»Hier bitte«, sagte der dunkle Kleriker.
»Wo?« fragte Tolpan teilnahmslos.
Der Kleriker hielt inne, dann zuckte er die Schultern: »Gäbe es in der Hölle ein Gefängnis, dann würdest du dich jetzt darin befinden.«
Tolpan sah sich um. Wie gewöhnlich gab es nichts – nur einen unermeßlichen, öden Fleck unheimlicher Leere. Es gab keine Wände, keine Zellen, keine Gitterfenster, keine Türen, keine Schlösser, keinen Gefängniswärter. Und er wußte mit vollkommener Sicherheit, daß es – dieses Mal – kein Entkommen gab. »Soll ich jetzt einfach herumstehen, bis ich umfalle?« fragte er leise. »Ich meine, könnte ich nicht zumindest ein Bett und einen Schemel haben?«
Während er sprach, materialisierte sich ein Bett vor seinen Augen und dann ein dreibeiniger Holzschemel. Aber selbst diese vertrauten Gegenstände wirkten beängstigend. Tolpan konnte ihren Anblick nicht lange ertragen bei der Vorstellung, mitten im Nichts zu sitzen. »D... danke«, stammelte er, ging zu dem Schemel und setzte sich mit einem Seufzer. »Und wie sieht es mit Essen und Wasser aus?«
Er wartete, um zu sehen, ob sich jetzt auch diese Wünsche materialisieren würden.
Aber das traf nicht ein. Der Kleriker schüttelte den Kopf, sein graues Haar flog umher wie eine wirbelnde Wolke. »Die Bedürfnisse deines sterblichen Körpers werden während deines Aufenthaltes hier ruhen. Du wirst weder Hunger noch Durst verspüren. Ich habe auch deine Wunden geheilt.«
Tolpan bemerkte plötzlich, daß die Schmerzen in den Rippen und im Kopf verschwunden waren. Und auch das Eisenband um seinen Hals war nicht mehr da.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken«, fuhr der Kleriker fort, als Tolpan den Mund öffnen wollte. »Wir haben uns nur darum gekümmert, damit du uns nicht bei der Arbeit störst. Und nun, lebe wohl...« Er erhob die Hände, offensichtlich wollte er aufbrechen.
»Warte!« schrie Tolpan, sprang von seinem Schemel auf und klammerte sich an die schwarzen, fließenden Roben. »Sehe ich dich wieder? Laß mich nicht allein!« Aber er hätte ebenso gut versuchen können, Rauch festzuhalten. Die fließenden Roben glitten zwischen seinen Fingern hindurch, und der dunkle Kleriker war verschwunden.
»Ich bin allein!« sagte Tolpan und sah sich verzweifelt in seiner düsteren Umgebung um. »Wirklich allein... allein, bis ich sterbe... Was nicht lange dauern wird«, fügte er traurig hinzu. Er setzte sich wieder auf seinen Schemel. »Ich könnte genauso gut so schnell wie möglich sterben und alles hinter mich bringen. Zumindest gehe ich dann wohl an einen anderen Ort – hoffe ich.« Er sah hinaus in die unendliche Leere. »Fizban«, sagte er leise, »du kannst mich von hier unten wahrscheinlich nicht hören. Und vermutlich kannst du auch nichts für mich tun, aber bevor ich sterbe, möchte ich dir eins sagen. Es war nicht meine Absicht, diesen ganzen Ärger zu verursachen, Par-Salians Zauber zu unterbrechen und in die Vergangenheit zurückzureisen.« Einen Seufzer ausstoßend, preßte Tolpan seine kleinen Hände zusammen, seine Unterlippe bebte. »Vielleicht hat das keine große Bedeutung mehr... Ich vermute, daß ein Teil von mir mit Caramon ging, weil« – er schluckte die Tränen hinunter – »weil es sich nach sehr viel Spaß anhörte! Aber ein anderer Teil von mir ging mit ihm, weil er zu fertig war, um allein in die Vergangenheit zu reisen! Er war von dem Zwergenspiritus völlig besoffen, verstehst du. Und ich habe Tika versprochen, mich um ihn zu kümmern. O Fizban, wenn es nur einen Weg aus diesem Schlamassel gäbe, würde ich mein Bestes versuchen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Ehrlich...«
»Hallo!«
»Was?« Tolpan fiel fast vom Schemel. Er wirbelte herum, dachte fast, vielleicht Fizban zu sehen, statt dessen war es eine kleine Gestalt – kleiner als er selbst – in brauner Hose, grauer Tunika und brauner Lederschürze.
»Ich sagte: Hallo«, wiederholte die Stimme ziemlich gereizt.
»Oh, hallo«, stotterte Tolpan, auf die Gestalt starrend. Sie sah gewiß nicht wie ein dunkler Kleriker aus, zumindest hatte Tolpan nie gehört, daß sie braune Lederschürzen trugen. Dennoch hatte diese Gestalt große Ähnlichkeit mit einer Person, die er kannte... »Gnosch!« rief er plötzlich aus und schnalzte mit den Fingern. »Du bist ein Gnom! Oh, entschuldige bitte, eine persönliche Frage – aber bist du tot?«
»Bist du es?« fragte der Gnom und beäugte den Kender argwöhnisch.
»Nein«, sagte Tolpan ziemlich beleidigt.
»Nun, ich auch nicht!« erwiderte der Gnom.
»Wie ist dein Name?« fragte der Gnom.
»Tolpan Barfuß.« Der Kender streckte seine kleine Hand aus, die der Gnom nahm und herzlich schüttelte. »Wie ist deiner?«
»Gnimsch.«
»Danke schön. Schön, dich kennenzulernen, Gnimsch«, sagte Tolpan.
»Nett, dich kennenzulernen, Barfuß«, sagte der Gnom, und sie schüttelten einander wieder die Hände.
»Möchtest du Platz nehmen?« fragte Tolpan, setzte sich auf das Bett und wies höflich auf den Schemel. Aber Gnimsch warf dem Schemel einen vernichtenden Blick zu und setzte sich auf einen Stuhl, der sich unter ihm materialisierte. Es war ein bemerkenswerter Stuhl – er hatte eine Fußstütze, die sich auf und ab bewegte, und Kufen, um im Stuhl schaukeln zu können, und er ließ sich sogar ganz nach hinten verstellen, so daß man sich auch hinlegen konnte.
Als Gnimsch Platz genommen hatte, kippte unglücklicherweise der Stuhl so weit nach hinten, daß der Gnom mit einem Ruck auf den Kopf fiel. Brummend bewegte er einen Hebel. Dieses Mal flog die Fußstütze hoch und schlug auf seine Nase. Gleichzeitig ging die Rücklehne nach vorne, und Tolpan mußte Gnimsch aus dem Stuhl befreien, der ihn zu verschlingen drohte.
»Verdammt«, sagte der Gnom; mit einer Handbewegung schickte er den Stuhl dahin zurück, woher er gekommen war, und setzte sich auf Tolpans Schemel.
»Wenn es dich nicht stört, darf ich wissen, was du hier tust, wenn du nicht – tot bist?« fragte Tolpan.
»Wirst du mir sagen, was du hier tust?« entgegnete Gnimsch.
»Natürlich«, sagte Tolpan, dann hatte er plötzlich einen Gedanken. Er sah sich vorsichtig um und beugte sich vor. »Es stört doch niemanden, oder?« fragte er. »Daß wir uns unterhalten, meine ich? Vielleicht dürfen wir nicht...«
»Oh, es kümmert sie nicht«, unterbrach ihn Gnimsch verächtlich. »Solange wir sie in Ruhe lassen, können wir überall hingehen. Natürlich«, fügte er hinzu, »sieht hier alles gleich aus, von daher ist es ziemlich uninteressant.«
»Ich verstehe«, sagte Tolpan interessiert. »Wie reist du?«
»Mit dem Geist. Hast du das noch nicht kapiert? Nein, wahrscheinlich nicht.« Der Gnom schnaufte verächtlich. »Kender waren wegen ihrer Intelligenz noch nie berühmt.«
»Gnome und Kender sind verwandt«, meinte Tolpan beleidigt.
»Das habe ich auch gehört«, erwiderte Gnimsch skeptisch.
Tolpan beschloß, im Interesse des Friedens, das Thema zu wechseln. »Also wenn ich irgendwohin will, denke ich an den Platz, und ich bin dort?«
»In begrenztem Rahmen natürlich«, sagte Gnimsch. »Du kannst beispielsweise nicht die heiligen Bereiche betreten, zu denen die dunklen Kleriker Zugang haben...«
»Oh.« Tolpan seufzte, denn dieses Ziel hatte an erster Stelle seiner Wünsche gestanden. »Du hast diesen Stuhl aus dem Nichts kommen lassen, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, ließ ich dieses Bett und diesen Schemel kommen. Wenn ich an etwas denke, wird es einfach erscheinen?«
»Versuch es«, schlug Gnimsch vor.
Tolpan dachte an etwas.
Gnimsch schnaufte verächtlich, als ein Hutständer am Bettende erschien. »Nun, das ist nützlich.«
»Ich übe doch noch«, sagte Tolpan verletzt.
»Paß besser auf«, sagte der Gnom. »Manchmal erscheinen Dinge nicht so, wie du es erwartest.«
»Ja.« Tolpan erinnerte sich plötzlich an den Baum und den Zwerg. Er erbebte. »Du hast wohl recht. Nun, zumindest haben wir uns gefunden. Jemanden, mit dem man sich unterhalten kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie langweilig es war.« Er machte es sich auf dem Bett gemütlich. »Nun, schieß los. Erzähl mir deine Geschichte.«
»Du fängst an.« Gnimsch warf Tolpan aus dem Augenwinkel einen Blick zu.
»Nein, du bist mein Gast.«
»Du. Immerhin bin ich schon länger hier.«
»Woher willst du das wissen?«
»Tue ich einfach... Fang an.«
»Aber...« Tolpan erkannte, daß dies zu nichts führen würde, und obgleich sie über die ganze Ewigkeit verfügten, plante er nicht, sie im Streit mit einem Gnom zu verbringen. Außerdem gab es keinen wahren Grund, warum er nicht seine Geschichte erzählen sollte. Er erzählte sowieso gerne Geschichten. Er lehnte sich also behaglich zurück und begann. Gnimsch lauschte mit Interesse, obgleich er Tolpan ziemlich verärgerte, da er ihn besonders an den aufregendsten Stellen unterbrach und dann aufforderte: »Erzähl weiter!«
Schließlich kam Tolpan zum Ende. »Und so bin ich also hier. Jetzt bist du dran«, sagte er, froh, Atem holen zu können.
»Nun«, sagte Gnimsch zögernd und sah sich düster um, als ob er Angst hätte, jemand könnte lauschen, »es begann alles vor vielen, vielen Jahren mit der Lebensaufgabe meiner Familie. Weißt du«, er funkelte Tolpan an, »was eine Lebensaufgabe ist?«
»Sicher«, erwiderte Tolpan schlagfertig. »Mein Freund Gnosch hatte eine Lebensaufgabe. Bei seiner ging es um die Kugeln der Drachen. Jedem Gnom wird ein bestimmtes Projekt zugeteilt, das er erfolgreich abschließen muß, oder er tritt niemals in das Leben nach dem Tod ein.« Ihm fiel plötzlich etwas ein. »Das ist doch nicht der Grund, warum du hier bist, oder?«
»Nein.« Der Gnom schüttelte den Kopf. »Die Lebensaufgabe meiner Familie besteht darin, eine Erfindung zu entwickeln, die uns von einer Existenzebene zu einer anderen befördert. Und« – Gnimsch seufzte – »meine hat funktioniert.«
»Sie hat funktioniert?« fragte Tolpan und richtete sich verblüfft auf.
»Perfekt«, antwortete Gnimsch mit zunehmender Verzweiflung.
Tolpan war sprachlos. So etwas hatte er noch nie gehört – eine Gnomenerfindung, die funktionierte, und dazu noch perfekt!
Gnimsch warf ihm einen Blick zu. »Oh, ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er. »Ich bin ein Versager. Aber du weißt nur die Hälfte. Verstehst du – alle meine Erfindungen funktionieren. Jede einzelne.«
»Und warum bist du dann ein Versager?« fragte Tolpan verwirrt.
Gnimsch starrte ihn an. »Nun, was kommt denn Gutes dabei heraus, etwas zu erfinden, das auch noch funktioniert? Weißt du«, sagte er mit steigender Düsterkeit, »wenn ich nicht hierhergekommen wäre, hätten sie mich verbannt. Sie sagten, ich stellte für die Gesellschaft eine ausgesprochene Gefahr dar. Ich würfe die wissenschaftliche Forschungsarbeit um hundert Jahre zurück. Darum stört es mich nicht, hier zu sein. Wie du verdiene ich es. Hier wäre ich sowieso gelandet.«
»Wo ist dein Gerät?« fragte Tolpan in plötzlicher Aufregung.
»Oh, das haben sie mir abgenommen«, antwortete Gnimsch.
»Nun«, sinnierte der Kender, »kannst du dir nicht eins vorstellen? Du hast dir doch den Stuhl vorgestellt.«
»Und du hast gesehen, was er mit mir angestellt hat«, erwiderte Gnimsch. »Wahrscheinlich werde ich wegen der Erfindung meines Vaters draufgehen. Mit ihr ist er zu einer anderen Existenzebene gelangt. Der Untersuchungsausschuß für Erfindungen untersucht sie jetzt, zumindest haben sie es getan, als ich hier steckengeblieben bin. Was willst du versuchen? Einen Weg aus der Hölle finden?«
»Ich muß«, sagte Tolpan entschlossen. »Die Königin der Finsternis wird ansonsten den Krieg gewinnen, und das wird alles meine Schuld sein. Außerdem habe ich einige Freunde, die in schrecklicher Gefahr sind. Nun, einer von ihnen ist nicht genau mein Freund, aber er ist eine interessante Persönlichkeit, und obwohl er versucht hat, mich zu töten, indem er mich das magische Gerät zerstören ließ, bin ich sicher, daß es keine persönliche Angelegenheit war. Er hatte einen triftigen Grund...« Er hielt inne. »Ich hab’s!« sagte er und sprang vom Bett. »Ich hab’s!« schrie er so aufgeregt, daß ein ganzer Wald von Hutständern um das Bett herum auftauchte, sehr zur Beunruhigung des Gnomen.
Dieser glitt von seinem Schemel und beäugte Tolpan argwöhnisch. »Was denn?« verlangte er zu wissen.
»Sieh mal!« sagte Tolpan, während er in seinen Beuteln wühlte. Er öffnete einen, dann einen anderen. »Hier ist es!« sagte er und hielt einen Beutel auf, um ihn Gnimsch zu zeigen. Aber gerade als der Gnom hineinblicken wollte, verschloß Tolpan ihn wieder. »Warte!«
»Wieso?« fragte Gnimsch.
»Beobachten sie uns?« fragte Tolpan. »Werden sie es erfahren?«
»Was erfahren?«
»Nur so – werden sie es erfahren?«
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Gnimsch. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, da ich nicht weiß, was es ist, was sie nicht erfahren sollen. Aber ich weiß, daß sie recht beschäftigt sind, gerade jetzt, wie ich mitbekommen habe. Böse Drachen wecken und all diese Sachen. Nimmt viel Zeit in Anspruch.«
»Gut«, sagte Tolpan grimmig und setzte sich aufs Bett. »Nun, dann sieh dir das an.« Er öffnete den Beutel und kippte den Inhalt aus. »Woran erinnert dich das?«
»An das Jahr, in dem meine Mutter das Gerät zum Geschirrspülen erfand«, sagte der Gnom. »Die Küche war knietief mit zerbrochenem Geschirr bedeckt. Wir mußten...«
»Nein!« rief Tolpan gereizt. »Sieh doch mal, halte dieses Stück zu diesem und...«
»Mein Reisegerät!« Gnimsch keuchte. »Du hast recht! Es sieht ungefähr so aus. An meinem waren nicht all diese protzigen Juwelen, aber... Paß auf! Du machst es falsch. Ich glaube, das kommt hierhin, nicht dort. Verstehst du? Und diese Kette wird hier eingehakt und wickelt sich so herum. Dieses Stück muß hierhin.« Gnimsch hatte sich aufs Bett gesetzt, nahm ein Juwel und legte es an seinen Platz. »Jetzt brauche ich noch mehr von diesen roten Dingern.« Er begann unter den Juwelen zu wühlen. »Was hast du denn überhaupt damit angestellt?« brummte er. »Hast du sie durch einen Fleischwolf gedreht?« Aber der Gnom, in seine Aufgabe völlig vertieft, überhörte Tolpans Antwort.
Der Kender nutzte die Gelegenheit, seine Geschichte noch einmal vorzutragen. Auf dem Schemel hockend, erzählte er, ohne unterbrochen zu werden, während Gnimsch, der die Existenz des Kenders völlig vergessen hatte, die unzähligen Juwelen und die kleinen goldenen und silbernen Teile und Ketten zu ordnen begann und sie zu kleinen Häufchen schichtete.
Während Tolpan erzählte, beobachtete er jedoch Gnimsch. Hoffnung erfüllte sein Herz. Natürlich, dachte er, er hatte zu Fizban gebetet, und es bestand jede Möglichkeit, daß das Gerät sie zum Mond entführte oder sie in Hühner oder sonst etwas verwandelte, wenn Gnimsch es gelang, es zu reparieren. Aber Tolpan meinte, daß er diese Gelegenheit nutzen müsse. Immerhin hatte er versprochen zu versuchen, die Dinge wieder gerade zu biegen, und obgleich es nicht seinen Wünschen entsprach, einen Gnom zu finden, der ein Versager war, war alles besser, als herumzusitzen und auf den Tod zu warten.
In der Zwischenzeit hatte Gnimsch eine kleine Tafel und ein Stück Kreide herbeigerufen und zeichnete Diagramme, während er murmelte: »Stecke Juwel A in das goldene Ding B...«