versucht, und dieser erste und einzige Versuch hatte beinahe in einer Katastrophe geendet.
Während Skudder in der Kabine zurückblieb und sich wie Harris und die anderen auf seinem Sitz festschnallte, ging Charity zurück ins Cockpit, ließ sich auf den Copilotensitz sinken und suchte den Himmel ab. Sie wußte, wie unwahrscheinlich es war, daß die durchgebrochenen Gleiter ausgerechnet hierher kamen. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal in die Nähe der Stadt gelangen, ehe die computergesteuerten Lasergeschütze der Eifelfestung sie erfaßten und vom Himmel holten.
Jean wollte die Hand zum Instrumentenpult ausstrecken, aber Charity hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Lassen Sie das«, sagte sie.
»Ich wollte nur das Radargerät ...«
»... einschalten, damit sie den Radarstrahl auffangen und eine Rakete auf ihn setzen«, fiel ihm Charity ins Wort.
Jeans Augen weiteten sich. »So etwas ist möglich?«
Fast gegen ihren Willen mußte Charity lächeln. »So etwas war schon damals bei uns möglich«, sagte sie. »Ich sehe, alles haben Ihnen die Jared doch nicht beigebracht.« Sie beugte sich im Sitz vor und suchte weiter konzentriert den Himmel im Süden ab.
Eine helles Funkeln erregte ihre Aufmerksamkeit. Dem ersten silbernen Blitz gesellte sich ein zweiter und dritter hinzu, und wenig später erkannte sie eine ganze Flotte der scheibenförmigen Schiffe, die tief über dem Wald herangerast kamen. Es waren zwei Flotten. Die erste Gruppe bestand aus fünf oder sechs Schiffen, die von einem gut dreimal so großen Schwarm verfolgt wurden. Im grellen Licht der tiefstehenden Sonne war das Blitzen der Laserkanonen kaum zu sehen, aber aus dem Wald unter den Gleitern schossen immer wieder Flammen hoch, und manchmal taumelte eines der Schiffe, wenn es getroffen wurde.
Die Gleiter näherten sich mit rasender Geschwindigkeit, flogen in kaum zwei oder drei Kilometern Entfernung vorbei - und plötzlich brachen zwei von ihnen aus der Formation aus und kamen in einer engen Kehre zurück.
Direkt auf ihren Helikopter zu.
Charity war so verblüfft, daß ihre Reaktion wahrscheinlich zu spät gekommen wäre, hätte der Pilot die Gefahr nicht im gleichen Moment wie sie erkannt. Mit einer blitzartigen Bewegung zog er den Neurohelm über, griff mit der linken Hand nach dem Steuerknüppel und ließ die Rechte auf die rote Taste der Notautomatik krachen. Über ihren Köpfen heulten die Turbinen auf, und im gleichen Augenblick zündeten unter dem Rumpf des Helikopters eine Anzahl kleiner, aber äußerst effektiver Schubraketen, die den Hubschrauber regelrecht in die Höhe katapultierten, so daß er sich schon über den Baumwipfeln befand, ehe die Rotorblätter sich überhaupt zu drehen begannen.
Charity klammerte sich verzweifelt an den Sitz. Der Helikopter taumelte, kippte auf die Seite und drohte für einen Moment wieder abzustürzen.
Sie wußte, wie gefährlich so ein Alarmstart war. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Rotoren nicht die notwendige Drehzahl erreichten, um das Fahrzeug in der Luft zu halten, ehe der Schub der Raketen nachließ, war ziemlich hoch.
Trotzdem rettete ihnen allen Jeans Reaktion das Leben, denn während sich der Helikopter schwerfällig auf die Seite legte, schlug genau an der Stelle, wo er eine halbe Sekunde zuvor noch gestanden hatte, ein ganzes Bündel beinahe unsichtbarer Laserstrahlen ein und verwandelte den Boden in kochende Lava.
Der Helikopter geriet ins Trudeln. Die Rotorblätter zerfetzten den Wipfel eines Baumes, abgerissene Blätter und Äste prasselten gegen die gläserne Kanzel, und für einen winzigen, fürchterlichen Moment legte sich die Maschine auf die andere Seite und näherte sich noch einmal mit heulenden Turbinen dem Boden. Der Baum hinter ihnen verwandelte sich in eine Flammensäule, als die Moroni ihr Laserfeuer neu ausrichteten, und plötzlich erstrahlte die Kabine in einem grausamen, weißen Licht.
Charity schlug mit einem Schrei die Hände vor die Augen. Ihr Gesicht brannte, und die Luft war plötzlich so heiß, daß sie kaum noch atmen konnte. Trotzdem war ihr klar, daß sie Glück gehabt hatten. Der Strahl hatte den Helikopter nur gestreift.
Sekunden vergingen, bis sie überhaupt wieder etwas sehen konnte. Stöhnend nahm sie die Hände herunter und registrierte, daß sich der Hubschrauber mittlerweile gute fünfzig oder sechzig Meter über dem Wald befand und in einer geradezu irrsinnigen Zickzacklinie flog, um dem Laserfeuer der beiden Gleiter zu entgehen. Trotzdem vibrierte die Kabine immer wieder unter den Einschlägen der nahezu unsichtbaren Strahlen. Früher oder später würde sie einer der Blitze erwischen oder die Rotoren treffen.
Ein riesiges, silbernes Etwas raste an ihnen vorüber, und wieder sackte der Hubschrauber zehn Meter weit und flog in einem irrsinnigen Kurs weiter, als der Gleiter nahezu auf der Stelle wendete und seine Laserkanonen auf sie abfeuerte. Von dem zweiten Angreifer war im Augenblick nichts zu sehen, aber Charity entging nicht das grelle Gewitter, das irgendwo hinter ihnen tobte. Wahrscheinlich waren ihnen einige der Jared-Schiffe zu Hilfe gekommen.
Und doch konnte es für sie keine Rettung mehr geben, begriff Charity plötzlich. Jean flog die Maschine mit geradezu unglaublichem Geschick, aber gegen die überlegene Bewaffnung und Geschwindigkeit des Moroni-Gleiters hatte auch er keine Chance.
»Drehen Sie bei!« schrie Charity.
Der Pilot wandte verblüfft den Kopf, und für eine halbe Sekunde sah Charity das verzerrte Spiegelbild ihres eigenen schreckensbleichen Gesichtes in der Scheibe seines Helmes. »Beidrehen!« schrie sie noch einmal. »Greifen Sie an! Das ist unsere einzige Chance!«
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, erbebte der Helikopter in diesem Moment und sackte meterweit in die Tiefe, ehe Jean ihn wieder in seine Gewalt bekam. Die Luft roch plötzlich verbrannt, und auf dem Pult vor ihnen begann eine rote Lampe zu flackern.
Wieder raste der Moroni-Gleiter an ihnen vorbei und kehrte in einer engen Schleife zurück, doch diesmal versuchte der Pilot nicht, ein Ausweichmanöver zu fliegen, sondern riß den Stalscopter nahezu auf der Stelle herum - und raste direkt auf die riesige Flugscheibe zu!
Das Manöver schien den Piloten des Moroni-Schiffes völlig zu verblüffen, denn obwohl er in diesem Augenblick die Chance dazu gehabt hätte, verzichtete er darauf, seine Laserkanonen abzuschießen und den Helikopter zu vernichten. Eine halbe Sekunde lang näherten sich die beiden ungleichen Fahrzeuge mit irrsinniger Geschwindigkeit, dann ließ Jean die Maschine nach links in die Tiefe kippen.
Doch diesmal kam seine Reaktion zu spät. Rotes, grausames helles Licht erfüllte plötzlich die Kanzel. Die Temperatur stieg ins Unerträgliche. Irgend etwas explodierte, und im hinteren Teil der Maschine erklangen erschrockene, gellende Schreie. Das Heulen der Turbinen klang plötzlich stotternd, und auf der Instrumentenkonsole glühte und flackerte es, als wäre das gesamte Pult in Flammen aufgegangen.
Während die Maschine abtrudelte, hielt Charity nach dem Angreifer Ausschau. Der Gleiter schwebte hundert Meter über ihnen, aber auch er schien beschädigt zu sein. Offensichtlich hatte Jean seine Bordwaffen im gleichen Moment abgefeuert wie der Pilot des Moroni-Schiffes. Aus einem gewaltigen Loch in der Unterseite der Silberscheibe quoll Rauch, und das Schiff flog nicht mehr gleichmäßig dahin, sondern schwankte von einer Seite auf die andere.
»Festhalten!« schrie Jean. »Das wird eine Bruchlandung!«
Der Wald schien ihnen mit einem Satz entgegenzuspringen. Charity fand gerade noch Zeit, sich mit verzweifelter Kraft an den Armlehnen des Sitzes festzuklammern, ehe die Maschine durch die Baumwipfel brach. Ein ungeheurer Schlag erschütterte den Helikopter. Die Kanzel vor ihnen zersplitterte, und dann bohrte sich der Helikopter mit solcher Wucht in den Boden, daß Charity fast das Bewußtsein verlor, als sie in die Sicherheitsgurte geschleudert wurde.
Sekundenlang kämpfte sie mit verzweifelter Kraft gegen eine Ohnmacht an. Vor ihren Augen bewegten sich schwarze Schleier, ihr Mund füllte sich mit dem bitteren Geschmack ihres eigenen Blutes. Benommen tastete sie nach dem Verschluß ihres Sicherheitsgurtes, entriegelte ihn und stürzte schwer gegen das Instrumentenpult.
Roter Flammenschein erfüllte die Kanzel. Von irgendwoher drang beißender Rauch herein und machte das Atmen fast unmöglich. Charity brauchte drei Versuche, um überhaupt auf die Füße zu kommen.
Der Pilot hing reglos in seinen Sicherheitsgurten neben ihr im Sitz. Charity beugte sich besorgt über ihn, rüttelte an seiner Schulter und rief seinen Namen, aber er reagierte nicht. Als sie die Hand nach seinem Helm ausstrecken wollte, um ihn abzuziehen, sah sie das Blut, das in breiten Strömen unter dem verspiegelten Visier hervorschoß. Sie erstarrte für eine Sekunde, streckte ihre Hand aus und tastete nach seinem Puls.
Nichts. Er war tot.
So schnell sie konnte, arbeitete Charity sich aus dem Cockpit heraus und in den hinteren Teil des Helikopters. Beinahe wäre sie von Harris von den Füßen gerissen worden, der den Fehler begangen hatte, seinen Sicherheitsgurt zu lösen, ohne sich irgendwo festzuklammern. Auch sein Gesicht war voller Blut, aber er fluchte so laut und ungehemmt, daß Charity begriff, daß er nicht ernsthaft verletzt sein konnte.
Wie es schien, hatten auch die anderen Glück gehabt. Skudder kämpfte fluchend mit dem Verschluß seines Gurtes, der offensichtlich nicht mehr richtig funktionierte, während Lerou, Delgard und Tribeaux sich bereits befreit hatten und mit fast komisch wirkenden Bewegungen die Tür zu erreichen versuchten, die plötzlich anderthalb Meter über ihnen lag.
»Raus hier!« schrie Charity überflüssigerweise. »Sie sind in ein paar Sekunden hier!«
Während die drei Kadetten hastig weiter auf die Tür zukrochen, bemühten sich Charity und Harris mit vereinten Kräften darum, Skudders Sicherheitsgurt zu lösen. Das Schloß hatte sich verklemmt. Schließlich zog Harris kurzerhand sein Messer und schnitt den Gurt dicht über Skudders rechter Schulter durch.
Sie schafften es, buchstäblich im allerletzten Moment zu entkommen. Blutrotes Feuer fiel vom Himmel und verwandelte den Helikopter in einen glühenden Schrotthaufen, als Skudder als letzter in einem gewaltigen Hechtsprung aus der Tür heraussprang. Er prallte ungeschickt auf und fiel mit einem Schmerzensschrei zurück. Ein armdicker Laserstrahl stach in seine Richtung, verfehlte ihn und setzte einen Baum in Brand. Charity wirbelte mitten im Schritt herum, rannte im Zickzack zu Skudder zurück und versuchte ihn in die Höhe zu reißen, aber statt ihn mit sich zu ziehen, fiel auch sie auf die Knie herab und erstarrte. Ein ungeheuerlicher Schatten legte sich über die Schneise, die der abstürzende Helikopter in den Wald geschlagen hatte. Sie hörte das tiefe, drohende Summen eines Gleitermotors, und plötzlich war der Himmel über ihnen nicht mehr blau, sondern silberfarben.
Der Moroni-Gleiter schwebte reglos zehn Meter über dem Wald. Aus dem Loch in seiner Unterseite quoll noch immer dichter, schwarzer Rauch, aber das Fahrzeug war nicht so beschädigt, wie sie gehofft hatte. Sekundenlang hing das riesige scheibenförmige Fahrzeug vollkommen reglos über ihnen, dann begann es ganz langsam tiefer zu sinken und sich gleichzeitig zu drehen. Charity beobachtete aus entsetzt aufgerissenen Augen, wie sich der Lauf einer der großen Laserkanonen direkt auf Skudder und sie richtete. Die Zeit schien stehenzubleiben. Sie wußte, daß es vorbei war. Alles Glück der Welt würde sie jetzt - nicht mehr retten. Aus dieser Entfernung konnten die Moroni gar nicht vorbeischießen.
Erstaunlicherweise hatte sie gar keine Angst. In der letzten Sekunde, die ihr wahrscheinlich noch blieb, streckte sie den Arm aus und ergriff Skudders Hand, und er erwiderte ihren Griff. Auch in seinen Augen stand keine Angst, nur ein tiefer, unstillbarer Zorn.
Charity wollte ihm zuschreien, daß sie ihn liebte, aber die Zeit reichte nicht mehr. Ein unvorstellbar helles, heißes, weißes Licht hüllte sie ein, machte sie blind und versengte ihre Kehle, als sie zu atmen versuchte.
Der Wald erzitterte unter einem ungeheuerlichen Donnerschlag. Etwas traf Charitys Schulter und riß eine rauchende Spur in ihre Jacke, und plötzlich wurde Skudders Griff so hart, daß es weh tat. Wieso lebte sie noch?
Aus tränenden Augen blickte sie auf. Der Gleiter war auf die Seite gekippt und stürzte heulend in den Wald neben ihnen. Das grelle Licht, das sie geblendet hatte, war die reflektierte Energie einer ganzen Lasersalve gewesen, die in seine Flanke eingeschlagen war.
Charity duckte sich instinktiv, als das dumpfe Donnern über sie hinwegrollte, mit dem das Schiff im Wald aufschlug. Dann warf sie sich flach auf den Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, aber auch diesmal blieb der erwartete Feuersturm aus. Der Gleiter war abgestürzt, aber nicht explodiert.
Mühsam wälzte sie sich auf den Rücken, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und suchte den Himmel ab. Zwei, drei Scheibenschiffe waren über ihnen aufgetaucht. Nicht weit entfernt kräuselte sich eine gewaltige Rauchsäule aus dem Wald, und durch die Blätter drang der flackernde Widerschein von Feuer. Zwei der drei Schiffe, denen sie ihre Rettung in allerletzter Sekunde zu verdanken hatten, näherten sich langsam der Absturzstelle, während das Dritte über ihnen schwebte. Charity hob die Hand und winkte, um zu zeigen, daß sie noch am Leben waren, dann stemmte sie sich mühsam in die Höhe und sah sich nach den anderen um. Skudder hockte neben ihr, und auch Harris und Lerou waren schon wieder auf den Beinen. Delgard krümmte sich wenige Meter entfernt auf dem Boden, während Tribeaux reglos hinter einem schwelenden Busch lag.
Charity ging zu der jungen Französin hinüber. Noch bevor sie sie erreichte, sah sie, daß jede Hilfe zu spät kam. Ein Splitter des explodierten Hubschraubers hatte sich wie ein Speer zwischen ihre Schulterblätter gebohrt. Schaudernd wandte sie sich ab, ging zu Delgard zurück und ließ sich neben ihn in die Hocke sinken. Der Kadett preßte die rechte Hand gegen den Leib und stöhnte vor Schmerzen. Ein glühender Metallsplitter hatte seinen Arm vom Ellbogen bis zur Handwurzel aufgerissen.
Charity streckte zögernd die Hand aus, berührte ihn an der Schulter, und Delgard sah auf. Sein Gesicht war schweißüberströmt und leichenblaß. Tränen liefen über seine Wangen, und zum ersten Mal, seit Charity ihn kennengelernt hatte, wurde ihr bewußt, wie jung er noch war. Die Uniformen, die Begeisterung der Kadetten und die Souveränität, mit der sie mit ihren Waffen und dem technischen Equipment der Basis umzugehen verstanden, hatten sie darüber hinweggetäuscht, woraus die Armee bestand, die Stone ihr versprochen hatte. Es waren Kinder, nichts als Kinder.
Ein rasender Zorn ergriff sie. Zorn auf die Moroni, auf Stone und Kias, aber auch auf sich selbst, daß sie wirklich zugestimmt hatte, sich auf diesen Wahnsinn einzulassen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wir kriegen Sie wieder hin, mein Junge.«
Delgard starrte sie aus großen, vor Schmerz und Angst trüben Augen an, und sie wußte, daß er ihre Worte nicht verstanden hatte.
Mit einer wütenden Bewegung stand sie auf, winkte Lerou zu sich heran und deutete auf Delgard herab. »Kümmern Sie sich um ihn«, befahl sie. Dann nahm sie ihr Gewehr von der Schulter, entsicherte es und begann in die Richtung loszulaufen, in der der Feuerschein des abgestürzten Gleiters zu sehen war.