16

Die Stufen zum Schafott hinaufklettern, den Kopf gebeugt. Die Hände sind hinter meinem Rücken gefesselt. Während ich die Stufen hinaufsteige, will ich mich befreien, obgleich ich weiß, daß es zwecklos ist – ich habe Tage, Wochen verbracht, mich zu befreien, vergeblich.

Die Schwarzen Roben bringen mich zu Fall. Ich stolpere. Jemand fängt mich auf, bewahrt mich vor dem Sturz, zieht mich aber nichtsdestoweniger vorwärts. Ich bin oben angekommen. Der Block, dunkel befleckt mit Blut, steht vor mir. Hektisch versuche ich jetzt, meine Hände freizubekommen! Wenn ich sie nur losmachen könnte! Flucht! Flucht!

»Es gibt keine Flucht!« lacht mein Scharfrichter, und ich weiß, ich bin es, der spricht! Mein Lachen! Meine Stimme! »Knie dich hin, du erbärmlicher Zauberer! Leg deinen Kopf auf das kalte, blutige Kissen!«

Nein! Ich kreische vor Entsetzen und Zorn und kämpfe verzweifelt, aber Hände ergreifen mich von hinten. Boshaft zwingen sie mich auf die Knie. Mein widerstrebendes Fleisch berührt den eisigen Block! Immer noch ziehe und zerre und schreie ich, und immer noch zwingen sie mich nach unten.

Eine schwarze Kapuze wird über meinen Kopf gezogen, aber ich kann den Scharfrichter hören, der immer näher kommt, ich kann seine schwarzen Roben rascheln hören, ich kann die Klinge sehen, die gehoben wird...

»Raist! Raistlin! Wach auf!«

Raistlin schlug die Augen auf. Er war verstört vor Entsetzen und hatte einen Augenblick keine Vorstellung, wo er war oder wer ihn geweckt hatte.

»Raistlin, was ist los?« wiederholte die Stimme.

Starke Hände hielten ihn fest, eine vertraute Simme löschte den zischenden Schrei der niedersausenden Klinge des Scharfrichters aus...

»Caramon!« schrie Raistlin und klammerte sich an seinen Bruder. »Hilf mir! Halt sie auf! Laß sie mich nicht umbringen! Halt sie auf! Halt sie auf!«

»Pst! Ich werde nicht zulassen, daß sie dir was tun, Raist«, murmelte Caramon. Er hielt seinen Bruder an sich gedrückt und strich ihm über das weiche braune Haar. »Pst! Mit dir ist alles in Ordnung. Ich bin hier... ich bin hier.«

Raistlin legte den Kopf an Caramons Brust, lauschte dem Herzschlag seines Bruders und gab einen tiefen Seufzer von sich. Dann schloß er die Augen und schluchzte wie ein Kind.

»Komisch, nicht wahr?« brummte Raistlin einige Zeit später, als sein Bruder das Feuer anzündete und einen Eisentopf mit Wasser aufsetzte. »Der mächtigste Magier, der je gelebt hat, wird in einem Traum zu einem kreischenden Kind!«

»Das ist doch menschlich«, knurrte Caramon, beugte sich über den Topf und beobachtete ihn aufmerksam.

»Ja, menschlich«, wiederholte Raistlin und zog seinen Reiseumhang um sich.

Caramon warf ihm einen unsicheren Blick zu. Er erinnerte sich, was Par-Salian und die anderen Magier ihm bei der Versammlung im Turm der Erzmagier gesagt hatten. »Dein Bruder beabsichtigt, die Götter herauszufordern! Er strebt danach, selbst ein Gott zu werden!«

Raistlins Kopf schnellte plötzlich hoch. »Was war das?« fragte er.

Auch Caramon hatte das Geräusch gehört und sich erhoben. »Weiß nicht«, antwortete er leise und lauschte. Dann ergriff er sein Schwert und zog es aus der Scheide.

Im gleichen Augenblick schloß sich Raistlins Hand über dem Stab des Magus, der neben ihm lag. Raistlin erhob sich und goß den Kessel über dem Feuer aus, um es zu löschen. Dunkelheit senkte sich über sie, als die Glut erstarb.

Sie ließen ihren Augen Zeit, sich daran zu gewöhnen, standen still da und konzentrierten sich einzig und allein auf ihr Gehör.

Der Fluß, in dessen Nähe sie lagerten, plätscherte gegen die Steine, Zweige knarrten, und Blätter raschelten, als eine jähe Brise aufkam.

»Da ist es«, flüsterte Raistlin, als sein Bruder zu ihm trat. »Im Wald am anderen Ufer.«

Es war ein Geräusch, als ob jemand versuchte, lautlos durch ungewohntes Gelände zu kriechen. Es dauerte kurz an, dann hörte es auf und begann wieder.

»Goblins«, zischte Caramon. Er umklammerte sein Schwert und tauschte mit seinem Bruder einen Blick. Die Jahre der Dunkelheit, der Entfremdung zwischen beiden, die Eifersucht, der Haß – alles verschwand im Nu. Auf die gemeinsame Gefahr reagierend, waren sie eins, so wie sie es im Mutterleib gewesen waren.

Mit vorsichtigen Bewegungen trat Caramon in den Fluß. Der rote Mond Lunitari gab heute nur wenig Licht. Raistlin folgte seinem Bruder. Er hielt seinen Stab in der einen Hand, während die andere leicht auf der Schulter Caramons ruhte.

Sie überquerten den Fluß so lautlos wie der Wind, der über das Wasser wehte, und erreichten das andere Ufer. Sie konnten das Geräusch immer noch hören. Es wurde von etwas Lebendigem erzeugt, daran bestand kein Zweifel.

»Ein Stoßtrupp!« flüsterte Caramon. Er drehte sich um, damit sein Bruder ihn verstehen konnte.

Raistlin nickte. Stoßtrupps der Goblins ließen herkömmlicherweise Kundschafter zurück, die den Pfad bewachten, wenn sie ein Dorf plündern wollten. Da es eine langweilige Aufgabe war und zudem bedeutete, daß die ausgewählten Goblins keinen Anteil an der Beute hatten, fiel das Los im allgemeinen auf die Rangniedrigsten – die ungeschicktesten und am ehesten entbehrlichen Mitglieder des Trupps.

Raistlins Hand schloß sich plötzlich um Caramons Arm und hielt ihn fest. »Crysania!« flüsterte der Magier. »Das Dorf! Wir müssen wissen, wo der Stoßtrupp ist!«

Caramon blickte finster. »Ich fange ihn lebendig!« Er unterstrich seine Absicht mit einer Bewegung seiner riesigen Hand, die sich um einen imaginären Goblinhals legte.

Raistlin lächelte grimmig. »Und ich werde ihn ausfragen«, zischte er.

Gemeinsam krochen die Zwillinge den Pfad hinauf. Sie achteten darauf, im Schatten zu bleiben, so daß selbst der schwächste Strahl des Mondlichtes nicht auf Schnallen oder das Schwert fiel. Sie konnten immer noch das Geräusch hören, das bald verstummte, bald wieder begann. Es kam immer von der gleichen Stelle. Wer der Verursacher auch war, er schien keine Ahnung von ihrer Gegenwart zu haben. Sie kamen dem Geräusch näher, bis sie ihm gegenüberstanden.

»Warte hier!« flüsterte Caramon seinem Bruder zu und betrat den Wald. Er bewegte sich ungefähr einen Meter von einer kaum erkennbaren Tierfährte entfernt.

Raistlin stand unter einem Baum, seine Finger griffen in eine seiner vielen Geheimtaschen und rollten dann eine Prise Schwefel mit Fledermausguano zu einer winzigen Kugel. Der Zauberspruch lag in seinem Gedächtnis abrufbereit.

Obwohl Caramon versuchte, lautlos voranzukommen, hörte Raistlin das Quietschen seiner Lederrüstung, das Klimpern seiner Metallschnallen, das Knacken eines Zweiges unter seinen Füßen. Glücklicherweise setzte ihr Opfer seine Geräusche fort, so daß der Krieger wahrscheinlich ungehört blieb...

Ein entsetzlicher Schrei klang durch die Nacht, gefolgt von einem schrecklichen Gebrüll und Geräuschen, als tobten hundert Männer durch die Wildnis.

Raistlin schrak zusammen.

Dann schrie jemand: »Raist! Hilfe!«

Raistlin raffte seine Roben zusammen und lief schnell zu dem Tierpfad. Sein Bruder schrie immer noch. Raistlin lief durch den Wald; er achtete nicht auf die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, und auf die Dornensträucher, an denen seine Roben hängen blieben. Plötzlich kam er auf eine Lichtung; er hielt an und duckte sich neben einem Baum. Vor sich konnte er einen gigantischen, scheinbar in der Luft schwebenden Schatten sehen. Mit dieser schattenhaften Gestalt rang – dem Schreien und Fluchen nach zu urteilen – Caramon!

»Ast kiranann Sotharan/Suh kali Jalaran.« Raistlin sang die Worte und warf die kleine Schwefelkugel hoch in die Baumkrone. Das unmittelbar ausbrechende Licht in den Zweigen wurde von einer dröhnenden Explosion begleitet. Die Baumkrone fing Feuer und beleuchtete den Schauplatz.

Raistlin sprang vorwärts; magische Flammenpfeile knisterten aus seinen Fingerspitzen. Dann blieb er stehen und starrte mit großen Augen.

Vor ihm baumelte, mit dem Kopf nach unten und mit einem Bein an ein Seil gebunden, das an einem Ast hing, Caramon. Neben ihm hing ein in Angst vor den Flammen scharrender Hase.

Raistlin blickte versteinert auf seinen Bruder. Hilfeschreiend drehte sich Caramon langsam im Wind, während die brennenden Blätter auf ihn fielen. »Raist!« kreischte er. »Hol mich... Eine Wolfsfalle...«

Er grinste.

Der Wald brannte lichterloh. Die Flammen funkelten auf dem Schwert des großen Mannes, das dort lag, wo er es hatte fallen lassen; sie funkelten auf Caramons glänzender Rüstung und in den Augen des Hasen.

Raistlin kicherte.

Nun war Caramon an der Reihe, seinen Bruder in verletzter Verblüffung anzustarren. In mitleiderregendem Ton rief er ihm zu: »Nun mach schon, Raist! Hol mich runter!«

Raistlin lachte hemmungslos.

»Verdammt, Raist! Das ist nicht lustig!« tobte Caramon und fuchtelte mit den Armen. Diese Bewegung jedoch führte dazu, daß der gefangene Krieger von einer Seite zur anderen schaukelte, mit ihm der Hase.

Das war zuviel für Raistlin. Bilder aus seiner Jugend fielen dem Erzmagier ein und vertrieben die Dunkelheit und das Entsetzen, die sich seit scheinbar endlosen Jahren an seine Seele geheftet hatten. Wieder war er jung, voller Hoffnungen, voller Träume. Wieder war er mit seinem Bruder zusammen, der ihm näher stand als jede andere Person, sein begriffsstutziger, geliebter Bruder... Raistlin krümmte sich vor Lachen. Nach Luft japsend brach er auf dem Gras zusammen und lachte wild; Tränen liefen ihm über die Wangen.

Caramon funkelte ihn haßerfüllt an – aber dieser bösartige Blick eines Mannes, der mit dem Kopf nach unten an seinem Fuß hing, steigerte nur noch Raistlins Heiterkeit. Er lachte so heftig, bis er glaubte, innere Verletzungen davongetragen zu haben. Das Lachen tat gut. Es verbannte die Dunkelheit. Auf dem feuchten Boden der Lichtung liegend, die vom Schein der brennenden Bäume erhellt wurde, lachte Raistlin noch heftiger, spürte die Fröhlichkeit wie guten Wein durch seinen Körper perlen. Dann fiel Caramon ein, und sein dröhnendes Grölen echote durch den Wald.

Nur herabstürzende glühende Äste, die neben ihm zu Boden fielen, riefen Raistlin wieder in die Wirklichkeit zurück. Er war vom Lachen so geschwächt, daß er kaum aufstehen konnte, rappelte sich aber hoch und holte den kleinen silbernen Dolch hervor, den er am Handgelenk trug. Er streckte sich und schnitt den Strick durch, der um den Fuß seines Bruders gebunden war.

Caramon fiel mit einem Fluch zu Boden.

Immer noch kichernd, ging der Magier zu dem Hasen, schnitt den Strick durch, den ein Jäger um das Hinterbein des Tieres gebunden hatte, und fing es in seinen Armen auf. Das Tier war vor Entsetzen halbverrückt, aber Raistlin streichelte seinen Kopf und murmelte einige Worte.

»Wirklich, wir haben ihn lebendig erwischt«, sagte Raistlin und hielt den Hasen hoch. »Ich glaube jedoch nicht, daß wir viel Informationen aus ihm herausholen können.«

Caramon war dermaßen rot im Gesicht, daß man meinen konnte, er sei in einen Farbeimer gefallen. Er setzte sich aufrecht hin und rieb seine schmerzende Schulter. »Sehr witzig«, brummte er und sah grinsend zu dem Hasen auf. Die Flammen in den Baumkronen erstarben, aber die Luft war noch von Qualm erfüllt, und hier und da brannte das Gras. Bei dem feuchten Herbstwetter erloschen die kleinen Feuer glücklicherweise schnell.

»Netter Zauber«, bemerkte Caramon, während er sich fluchend und stöhnend aufrichtete.

»Er hat mir schon immer gefallen«, entgegnete Raistlin sarkastisch. »Fizban hat ihn mir beigebracht. Erinnerst du dich? Ich glaube, der alte Mann hätte hier seinen Spaß gehabt.« Den Hasen in den Armen haltend, geistesabwesend seine weichen Ohren streichelnd, entfernte er sich von den qualmenden Bäumen.

Caramon hob sein Schwert auf und folgte Raistlin leicht hinkend. »Der verdammte Strick hat mir das Blut abgeschnürt.« Er schüttelte den Fuß, damit er wieder durchblutet würde.

Tiefhängende Wolken hatten sich gebildet und verbargen die Sterne und Lunitari. Als die Flammen erloschen, war der Wald in eine Dunkelheit getaucht, die so dicht war, daß beide Brüder den Pfad nicht erkennen konnten.

»Ich glaube, zur Heimlichtuerei besteht keine Notwendigkeit mehr«, murmelte Raistlin. »Shirak.« Der Kristall an dem Stab des Magus begann in strahlender Helligkeit zu glühen.

Die Zwillinge kehrten schweigend zu ihrem Lager zurück; es war ein kumpelhaftes, angenehmes Schweigen, das sie seit vielen Jahren nicht mehr geteilt hatten. Die einzigen Geräusche in der Nacht waren die Bewegungen ihrer Pferde, das Klirren von Caramons Rüstung und das sanfte Rascheln der schwarzen Roben des Magiers.

Als sie das Lager erreicht hatten, schürte Caramon trübselig das Feuer, dann blickte er auf den Hasen in Raistlins Armen. »Ich glaube nicht, daß du ihn zum Frühstück verspeisen willst.«

»Ich esse kein Goblinfleisch«, antwortete Raistlin lächelnd und setzte das Tier auf dem Pfad ab. Es sah sich kurz um und war mit einem plötzlichen Satz unter den Bäumen verschwunden.

Caramon seufzte, dann kicherte er und setzte sich neben seine Bettrolle. Er zog seinen Stiefel aus und rieb seinen schmerzenden Knöchel.

»Dulak«, flüsterte Raistlin, und das Licht am Stab erlosch. Er verstaute ihn neben seiner Bettrolle, dann legte er sich hin und zog die Decken über sich.

Mit der Dunkelheit kehrte auch der Traum zurück. Er wartete auf ihn.

Raistlin erschauerte, sein Körper zuckte plötzlich vor Kälte. Schweiß bedeckte seine Augenbrauen. Er wagte nicht, seine Augen zu schließen! Aber er war so müde, so erschöpft. Wie viele Nächte schon hatte er nicht geschlafen? »Caramon«, sagte er leise.

»Ja«, antwortete Caramon aus der Dunkelheit.

»Caramon«, sagte Raistlin, »erinnerst du dich daran, wie wir Kinder waren? Ich hatte doch diese entsetzlichen Träume...« Er brach ab und hustete.

Von seinem Bruder kam kein Laut.

Raistlin räusperte sich, dann flüsterte er: »Und du hast meinen Schlaf bewacht, mein Bruder. Du hast sie ferngehalten...«

»Ich erinnere mich«, ertönte eine gedämpfte, heisere Stimme.

»Caramon«, begann Raistlin, aber er kam nicht weiter. Der Schmerz und die Müdigkeit waren zu stark. Die Dunkelheit schien ihn einzuhüllen, und der Traum kroch aus seinem Versteck hervor.

Und dann klirrte eine Rüstung. Ein riesiger Schatten tauchte neben ihm auf. Leder quietschte, als Caramon sich zu seinem Bruder setzte, seinen breiten Rücken gegen einen Baumstamm lehnte und sein bloßes Schwert über seine Knie legte. »Schlaf jetzt, Raist«, sagte er sanft. Der Magier spürte eine unbeholfene Hand seine Schulter tätscheln. »Ich halte Wache...«

Raistlin schloß die Augen. Schlaf, süß und erholsam, senkte sich über ihn. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war ein flüchtiges Bild des Traumes, der sich ihm näherte und seine knochigen Hände ausstreckte, um ihn zu packen, aber vom Licht des Schwertes seines Bruders vertrieben wurde.

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