13

»Wohin willst du?« fragte Caramon barsch. Er blinzelte, um sich nach dem hellen Schein der Herbstsonne an die Dunkelheit zu gewöhnen, die in seinem Zelt herrschte.

»Ich ziehe aus«, antwortete Crysania, die sorgfältig ihre weißen Roben faltete und in eine Truhe legte, die sie unter ihrem Feldbett aufbewahrt hatte. Jetzt stand die Truhe geöffnet neben ihr.

»Das haben wir doch schon besprochen«, knurrte Caramon leise. Er warf einen Blick auf die Wachen draußen am Zelteingang, dann zog er sorgfältig den Vorhang zu.

Caramons Zelt war sein ganzer Stolz und seine ganze Freude. Ursprünglich einem wohlhabenden Ritter von Solamnia gehörend, hatten es ihm zwei junge Männer als »Geschenk« überreicht. Es war aus einem Gewebe hergestellt, das niemand kannte, und es war so gut gewebt, daß der Wind nicht einmal durch die Säume dringen konnte. Regenwasser lief von ihm ab; Raistlin hatte erklärt, daß es mit einem bestimmten Öl behandelt worden sei. Es war für Caramons Feldbett, riesige Truhen mit Karten, Geld und Juwelen, die sie aus dem Turm der Erzmagier mitgebracht hatten, Kleidung, seine Rüstung, ein Feldbett für Crysania und eine Truhe für ihre Kleidung groß genug. Und es schien immer noch nicht überfüllt zu sein, wenn Caramon Gäste empfing.

Raistlin schlief und studierte in einem kleineren Zelt aus dem gleichen Gewebe; dieses Zelt war neben dem seines Bruders errichtet worden. Obgleich Caramon ihn eingeladen hatte, das größere Zelt mit ihm zu teilen, hatte der Magier auf seiner Privatsphäre bestanden. Da Caramon das Bedürfnis seines Bruders nach Einsamkeit und Ruhe kannte, hatte er keine Einwände erhoben. Crysania jedoch hatte offen protestiert, als ihr gesagt wurde, sie müsse in Caramons Zelt wohnen.

Vergeblich hatte Caramon ihr dargelegt, daß sie bei ihm sicherer sei. Geschichten über ihre »Hexenkraft«, ihr seltsames Medaillon und ihre Heilung des großen Kriegers hatten sich schnell im Lager verbreitet und wurden allen Neuankömmlingen eifrig zugeflüstert. Die Klerikerin verließ niemals ihr Zelt, ohne daß düstere Blicke ihr folgten. Frauen drückten ihre Kinder an sich, wenn sie sich näherte.

»Ich bin mir deiner Argumente wohl bewußt«, bemerkte Crysania, während sie weiter ihre Kleider zusammenlegte und verstaute, ohne zu dem großen Mann aufzusehen. »Aber ich teile sie nicht. Oh, ich habe deine Geschichten über Hexenverbrennung gehört. Mehr als einmal! Ich bezweifle zwar nicht ihre Wahrheit, aber das war in einer fernen Zeit.«

»In welches Zelt willst du denn ziehen?« fragte Caramon; sein Gesicht lief rot an. »Zu meinem Bruder?«

Crysania hörte mit dem Zusammenlegen auf, hielt ein Kleid lange Zeit über ihrem Arm und starrte geradeaus. Als sie antwortete, war ihre Stimme kalt und ruhig wie ein Wintertag. »Es gibt noch ein kleines Zelt, eines wie dieses. Darin werde ich wohnen. Du kannst eine Wache aufstellen, wenn du es für erforderlich hältst.«

»Crysania, es tut mir leid«, sagte Caramon und trat zu ihr. Sie sah immer noch nicht zu ihm auf. Er streckte seine Hände aus, ergriff sanft ihre Arme und drehte sie um, zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich meinte es nicht so. Bitte verzeih mir. Ja, es ist erforderlich, eine Wache aufzustellen! Aber es gibt keinen, dem ich vertraue, Crysania, außer mir selbst. Aber...« Sein Atem ging schneller, der Druck seiner Hände an ihren Armen wurde unmerklich stärker. »Ich liebe dich, Crysania«, sagte er leise. »Du bist ganz anders als jede Frau, die ich bisher kennengelernt habe! Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Als ich dich kennenlernte, hielt ich dich für kalt und gleichgültig, völlig in Anspruch genommen von deiner Religion. Aber als ich dich in den Klauen dieses Halbogers sah, erkannte ich deinen Mut, und als ich daran dachte, was sie dir antun wollten...« Er spürte, wie sie unwillkürlich schauderte. »Ich habe dich mit meinem Bruder gesehen.« Seine Stimme wurde sehnsüchtig. »Du umsorgst ihn so lieb, so geduldig.«

Crysania befreite sich nicht aus seinem Griff. Sie sah mit ihren klaren grauen Augen zu ihm auf. »Ich habe deine wachsende Zuneigung zu mir gespürt«, sagte sie traurig, »und obwohl ich dich zu gut kenne, um zu glauben, daß du mich zu Dingen nötigen würdest, die ich nicht will, so ist es mir doch unbehaglich, mit dir allein in einem Zelt zu schlafen.«

»Crysania!« rief Caramon. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und seine Hände zitterten.

»Was du für mich empfindest, ist keine Liebe, Caramon«, sagte Crysania sanft. »Du bist einsam, du vermißt deine Frau. Es ist sie, die du liebst. Ich weiß es, ich habe Zärtlichkeit in deinen Augen gesehen, wenn du von Tika sprachst.«

Caramons Gesicht verdunkelte sich bei Tikas Namen. »Was weißt du denn schon von der Liebe?« fragte er, ließ sie los und sah weg. »Ich liebe Tika, sicher. Ich habe schon viele Frauen geliebt. Tika hat auch ihren Anteil an Männern gehabt, vermute ich.« Er holte wütend Luft. Das war nicht die Wahrheit, und er wußte es. »Tika ist menschlich!« fuhr er fort. »Sie ist Fleisch und Blut – keine Eissäule!«

»Was ich von der Liebe weiß?« wiederholte Crysania. Ihre grauen Augen verdunkelten sich vor Zorn. »Ich sage dir, was ich von der Liebe weiß. Ich...«

»Sag es nicht!« rief Caramon leise, völlig die Beherrschung verlierend, und umfaßte sie. »Sag nicht, daß du Raistlin liebst! Er verdient deine Liebe nicht! Er gebraucht dich, so wie er mich gebraucht hat! Und er wirft dich weg, wenn er mit dir fertig ist!«

»Laß mich gehen!« herrschte Crysania ihn an.

»Kannst du das nicht sehen?« rief Caramon. »Bist du blind?«

»Entschuldigt«, sagte eine sanfte Stimme, »wenn ich euch störe. Aber es gibt wichtige Neuigkeiten.«

Bei dem Klang dieser sanften Stimme lief Crysanias Gesicht erst weiß, dann dunkelrot an. Auch Caramon schrak zusammen, seine Hände lösten ihren Griff. Crysania zog sich von ihm zurück, in ihrer Eile stolperte sie über die Truhe und fiel auf die Knie. Ihr Gesicht wurde von ihrem schwarzen, fließenden Haar gut verborgen, und so blieb sie neben der Truhe knien und gab vor, ihre Kleidung zu ordnen.

Mit finsterem Blick wandte sich Caramon seinem Zwillingsbruder zu.

Raistlin musterte Caramon kühl aus seinen spiegelgleichen Augen. Sein Gesicht war ausdruckslos. Aber Caramon hatte eine Sekunde lang einen Riß in seinen Augen gesehen. Dieser vor Eifersucht brennende Blick erschreckte ihn, versetzte ihm einen fast körperlicher» Schlag.

»Was für Neuigkeiten?« knurrte Caramon.

»Boten sind aus dem Süden gekommen«, sagte Raistlin.

»Und?«

Raistlin warf seine Kapuze zurück und trat nach vorne. Sein Blick hielt den seines Bruders gefangen und ließ die Ähnlichkeit zwischen ihnen stark hervortreten.

»Die Zwerge von Thorbadin treffen Kriegsvorbereitungen!« zischte Raistlin. Seine Hand ballte sich zur Faust. Er sprach mit solcher Leidenschaft, daß Caramon ihn erstaunt ansah und Crysania den Kopf hob.

Verwirrt befreite sich Caramon von dem fiebrigen Blick seines Bruders, drehte sich um und gab vor, einige Landkarten auf dem Kartentisch verschieben zu müssen. Er zuckte die Achseln. »Hast du etwas anderes erwartet?« fragte er kühl. »Es war schließlich deine Idee, von einem versteckten Schatz zu sprechen. Wir haben aus unserem Ziel kein Geheimnis gemacht. In der Tat ist das unser Werbespruch geworden! ›Schließt euch Fistandantilus an und stürmt das Gebirge!‹«

Caramon hatte diese Worte gedankenlos ausgesprochen, aber ihre Wirkung war verblüffend. Raistlin wurde aschgrau im Gesicht. Er schien etwas sagen zu wollen, aber aus seinem Mund kamen keine verständlichen Töne. Seine eingefallenen Augen funkelten. Mit immer noch geballter Faust trat er auf seinen Bruder zu.

Crysania sprang auf die Füße. Caramon wich zurück; seine Hand schloß sich um den Knauf seines Schwertes. Aber langsam gewann Raistlin die Beherrschung wieder. Mit einem bösartigen Knurren drehte er sich um und verließ das Zelt.

Caramon blieb stehen, unfähig, die Reaktion seines Bruders zu begreifen. Auch Crysania starrte verblüfft Raistlin nach. Dann wurden beide von rufenden Stimmen außerhalb des Zeltes aus ihren Gedanken gerissen.

Kopfschüttelnd ging Caramon zum Zelteingang. Als er dort war, drehte er sich halb um, sah aber Crysania nicht an, während er sprach. »Wenn wir uns wirklich auf den Krieg vorbereiten müssen«, sagte er kalt, »werde ich keine Zeit haben, mir um dich Sorgen zu machen. Wie ich zuvor schon dargelegt habe, wirst du in einem Zelt allein nicht sicher sein. Du wirst also weiter hier schlafen. Ich lasse dich in Ruhe, dessen kannst du sicher sein. Du hast mein Ehrenwort.« Damit trat er aus dem Zelt und begann, sich mit seinen Wachen zu beratschlagen.

Vor Scham errötend, jedoch zu zornig, um sprechen zu können, blieb Crysania einen Augenblick stehen, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann verließ auch sie das Zelt. Ein Blick auf die Gesichter der Wachen zeigte ihr, daß sie einen Teil ihrer Unterhaltung gehört haben mußten.

Sie beachtete die neugierigen, amüsierten Blicke nicht. Doch bemerkte sie, wie flatternde schwarze Roben im Wald am Rand des Lagers verschwanden. Sie kehrte zum Zelt zurück, ergriff ihren Umhang, warf ihn sich eilig um die Schultern und ging in die gleiche Richtung.

Caramon sah Crysania den Wald betreten. Obwohl er Raistlin nicht gesehen hatte, ahnte er, warum Crysania diese Richtung einschlug. Er wollte ihren Namen rufen. Er wußte zwar nicht, ob wirkliche Gefahren in dem Wald lauerten, der sich am Fuß des Garnet hinzog, aber in diesen unruhigen Zeiten war es das beste, kein Risiko einzugehen.

Als ihr Name jedoch auf seinen Lippen lag, sah er zwei seiner Männer wissende Blicke austauschen. Er hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie er einer Klerikerin wie ein liebeskranker Junge nachrief, und sein Mund schloß sich wieder. Außerdem kam Garik auf ihn zu, gefolgt von einem erschöpft aussehenden Zwerg und einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen jungen Mann, der mit den Fellen und Federn eines Barbaren geschmückt war. Die Boten erkannte er. Er mußte mit ihnen sprechen. Aber... Sein Blick glitt mehr als einmal zum Wald. Crysania war verschwunden. Caramon wurde von der Ahnung einer Gefahr ergriffen. Sie war so stark, daß er jetzt Crysania am liebsten nachgestürzt wäre. Alle seine Kriegerinstinkte warnten ihn. Er konnte seiner Furcht keinen Namen geben, aber sie war da.

Dennoch konnte er nicht einfach davonstürmen, um einem Mädchen nachzujagen, und die Boten stehen lassen. Seine Männer würden ihn niemals mehr achten. Er wandte sich um, um die Boten zu begrüßen und in sein Zelt zu führen.

Dort angekommen, ließ er sie Platz nehmen, ließ Essen kommen und Getränke eingießen, dann entschuldigte er sich und stahl sich fort...

Fußstapfen im Sand, die mich weiterführen...

Als ich aufblicke, sehe ich das Schafott, den Kopf mit der Kapuze auf dem Richtblock, den Scharfrichter mit Kapuze; die scharfe Klinge seines Beils glänzt in der brennenden Wüste.

Das Beil fällt, der abgetrennte Kopf des Opfers rollt über die Plattform, die Kapuze fällt zurück...

»Mein Kopf!« flüsterte Raistlin gequält.

Der Scharfrichter lacht, entfernt seine Kapuze, enthüllt...

»Mein Gesicht!« murmelte Raistlin. Seine Angst dehnte sich über seinen Körper aus wie ein bösartiges Geschwür; ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Er hielt seinen Kopf umklammert und versuchte, die bösen Bilder zu verbannen, die ihn in seinen Träumen Nacht für Nacht heimsuchten und ihm auch noch am Tag blieben.

Aber sie wollten nicht verschwinden. »Herr der Vergangenheit und Gegenwart!« Raistlin lachte – es war ein bitteres, höhnisches Lachen. »Ich bin Herr über nichts! All diese Macht, und ich sitze in der Falle! In der Falle! Ich folge seinen Fußstapfen, ich weiß, daß jede Sekunde, die verstreicht, zuvor verstrichen ist! Ich sehe Leute, die ich niemals gesehen habe, dennoch kenne ich sie! Ich höre das Echo meiner eigenen Worte, bevor ich sie ausspreche! Dieses Gesicht!« Seine Hände preßten sich gegen seine Wangen. »Dieses Gesicht! Sein Gesicht! Nicht meins! Wer bin ich? Ich bin mein eigener Scharfrichter!«

Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an. In seiner Raserei begann er mit den Fingernägeln an der Haut seines Gesichts zu kratzen, als ob es eine Maske wäre, die er von seinen Knochen abreißen könnte.

»Hör auf! Raistlin, was tust du da? Hör auf, bitte!«

Feste, aber sanfte Hände ergriffen seine Handgelenke, und er kämpfte gegen sie, wand sich. Aber dann ging der Wahnsinn vorüber. Die dunklen Wasser, von denen er überflutet worden war, wichen zurück. Er konnte wieder sehen und fühlen und hören. Sein Gesicht brannte. Er sah Blut an seinen Nägeln.

»Raistlin!« Crysanias Stimme! Er sah sie vor sich stehen, die Augen aufgerissen und voll Sorge.

»Es geht mir wieder gut«, sagte Raistlin kalt. »Laß mich in Ruhe!« Er zog aus einer Tasche ein sauberes Tuch und begann die Wunden an seinem Gesicht abzutupfen.

»Nein, das stimmt nicht«, murmelte Crysania, nahm das Tuch aus seiner bebenden Hand und berührte sanft die blutenden Wunden. »Bitte, laß mich es tun«, sagte sie, als er etwas Unverständliches knurrte. »Ich weiß, du erlaubst mir nicht, dich zu heilen, aber hier in der Nähe ist ein Bach mit klarem Wasser. Komm, trink ein wenig Wasser, ruh dich aus und laß mich die Wunden waschen.«

Bittere Worte lagen auf Raistlins Lippen. Er hob eine Hand, um Crysania von sich zu stoßen. Aber dann erkannte er, daß er nicht wollte, daß sie ging. Die Dunkelheit des Traumes wich, wenn sie bei ihm war. Die Berührung eines warmen menschlichen Leibes war nach den kalten Fingern des Todes tröstend, und darum nickte er mit einem erschöpften Seufzer.

Mit vor Schmerz und Sorge blassem Gesicht legte Crysania den Arm um ihn und stützte ihn, während sie durch den Wald gingen.

Als sie das Ufer des Flusses erreichten, setzte sich der Erzmagier auf einen großen, flachen Stein, der von der Herbstsonne gewärmt wurde. Crysania tauchte das Tuch in das Wasser, kniete sich zu ihm und säuberte die Wunden in seinem Gesicht.

Raistlin sprach nicht.

»Erzähl mir, was los ist«, sagte Crysania, hielt in ihrer Tätigkeit inne und legte ihre Hand auf die seine. »Du grübelst nur noch, seit wir den Turm verlassen haben. Hat es etwas mit dem verschwundenen Portal zu tun? Etwas mit Astinus, mit dem du in Palanthas geredet hast?«

Raistlin antwortete nicht. Er sah sie nicht einmal an. Die Sonne schien warm auf seine schwarzen Roben, aber Crysanias Berührung war wärmer als die Sonne. Irgendwo wägte ein Teil seines Geistes kalt ab und rechnete: Soll ich es ihr sagen? Was werde ich gewinnen? Gewinne ich mehr, als wenn ich schweige? Ja, zieh sie an dich, gewöhne sie an die Dunkelheit... »Ich weiß«, antwortete er endlich, »daß das Portal an einem Ort in Thorbadin ist, in der magischen Festung Zaman. Das habe ich von Astinus erfahren... Aus Legenden wissen wir, daß Fistandantilus sich auf die sogenannten Zwergentorkriege einließ, um das Gebirgskönigreich Thorbadin für sich beanspruchen zu können. Astinus schreibt dasselbe in seinen ›Chroniken‹. Aber wenn man zwischen den Zeilen liest, genau liest, so wie ich es hätte tun sollen, aber in meiner Arroganz unterlassen habe, wird man die Wahrheit lesen!«

Seine Hände ballten sich zusammen. Crysania saß vor ihm und hielt das feuchte, blutbefleckte Tuch in der Hand; sie stand ganz in seinem Bann.

»Fistandantilus kam hierher, um das Gleiche zu tun, das auch ich hier tue!« Raistlin rief die Worte mit einer seltsamen Leidenschaft. »Thorbadin interessierte ihn überhaupt nicht! Es war alles eine Vortäuschung, ein Trick! Er wollte nur eins – das Portal! Die Zwerge standen ihm im Weg, so wie sie jetzt mir im Weg stehen. Sie kontrollierten damals die Festung, sie kontrollierten das Land um die Festung. Der einzige Weg zum Portal bestand darin, einen Krieg anzuzetteln, um ihm so nah wie möglich zu kommen und es durchschreiten zu können. Und somit wiederholt sich die Geschichte. Denn ich muß tun, was er getan hat... Und ich tue es!« Er starrte schweigend ins Wasser.

»So viel ich aus den ›Chroniken‹ von Astinus weiß«, sagte Crysania, »mußte der Krieg zwangsläufig eintreten. Es gab seit langer Zeit böses Blut zwischen den Hügelzwergen und ihren Verwandten. Du kannst dir nicht die Schuld geben...«

Raistlin fauchte ungeduldig: »Die Zwerge interessieren mich überhaupt nicht! Sie können von mir aus im Sirrion-Meer versinken.« Er sah sie an, kalt, ruhig. »Du sagst, du hast Astinus’ Arbeiten über dieses Thema gelesen. Wenn dem so ist, denk nach! Was hat das Ende der Zwergentorkriege ausgelöst?«

Crysania erblaßte. »Die Explosion«, sagte sie leise. »Die Explosion, die die Ebenen von Dergod zerstörte. Tausende starben und auch...«

»Auch Fistandantilus!« ergänzte Raistlin mit grimmiger Betonung.

Lange Zeit konnte Crysania ihn nur stumm anblicken. Dann begriff sie die volle Bedeutung seiner Aussage. »O nein!« rief sie, ließ das blutverschmierte Tuch fallen und umklammerte Raistlins Hände. »Du bist doch nicht die gleiche Person! Die Umstände sind anders. Sie müssen es sein! Dir ist ein Irrtum unterlaufen!«

Raistlin schüttelte den Kopf und lächelte zynisch. Sanft löste er seine Hand aus der ihren, erfaßte ihr Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. »Nein, die Umstände sind nicht anders. Mir ist kein Irrtum unterlaufen. Ich bin in der Zeit gefangen und eile meinem eigenen Untergang entgegen.«

»Woher weißt du das? Wie kannst du dessen sicher sein?«

»Ich weiß es, weil noch eine andere Person an jenem Tag mit Fistandantilus umgekommen ist.«

»Wer?« fragte Crysania. Aber noch bevor er ihr antwortete, spürte sie, wie sich ein dunkler Mantel der Angst um ihre Schultern legte.

»Ein alter Freund von dir.« Raistlins Lächeln verzerrte sich. »Denubis!«

»Denubis?« wiederholte sie tonlos.

»Ja«, erwiderte Raistlin. »So viel habe ich von Astinus erfahren. Wie du dich erinnern wirst, war dein Klerikerfreund von Fistandantilus angezogen, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Er hatte seine Zweifel an der Kirche, ungefähr die gleichen wie du. Ich nehme an, daß Fistandantilus ihn während jener letzten entsetzlichen Tage in Istar überredet hat, mit ihm zu gehen...«

»Du hast mich nicht überredet«, unterbrach ihn Crysania. »Ich habe mich entschieden zu gehen! Es war mein Entschluß.«

»Natürlich«, sagte Raistlin und ließ sie los. Ihm war nicht bewußt gewesen, daß er ihre weiche Haut liebkost hatte. Jetzt fühlte er unwillkürlich sein Blut wallen. Er ertappte sich, wie sein Blick zu ihren gewölbten Lippen, ihrem weißen Hals ging. Vorsicht, dachte er, es wird meine Pläne durcheinanderbringen... Er wollte sich erheben, aber Crysania bekam seine Hand mit ihren beiden Händen zu fassen und legte ihre Wange in seine Handfläche.

»Nein«, sagte sie leise. Ihre grauen Augen sahen zu ihm auf und hielten ihn mit ihrem entschlossenen Blick fest. »Wir werden die Zeit verändern, du und ich! Du bist mächtiger als Fistandantilus, und ich bin stärker im Glauben als Denubis! Ich hörte die Forderungen des Königspriesters an die Götter. Ich kenne seinen Fehler! Paladin wird meine Gebete beantworten, so wie er es in der Vergangenheit getan hat. Gemeinsam werden wir, du und ich...«

Plötzlich lag sie in seinen Armen. Sein Mund suchte ihre Lippen, seine Lippen berührten ihre Augen, ihren Hals. Seine Finger fuhren durch ihr Haar. Sein Duft strömte in seine Nase, und der süße Schmerz des Verlangens floß durch seinen Körper.

Sie gab seinem Feuer nach, so wie sie seiner Magie nachgegeben hatte, und küßte ihn. Raistlin sank auf den weichen Laubteppich. Als er dalag, zog er Crysania zu sich herunter. Ihre Haut war kühl, ihre Lippen wie süßes Wasser für einen Mann, der am Verdursten war. Er schloß die Augen, und dann erschien ein Gesicht in seinem Geist: eine Göttin – dunkelhaarig, dunkeläugig, frohlockend, lachend...

»Nein!« schrie Raistlin. »Nein!« kreischte er halberstickt, während er Crysania von sich schleuderte. Zitternd taumelte er auf die Füße. Er zog seine schwarze Kapuze über den Kopf und versuchte, seine Fassung, seine Beherrschung wiederzuerlangen.

»Raistlin!« rief Crysania und klammerte sich an ihn.

Ihre Berührung verschlimmerte den Schmerz. Er ergriff den zarten weißen Stoff ihrer Roben. Mit einem Ruck riß er ihn von ihren Schultern, während er mit der anderen Hand ihren halbnackten Körper in das Laub stieß. »Ist es das, was du willst?« fragte er. »Wenn ja, dann warte hier auf meinen Bruder. Er wird bald kommen!« Er hielt inne, rang um Atem.

Crysania starrte ihn wortlos an.

»Ist es das, warum wir hierhergekommen sind?« fuhr Raistlin gnadenlos fort. »Ich dachte, dein Ziel wäre höher, Verehrte Tochter! Du prahlst mit Paladin, du prahlst mit deinen Kräften. Glaubst du, das könnte die Antwort auf deine Gebete sein? Daß ich deinem Reiz erliege?«

Dieses Geschoß traf! Er sah sie zusammenzucken. Sie schloß die Augen und schluchzte vor Qual. Ihr schwarzes Haar fiel über ihre bloßen Schultern, die Haut ihres Rückens war weiß und weich und glatt...

Raistlin drehte sich um und verschwand. Er ging schnell und spürte seine Ruhe wiederkehren. Der Schmerz der Leidenschaft ließ nach, er konnte wieder klar denken.

Seine Augen erhaschten eine Bewegung, das Aufblitzen einer Rüstung. Sein Lächeln verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. Wie er vorausgesagt hatte, lief Caramon durch den Wald und suchte Crysania. Nun, sie würde ihn willkommen heißen.

Raistlin erreichte sein Zelt und trat hinein. Das höhnische Grinsen kräuselte immer noch seine Lippen, aber als er sich an seine Schwäche erinnerte, an ihre sanften, warmen Lippen, verschwand das Grinsen. Zitternd brach er auf einem Stuhl zusammen und vergrub den Kopf in beide Hände.

Sein Lächeln kehrte eine halbe Stunde später zurück, als Caramon in sein Zelt stürzte. Das Gesicht des großen Mannes war zornrot, seine Augen weit aufgerissen, seine Hand lag auf dem Knauf seines Schwertes. »Ich sollte dich töten, du verdammter Bastard!« sagte er mit erstickter Stimme.

»Warum, mein Bruder?« fragte Raistlin und las in seinem Zauberbuch weiter. »Habe ich noch einen Lieblingskender von dir umgebracht?«

»Du weißt verdammt genau, warum!« knurrte Caramon mit einem Fluch, griff nach dem Zauberbuch und schlug es zu. Seine Finger brannten bei der Berührung des nachtblauen Einbandes, aber er nahm den Schmerz nicht wahr. »Ich fand Crysania im Wald, ihre Kleider zerrissen, und sie weinte! Diese Kratzer an deinem Gesicht...«

»Habe ich mir selbst zugefügt. Hat sie dir erzählt, was vorgefallen ist?« unterbrach ihn Raistlin.

»Ja, aber...«

»Hat sie dir erzählt, daß sie sich mir angeboten hat?«

»Das glaube ich nicht...«

»Und daß ich sie abgelehnt habe?« fuhr Raistlin kühl fort.

»Du arroganter Sohn einer...«

»In diesem Augenblick sitzt sie bestimmt weinend in ihrem Zelt und dankt den Göttern für meine Liebe zu ihr, die so stark ist, daß ich ihre Jungfräulichkeit wertschätze.« Raistlin gab ein höhnisches Lachen von sich.

»Ich glaube dir nicht!« sagte Caramon leise. Er packte die Roben seines Bruders und riß ihn aus seinem Stuhl.

»Entferne deine Hände, Bruder!« sagte Raistlin mit einem sanften Flüstern.

»Ich sehe dich in der Hölle!«

»Ich sagte, entferne deine Hände!« Ein blaues Licht blitzte auf, und es krachte und zischte. Caramon schrie vor Schmerz auf und löste seinen Griff, als ein lähmender Schock durch seinen Körper jagte.

»Ich habe dich gewarnt.« Raistlin richtete seine Roben und nahm wieder seinen Platz ein.

»Bei den Göttern, dieses Mal werde ich dich töten!« sagte Caramon mit zusammengepreßten Zähnen und zog sein Schwert.

»Dann tu es doch«, schrie Raistlin und sah von seinem Zauberbuch auf, das er wieder geöffnet hatte. »Bring es hinter dich! Diese ständigen Drohungen langweilen mich.« In seine Augen trat ein merkwürdiger Glanz. »Versuch es!« flüsterte er und starrte seinen Bruder an. »Versuch mich zu töten! Du wirst niemals nach Hause zurückkehren...«

»Das spielt keine Rolle!« Überwältigt von Eifersucht und Haß, trat Caramon auf seinen Bruder zu, der dasaß und mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck wartete.

»Versuch es!« befahl Raistlin wieder.

Caramon hob sein Schwert.

»General Caramon!« Stimmen schrien von draußen, schnelle Schritte waren zu hören.

Mit einem Fluch senkte Caramon das Schwert und starrte, von Zornestränen halbblind, seinen Bruder an.

»General! Wo bist du?«

»Hier!« schrie Caramon schließlich. Er wandte sich von seinem Bruder ab, warf das Schwert in die Scheide zurück und riß den Zeltvorhang auf. »Was ist los?«

»General, ich... Deine Hände! Sie sind verbrannt...«

»Mach dir keine Gedanken! Was ist los?«

»Die Hexe, General! Sie ist verschwunden!«

»Verschwunden?« wiederholte Caramon beunruhigt. Er warf seinem Bruder einen bösartigen Blick zu und eilte hinaus.

Raistlin hörte seine dröhnende Stimme Erklärungen verlangen, die die Männer ihm gaben. Raistlin schloß seufzend die Augen. Caramon war es nicht erlaubt worden, ihn zu töten.

Vor ihm, sich in einer gradlinigen Spur erstreckend, führten ihn die Fußstapfen unerbittlich weiter.

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