10

Raistlin ging durch eine brennende Wüste. Vor ihm im Sand zeigten sich Fußstapfen, und er folgte ihnen. Die Spur führte ihn immer weiter die strahlendweißen Sanddünen auf und ab, die in der Sonne glühten. Er schwitzte und war müde und sehr durstig. Sein Kopf schmerzte, seine Brust tat weh, und er hätte sich gern hingelegt und ausgeruht. In der Ferne war ein Wasserloch, von schattigen Bäumen gekühlt. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte es nicht erreichen. Die Fußstapfen verliefen nicht in diese Richtung, und er konnte seine Füße in keine andere bewegen.

Er schleppte sich weiter, seine schwarzen Roben hingen schwer um ihn. Und dann sah er auf und erschrak. Die Fußstapfen führten zu einem Schafott! Eine schwarzgekleidete Gestalt kniete mit dem Kopf auf dem Richtblock. Obwohl er das Gesicht nicht erkennen konnte, wußte er, daß er es war, der dort kniete und gleich sterben würde. Der Scharfrichter stand über ihm, ein blutiges Beil in der Hand. Auch der Scharfrichter trug eine schwarze Kapuze, die sein Gesicht bedeckte. Er hob das Beil. Als es fiel, erhaschte Raistlin einen Blick auf das Gesicht des Scharfrichters...

»Raist!« flüsterte eine Stimme.

Der Magier schüttelte seinen schmerzenden Kopf. Mit der Stimme kam die tröstende Erkenntnis, daß er geträumt hatte. Er bekämpfte den Alptraum.

»Raist!« rief die Stimme hartnäckiger.

Ein Gefühl wirklicher Gefahr ließ den Magier vollends wach werden. Er lag noch einen Augenblick mit geschlossenen Augen still da, bis er sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er lag auf feuchtem Boden, seine Hände waren auf seiner Brust gefesselt, sein Mund war geknebelt. Sein Kopf schmerzte, und Caramons Stimme klang in seinen Ohren.

Um sich herum hörte er das Geräusch von Stimmen und Gelächter, er konnte den Geruch eines Lagerfeuers riechen. Aber nur die Stimme seines Bruders schien aus nächster Nähe zu kommen. Und dann fiel ihm alles wieder ein. Er erinnerte sich an den Angriff, er erinnerte sich an einen Mann mit einem Eisenbein... Vorsichtig schlug er die Augen auf.

Caramon lag neben ihm bäuchlings im Schlamm, seine Arme waren mit Bogensehnen gefesselt. In den braunen Augen lag ein vertrautes Glitzern, ein Glitzern, das die Erinnerung an alte Zeiten, lang verstrichene Zeiten auslöste, als sie zusammen gekämpft hatten.

Trotz des Schmerzes und der Dunkelheit spürte Raistlin ein Frohlocken, wie er es seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.

Durch die Gefahr vereint, verstärkte sich das Band zwischen beiden. Als Caramon sah, daß sein Bruder sich ihrer Lage völlig bewußt war, wälzte er sich so dicht wie möglich näher; seine Stimme war nicht lauter als ein Atemzug. »Hast du eine Möglichkeit, deine Hände zu befreien? Hast du noch den silbernen Dolch bei dir?«

Raistlin nickte einmal kurz. Am Anfang der Zeit hatten die Götter den Zauberkundigen das Tragen jeglicher Waffe verboten. Der vorgeschobene Grund war, daß sie ihre Zeit dem Studium widmen und nicht für die Beherrschung der Kriegskunst verschwenden sollten. Aber nachdem die Zauberkundigen Huma im Kampf gegen die Königin der Finsternis mit der Schaffung der Kugeln der Drachen unterstützt hatten, gewährten die Götter ihnen das Recht, einen Dolch bei sich zu tragen, als Andenken an Humas Lanze.

Der silberne Dolch, mit einem Lederband raffiniert an Raistlins Handgelenk gebunden, so daß er die Waffe in seine Hand gleiten lassen konnte, war seine letzte Verteidigungsmöglichkeit, die nur anzuwenden war, wenn all seine Zauber genutzt worden waren, oder in einer Situation wie dieser.

»Bist du für deine Magie stark genug?« flüsterte Caramon.

Raistlin schloß erschöpft die Augen. Ja, er war stark genug. Aber dies bedeutete eine weitere Schwächung, dies bedeutete mehr Zeit zur Erlangung der Stärke, die für die Konfrontation mit den Wächtern des Portals notwendig war. Dennoch, wenn er bis dahin nicht mehr lebte...

Natürlich, er mußte leben, dachte er bitter. Fistandantilus hatte gelebt! Er tat nichts anderes, als den Fußstapfen im Sand zu folgen.

Wütend verbannte Raistlin den Gedanken. Er schlug die Augen wieder auf und nickte. Ich bin stark genug, teilte er seinem Bruder geistig mit, und Caramon seufzte erleichtert auf.

»Raist«, flüsterte der große Mann, und sein Gesicht war plötzlich erschreckend ernst, »du... du kannst dir wohl vorstellen, was... was sie mit Crysania vorhaben.«

Raistlin hatte plötzlich eine Vision, wie der Halboger seine ungeschlachten, groben Hände auf Crysania legte, und er verspürte eine verblüffende Empfindung – Wut und Zorn, wie er sie selten erlebt hatte, ergriffen ihn.

Caramon musterte ihn verwundert, und Raistlin erkannte, daß man seine Gefühle in seinem Gesicht lesen konnte.

Caramon fuhr eilig fort: »Ich habe einen Plan.«

Raistlin nickte gereizt; er wußte, was sein Bruder vorhatte.

Caramon flüsterte: »Wenn ich versage...«

»... töte ich sie zuerst, dann mich«, beendete Raistlin den Satz. Aber natürlich würde dazu keine Notwendigkeit bestehen. Er war sicher, beschützt... Als er dann die Geräusche sich nähernder Männer hörte, schloß er die Augen und täuschte Bewußtlosigkeit vor. Dies gab ihm Zeit, seine verwirrten Gefühle zu ordnen und seine Beherrschung wiederzugewinnen. Der silberne Dolch lag kalt an seinem Arm. Er spannte die Muskeln an, die das Lederband lösen würden. Und in der Zwischenzeit grübelte er über sein Gefühl nach, das er für eine Frau empfand, die ihm völlig gleichgültig war, abgesehen von ihrer Nützlichkeit als Klerikerin natürlich.

Zwei Männer zerrten Caramon auf seine Füße und stießen ihn vorwärts. Caramon bemerkte erleichtert, daß die Männer seinem Bruder keine Aufmerksamkeit schenkten. Über den holprigen Boden stolpernd, dachte Caramon über den seltsamen Gesichtsausdruck seines Bruders nach, als er Crysania erwähnt hatte. Bei jedem anderen Mann hätte er diesen Ausdruck als typisch für einen außer sich geratenen Liebhaber angesehen. Aber sein Bruder? War Raistlin einer solchen Regung überhaupt fähig? Caramon hatte in Istar festgestellt, daß Raistlin dazu nicht fähig war, daß er vom Bösen völlig verzehrt war.

Aber jetzt wirkte sein Bruder anders, er war eher der alte Raistlin, der Bruder, mit dem er so oft Seite an Seite gekämpft hatte. Was Raistlin Caramon über Tolpan gesagt hatte, ergab einen Sinn. Immerhin hatte er den Kender nicht getötet. Und obgleich er manchmal gereizt war, ging Raistlin immer sanft mit Crysania um. Vielleicht...

Einer der Wächter stieß ihm schmerzhaft in die Rippen und erinnerte Caramon so an die Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Vielleicht! Vielleicht würde hier und jetzt alles ein Ende nehmen.

Während er durch das Lager ging, darüber nachdenkend, was er seit dem Überfall gesehen und gehört hatte, überprüfte Caramon noch einmal seinen Plan.

Das Lager wirkte eher wie eine kleine Stadt als wie der Unterschlupf von Banditen. Sie lebten in primitiv gebauten Holzhütten und hielten ihre Tiere im Schutz einer großen Höhle. hütten und hielten ihre Tiere im Schutz einer großen Höhle. Sie waren offensichtlich schon längere Zeit hier und fürchteten kein Gesetz – angesichts der Stärke und der Führungsqualitäten des Halbogers Stahlfuß.

Aber Caramon, der mehr als einige Zusammenstöße mit Dieben erlebt hatte, sah auch, daß viele Männer keine rüpelhaften Grobiane waren. Er hatte viele gesehen, die Crysania einen Blick zugeworfen und den Kopf im offensichtlichen Ekel vor dem, was geschehen sollte, geschüttelt hatten. Obgleich mit Fetzen bekleidet, trugen viele gute Waffen, Stahlschwerter von der Art, die vom Vater zum Sohn weitergereicht werden, und sie gingen mit diesen Waffen mit einer Sorgfalt um, wie man sie nur bei einem Familienerbstück anwendet und nicht bei einer Beute. Und obgleich er sich im schwachen Licht des stürmischen Tages nicht sicher war, glaubte er, auf vielen Schwertern die Rose und den Eisvogel gesehen zu haben, die uralten Symbole der solamnischen Ritter.

Die Männer waren glattrasiert, sie trugen nicht den langen Bart, der diese Ritter kennzeichnete, aber ihre ernsten jungen Gesichter erinnerten Caramon an seinen Freund, den Ritter Sturm Feuerklinge.

Als Caramon die Männer betrachtete, die im Lager herumstanden, ihre Waffen putzten und sich leise unterhielten, sah er zwar verruchte Taten in ihre Gesichter geschrieben, aber er sah auch Blicke der Resignation und Hoffnungslosigkeit. Er hatte selbst harte Zeiten durchgemacht. Er wußte, wozu ein Mann dann in der Lage war. All dies erfüllte ihn mit der Hoffnung, daß sein Plan gelingen könnte.

Ein Feuer loderte mitten im Lager, nicht weit von der Stelle, wo er und Raistlin auf den Boden geworfen worden waren. Als er sich umblickte, sah er seinen Bruder, der immer noch Bewußtlosigkeit vortäuschte.

Caramon trat ins Licht des Feuers. Die meisten Männer hörten mit ihren Beschäftigungen auf und bildeten einen Halbkreis um ihn. Auf einem großen Holzstuhl neben den Flammen thronte Stahlfuß mit einer Flasche in der Hand. Neben ihm standen lachend und Witze reißend mehrere Männer, die Caramon als typische, sich bei ihrem Anführer einschmeichelnde Speichellecker erkannte. Und es überraschte ihn nicht, am Rand der Menge das grinsende, häßliche Gesicht des Gastwirtes zu erblicken.

Auf einem Stuhl neben Stahlfuß saß Crysania. Ihren Umhang hatte man ihr abgenommen. Ihr Kleid war am Oberteil aufgerissen – er konnte sich vorstellen, von welchen Händen. Und Caramon sah mit wachsendem Zorn einen purpurroten Fleck auf ihrer Wange. Ein Mundwinkel war angeschwollen. Aber sie hielt sich mit unbeugsamer Würde aufrecht, starrte geradeaus und bemühte sich, die groben Witze und beängstigenden Geschichten zu überhören, die ausgetauscht wurden.

Caramon lächelte grimmig vor Bewunderung. Er erinnerte sich an ihren panischen, fast an Wahnsinn grenzenden Zustand, in dem sie sich während der letzten Tage von Istar befunden hatte, und er dachte an ihr vorheriges friedliches, behütetes Leben; er war überrascht, sie in dieser gefährlichen Situation mit einer Kühle reagieren zu sehen, um die sie Tika beneidet hätte.

Tika... Caramons Blick verfinsterte sich. Er wollte nicht an Tika denken, insbesondere nicht in Verbindung mit Crysania. Er zwang sich in die Gegenwart zurück, wandte die Augen von der Frau zu seinem Feind ab und konzentrierte sich auf ihn.

Als Stahlfuß Caramon bemerkte, brach er seine Unterhaltung ab und deutete dem Krieger mit einer derben Handbewegung an, er solle zu ihm kommen. »Zeit zu sterben, Krieger«, sagte er zu ihm, immer noch im gleichen freundlichen Tonfall. Er blickte Crysania an. »Ich bin sicher, meine Dame, daß es dich nicht stört, wenn unser Stelldichein um einige Augenblicke verschoben wird.« Er streichelte Crysanias Wange. Als sie vor ihm zurückwich und ihre Augen vor Zorn aufblitzten, wurde aus seiner Liebkosung ein Schlag in ihr Gesicht.

Crysania schrie nicht auf. Sie hob den Kopf und starrte ihren Peiniger mit grimmigem Stolz an.

Caramon hielt seinen Blick auf den Anführer gerichtet und musterte ihn gelassen. Dieser Mann herrscht mit Angst und roher Gewalt, dachte er. Von seinen Anhängern folgen ihm viele nur widerwillig. Sie haben alle Angst vor ihm; er ist wahrscheinlich das einzige Gesetz in diesem von den Göttern verlassenen Land. Aber offensichtlich versorgt er sie gut, so daß sie zumindest genug zu essen haben. Sie sind ihm also ergeben, aber wie weit reicht ihre Ergebenheit?

Caramon richtete sich auf und musterte den Halboger mit einem geringschätzigen Blick. »Ist das die Art, wie du deinen Mut zeigst? Frauen zusammenschlagen?« Caramon grinste höhnisch. »Binde mich los und gib mir ein Schwert, und wir werden sehen, was für ein Mann du wirklich bist!«

Stahlfuß musterte ihn interessiert, und Caramon bemerkte mit Unbehagen eine gewisse Intelligenz in seinem Blick.

»Ich habe mir schon gedacht, daß du etwas origineller bist, Krieger«, sagte Stahlfuß mit einem Seufzer, der teilweise gespielt und teilweise echt war. Er erhob sich. »Vielleicht bist du keine derartige Herausforderung für mich, wie ich anfangs dachte. Aber ich habe nichts Besseres vor heute abend. Am frühen Abend, meine ich«, fügte er mit einer anzüglichen Verbeugung vor Crysania hinzu, die ihn nicht beobachtete.

Der Halboger warf seinen großen Fellumhang beiseite, drehte sich um und befahl einem seiner Männer, sein Schwert zu holen. Die Speichellecker zerstreuten sich, um seinem Befehl nachzukommen, während die anderen Männer an einer Seite des Lagerfeuers einen Kreis bildeten – offensichtlich waren sie mit diesem Zeitvertreib vertraut. Während dieser Unordnung gelang es Caramon, Crysanias Blick aufzufangen.

Seinen Kopf neigend, blickte er bedeutungsvoll zu der Stelle, wo Raistlin lag. Crysania verstand seine Absicht sofort. Sie sah zu dem Magier hin, lächelte traurig und nickte. Ihre Hand schloß sich um das Medaillon von Paladin, und ihre geschwollenen Lippen bewegten sich.

Caramons Wächter stießen ihn in den Kreis. »Wir werden mehr als Gebete zu Paladin nötig haben, um hier herauszukommen, Crysania«, murmelte er und fragte sich mit einer gewissen Belustigung, ob sein Bruder in diesem Augenblick zu der Königin der Finsternis um Hilfe betete.

Nun, er hatte niemand, zu dem er beten konnte, nichts, was ihm helfen konnte, abgesehen von seinen Muskeln, Knochen und Sehnen.

Sie schnitten die Fesseln von seinen Armen. Caramon zuckte vor Schmerz zusammen, als das Blut in seine Glieder zurückfloß; er spannte seine steifen Muskeln an und rieb sie, um die Blutzufuhr anzuregen und sich zu wärmen. Dann rissen sie ihm das klatschnasse Hemd und seine Hosen vom Leib, damit er nackt kämpfte.

Beim Anblick von Caramons prächtigem Körperbau setzte ein bewunderndes Murmeln der Männer ein, die im Kreis standen. Der Regen strömte über seinen sonnengebräunten, muskulösen Körper, das Feuer glänzte auf seiner kräftigen Brust und seinen kräftigen Schultern. Jemand überreichte Caramon ein Schwert, und der Krieger schwang es mit Leichtigkeit und offensichtlichem Geschick. Selbst Stahlfuß, der in den Kreis der Männer trat, schien ein wenig aus der Fassung gebracht beim Anblick des ehemaligen Gladiators.

Aber wenn Stahlfuß vom Aussehen seines Gegners überrascht war, dann war Caramon über das Aussehen von Stahlfuß nicht weniger verblüfft. Halb Oger und halb Mensch, hatte der Mann die besten Eigenschaften beider Rassen geerbt. Er besaß den Körperumfang und die Muskeln der Oger, aber er war schnell auf den Füßen und flink, während in seinen Augen die gefährliche Intelligenz eines Menschen lag. Auch er kämpfte fast nackt; er trug nur einen ledernen Lendenschurz. Aber was Caramon verwunderte, war die Waffe, die der Halboger trug – es war das erstaunlichste Schwert, das der Krieger in seinem ganzen Leben gesehen hatte.

Die riesige Klinge war als zweihändige Waffe angefertigt. Als Caramon sie fachmännisch betrachtete, fielen ihm nur wenige Männer ein, die sie hätten heben können, geschweige denn schwingen. Aber Stahlfuß hielt sie nicht nur mühelos, sondern auch noch mit nur einer Hand! Und er machte das gut, soweit Caramon aus den geübten Schlägen beurteilen konnte. Die Stahlklinge wurde vom Licht des Feuers beleuchtet, als er sie durch die Luft schlug.

Als sein Gegner in den Ring hinkte, erkannte Caramon mit Verzweiflung, daß er nicht einem primitiven, dümmlichen Gegner gegenüberstand, wie er erwartet hatte, sondern einem geübten Schwertkämpfer, einem intelligenten Mann, der seine Behinderung überwunden hatte und mit einer Überlegenheit kämpfte, um die ihn Männer mit zwei gesunden Beinen beneiden konnten.

Die zwei stolzierten aufeinander zu, täuschten Manöver vor, achteten auf jede Schwäche in der Verteidigung des Gegners. Dann plötzlich hielt Stahlfuß auf dem gesunden Bein mühelos sein Gleichgewicht und gebrauchte sein Eisenbein als weitere Waffe. Er wirbelte herum und schlug mit dem Eisenbein mit solcher Wucht auf Caramon ein, daß der große Mann zu Boden stürzte. Sein Schwert flog ihm aus den Händen.

Stahlfuß gewann schnell sein Gleichgewicht wieder und drang mit seinem riesigen Schwert vor, offensichtlich in der Absicht, den Kampf zu beenden und sich anderen Vergnügungen zu widmen. Caramon aber hatte diese Art des Kampfes in der Arena gesehen. Er täuschte vor, erledigt zu sein, und wartete, bis sein Feind dicht genug bei ihm war. Dann streckte er die Hand aus, bekam das gesunde Bein von Stahlfuß zu fassen und riß es mit einem Ruck zur Seite.

Die Männer im Kreis jubelten und klatschten Beifall. Caramons Selbstzweifel schwanden. Die Erregung des Kampfes erfüllte ihn mit einer Ekstase, die der seines Bruders glich, wenn er seine Magie anwendete.

Caramon raffte sich auf, sah seinen Feind das Gleiche tun und machte einen jähen, verzweifelten Sprung zu seinem Schwert, das einige Meter von ihm entfernt lag. Aber Stahlfuß war schneller. Er erreichte Caramons Schwert zuerst und stieß es weit fort.

Caramon sah sich nach einer anderen Waffe um. Sein Blick fiel auf das Lagerfeuer, das am anderen Ende des Kreises brannte. Er lief darauf zu, ergriff eines der brennenden Holzscheite.

Die zwei Männer umkreisten einander. Dann war die Luft voll von Licht von Stahl und brennendem Holz.

Caramon hatte keine Vorstellung, wie lange sie kämpften. Sein Atem kam keuchend. Seine Lungen brannten wie das Ende des Holzscheites, seine Hände waren blutig. Niemals in seinem Leben hatte er einem solchen Gegner gegenübergestanden. Auch Stahlfuß, der mit Hohn und Selbstvertrauen in den Kampf gegangen war, stand einem Feind mit bitterer Entschlossenheit gegenüber. Die sie umringenden Männer waren inzwischen verstummt, völlig im Bann dieses tödlichen Wettstreites.

Der Kreis der Männer und das Feuer begannen vor Caramons Augen zu verschwimmen. In seinen schmerzenden Händen fühlte sich das Holzscheit schwerer an als ein ganzer Baum. Das Atmen war qualvoll. Caramon erkannte, daß sein Gegner genauso erschöpft war, denn Stahlfuß hatte es versäumt, einen günstigen Schlag zu führen, da er gezwungen war, einfach dazustehen und Atem zu holen. Der Halboger hatte einen häßlichen roten Striemen an der Seite, wo Caramons Holzscheit ihn getroffen hatte. Alle im Kreis hatten das Brechen seiner Rippen und sein schmerzverzerrtes Gesicht gesehen.

Aber er antwortete mit einem Hieb seines Schwertes, der Caramon zurücktaumeln ließ. Jetzt stolzierten sie wieder aufeinander zu, beide hörten oder kümmerten sich um nichts anderes, waren nur auf den Feind konzentriert. Beide wußten, daß der nächste Fehler tödlich sein konnte.

Und dann rutschte Stahlfuß im Schlamm aus. Zu Beginn des Kampfes wäre er in Sekunden wieder oben gewesen. Aber seine Kraft war fast verbraucht, und er benötigte einen Augenblick länger, um sich wieder aufzurappeln.

Auf diese Sekunde hatte Caramon gewartet. Er sprang mit der letzten ihm verbliebenen Kraft vor, hob das Scheit und schlug es, so fest er konnte, auf das Knie, an dem das Stahlbein befestigt war.

Stahlfuß, der in Caramons Augen den Tod sah, kämpfte trotzig weiter. Auch als das Scheit in den Händen des großen Mannes erneut durch die Luft zischte, griffen die Riesenhände des Halbogers nach Caramons Armen...

Das Scheit zerschmetterte den Kopf des Halbogers, der nach hinten fiel. Der Körper zuckte, lag dann still.

Vor Erschöpfung und Schmerz stolpernd, sank Caramon auf seine Knie und versuchte, Atem zu holen. In seinen Ohren rauschte es: die zornigen Schreie von Männern, die kamen, um ihn zu töten. Es war ihm egal. Es spielte keine Rolle. Laß sie kommen...

Aber niemand griff an.

Darüber verwirrt, hob Caramon den Kopf, sein verschwommener Blick traf eine schwarzgekleidete Gestalt, die neben ihm kniete. Er spürte den Arm seines Bruders, der ihn beschützend umschlang, und er sah Blitze warnend aus den Fingern des Magiers zischen. Caramon schloß die Augen, lehnte den Kopf gegen die Brust seines Bruders und holte tief Luft.

Dann berührten kühle Hände seine Haut, und er hörte das sanfte Gemurmel eines Gebetes zu Paladin. Er schlug die Augen auf. Er schob die verblüffte Crysania von sich, aber es war zu spät. Ihr heilender Einfluß breitete sich in seinem Körper aus. Er hörte die um sie versammelten Männer aufschreien, als die blutenden Wunden verschwanden, die Prellungen zurückgingen und die Farbe in sein leichenblasses Gesicht zurückkehrte.

»Hexerei! Sie hat ihn geheilt! Verbrennt die Hexe!«

»Verbrennt beide, die Hexe und den Zauberer!«

Als Caramon seinem Bruder einen Blick zuwarf, erkannte er an dessen grimmigem Gesichtsausdruck, daß auch er die Gefahr verstand.

»Wartet!« keuchte Caramon und erhob sich, als die Menge der murrenden Männer näher kam. Nur die Angst vor Raistlins Magie hielt sie davon ab, sich auf sie zu stürzen, und als Caramon das plötzliche Husten seines Bruders hörte, befürchtete er, daß Raistlin mit seinen Kräften bald am Ende wäre.

Er ergriff die verwirrte Crysania und trat vor die Menge der aufgebrachten Männer. »Wenn ihr diese Frau berührt, werdet ihr genauso sterben wie euer Anführer«, rief er laut.

»Warum sollen wir eine Hexe leben lassen?« knurrte einer, und es folgte zustimmendes Gemurmel.

»Weil sie meine Hexe ist!« sagte Caramon und warf einen herausfordernden Blick in die Menge. »Sie hat mich nicht in ihren Bann geschlagen, sondern gehorcht meinen Befehlen und jenen des Zauberers. Sie wird euch nichts tun.«

Die Männer murmelten untereinander, aber ihre Augen waren nicht mehr drohend, als sie Caramon ansahen. Bewunderung lag in ihnen – jetzt konnte er widerwilligen Respekt und eine Bereitschaft zum Zuhören feststellen.

»Laßt uns unseren Weg fortsetzen«, begann Raistlin mit seiner sanften Stimme.

»Warte!« erwiderte Caramon. Er nahm den Arm seines Bruders und flüsterte: »Ich habe eine Idee. Paß auf Crysania auf!«

Raistlin nickte und trat zu Crysania, die ruhig dastand, ihre Augen auf die nun schweigenden Banditen gerichtet. Caramon ging zu der Stelle, wo der Leichnam des Halbogers im Schlamm lag. Er bückte sich, zog das riesige Schwert aus den Händen von Stahlfuß und hob es hoch über den Kopf. Der große Krieger bot einen prächtigen Anblick. Das Feuer spiegelte sich in seiner bronzenen Haut, und die Muskeln traten an seinen Armen hervor, als er in seinem Triumph übr dem Leichnam seines erschlagenen Feindes stand.

»Ich habe euren Anführer vernichtet. Jetzt beanspruche ich das Recht, seinen Platz einzunehmen!« rief Caramon. »Ich verlange nur eins – daß ihr dieses Leben des Niedermetzelns, Vergewaltigens und Raubens aufgebt. Wir ziehen in den Süden...«

Er erhielt eine unerwartete Reaktion. »Süden! Sie ziehen in den Süden!« schrien mehrere Stimmen gleichzeitig, und dann setzte Jubel ein. Caramon starrte sie verblüfft an, er verstand nichts.

Raistlin trat zu ihm. »Was machst du da?« herrschte er ihn an; sein Gesicht war blaß.

Caramon zuckte die Schultern und sah sich erstaunt über die Begeisterung um, die er hervorgerufen hatte. »Es schien mir nur ein guter Einfall, eine bewaffnete Eskorte zu haben, Raistlin«, sagte er. »Die Gebiete südlich von hier sind nach allen Berichten gefährlicher als jene, durch die wir geritten sind. Ich habe nur gedacht, wir nehmen einige dieser Männer mit, das ist alles. Ich verstehe nicht...«

Ein junger Mann mit adligem Auftreten, der Caramon mehr als alle anderen an Sturm erinnerte, trat vor. »Ihr geht in den Süden? Sucht ihr vielleicht den fabelhaften Schatz der Zwerge in Thorbadin?«

Raistlin blickte finster. »Verstehst du jetzt?« knurrte er. Er wurde von einem Hustenanfall gepackt. Wäre nicht Crysania herbeigeeilt, um ihm zu helfen, wäre er wohl hingefallen.

»Ich verstehe, daß du Ruhe brauchst«, erwiderte Caramon grimmig. »Die brauchen wir alle. Und wenn wir nicht mit einer bewaffneten Eskorte Weiterreisen, werden wir keine friedliche Nacht mehr verbringen. Was haben die Zwerge in Thorbadin überhaupt mit uns zu tun? Was ist los?«

Raistlin starrte auf den Boden. Schließlich seufzte er und sagte kühl: »Sage ihnen, daß wir in den Süden ziehen. Wir wollen die Zwerge angreifen.«

Caramon riß die Augen auf. »Thorbadin angreifen?«

»Ich erkläre es dir später«, fauchte Raistlin. »Mach, was ich gesagt habe.«

Caramon zögerte.

Raistlin zuckte die Schultern und lächelte unangenehm. »Es ist dein einziger Weg nach Hause, mein Bruder! Und vielleicht dein einziger Weg, hier lebend herauszukommen.«

Caramon sah sich um. Die Männer hatten während dieses kurzen Wortwechsels wieder zu murren angefangen, offensichtlich argwöhnisch über ihre Absichten. Er begriff, daß er schnell eine Entscheidung treffen mußte oder vielleicht einem Angriff gegenüberstand. »Wir ziehen in den Süden«, sagte er, »das stimmt. Aber aus unseren Gründen. Was sagt ihr da von einem Schatz in Thorbadin?«

»Es heißt, daß die Zwerge riesige Schätze unter dem Gebirge angehäuft haben«, antwortete der junge Mann bereitwillig. Die anderen nickten.

»Schätze, die sie von Menschen gestohlen haben«, fügte einer hinzu.

»Nicht nur Geld«, schrie ein dritter, »sondern auch Getreide und Rinder und Schafe! In diesem Winter speisen sie wie Könige, während unsere Bäuche leer ausgehen!«

»Wir hatten zuvor darüber geredet, in den Süden zu ziehen, um unseren Anteil zu nehmen«, fuhr der junge Mann fort, »aber Stahlfuß sagte, wir hätten hier genug. Es gibt unter uns einige, die es sich reiflich überlegen.«

Caramon wünschte, größere Geschichtskenntnisse zu haben. Er hatte natürlich von den Großen Zwergentorkriegen gehört. Sein alter Zwergenfreund Flint hatte kaum über anderes geredet. Flint war ein Hügelzwerg gewesen. Er hatte Caramon mit Geschichten von der Grausamkeit der Bergzwerge in Thorbadin überhäuft, die im großen und ganzen mit dem, was die Männer hier sagten, übereinstimmten. Aber Flint hatte ihm gesagt, daß die Schätze, die die Bergzwerge gestohlen hatten, von ihren Verwandten, den Hügelzwergen, stammten.

Wenn das zutraf, hatte Caramon die Rechtfertigung für seine Entscheidung. Er konnte natürlich auch seinem Bruder gehorchen. Aber ein Teil in Caramon war in Istar zerbrochen. Obgleich er dachte, seinen Bruder falsch beurteilt zu haben, wußte er nur allzu gut, daß er ihm trotzdem weiterhin mißtrauen mußte. Niemals wieder würde er Raistlin blind gehorchen.

Aber dann spürte er Raistlins glitzernde Augen auf sich, und er hörte die Stimme seines Bruders in seinem Geist widerhallen. »Dein einziger Weg zurück nach Hause!«

Caramon ballte im plötzlichen Zorn die Hände, aber Raistlin hatte ihn in der Hand, das wußte er. »Wir ziehen in den Süden, nach Thorbadin«, sagte er barsch; sein beunruhigter Blick war auf das Schwert in seiner Hand gerichtet. Dann hob er den Kopf, um die Männer anzusehen. »Werdet ihr mit uns kommen?«

Viele Männer traten vor, um mit dem jungen Edelmann zu reden, der offensichtlich ihr Sprecher war. Er hörte zu, nickte, dann wandte er sich wieder zu Caramon. »Wir würden dir ohne zu zögern folgen, großer Krieger«, sagte der junge Mann, »aber was hast du mit diesem schwarzgekleideten Zauberer zu tun? Wer ist er, daß wir ihm folgen sollen?«

»Mein Name ist Raistlin«, erwiderte der Magier. »Dieser Mann ist mein Leibwächter.«

Niemand antwortete, nur unschlüssige Blicke wurden ausgetauscht.

»Ich bin sein Leibwächter, das ist wahr«, sagte Caramon ruhig, »aber der richtige Name des Magiers ist Fistandantilus.«

Jetzt wurden die finsteren Blicke respektvoll, ja ängstlich.

»Ich heiße Garik«, sagte der junge Mann und verbeugte sich vor dem Erzmagier in der altmodischen Weise der Ritter von Solamnia. »Wir haben von dir gehört, Großer. Wir werden dir folgen und dem großen Krieger, der bei dir ist.« Er trat vor und legte sein Schwert vor Caramon nieder.

Andere schlossen sich ihm an, einige eifrig, andere vorsichtiger. Einige wenige stahlen sich fort. Sie als feige Raufbolde durchschauend, ließ Caramon sie laufen.

Über dreißig Männer blieben bei ihm. Einige hatten das gleiche adlige Auftreten wie Garik, aber die meisten waren zerlumpte Halunken.

»Meine Armee«, sagte sich Caramon mit einem bitteren Lächeln in jener Nacht, als er seine Decke in der Hütte von Stahlfuß ausbreitete, die der Halboger für seinen persönlichen Gebrauch gebaut hatte. Draußen vor der Tür hörte er Garik mit einem anderen Mann reden, den Caramon, da er ihm halbwegs vertrauenswürdig vorkam, zum Wächter bestimmt hatte.

Da Caramon völlig erschöpft war, hatte er angenommen, sofort einschlafen zu können. Aber er lag hellwach in der Dunkelheit, dachte nach und schmiedete Pläne. Wie alle jungen Soldaten hatte er oft davon geträumt, Offizier zu werden. Jetzt hatte er seine Chance erhalten. Zum erstenmal in dieser von den Göttern verlassenen Zeit empfand er etwas wie Freude.

In seinem Kopf überschlugen sich die Pläne. Ausbildung, die besten in den Süden führenden Routen, Vorräte, Nachschub, dies waren für den ehemaligen Söldner neue und schwierige Probleme. Selbst im Krieg der Lanze war er immer Tanis’ Führung gefolgt. Sein Bruder wußte nichts von diesen Dingen; Raistlin hatte Caramon kühl informiert, daß er auf sich selbst gestellt sei. Dies waren konkrete Probleme, und sie vertrieben die Probleme, die er mit seinem Bruder hatte.

Caramon sah zu Raistlin hin, der in der Nähe eines Feuers lag, das in einem riesigen Steinkamin loderte. Trotz der Wärme war er in seinen Umhang und in alle Decken gehüllt, die Crysania auftreiben konnte. Caramon konnte den Atem seines Bruders hören, der in seinen Lungen rasselte; gelegentlich hustete er im Schlaf.

Crysania schlief auf der anderen Seite des Feuers. Trotz ihrer Erschöpfung war ihr Schlaf unruhig. Mehr als einmal schrie sie auf. Caramon seufzte. Er hätte sie gern getröstet, sie in seine Arme genommen und sie besänftigt. Zum ersten Mal wurde ihm klar, wie gern er das täte. Vielleicht lag es daran, daß er den Männern gesagt hatte, daß sie ihm gehöre, vielleicht daran, daß er die Hände des Halbogers auf ihr gesehen und die gleiche Entrüstung empfunden hatte wie sein Bruder.

Caramon ertappte sich dabei, daß er sie an diesem Abend ganz anders sah, als er sie zuvor gesehen hatte, Gedanken hegend, die seinen Puls schneller werden ließen. Er schloß die Augen und zwang sich, an Tika, seine Frau, zu denken. Aber er hatte diese Erinnerung schon so lange verbannt, daß sie unbefriedigend war. Tika war ein verschwommenes, nebelhaftes Bild und weit entfernt. Crysania war Fleisch und Blut und hier! Er nahm ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem intensiv wahr...

Diese Frauen! Verärgert warf sich Caramon auf den Bauch, entschlossen, alle Gedanken an Frauen unter den Teppich zu seinen anderen Problemen zu kehren. Es funktionierte. Erschöpfung legte sich schließlich über ihn.

Als er in den Schlaf sank, hatte er nur noch einen beunruhigenden Gedanken, der im hinteren Teil seines Geistes schwebte. Es handelte sich um einen Blick, den seltsamen Blick, den Raistlin ihm zugeworfen hatte, als Caramon den Namen Fistandantilus ausgesprochen hatte.

Es war kein Blick der Wut oder Verärgerung gewesen, wie Caramon erwartet hätte. Das letzte, was Caramon sah, bevor der Schlaf seine Gedanken auslöschte, war Raistlins Blick nackten Entsetzens.

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