Caramons Pferd bewegte sich unruhig, als er sich im Sattel vorbeugte und auf das Dorf hinabsah. Er warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. Raistlins Gesicht war hinter seiner schwarzen Kapuze verborgen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung hatte Regen eingesetzt. Außer den Tropfen, die von den Blättern fielen, gab es keine Geräusche.
Raistlin schüttelte den Kopf. Dann sagte er leise etwas zu seinem Pferd und ritt weiter. Caramon gab seinem Pferd die Sporen, beeilte sich, ihn einzuholen, und zog dabei sein Schwert aus der Scheide.
»Du wirst dein Schwert nicht brauchen, mein Bruder«, sagte Raistlin, ohne sich umzudrehen.
Trotz Raistlins Worten hielt Caramon seine Hand am Schwertknauf, bis sie den Rand des kleinen Dorfes erreicht hatten. Er stieg ab, übergab seinem Bruder die Zügel seines Pferdes und näherte sich vorsichtig der kleinen Wirtsstube, die Crysania aufgesucht hatte. Er spähte hinein und erblickte den gedeckten Tisch, das zerbrochene Geschirr. Ein Hund lief hoffnungsvoll auf ihn zu, leckte seine Hand und winselte. Katzen schlichen unter den Stühlen herum und verschwanden mit schuldbewußter Miene im Schatten. Geistesabwesend streichelte Caramon den Hund und wollte das Wirtshaus betreten, als Raistlin ihm zurief: »Ich habe ein Pferd gehört. Dort drüben.«
Mit gezogenem Schwert ging Caramon um die Ecke des Gebäudes. Kurz darauf kehrte er zurück, seine Waffe hatte er wieder eingesteckt, seine Stirn war gerunzelt. »Es ist ihr Pferd«, berichtete er. »Ungesattelt, gefüttert und getränkt.«
Als hätte Raistlin diese Information erwartet, nickte er.
Caramon sah sich in dem Dorf um. Wasser tropfte von den Dächern, die Tür zum Gasthaus drehte sich in rostigen Angeln und gab einen schrillen Ton von sich. Kein Licht drang aus den Häusern, kein Kinderlachen; keine Frauen waren zu sehen, die sich etwas zuriefen, keine Männer, die sich auf dem Weg zur Arbeit über das Wetter beklagten. »Was ist los, Raist?«
»Pest«, antwortete Raistlin.
Caramon bedeckte sofort Mund und Nase mit seinem Umhang.
Raistlins Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Fürchte dich nicht, mein Bruder«, sagte er und stieg vom Pferd.
Caramon nahm die Zügel und band beide Pferde an einem Pfahl fest, dann trat er zu seinem Bruder.
»Wir haben eine Klerikerin bei uns, hast du das vergessen?« fragte Raistlin.
»Wo ist sie denn?« knurrte Caramon mit gedämpfter Stimme, hielt jedoch weiterhin sein Gesicht bedeckt.
Der Magier wandte seinen Kopf und sah die Häuserreihen entlang. »Vermutlich dort«, antwortete er schließlich.
Caramon folgte seinem Blick und sah im Fenster eines winzigen Hauses am anderen Ende des Dorfes ein Licht brennen.
»Ich würde lieber in ein Ogerlager gehen«, murrte Caramon, als er und sein Bruder durch die verlassenen Straßen stapften. Seine Stimme war vor Angst schroff, einer Angst, die er nicht verbergen konnte. Er konnte einem Tod durch kalten Stahl, das sich in seinen Magen bohrte, mit Gleichmut gegenübertreten. Aber der Gedanke, hilflos zu sterben, aufgezehrt von etwas, das man nicht bekämpfen konnte, das unsichtbar in der Luft schwebte, erfüllte den großen Mann mit Entsetzen.
Raistlin erwiderte nichts. Sein Gesicht blieb verborgen.
Sie kamen dem Licht immer näher, als Caramon zufällig nach links sah. »Im Namen der Götter«, flüsterte er, blieb stehen und ergriff seinen Bruder am Arm. Er wies auf das Massengrab.
Keiner sprach. Mit zornigem Krächzen erhoben sich die Aasvögel in die Luft. Caramon würgte. Mit blassem Gesicht drehte er sich eilig um.
Raistlins Augen blieben noch kurz auf diesen Anblick gerichtet. »Komm, mein Bruder«, sagte er dann und ging auf das kleine Haus zu.
Caramon, die Hand am Schwertknauf, warf einen Blick durch das Fenster, dann seufzte er und gab nickend seinem Bruder ein Zeichen. Raistlin stieß leise die Tür auf.
Ein junger Mann lag auf einem zerwühlten Bett. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände lagen auf der Brust. Auf seinem stillen, aschgrauen Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens. Eine Klerikerin, in Roben gekleidet, die einst weiß gewesen sein konnten, kniete auf dem Boden neben ihm, den Kopf in ihre gefalteten Hände gebettet.
Caramon wollte etwas sagen, aber Raistlin schüttelte den Kopf.
Crysania war bei ihrem Gott. Ins Gebet vertieft, hatte sie das Eintreten der Zwillinge nicht wahrgenommen, bis schließlich das Klirren von Caramons Rüstung sie wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Sie hob den Kopf, ihr dunkles, wirres Haar fiel ihr über die Schultern, und sie musterte beide gleichmütig. Ihr Gesicht, zwar blaß vor Erschöpfung und Kummer, wirkte gefaßt. »Ich habe versagt«, sagte sie.
Raistlin sah kurz zu der Leiche des jungen Mannes hin. »Wollte er nicht glauben?«
»Oh, er hat geglaubt.« Auch sie sah zu dem Leichnam hin. »Aber er hat sich geweigert, sich von mir heilen zu lassen. Sein Zorn war... sehr groß.« Sie erhob sich und zog das Laken über die reglose Gestalt. »Paladin hat ihn zu sich genommen. Jetzt versteht er alles, dessen bin ich mir sicher.«
»Ja«, erwiderte Raistlin. »Und du?«
Crysania senkte den Kopf, ihr dunkles Haar fiel ihr übers Gesicht. Sie stand lange Zeit still da, bis Caramon sich räusperte.
»Raist...«, begann er leise.
»Pst!« flüsterte Raistlin.
Crysania hob den Kopf. Sie hatte Caramon nicht gehört. Ihre Augen waren nun ganz dunkel. »Ich verstehe ebenfalls«, antwortete sie mit fester Stimme. »Zum ersten Mal verstehe ich und weiß, was ich tun muß. In Istar erlebte ich den Glauben an die verlorenen Götter. Paladin hat mein Gebet erhört und mir die tödliche Schwäche des Königspriesters gezeigt – Stolz. Der Gott ließ mich erkennen, wie ich diesen Fehler vermeiden kann... Aber Paladin zeigte mir in Istar auch, wie schwach ich bin. Als ich die Stadt verließ und mit dir hierherkam, war ich nicht mehr als ein verängstigtes Kind, das sich in der entsetzlichen Nacht an dich klammerte. Jetzt habe ich meine Kraft wiedergewonnen.«
Während Crysania sprach, hatte sie sich Raistlin genähert. Seine Augen hielten die ihren fest. Das Medaillon von Paladin glänzte in einem kalten weißen Licht. Ihre Stimme wurde leidenschaftlich. »Dieser Anblick hier wird vor meinen Augen stehen«, sagte sie leise und trat vor den Erzmagier, »wenn ich mit dir durch das Portal gehe, bewaffnet mit meinem Glauben, stark in meiner Überzeugung, daß du und ich gemeinsam die Dunkelheit für immer von der Welt verbannen werden!«
Raistlin ergriff ihre Hände. Sie waren starr vor Kälte. Er umfaßte sie und wärmte sie mit seiner glühenden Berührung.
»Wir brauchen die Zeit nicht zu verändern«, sagte Crysania. »Fistandantilus war ein böser Mensch. Was er tat, tat er zu seinem persönlichen Ruhm. Aber wir nehmen Anteil, du und ich. Das wird ausreichen, um alles zu verändern. Ich weiß es – mein Gott hat zu mir gesprochen!«
Mit einem dünnlippigen Lächeln führte Raistlin Crysanias Hände zu seinem Mund und küßte sie, wobei er die Augen nicht von ihr abwandte.
Caramon drehte sich um und ging aus der Tür.
Während der Regen auf ihn fiel, vernahm Caramon eine Stimme.
»Er trachtet danach, ein Gott zu werden! Er trachtet danach, ein Gott zu werden!«
Caramon mußte daran denken, wie Raistlin in der vergangenen Nacht gewesen war. Wie lange war es her, daß er seinen Bruder so hatte lachen hören? Wie lange war es her, daß sie diese Wärme, diese Nähe geteilt hatten? Lebhaft erinnerte er sich, wie er Raistlins Gesicht beobachtet hatte, als er den Schlaf seines Bruders bewachte. Er sah die Linien der Gerissenheit sich glätten, die bitteren Falten um den Mund verblassen. Der Erzmagier hatte fast wie in jungen Jahren ausgesehen, und Caramon hatte sich an ihre gemeinsame Kindheit erinnert, die glücklichste Zeit seines Lebens.
Aber dann kam ungewollt eine entsetzliche Erinnerung. Er sah sich wieder in der dunklen Zelle in Istar, erkannte zum ersten Mal klar und deutlich die unermeßliche Fähigkeit seines Bruders zum Bösen. Er erinnerte sich an seinen festen Entschluß, daß sein Bruder sterben müsse. Er dachte an Tolpan...
Aber Raistlin hatte ihm doch alles erklärt! Wieder war Caramon am Schwanken.
Was war, wenn sich Par-Salian geirrt hatte, was war, wenn sich alle geirrt hatten? Was war, wenn Raistlin und Crysania die Welt von Entsetzen und Leiden befreien konnten?
»Ich bin einfach nur ein eifersüchtiger Narr«, murmelte Caramon und wischte das Regenwasser aus seinem Gesicht. »Vielleicht sind diese alten Zauberer genauso wie ich, eifersüchtig auf ihn.«
Die Dunkelheit vertiefte sich, der Regen fiel dichter.
Raistlin trat aus der Tür. Crysania war bei ihm, ihre Hand ruhte auf seinem Arm. Sie hatte sich in ihren dicken Umhang eingehüllt und sich die grauweiße Kapuze übers Gesicht gezogen.
Caramon räusperte sich. »Ich trage ihn heraus und lege ihn zu den anderen«, sagte er barsch und wollte durch die Tür gehen. »Dann schaufle ich das Grab zu...«
»Nein, mein Bruder«, sagte Raistlin. »Nein. Dieser Anblick soll nicht verborgen werden.« Er warf seine Kapuze zurück und ließ den Regen auf sein Gesicht fallen, als er den Blick zu den Wolken hob. »Dieser Anblick wird den Göttern nicht erspart werden! Der Rauch der Zerstörung wird sich zum Himmel erheben!«
Caramon, verblüfft über diesen Ausbruch, wandte sich zu seinem Bruder.
Raistlins Gesicht war fast so hager und blaß wie das Gesicht der Leiche in dem kleinen Haus, seine Stimme zornerfüllt. »Kommt mit mir«, sagte er, löste sich aus Crysanias Griff und schritt der Mitte des kleinen Dorfes zu.
Crysania folgte und hielt dabei ihre Kapuze gegen den peitschenden Wind und den Regen fest. Caramon ging langsamer hinterher.
Raistlin blieb mitten auf der vom Regen aufgeweichten Straße stehen und drehte sich zu Crysania und seinem Bruder um. »Hol die Pferde, Caramon – unsere und das Crysanias! Führe sie in den Wald außerhalb des Dorfs und verbinde ihnen die Augen. Dann komm zurück.«
Caramon starrte ihn an.
»Tu es«, befahl Raistlin.
Caramon gehorchte und führte die Pferde davon.
»Jetzt stell dich hierhin«, fuhr Raistlin fort, als sein Bruder zurückgekehrt war. »Beweg dich nicht von der Stelle. Komm mir nicht näher, mein Bruder, egal, was passiert.« Sein Blick glitt zu Crysania, die neben ihm stand, dann wieder zu seinem Bruder. »Du verstehst, Caramon?«
Caramon nickte, streckte seine Hand aus und nahm sanft die Crysanias.
Beunruhigt von dem seltsamen Ausdruck in Raistlins Gesicht, trat Crysania zu Caramon. Der große Mann legte den Arm um sie. Sie standen zusammen im prasselnden Regen, wagten kaum zu atmen und beobachteten den Erzmagier.
Raistlin schloß die Augen. Er hob das Gesicht zum Himmel und streckte seine Arme mit den Handflächen nach außen dem mit schwarzen Wolken überzogenen Himmel entgegen. Seine Lippen bewegten sich. Er wiederholte immer wieder die gleichen Worte, seine sanfte Stimme hob und senkte sich im Gesang.
Stille senkte sich über das Tal. Selbst der strömende Regen erstarb in Caramons Ohren. Er konnte nur noch den leisen Singsang seines Bruders vernehmen. Crysania drückte sich mit aufgerissenen Augen an Caramon, und er streichelte sie beruhigend.
Raistlin hob die Hände höher, seine Stimme wurde lauter. Er hielt inne, dann sprach er jedes Wort des Gesanges langsam und bestimmt aus. Der Wind wurde stärker, der Boden hob sich. Caramon hatte den Eindruck, daß die Welt auf seinen Bruder stürzte, und er befürchtete, daß auch er in diesen dunklen Strudel gesogen werden könnte.
Raistlins Finger stießen in den grauen, tosenden Himmel. Die Energie, die er aus dem Boden und der Luft gezogen hatte, stürzte wellenförmig durch ihn. Silberne Blitze schossen aus seinen Fingern und trafen die Wolken. Helles, gezacktes Licht fiel als Antwort herab, berührte das kleine Haus, worin der Leichnam des jungen Klerikers lag. In einer ohrenbetäubenden Explosion wurde das Gebäude von blauweißen Flammen überzogen.
Wieder sprach Raistlin, und wieder schossen silberne Blitze aus seinen Fingern. Wieder antwortete ein Lichtstreifen und traf den Magier. Dieses Mal war es Raistlin, der von einer rotgrünen Flamme überzogen wurde.
Crysania schrie auf. Sie wand sich in Caramons Griff, versuchte sich zu befreien. Aber sich an die Worte seines Bruders erinnernd, hielt Caramon sie fest und hinderte sie daran, zu Raistlin zu laufen. »Sieh mal!« flüsterte er heiser und verstärkte seinen Griff. »Die Flammen berühren ihn nicht!«
Raistlin, mitten im Feuer stehend, hob seine Arme höher, und die schwarzen Roben flatterten um ihn, als befände er sich im Zentrum eines heftigen Sturms. Wieder sprach er. Lodernde Flammen gingen von ihm aus, erhellten die Dunkelheit, stoben durch das nasse Gras und tänzelten auf dem Wasser. Raistlin stand in der Nabe eines riesigen Flammenrades.
Crysania konnte sich nicht rühren. Ehrfurcht und Entsetzen, wie sie es noch nie erlebt hatte, lähmten sie. Sie hielt sich an Caramon fest, aber er bot ihr keinen Trost. Sie waren wie zwei verängstigte Kinder, als die Flammen um sie brausten. Durch die Straßen züngelnd, erfaßte das Feuer die Gebäude und entzündete sie mit einer Explosion nach der anderen.
In roten, blauen und grünen Farben loderte das magische Feuer nach oben, erhellte den Himmel, nahm den Platz der wolkenumhüllten Sonne ein. Die Aasvögel kreischten vor Angst, als der Baum, auf dem sie sich niedergelassen hatten, eine lodernde Fackel wurde.
Und wieder sprach Raistlin, zum letzten Mal. Mit einer Explosion reinen weißen Lichtes sprang das Feuer vom Himmel und verzehrte die Leichen in dem Massengrab.
Der Feuersturm blies Crysania die Kapuze vom Kopf. Die starke Hitze peitschte ihr Gesicht. Der Rauch würgte sie, sie konnte kaum mehr atmen. Funken regneten auf sie herab, Flammen züngelten vor ihren Füßen, bis es schien, daß auch sie dem Brand zum Opfer fallen würde. Aber sie wurde nicht davon berührt. Sie und Caramon standen sicher inmitten des Feuers. Und dann nahm Crysania wahr, daß Raistlin sie ansah. Aus dem brennenden Inferno, in dem er stand, winkte der Magier ihr zu. Seine schwarzen Roben flossen um seinen Körper und wellten sich im Feuersturm, den er heraufbeschworen hatte. Inmitten der Flammen hielt er seine Hände Crysania entgegen.
»Nein!« schrie Caramon, der Crysania festhielt. Aber Crysania, die ihre Augen nicht von Raistlin löste, entzog sich sanft dem Griff des großen Mannes und trat vor.
»Komm zu mir, Verehrte Tochter!« Raistlins sanfte Stimme drang in ihr Herz. »Komm zu mir durch die Flamme. Lerne die Macht der Götter kennen...«
Das tosende Feuer, das um den Erzmagier loderte, versetzte sie in Trance, lockte sie, während Raistlins Stimme sie zu ihm rief.
»Nein!« schrie Caramon hinter ihr, aber sie hörte ihn nicht. Sie erreichte den Flammenvorhang. Raistlin streckte ihr seine Hand entgegen, aber sie zögerte.
Seine Hand brannte! Sie sah sie schrumpfen, das Fleisch war schwarz und verkohlt.
»Komm zu mir, Crysania...«, flüsterte er.
Sie streckte ihre zitternde Hand aus. Einen Augenblick spürte sie einen tödlichen Schmerz. Sie schrie vor Entsetzen und Pein auf, dann schloß sich Raistlins Hand um ihre und zog sie durch den Flammenvorhang. Unwillkürlich schloß sie die Augen.
Ein kühler Wind beruhigte sie. Sie atmete süße, frische Luft. Die einzige Wärme, die sie spürte, war die vertraute Körperwärme des Magiers. Als sie die Augen öffnete, sah sie, daß sie dicht bei ihm stand. Sie hob den Kopf, blickte in sein Gesicht und empfand einen schnellen, stechenden Schmerz im Herzen.
Raistlins Gesicht glitzerte vor Schweiß, sein Atem kam schnell und flach. Er schien sich seiner Umgebung nicht bewußt. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Glückseligkeit, des Jubels, des Triumphes.
»Jetzt verstehe ich«, sagte sich Crysania, seine Hände festhaltend. »Er kann mich nicht lieben. In seinem Leben gibt es nur eine Liebe, und das ist seine Magie. Für diese Liebe würde er alles geben, alles riskieren!«
Der Gedanke war schmerzlich, aber es war ein angenehmer, melancholischer Schmerz.
»Und wieder«, sagte sie sich, »gibt er mir ein Beispiel. Zu lange habe ich mich mit nichtigen Gedanken beschäftigt. Er hat recht. Jetzt lerne ich die Macht der Götter kennen. Ich muß mich als würdig erweisen – ihnen und ihm gegenüber!«
Raistlin schloß die Augen. Crysania hielt sich an ihm fest und spürte die Magie aus ihm fließen, als ob sein Blut aus einer Wunde flösse. Seine Arme fielen schlaff herab. Die Flammenkugel, die sie umgeben hatte, flackerte auf und erlosch.
Mit einem Seufzer sank Raistlin auf den verbrannten Boden. Der Regen setzte wieder ein. Crysania konnte ihn zischen hören, als er auf das immer noch brennende Tal fiel. Dampfschwaden stiegen in die Luft, huschten durch die zerstörten Gebäude und trieben gespenstisch auf die Straßen, als wären sie die Geister der ehemaligen Bewohner.
Crysania kniete sich neben den Erzmagier und strich sein braunes Haar zurück. Raistlin schlug die Augen auf; er sah sie an, ohne sie zu erkennen. In seinen Augen erblickte sie tiefen Kummer – es war der Kummer eines Menschen, dem erlaubt worden war, ein Reich tödlicher Schönheit zu betreten, und der sich in einer grauen, verregneten Welt wiederfindet.
Crysania und Caramon halfen Raistlin auf die Beine. Er schien sie nicht wahrzunehmen; vor Erschöpfung wankend, fiel er gegen seinen Bruder.
»Er wird in Ordnung kommen. Das ist immer so.« Caramons Stimme erstarb, dann murmelte er: »Das ist immer so! Was sage ich da? In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nie erlebt!« Er starrte ehrfürchtig seinen Bruder an. »Niemals zuvor habe ich eine solche Macht gesehen! Ich habe das nicht für möglich gehalten! Ich wußte nicht...«
Raistlin begann zu husten und würgte, bis er kaum noch stehen konnte. Caramon hielt ihn fest. Nebel und Rauch wirbelten um ihre Füße, der Regen prasselte auf sie herab. Hier und dort stürzte brennendes Holz ein, zischte Wasser über eine Flamme.
Als der Hustenanfall vorüber war, hob Raistlin den Kopf. »Crysania«, sagte er leise, »wenn wir bei unserem Streben erfolgreich sind, werden wir das Portal durchschreiten und mit offenen Augen in die Hölle gehen, an einen Ort von unvorstellbarem Entsetzen.«
Crysania begann unbeherrscht zu zittern, als sie vor ihm stand, von seinen glitzernden Augen im Bann gehalten.
»Du mußt stark sein, Verehrte Tochter«, fuhr Raistlin eindringlich fort. »Und das ist der Grund, warum ich dich hierher mitgenommen habe. Ich bin durch meine eigenen Prüfungen gegangen. Du mußt durch deine gehen. In Istar hast du den Prüfungen des Windes und des Wassers gegenübergestanden. Im Turm hast du die Prüfung der Dunkelheit durchgemacht, und jetzt hast du der Prüfung des Feuers widerstanden. Aber noch eine Prüfung wartet auf dich, Crysania, und du mußt dich darauf vorbereiten wie wir alle.« Er schloß erschöpft die Augen und taumelte.
Caramon fing seinen Bruder auf und trug ihn zu den wartenden Pferden.
Crysania eilte ihm nach. Auf Raistlins Gesicht lag ein Ausdruck wunderbaren Friedens.
»Er schläft«, sagte Caramon mit tiefer Stimme, ein Gefühl verbergend, das sie nicht erahnen konnte.
Crysania wandte sich um.
Rauch stieg aus den Ruinen des Dorfes. Die verbrannten Häuser waren zu Haufen reiner weißer Asche zusammengefallen, die Bäume waren nichts weiter als sich verzweigender Rauch, der in den Himmel trieb. Noch während sie zusah, fiel der Regen auf die Asche und verwandelte sie in Schlamm, der fortgeschwemmt wurde. Der Rauch wurde von den Sturmwinden fortgetragen.
Das Dorf war verschwunden, als ob es niemals existiert hätte.
Crysania zog ihren Umhang um sich. Caramon hob Raistlin in seinen Sattel.
Als der Krieger zu ihr kam, um ihr zu helfen, fragte sie: »Was hat Raistlin gemeint mit ›noch eine Prüfung‹? Ich habe dein Gesicht gesehen, als er das sagte. Du weißt es, nicht wahr? Du verstehst es?«
Caramon antwortete nicht sofort. Neben ihnen schwankte Raistlin benommen im Sattel; schließlich verfiel er in Schlaf.
Caramon ging zu seinem Pferd und bestieg es. Dann nahm er die Zügel aus den schlaffen Händen seines schlafenden Bruders. Sie ritten den Weg zurück, und Caramon warf dem Dorf keinen einzigen Blick zu.
Schweigend führte er die Pferde den Pfad hinauf. Neben ihm rutschte Raistlin über den Hals seines Tieres. Caramon stützte seinen Bruder mit fester, behutsamer Hand.
»Caramon?« fragte Crysania leise, als sie den Gipfel des Berges erreicht hatten.
Der Krieger wandte sich Crysania zu. Dann ging sein Blick seufzend nach Süden, wo weit entfernt Thorbadin lag. Sturmwolken ballten sich dunkel am Horizont zusammen.
»In einer alten Legende heißt es, daß Huma von den Göttern geprüft wurde, bevor er sich der Königin der Finsternis stellte. Er ging durch die Prüfung des Windes, die Prüfung des Feuers, die Prüfung des Wassers. Und seine letzte Prüfung«, erklärte Caramon ruhig, »war die Prüfung des Blutes.«