1

Ein heiserer, brüllender Schrei der Angst und des Entsetzens riß Crysania aus ihrem Schlaf. So plötzlich und schrecklich war der Schrei und so tief ihr Schlaf, daß es ihr einen Augenblick schleierhaft war, was sie geweckt hatte. Verängstigt und verwirrt starrte sie umher, versuchte zu erkennen, wo sie sich befand, versuchte herauszufinden, was ihr eine solche Angst eingejagt hatte, daß sie kaum atmen konnte.

Sie lag auf einem feuchten, harten Boden. Ihr Körper schüttelte sich krampfhaft in der Eiseskälte, die ihr bis in die Knochen drang, und ihre Zähne klapperten. Sie hielt den Atem an und versuchte etwas zu hören oder zu sehen. Aber die Dunkelheit war unergründlich, die Stille eindringlich.

Sie wurde von Panik ergriffen. Verzweifelt versuchte sie, die Dunkelheit mit Gestalten zu füllen. Aber ihr fiel nichts ein.

Dann vernahm sie wieder den Schrei, und sie erinnerte sich, von ihm geweckt worden zu sein. Und obwohl sie vor Erleichterung über den Klang einer menschlichen Stimme aufatmete, hallte die Angst, die sie aus diesem Schrei heraushörte, in ihrer Seele wider.

Verzweifelt zwang sie sich zum Denken, zum Erinnern.

Steine hatten gesungen, eine Stimme – Raistlins Stimme —, und seine Arme hatten um sie gelegen. Dann das Gefühl, in Wasser zu treten und in eine jähe, unermeßliche Dunkelheit getragen zu werden.

Raistlin! Crysania streckte eine zitternde Hand aus, fühlte aber nichts neben sich außer feuchten, eiskalten Steinen. Und dann kehrte die Erinnerung mit einer entsetzlichen Wucht zurück. Caramon sprang mit dem blitzenden Schwert in der Hand auf seinen Bruder zu... Ihre Worte, als sie einen Zauber aussprach, um den Magier zu beschützen... Das Geräusch eines Schwertes, das auf den Boden fiel.

Aber dieser Schrei – das war Caramons Stimme! Was war, wenn er...

»Raistlin!« rief Crysania angsterfüllt und richtete sich mühsam auf. Ihre Stimme verschwand, löste sich auf, von der Dunkelheit verschluckt. Sie wagte nicht weiterzusprechen, um dieses entsetzliche Gefühl nicht noch einmal zu erleben. In der durchdringenden Kälte zitternd, schlug sie die Arme um sich, und unwillkürlich berührte Crysanias Hand das Medaillon Paladins, das um ihrem Hals hing. Der Segen des Gottes strömte durch ihren Körper.

»Licht«, flüsterte sie, hielt das Medaillon fest in ihrer Hand und betete zu ihrem Gott, die Dunkelheit zu erhellen.

Sanftes Licht quoll zwischen ihren Fingern hervor. Crysania hielt die Kette hoch über ihren Kopf. Sie leuchtete ihre Umgebung ab und versuchte sich zu erinnern, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war.

Sie gewann flüchtige Eindrücke von zerstörten, geschwärzten Möbelstücken, Spinnweben, Büchern, die verstreut auf dem Boden lagen, Bücherregalen, die von den Wänden gefallen waren. Aber sie waren fast genauso beängstigend wie die Dunkelheit selbst.

Und dann ertönte wieder der Schrei.

Mit zitternder Hand drehte sich Crysania schnell in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Das Licht des Gottes teilte die Dunkelheit und ließ zwei Gestalten in entsetzlich klarer Deutlichkeit hervortreten. Eine trug schwarze Roben und lag still auf dem kalten Boden. Über diese reglose Gestalt ragte ein riesengroßer Mann. In blutbefleckte goldene Rüstung gehüllt und mit einem Eisenband um den Hals, starrte er mit ausgestreckten Händen in die Dunkelheit; sein Mund war weit geöffnet, sein Gesicht vor Entsetzen leichenblaß.

Das Medaillon glitt aus Crysanias kraftloser Hand, als sie den Körper wiedererkannte, der vor den Füßen des Kriegers lag. »Raistlin!« flüsterte sie. Von einer Angst ergriffen, die erstickend war, kniete sie sich neben den Magier.

Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden, seine Kapuze war über sein Gesicht gezogen. Behutsam drehte Crysania ihn auf die andere Seite, zog die Kapuze von seinem Gesicht und hielt das strahlende Medaillon über ihn.

Die Haut des Magiers war aschgrau, seine Lippen blau; seine Augen waren geschlossen.

»Was hast du getan?« schrie sie Caramon an und sah zu ihm auf. »Was hast du getan?« herrschte sie ihn an; ihre Stimme überschlug sich vor Trauer und Zorn.

»Crysania?« flüsterte Caramon heiser.

Das Licht des Medaillons warf sonderbare Schatten auf ihn. Er hielt die Arme immer noch ausgestreckt, seine Hände griffen schwach in die Luft, er senkte den Kopf. »Crysania?« wiederholt er schluchzend. Er tat einen Schritt zu ihr hin, fiel über die Beine seines Bruders und stürzte zu Boden.

Fast unmittelbar darauf richtete er sich wieder auf, kroch auf Händen und Knien. Er streckte eine Hand aus. »Crysania? Bring uns dein Licht! Schnell!«

»Ich habe ein Licht, Caramon! Ich... Gesegnet sei Paladin!« murmelte Crysania und starrte ihn im Schein des Medaillons an. »Du bist blind!« Sie streckte die Hand aus und ergriff seinen greifenden, zuckenden Finger.

Bei ihrer Berührung schluchzte Caramon vor Erleichterung auf. Seine Hand umklammerte mit zermalmender Kraft ihre, und Crysania biß sich vor Schmerz auf die Lippen.

Sie erhob sich und half Caramon beim Aufstehen. Der große Körper des Kriegers zitterte, und er klammerte sich in seiner verzweifelten Angst an sie, seine Augen starrten immer noch verstört und mit leerem Blick geradeaus. Crysania sah in die Dunkelheit, suchte verzweifelt einen Stuhl, ein Sofa... irgend etwas. Sie führte Caramon zu dem einzigen Möbelstück, das sie ausgemacht hatte. »Hier, setz dich«, wies sie ihn an. »Lehn dich dagegen.«

Sie half Caramon auf dem Boden Platz nehmen. Sein Rücken war gegen einen mit Schnitzereien verzierten Holzschreibtisch gestützt, der ihr bekannt vorkam. Der Anblick brachte eine Flut von Erinnerungen mit sich – sie hatte ihn irgendwo gesehen. Aber sie war zu beschäftigt, um weitere Gedanken daran zu verlieren. »Caramon?« fragte sie mit zittriger Stimme. »Ist Raistlin... Hast du ihn getötet?« Ihre Stimme versagte.

»Raistlin?« Caramon wandte seine blinden Augen in die Richtung ihrer Stimme. Er versuchte aufzustehen. »Raist! Wo...«

»Nein. Setz dich wieder!« befahl Crysania in plötzlicher Wut und Angst. Sie drückte ihn nach unten.

Caramon schloß die Augen, ein sarkastisches Lächeln verzerrte sein Gesicht. Einen Augenblick sah er seinem Zwillingsbruder sehr ähnlich. »Nein, ich habe ihn nicht getötet!« sagte er bitter. »Wie hätte ich es tun können? Ich habe nur noch gehört, wie du Paladin um Hilfe angerufen hast, dann wurde alles dunkel. Meine Muskeln bewegten sich nicht mehr, das Schwert fiel aus meiner Hand. Und dann...«

Aber Crysania hörte nicht zu. Sie trat zu Raistlin und kniete sich neben ihn, hielt das Medaillon an sein Gesicht und griff unter die schwarze Kapuze, um den Puls an seinem Hals zu fühlen. Vor Erleichterung schloß sie die Augen und stieß ein stummes Gebet zu Paladin aus. »Er lebt!« flüsterte sie. »Aber was stimmt dann nicht mit ihm?«

»Was stimmt nicht mit ihm?« fragte Caramon; in seiner Stimme lagen immer noch Bitterkeit und Angst. »Ich sehe nicht...«

Crysania beschrieb den Zustand des Magiers.

Caramon zuckte die Achseln. »Von seiner Magie erschöpft«, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme. »Und vergiß nicht, daß er schon von Anfang an geschwächt war, zumindest hast du mir das gesagt. Krank von der Nähe der Götter.« Seine Stimme wurde leiser. »Ich habe ihn schon vorher in solch einem Zustand erlebt. Nachdem er die Kugel der Drachen zum ersten Mal benutzt hatte, konnte er sich kaum rühren. Ich hielt ihn in meinen Armen...« Er brach ab und starrte in die Dunkelheit; sein Gesicht war nun ruhig. »Wir können nichts für ihn tun«, sagte er. »Er muß sich ausruhen.« Nach einer kurzen Pause fragte er leise: »Crysania, kannst du mich heilen?«

Crysanias Haut brannte. »Leider nicht«, erwiderte sie verzweifelt. »Es muß mein Zauber gewesen sein, der dich erblinden ließ.« In ihrer Erinnerung sah sie wieder den großen Krieger, das blutverschmierte Schwert in der Hand, mit der Absicht, seinen Zwillingsbruder zu töten, mit der Absicht, sie zu töten – wenn sie in seinen Weg geriet.

»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Aber ich war verzweifelt und hatte Angst. Mach dir trotzdem keine Sorgen«, fügte sie hinzu, »der Zauber ist nicht dauerhaft. Er wird sich im Lauf der Zeit auflösen.«

Caramon seufzte. »Ich verstehe«, sagte er. »Gibt es ein Licht in diesem Raum? Du hast gesagt, du hättest eins.«

»Ja«, antwortete sie. »Ich habe das Medaillon...«

»Sieh dich um. Sag mir, wo wir sind. Beschreib es mir.«

»Aber Raistlin...«

»Er wird sich schon wieder erholen!« sagte Caramon, seine Stimme klang grob und befehlend. »Tu, was ich dir sage! Unser Leben, sein Leben kann davon abhängen! Sag mir, wo wir sind!«

Als Crysania in die Dunkelheit blickte, kehrte ihre Angst zurück. Widerstrebend verließ sie den Magier, ging zu Caramon und setzte sich zu ihm. »Ich weiß nicht«, stammelte sie, während sie das strahlende Medaillon wieder hochhielt. »Ich kann außerhalb der Reichweite des Lichts nicht viel erkennen. Aber es scheint ein Ort zu sein, an dem ich schon einmal gewesen bin. Möbelstücke liegen hier, aber es ist alles zerbrochen und angekohlt wie von einem Brand. Viele Bücher liegen verstreut herum. Da ist ein großer Holzschreibtisch – gegen den du lehnst. Er kommt mir irgendwie bekannt vor. Er ist wunderschön, in ihm sind alle möglichen merkwürdigen Kreaturen eingeschnitzt.«

Caramon tastete auf dem Boden herum. »Teppich«, sagte er, »auf Stein.«

»Ja, der Boden ist mit einem Teppich bedeckt – beziehungsweise war. Jetzt ist er zerrissen. Und er sieht angenagt aus...« Sie würgte, als sie plötzlich eine dunkle Form sah, die aus dem Licht glitt.

»Was ist los?« fragte Caramon scharf.

»Offenbar sind das Wesen, die den Teppich annagen«, erwiderte Crysania mit einem nervösen Lachen. »Ratten.« Sie versuchte fortzufahren. »Da steht ein Kamin, aber er ist voller Spinnweben. In der Tat ist hier alles voller Spinnweben...«

Dann versagte ihre Stimme ihren Dienst. Plötzliche Bilder von Spinnen, die von der Decke fielen, und Ratten, die an ihren Füßen vorbeihuschten, ließen sie erschauern, und sie raffte ihre zerrissenen weißen Roben zusammen. Der Kamin erinnerte sie, wie kalt ihr war.

Ihren zitternden Körper spürend, lächelte Caramon düster und streckte seine Hand nach ihr aus. Er hielt ihre Hand fest und sagte mit einer Stimme, die in ihrer Gelassenheit schrecklich war: »Crysania, wenn wir es lediglich mit Ratten und Spinnen zu tun haben, können wir uns glücklich schätzen.«

Sie erinnerte sich an seinen Schrei schieren Entsetzens, der sie geweckt hatte. Aber er konnte doch nicht sehen! Schnell blickte sie sich um. »Was ist es? Du mußt etwas gehört oder gespürt haben, doch...«

»Gespürt«, wiederholte Caramon leise. »Ja, ich habe es gespürt. An diesem Ort gibt es Dinge, Crysania, entsetzliche Dinge. Ich kann fühlen, wie sie uns beobachten! Ich kann ihren Haß fühlen. Wo wir auch sind, wir haben uns ihnen aufgedrängt. Kannst du das nicht auch fühlen?«

Crysania starrte in die Dunkelheit. Jetzt, da Caramon davon gesprochen hatte, konnte sie etwas spüren. Oder, wie Caramon sagte, Dinge!

Je länger sie blickte und sich darauf konzentrierte, um so wirklicher wurden sie. Obgleich sie nichts erkennen konnte, wußte sie, daß sie warteten, gerade außerhalb der Reichweite des Lichtes, das von dem Medaillon geworfen wurde. Ihr Haß war stark, wie Caramon gesagt hatte, und was noch schlimmer war, sie spürte ihre Bösartigkeit, die um sie herum in eisiger Kälte floß. Es war wie... Sie hielt den Atem an.

»Was?« schrie Caramon.

»Pst«, zischte sie und umklammerte seine Hand. »Nichts. Es ist nur... Ich weiß jetzt, wo wir sind«, sagte sie leise.

Er antwortete nicht, sondern richtete nur seine blinden Augen auf sie.

»Der Turm der Erzmagier in Palanthas!« flüsterte sie.

»Wo Raistlin lebt?« Caramon wirkte erleichtert.

»Ja... nein.« Crysania zuckte hilflos die Schultern. »Es ist das gleiche Zimmer, in dem ich war – sein Arbeitszimmer. Aber es sieht nicht genauso aus. Es sieht aus, als wäre es seit vielleicht hundert Jahren oder noch länger unbewohnt und... Caramon! Ich hab’s! Er sagt, er werde mich zu einem Ort und in eine Zeit mitnehmen, in der es keine Kleriker gebe. Das muß nach der Umwälzung und vor dem Krieg sein. Bevor...«

»Bevor er zurückkehrte, um diesen Turm als seinen zu beanspruchen«, sagte Caramon bitter. »Und das bedeutet, daß der Fluch immer noch auf dem Turm liegt, Crysania. Das bedeutet, wir befinden uns an dem Ort auf Krynn, wo das Böse herrscht. Am gefürchtetsten Ort auf dem Antlitz dieser Welt. Der Ort, an den sich kein Sterblicher wagt, der von dem Eichenwald von Shoikan und weiß die Götter was sonst noch bewacht ist. Er hat uns hierhergebracht!«

Crysania sah plötzlich außerhalb des Lichtkreises blasse Gesichter erscheinen, als wären sie von Caramons Stimme herbeigerufen worden. Körperlose Köpfe mit starrenden Augen, die lange Zeit im Tod geschlossen waren, schwebten in der kalten Luft; ihre Münder waren in Vorfreude auf warmes, lebendes Blut weit geöffnet.

»Caramon, ich kann sie sehen!« Crysania würgte und wich zu dem großen Mann zurück. »Ich kann ihre Gesichter sehen!«

»Ich habe ihre Hände an mir gefühlt«, sagte Caramon. Er erbebte krampfhaft, spürte auch ihr Zittern und legte seinen Arm um sie, zog sie dicht an sich. »Sie haben mich angegriffen. Ihre Berührung hat meine Haut frieren lassen. Das war, als du mich schreien gehört hast.«

»Aber warum habe ich sie nicht vorher gesehen? Was hält sie jetzt vom Angriff ab?«

»Du, Crysania«, sagfe Caramon leise. »Du bist eine Klerikerin Paladins. Diese Kreaturen wurden von dem Bösen hervorgebracht, es sind Schöpfungen des Fluches. Sie haben nicht die Kraft, dir zu schaden.«

Crysania sah auf das Medaillon in ihren Händen. Das Licht quoll immer noch hervor, aber während sie es anstarrte, schien es schwächer zu werden. Mit Schuldgefühl erinnerte sie sich an den Elfenkleriker Loralon. Sie erinnerte sich an ihre Weigerung, ihn zu begleiten. Seine Worte klangen in ihrem Gesicht wider: »Das nächste Mal, wenn du deutlich sehen wirst, wirst du von der Dunkelheit blind sein...«

»Ich bin eine Klerikerin, das stimmt«, sagte sie leise, »aber mein Glaube ist... schwach. Diese Dinge spüren meine Zweifel, meine Schwäche. Vielleicht hätte ein Kleriker, so stark wie Elistan, die Kraft, gegen sie anzukämpfen. Ich vermag es nicht.« Das Licht wurde immer trüber. »Mein Licht erlischt, Caramon«, fügte sie hinzu. Als sie aufsah, konnte sie die blassen Gesichter erkennen, die gierig immer näher trieben. »Was können wir unternehmen?«

»Ich habe keine Waffe! Ich kann nicht sehen!« schrie Caramon gequält auf und ballte die Hand.

»Pst!« befahl Crysania und ergriff seinen Arm; ihre Augen waren auf die schimmernden Formen gerichtet. »Sie scheinen stärker zu werden, wenn du so redest! Vielleicht ernähren sie sich von Furcht. Dalamar hat mir gesagt, daß das bei denen im Eichenwald von Shoikan der Fall ist.«

Caramon holte tief Luft. Sein Körper glänzte von Schweiß.

»Wir müssen versuchen, Raistlin zu wecken«, schlug Crysania vor.

»Nicht gut!« flüsterte Caramon. »Ich weiß...«

»Wir müssen es versuchen!« sagte Crysania hartnäckig.

»Sei vorsichtig, beweg dich langsam«, riet Caramon, als er sie losließ.

Ihr Medaillon hochhaltend, ihre Augen auf die Augen der Dunkelheit gerichtet, kroch Crysania zu Raistlin hin. Sie legte eine Hand auf die Schulter des Magiers. »Raistlin!« sagte sie und schüttelte ihn. »Raistlin!«

Es kam keine Antwort. Sie hätte genauso gut versuchen können, eine Leiche zu wecken. Daran denkend, warf sie den lauernden Formen einen Blick zu. Würden sie ihn töten? fragte sie sich. Schließlich existierte er nicht in dieser Zeit. Der »Herr über Vergangenheit und Gegenwart« war noch nicht zurückgekehrt, um sein Eigentum zu beanspruchen – diesen Turm.

Oder hatte er es getan?

Crysania rief wieder den Magier, und dabei hielt sie die Augen auf die Untoten gerichtet, die sich immer näher bewegten, je schwächer ihr Licht wurde.

»Fistandantilus!« sagte sie zu Raistlin.

»Ja!« rief Caramon, der sie hörte und verstand. »Sie erkennen diesen Namen wieder. Was ist geschehen? Ich spüre eine Veränderung...«

»Sie haben aufgehört!« berichtete Crysania atemlos. »Sie sehen ihn jetzt an.«

»Geh zurück!« befahl Caramon und erhob sich halb. »Geh von ihm weg. Nimm das Licht von ihm! Laß sie ihn sehen, da er in ihrer Dunkelheit existiert!«

»Nein!« gab Crysania wütend zurück. »Du bist verrückt! Wenn das Licht erst einmal verschwunden ist, werden sie ihn verschlingen...«

»Es ist unsere einzige Chance!«

Blind auf Crysania zuspringend, fing Caramon sie auf, überrumpelte sie. Er riß sie von Raistlin weg und schleuderte sie auf den Boden. Dann fiel er über sie und schlug den Atem aus ihrem Körper.

»Caramon!« Sie rang nach Luft. »Sie werden ihn töten. Nein...« Sie kämpfte gegen den großen Krieger, aber er hielt sie unter sich fest.

Das Medaillon hielt sie immer noch in der Hand. Das Licht wurde trüber. Sie wand sich und blickte zu Raistlin hin. Er lag jetzt außerhalb des Lichtkreises in der Dunkelheit. »Raistlin!« schrie sie. »Nein! Laß mich, Caramon! Sie gehen zu ihm...«

Aber Caramon verstärkte nur seinen Griff, drückte sie gegen den kalten Boden. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber entschlossen, seine blinden Augen starrten auf sie hinab. Sein Fleisch war kalt gegen ihres, seine Muskeln waren angespannt.

Sie mußte einen weiteren Zauber auf ihn werfen! Die Worte lagen auf ihren Lippen, als ein schriller Schmerzensschrei die Dunkelheit durchbohrte.

»Paladin, hilf mir!« betete Crysania.

Nichts geschah.

Wieder versuchte sie schwach, Caramon zu entkommen, aber es war hoffnungslos, und sie wußte es. Und jetzt hatte ihr Gott sie offensichtlich auch noch verlassen. Vor Enttäuschung aufschreiend, Caramon verfluchend, konnte sie nur noch beobachten.

Die blassen, schimmernden Gestalten hatten Raistlin inzwischen eingekreist. Sie konnte ihn nur noch durch das Licht der entsetzlichen Aura erkennen, das von ihnen ausging. Ihre Kehle schmerzte, und ein leises Stöhnen entfuhr ihren Lippen, als eine der greulichen Kreaturen ihre kalten Hände erhob und auf seinen Körper legte.

Raistlin schrie auf. Unter seinen schwarzen Roben zuckte sein Körper in qualvollen Krämpfen.

Auch Caramon hörte den Schrei seines Bruders. »Laß mich!« flehte Crysania. Aber obgleich seine Stirn von kaltem Schweiß naß war, schüttelte Caramon hartnäckig den Kopf und hielt ihre Hände fest.

Raistlin schrie wieder auf. Caramon erschauerte, und Crysania spürte seine Muskeln erschlaffen. Sie ließ das Medaillon fallen und befreite ihre Arme, um ihn mit ihren zusammengeballten Fäusten zu schlagen. Aber dabei versiegte das Licht des Medaillons, und beide verschwanden in völliger Dunkelheit. Caramons Körper war plötzlich von ihr fortgerissen. Sein heiserer, gequälter Schrei vermischte sich mit den Schreien seines Bruders.

Benommen setzte sich Crysania auf, ihre Hand suchte den Boden nach dem Medaillon ab.

Ein Gesicht näherte sich ihr. Sie sah schnell von ihrer Suche auf, dachte, es sei Caramon.

Es war nicht sein Gesicht. Ein körperloser Kopf schwebte neben ihr.

»Nein!« wimmerte sie, war wie gelähmt, konnte nur spüren, wie ihr das Leben aus Händen, Körper, Herz entzogen wurde. Fleischlose Hände packten ihre Arme, zogen sie an sich; blutlose Lippen, gierig nach ihrer Wärme, öffneten sich.

»Paladin«, versuchte Crysania zu beten, aber gleichzeitig wurde ihre Seele durch die tödliche Berührung der Kreatur aus ihrem Körper gesaugt.

Dann hörte sie schwach und aus der Ferne eine kraftlose Stimme Worte der Magie singen. Licht explodierte um sie. Der Kopf, der so dicht an ihrem war, verschwand in einem Kreischen, die fleischlosen Hände verloren ihren Halt. Es roch beißend nach Schwefel.

»Shirak.« Das explosive Licht war verschwunden. Ein sanftes Glühen erfüllte den Raum.

Crysania richtete sich auf. »Raistlin!« flüsterte sie dankbar. Auf Händen und Knien kroch sie mühsam über den geschwärzten Boden zu dem Magier, der auf dem Rücken lag und schwer atmete. Eine Hand ruhte auf dem Stab des Magus. Von der Kristallkugel in der goldenen Drachenklaue an seiner Spitze kam Licht.

»Raistlin! Bist du in Ordnung?« Sich zu ihm kniend, sah sie in sein schmales, blasses Gesicht, als er die Augen aufschlug.

Erschöpft nickte er. Dann griff er nach ihr und zog sie an sich. Er umarmte sie, streichelte ihr weiches schwarzes Haar. Sie spürte seinen Herzschlag. Seine seltsame Körperwärme vertrieb die Kälte. »Hab keine Angst!« flüsterte er tröstend, als er ihr Zittern spürte. »Sie werden uns nichts antun. Sie haben mich gesehen und erkannt. Sie haben dich doch nicht verletzt?«

Sie konnte nicht sprechen, nur den Kopf schütteln. Er seufzte wieder. Crysania schloß die Augen; sie lag getröstet in seiner Umarmung.

Als seine Hand wieder über ihr Haar fuhr, merkte sie, wie sich sein Körper anspannte. Er schob sie von sich weg. »Sag mir, was geschehen ist«, befahl er mit schwacher Stimme.

»Ich bin hier wach geworden...«, stammelte Crysania. Das entsetzliche Erlebnis und Raistlins herzliche Berührung verwirrten sie. Als sie jedoch seine kalten und ungeduldigen Augen sah, zwang sie sich zum Weitererzählen. »Ich habe Caramon schreien hören...«

Raistlin riß die Augen auf. »Meinen Bruder?« fragte er verblüfft. »Der Zauber hat ihn also auch hierhergebracht. Ich bin überrascht, daß ich noch lebe. Wo ist er?« Er hob erschöpft den Kopf und sah seinen Bruder bewußtlos auf dem Boden liegen. »Was ist mit ihm?«

»Ich... ich habe einen Zauber geworfen. Er ist blind«, sagte Crysania errötend. »Ich wollte es nicht. Es war, als er versuchte, dich zu töten – in Istar, vor der Umwälzung...«

»Du hast ihn blind gemacht? Paladin... hat ihn blind gemacht!« Raistlin lachte. Der Klang hallte von den kalten Steinen zurück, und Crysania zuckte zusammen, spürte ein eisiges Entsetzen. Aber das Lachen blieb in Raistlins Kehle stecken. Der Magier begann zu würgen und nach Luft zu ringen.

Crysania beobachtete ihn hilflos, bis der Anfall vorüber war und Raistlin wieder ruhig dalag.

»Erzähl weiter«, flüsterte er gereizt.

»Ich hörte ihn schreien, aber ich konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Das Medaillon gab mir jedoch Licht, und ich fand ihn, und ich erkannte, daß er blind ist. Ich fand dich auch. Du warst bewußtlos. Wir konnten dich nicht wecken. Caramon sagte mir, ich solle ihm beschreiben, wo wir seien, und dann sah ich« – sie schauderte – »diese entsetzlichen...«

»Fahr fort«, unterbrach Raistlin sie.

Crysania holte tief Luft. »Dann begann das Licht des Medaillons schwächer zu werden...«

Raistlin nickte.

»... und die Dinge kamen auf uns zu. Ich rief nach dir, ich benutzte den Namen Fistandantilus. Das ließ sie einhalten. Dann« – Crysanias Stimme verlor ihre Angst und wurde zornig – »ergriff dein Bruder mich, warf mich auf den Boden und schrie etwas, ich glaube: ›Laß sie ihn sehen, da er in ihrer Dunkelheit existiert.‹ Als Paladins Licht dich nicht mehr erfaßte, kamen diese Kreaturen...« Sie schauderte wieder und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Raistlins schrecklicher Aufschrei hallte in ihrem Geist wider.

»Das hat mein Bruder gesagt?« fragte Raistlin leise.

Crysania nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn an, verwirrt über sein Staunen. »Ja«, antwortete sie nach einer Pause kühl. »Warum?«

»Er hat uns das Leben gerettet«, erklärte Raistlin; seine Stimme war wieder sarkastisch. »Der große Dummkopf hatte in der Tat eine gute Idee. Vielleicht solltest du ihn blind bleiben lassen – offenbar fördert das sein Denkvermögen.«

Raistlin versuchte zu lachen, aber daraus wurde ein Husten, der ihn fast erstickte. Crysania wollte ihm helfen, aber er hielt sie mit einem zornigen Blick zurück, selbst als sich sein Körper vor Schmerzen krümmte. Er fiel zur Seite und erbrach sich.

Crysania starrte ihn hilflos an. »Du hast mir einmal gesagt, daß die Götter dich nicht von dieser Krankheit heilen können. Aber du liegst im Sterben, Raistlin! Gibt es nichts, was ich für dich tun kann?« fragte sie sanft.

Er nickte. Mit offensichtlicher Anstrengung hob er schließlich eine zitternde Hand vom eisigkalten Boden und winkte Crysania zu sich. Sie beugte sich über ihn. Er berührte ihre Wange und zog ihr Gesicht dicht an seins.

»Wasser!« keuchte er kaum hörbar. »Ein Trank... wird helfen.« Fieberhaft bewegte sich seine Hand zu einer Tasche an seinen Roben. »Und Wärme, Feuer! Ich... habe nicht... die Kraft...«

Crysania nickte, um zu zeigen, daß sie ihn verstand.

»Caramon?«

»Jene Dinge haben ihn angegriffen«, sagte sie und blickte zu dem reglosen Körper des großen Kriegers. »Ich bin mir nicht sicher, ob er noch lebt...«

»Wir brauchen ihn! Du mußt... ihn heilen!« Er konnte nicht weitersprechen und lag nach Atem ringend da, die Augen geschlossen.

Crysania schluckte. »Bist du sicher?« fragte sie zögernd. »Er hat versucht, dich umzubringen...«

Raistlin lächelte, dann schüttelte er den Kopf. Er schlug die Augen auf, und sie konnte tief in ihre braunen Tiefen blicken. Die Flamme in dem Magier brannte schwach, verlieh den Augen eine sanfte Wärme, die sich sehr von dem tobenden Feuer unterschied, das sie zuvor gesehen hatte.

»Crysania...«, keuchte er. »Ich... werde... das Bewußtsein verlieren... Du wirst... allein sein... an diesem Ort der Dunkelheit... Mein Bruder... kann helfen... Wärme...« Seine Augen schlossen sich, aber sein Griff um Crysanias Hand wurde fester, als ob er versuchte, sich mittels ihrer Lebenskraft an die Wirklichkeit zu klammern. Er öffnete noch einmal die Augen und sah in ihre. »Verlaß diesen Raum nicht!« flüsterte er.

Du wirst allein sein! Crysania sah sich verängstigt um. Wasser! Wärme! Wie sollte sie das bewerkstelligen? Sie konnte es nicht, nicht in dieser Kammer des Bösen.

»Raistlin!« flehte sie, hielt seine zerbrechliche Hand mit beiden Händen umklammert, legte sie an ihre Wange. »Raistlin, bitte verlaß mich nicht!« flüsterte sie. »Ich kann nicht tun, was du verlangst! Ich habe nicht die Kraft! Ich kann aus Staub kein Wasser erschaffen...«

Raistlin öffnete die Augen. Sie waren fast genauso dunkel wie das Zimmer, in dem er lag. Er bewegte die Hand, die sie festhielt, zeichnete mit ihr eine Linie über ihre Wange. Dann erschlaffte die Hand.

Crysania fragte sich, was er mit dieser seltsamen Geste gemeint haben konnte. Es war keine Liebkosung gewesen. Er hatte versucht, ihr etwas mitzuteilen, das war eindeutig gewesen. Aber was? Ihre Haut brannte von seiner Berührung, brachte Erinnerungen zurück...

Und dann wußte sie es. Ich kann aus Staub kein Wasser erschaffen... »Meine Tränen!« murmelte sie.

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