KAPITEL SIEBEN EINE HOCHZEIT

Es war heiß im grellen Licht der Arena, aber so war es immer.

Der Maskierte Gladiator lag auf dem Rücken im blutigen Sand und blickte zu dem Engel hinauf, der mit ausgestreckten Flügeln über ihm schwebte, und er fragte sich, ob dies der Tag war, an dem er schließlich sterben würde. Er rollte sich zur Seite und stöhnte vor Anstrengung. Die Klauenfüße des Engels verfehlten ihn nur um Zentimeter, als das Wesen einen neuen Angriff startete. Der Maskierte Gladiator kam unsicher auf die Beine und hob erneut sein Schwert. Leidenschaftslos musterte er den Engel. Wer immer das Wesen genetisch manipuliert hatte – er mußte sich eine ganze Menge Gedanken dabei gemacht haben. Die weiten, gefiederten Schwingen und ein Hauch von Psychokinese ermöglichten ihm einen mühelos scheinenden Flug, was bedeutete, daß das Wesen mit unglaublicher Geschwindigkeit aus allen möglichen Lagen angreifen konnte. Die Klauen an seinen Händen und Füßen waren lang und geschwungen und stark genug, um das Kettenhemd des Maskierten Gladiators zu zerreißen. Und sie waren mehr als ausreichend, um ihn mühelos aufzuschlitzen oder seine Kehle zu durchtrennen, wenn er auch nur einen winzigen Augenblick lang nicht auf seine Deckung achtete. Der Maskierte Gladiator beobachtete, wie die Silhouette des Engels durch die Luft der Arena glitt, eine Luft, die so heiß und trocken war, als stammte sie direkt aus der Hölle selbst. Der Engel umkreiste ihn unablässig und stieß immer wieder auf den Gladiator hinab; dabei hielt er sich stets außer Reichweite des Schwertes seines Gegners. Die Kreatur mußte einfach ermüden, so schnell wie sie sich bewegte, aber sie machte keinerlei Anstalten, ihre Angriffe zu verlangsamen oder zu verzögern. Sie schoß heran, und die von den weitgefächerten Schwingen aufgewirbelte Luft warf den Maskierten Gladiator mit brutaler Gewalt erneut in den Sand. Irgendwie schaffte er es, seine Waffe nicht zu verlieren. Er erhob sich wieder auf die Knie, doch dann kam der Engel von hinten und packte ihn mit seinen muskulösen Armen. Er trug ihn hinauf in die Luft, und sein fester Griff trieb dem Gladiator die Luft aus den Lungen. Aber wenigstens waren seine Arme noch frei. Der Sand schwebte mit schwindelerregender Schnelligkeit unter ihm vorbei. Der Maskierte wandte den Blick ab.

In seinem Nacken spürte er den stoßweisen Atem der Kreatur. Mit aller Kraft riß er den Kopf nach hinten und schlug in das Gesicht seines Widersachers. Er spürte genausosehr, wie er hörte, daß die Nase des Engels brach. Warmes Blut strömte über seinen Helm und seine Schultern, aber der Griff der Kreatur lockerte sich nicht für den Bruchteil einer Sekunde.

Allmählich begann der Maskierte Gladiator sich zu fragen, was die verdammte Kreatur mit ihm vorhatte, als er vor sich den Fahnenmast mit seiner stählernen Spitze aufragen sah.

Plötzlich wußte er Bescheid. Der Engel mußte ihn einfach nur auf den Stander fallen lassen, und alles war vorbei. Aufgespießt zu werden war ein langsamer, schmerzhafter Tod. Ihm blieben nur noch Sekunden. Der Maskierte Gladiator hatte keine Chance, seinen Widersacher hinter sich oder die Arme, die ihn umklammerten, mit einem ernsthaften Hieb seines Schwertes zu treffen. Das ließ nur eine einzige Möglichkeit offen. Er biß die Zähne zusammen und verzog das Gesicht unter dem glatten Helm zu einer häßlichen Grimasse. Dann wechselte er den Griff um das Schwert und stieß es tief in seine eigene Seite, trieb es durch seinen Körper hindurch und auf der Rückseite wieder hinaus und in die Eingeweide des Engels hinter sich.

Das Wesen schrie schmerzerfüllt auf, und Blut schoß aus den Wunden beider. Sie fielen wie ein Stein zu Boden und krachten auf den harten Sand. Der Maskierte Gladiator schlug zuerst auf, und der Aufprall trieb die Klinge seiner Waffe noch tiefer in die Eingeweide des Engels. Das Wesen stieß ihn von sich, und er zog das Schwert mit verbissener Wut aus seiner Seite. Der Engel schrie erneut auf, und Blut floß in Strömen auf den Sand, als die beiden Kämpfenden sich voneinander wegrollten. Aber der Gladiator hatte sich die Stelle seiner Wunde mit Bedacht ausgesucht, und obwohl er schwer verletzt war und blutete wie ein abgestochenes Schwein, würde die Wunde ihn noch eine ganze Weile nicht töten. Und was zumindest im Augenblick viel wichtiger war – er konnte noch kämpfen. Der Maskierte Gladiator vertrieb den Schmerz mit jener Leichtigkeit aus seinen Gedanken, die nur lange Übung hervorbringt, und wirbelte zu den Engel herum, der zuckend im Sand lag und seine Eingeweide in der Bauchhöhle umklammert hielt. Die Flügel der Kreatur zuckten hilflos. Das Schwert des Gladiators war tief in ihre Eingeweide eingedrungen, und die Klinge hatte einen klaffenden Riß hinterlassen, als er die Waffe wieder herausgezogen hatte. Jetzt kniete der Maskierte Gladiator sich über seinen besiegten Feind, hob das Schwert mit beiden Händen und ließ es mit aller verbliebenen Kraft auf den Hals des Engels hinunterfahren. Die Klinge drang tief ein, durchtrennte die Halswirbel, und die Bewegungen des Engels verwandelten sich in ein konvulsivisches Zucken.

Der Maskierte Gladiator blickte auf die Kreatur herab. Sein blutiges Grinsen blieb hinter seinem glatten Helm verborgen.

Der Engel war nicht mehr länger eine Gefahr für ihn. Trotzdem trennte er ihm den Kopf ab – man konnte nie wissen –, bevor er sich unsicher auf die Beine erhob. Er hielt den Kopf seines Gegners hoch und zeigte ihn triumphierend den Zuschauern. Das schöne Gesicht der Kreatur war eine Fratze des Entsetzens, und rotes Blut floß aus dem Hals am Arm des Gladiators hinab. Es fühlte sich warm und klebrig an. Langsam drehte der Maskierte Gladiator sich mit seiner Trophäe im Kreis, und die Menge begann zu toben. Sie jubelten und klatschten und trommelten begeistert, als der abgetrennte Kopf in einer Großaufnahme auf dem gewaltigen Bildschirm über der Arena zu sehen war.

Der Maskierte Gladiator verbeugte sich dankend und stolperte, als sein Kopf sich plötzlich seltsam leicht anzufühlen begann. Genug Schau für die Massen. Es war Zeit, so schnell wie möglich aus der Arena zu verschwinden, solange er das noch aus eigener Kraft konnte. Es würde seinem Ansehen nicht guttun, wenn er auf einer Bahre hinausgetragen werden müßte. Er konnte nicht fühlen, wieviel Blut er verlor, aber er sah es an seinem Bein herabströmen und in den Sand sickern.

Er setzte sich in Richtung des nächstgelegenen Ausgangs in Bewegung, und die Benommenheit wuchs mit jedem weiteren Schritt. Seine Hand umklammerte unverwandt den Kopf des besiegten Gegners. Vielleicht würde er ihn ausstopfen lassen und an die Wand hängen.

Die Menge jubelte noch immer, während der Maskierte Gladiator davonstapfte, ein großer, geschmeidig muskulöser Mann ohne Wappen oder Abzeichen auf der Rüstung und mit einem anonymen Stahlhelm auf dem Kopf, der sein Gesicht verbarg. Ein Geheimnis, das in ein Rätsel verpackt war. Viele waren bereit, ein kleines Vermögen zu zahlen, wenn sie dafür in das Gesicht hätten sehen dürfen, das sich unter dem glatten Helm verbarg, aber noch mehr erfreuten sich an dem Geheimnis um seine Person und griffen zu allen Mitteln, damit er es bewahrte, selbst vor den persönlichen Agenten der Imperatorin.

Der Maskierte Gladiator stapfte durch das Tor, und das Kraftfeld fiel eben lange genug in sich zusammen, damit er passieren konnte. Hinter ihm schloß sich die undurchsichtige, undurchdringliche Wand aus Energie sofort wieder. Er stapfte durch hell erleuchtete Gänge und preßte seine freie Hand schützend auf die Wunde in seiner Seite. Der Maskierte Gladiator nickte den Trainern und Kämpfern, an denen er vorbeikam, kühl und gefaßt zu. Es ging nicht an, daß das Gerücht nach draußen gelangte, er wäre ernsthaft verwundet worden –

und ganz besonders nicht, daß er sich die Wunde mit eigener Hand zugefügt hätte, selbst dann nicht, wenn er durch diese List den Kampf gewonnen hatte. Es gab beinahe beliebig viele Geier, die sich im gleichen Augenblick auf ihn stürzen würden, wo sie eine Schwäche zu entdecken glaubten. Der Maskierte Gladiator besaß eine Menge Feinde. Meist Leute, die so dumm gewesen waren und gegen ihn gewettet hatten.

Er stapfte weiter und stöhnte, als plötzliche Wogen von Schmerz sich trotz seiner Konzentration in sein Bewußtsein drängten, und sein Kopf schien irgendwie ganz weit weg zu sein. Der Schädel des Engels baumelte gegen sein Bein und hinterließ eine Fährte blutiger Flecken, während er weiterging, aber darauf gab der Maskierte Gladiator einen verdammten Dreck. Sollten die Angestellten der Arena zur Abwechslung eben für ihr Geld arbeiten.

Plötzlich tauchte die Tür zu seinen Privaträumen vor ihm auf, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er hergekommen war. Auf der anderen Seite der Tür würde er in Sicherheit sein. Seine Privatsphäre wurde durch die Leitung der Arena garantiert – und durch seine eigene, oft wiederholte Drohung, er würde jeden töten, der auch nur versuchte, ihn auszuspionieren oder in anderer Weise zu belästigen. Er

preßte den Daumen seiner freien Hand auf die Sensorplatte des Sicherheitsschlosses, und die Tür schwang im gleichen Augenblick auf, als der Lektron seinen Daumenabdruck erkannte. Er stolperte durch die Tür, und sie schloß sich hinter ihm.

Sein Mentor und Trainer Georg McCrackin stürzte auf ihn zu, und Besorgnis spiegelte sich in seinem Gesicht. Der Gladiator grinste hinter seiner Maske und warf ihm den Kopf zu.

»Hallo Süßer; ich bin wieder zu Hause.«

Plötzlich schien ihn alle Kraft zu verlassen. Georg ließ den Kopf fallen und war gerade noch rechtzeitig zur Stelle, bevor der Maskierte auf den Boden aufschlagen konnte. Vor seinen Augen wurde alles dunkel. Der nächste klare Gedanke kam, als Georg ihm aus der Regenerationsmaschine half. Er trug noch immer sein Kettenhemd, aber der Schmerz in seiner Seite und seinem Rücken war zusammen mit den Wunden verschwunden. Nicht einmal Narben würden zurückbleiben. Er brummte anerkennend. Die Maschine war eine exzellente Erfindung und jeden einzelnen Penny des kleinen Vermögens wert, das er für sie hatte hinlegen müssen. Der Maskierte Gladiator grinste Georg unter seiner Maske an, der damit beschäftigt war, ihm die Rüstung abzunehmen, dann blickte er in den großen Spiegel an der Wand. Er sah schon verdammt furchterregend aus, wenn er sich so betrachtete. Einen Augenblick lang blieb er schweigend stehen, atmete langsam aus und ließ die Person des Maskierten Gladiators langsam aus sich herausströmen und sein anderes Ich wieder die Oberhand gewinnen. Dann erst nahm er den glatten Helm ab, und das ruhige Gesicht des berüchtigten Stutzers Finlay Feldglöck kam zum Vorschein.

Vater hätte auf der Stelle einen Herzanfall bekommen.

Der Gedanke hörte niemals auf, Finlay zu amüsieren. Er spielte seine Doppelrolle inzwischen lange genug, um sich an vieles gewöhnt zu haben, aber diese Facette brachte noch immer ein schelmisches Grinsen auf sein Gesicht. Er streifte den Rest seiner Rüstung ab und überließ es Georg, sie wegzuräumen. Nackt stand er vor dem Spiegel und streckte sich ausgiebig und unbefangen wie eine Katze. Der Schweiß auf seiner Brust und seinen Armen begann langsam zu trocknen, und geistesabwesend nahm er das von Georg angebotene Handtuch. Er frottierte sich sorgfältig ab, während seine Gedanken weit weg waren.

Georg McCrackin war schon seit Jahren bei ihm und etwas wie seine rechte Hand geworden. Georg war ursprünglich der Maskierte Gladiator gewesen, bevor er die Rolle leid geworden war und sowohl Helm als auch Legende an seinen

Schüler und Nachfolger Finlay Feldglöck übergeben hatte. Niemand hatte je davon erfahren. Er rieb Finlays Rücken mit einem zweiten Handtuch ab; eine dunkle, brütende Gestalt, die leise etwas von bodenlosem Leichtsinn und unnötigem Risiko vor sich hinmurrte.

»Ich fühle mich nach einem solchen Kampf immer ganz besonders gut«, sagte Finlay beinahe verträumt. »Einen Gegner zu töten vertreibt all die dunklen Gedanken und Triebe. Es reinigt Körper und Geist.«

»Zum Glück«, sagte Georg. »Wenn du deinen Blutdurst nicht in der Arena stillen könntest, wäre niemand vor dir sicher. Wahrscheinlich würdest du die halbe Aristokratie in irgendwelchen Duellen auslöschen. Ich wußte gleich vom ersten Augenblick an, in dem ich dich kämpfen sah, daß du eine natürliche Mordmaschine bist.«

Finlay blickte Georg an. »Willst du mir etwa erzählen, daß dir die Zeit als Maskierter Gladiator im Sand der Arena nicht gefallen hat?«

»Nein, das nicht. Aber ich kämpfte wegen der Herausforderung, und du kämpfst wegen des Nervenkitzels. Da besteht ein kleiner Unterschied. Und genau deswegen wird es dir auch ein gutes Stück schwerer fallen als seinerzeit mir, mit dieser Rolle aufzuhören. Aber schließlich wird selbst dein Blutdurst versiegen, und dann bist du an der Reihe, den Helm und die Legende an einen anderen Dummkopf mit Blutgier in den Augen und dem Teufel im Herzen weiterzugeben.«

»Vielleicht hast du recht«, gestand Finlay in einem Ton, der seine Zweifel nicht verbarg, genausowenig wie die Tatsache, daß er überhaupt keine Lust hatte, mit Georg zu streiten.

»Weißt du, das ist alles meines Vaters Schuld. Ich wußte schon als Kind, daß ich zum Kämpfer geboren war. Ich kämpfte gegen jeden, schon bei der geringsten Andeutung einer Beleidigung – ganz gleich, um wieviel größer oder stärker sie waren als ich. Und ich gewann überraschend viele dieser Auseinandersetzungen, Ich wäre zu gerne zum Militär gegangen und hätte gegen die Feinde der Imperatorin gekämpft – aber nein, ich war der Älteste und der Erbe, und das bedeutete, daß man mir nicht erlauben konnte, irgend etwas zu unternehmen, bei dem meine kostbare Haut auch nur einen Kratzer abbekommen könnte. Ich erhielt trotzdem eine hervorragende Ausbildung mit Schwert und Pistole, aber nur, weil es Teil meines Erbes war und mir nicht verwehrt werden durfte. Aber es war mir nie genug. Nicht annähernd. Ich benötigte mehr, um mein Blut anzuheizen, meine Sinne zu befriedigen, mich lebendig zu fühlen…

Mein erstes Duell focht ich mit fünfzehn. Ich schnitt den armen Bastard in Streifen, und es fühlte sich so gut, so richtig an. Danach hatte ich auf Schritt und Tritt einen Leibwächter an meiner Seite, der alle Duelle in meinem Namen ausfocht.

Du kannst dir sicher denken, wie populär mich das bei den Peers machte. Ich wurde schon vorher alles andere als bewundert, aber danach galt ich als Paria. Ich habe meinem Vater in dieser Hinsicht eine Menge zu verdanken.

Doch das ist lange her… bevor ich auch nur daran dachte, regelmäßig in der Arena zu kämpfen. Es begann damit, daß ich der Aufsicht meines Leibwächters entschlüpfte, die Angestellten der Arena bestach und meinen ersten Kampf unter einer Holomaske bestritt. Nichts Außergewöhnliches, keine auserlesenen Tricks, einfach nur Schwert gegen Schwert. Und als alles vorüber war und ich lebte und mein Gegner tot war, da hatte ich ein Gefühl, als gehörte ich hierher. Ich entschloß mich, meine Rolle als Dandy und Stutzer zu entwickeln, damit niemand hinter mein kleines Geheimnis kommen konnte.

Immerhin hätte es zu einem ausgemachten Skandal gereicht, wenn etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Der Erbe eines der mächtigsten Adelshäuser kämpft gegen jeden, der sich ihm in der Arena stellt… meinen lieben Vater hätte der Schlag getroffen.«

»Du hast mir diese Geschichte noch nie erzählt«, sagte Georg. »Sicher, das meiste davon wußte ich bereits. Ich machte es mir zur Aufgabe, alles herauszufinden. Aber du wolltest nie darüber sprechen, also fragte ich nie danach. Was bringt dich dazu, deine Meinung so plötzlich zu ändern?«

Finlay zuckte die Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht liegt es einfach nur daran, daß ich heute da draußen zum ersten Mal meine eigene Sterblichkeit geschmeckt habe.«

Georg rümpfte die Nase. »Das wurde allerdings auch Zeit.

Nur weil du bisher immer gewonnen hast, bedeutet das noch lange nicht, daß du unbesiegbar bist. Du bist in letzter Zeit ein wenig anmaßend geworden. Du kannst so gut sein, wie du nur willst – es gibt immer irgendeinen, der besser ist. Das lehrt uns die Arena jeden Tag aufs neue.«

»Und wer zum Beispiel?« fragte Finlay herausfordernd. Er warf das Handtuch achtlos in eine Ecke und griff nach seiner normalen Kleidung.

»Nun, da wäre zum Beispiel Kid Death. Er ist jetzt der neue Lord Sommer-Eiland. Geh ihm nur schön aus dem Weg. Er ist verrückt.«

»Und das soll ihn unschlagbar machen?«

»Vielleicht nicht in der Theorie, aber in der Praxis ganz sicher. Es schert ihn nicht, wenn er stirbt – solange er seinen Gegner nur mit sich nehmen kann. Hör wenigstens einmal im Leben auf das, was ich dir sage, Freund. Ich habe dich nicht zum besten Kämpfer der Arena ausgebildet, damit ich dich an einen genialen Verrückten mit einem unbewußten Todeswunsch verliere.«

»Schon gut, ich habe verstanden.« Finlay setzte sich auf eine Bank und begann, seine kniehohen Lederstiefel anzuziehen. »Ich war vielleicht in letzter Zeit ein wenig zu zwanghaft mit meinen Kämpfen. Die Arena ist so einfach, geradlinig und unkompliziert im Vergleich zu den endlosen Ränken und Intrigen am Hof und der Politik in den oberen Schichten. Jedes verdammte Wort hat mindestens ein Dutzend Bedeutungen, jede Aussage ein Dutzend Ebenen, und man kann nicht einen Schritt hin, ohne über einen Konspirateur zu stolpern, der einem Verräter die Ohren vollflüstert. Zum Glück betrachtet mich meine Familie genauso wie alle anderen auch nur als einen Stutzer und Feigling; also läßt man mich meistens in Ruhe, weil ich sowieso zu nichts nutze bin. Es liegt nicht einmal Ehre darin, jemanden wie mich in einem Duell zu besiegen, und ich bin zu dumm, als daß man mir die Geheimnisse irgendwelcher Verschwörungen anvertrauen könnte. Ich habe von Anfang an gewußt, daß diese Rolle eine hervorragende Tarnung abgeben würde. Sie verschont mich vor Intrigen, schützt mein geheimes Doppelleben und ermöglicht mir unendliches Vergnügen. Ah, das Leben ist doch etwas Schönes, Georg. Obwohl der Tod noch viel mehr Freude bereitet.«

»Hoffentlich kannst du dir deine gute Stimmung noch eine Weile bewahren«, meinte Georg. »Du wirst sie nämlich nötig haben. Nur für den Fall, daß du es vergessen hast, Finlay: Du hast mich gebeten, dich daran zu erinnern, daß du heute Nachmittag zu einer Hochzeit mußt. Gib es zu – du hast es vergessen, oder? Es scheint eine ziemlich wichtige Angelegenheit zu sein; nur direkte Angehörige der beteiligten Familien sind eingeladen. Ein niederer Adliger wie ich würde nicht einmal an den Türstehern vorbeikommen.«

»Nun sei nicht gleich beleidigt«, sagte Finlay frisch und legte eine letzte Hand an seine Kleidung. Dann betrachtete er sich kritisch in dem mannshohen Spiegel an der Wand. »Es würde dir sicher nicht gefallen. Keine Aufregung, kein Blutvergießen, nur ganz entschieden freundliche Stimmen, dick machende Schlemmereien und minderwertiger Champagner.

Sicher, wenn man an solchen Dingen Interesse hat, dann ist es wahrscheinlich eine ziemlich wichtige Angelegenheit. Ein Vetter von mir, Robert Feldglöck, heiratet eine gewisse Letitia Shreck, und das soll die beiden Familien einander näherbringen. Nur eine arrangierte Hochzeit aus rein politischen und praktischen Gesichtspunkten. Die beiden Clans hängen sich gegenseitig schon länger an der Kehle, als sich jeder Lebende erinnern kann. Aber ausgerechnet jetzt benötigen wir unsere gegenseitige Unterstützung gegen gemeinsame Feinde, also müssen all die blutigen Fehden durch eine Hochzeit begraben werden. Es wird am Ende doch nicht funktionieren, wie immer, aber im Augenblick kümmert das keinen. Und wenn die beiden sich nach der Hochzeit nie wieder sehen, dann ist das auch egal – solange sie nur Sperma und Eier in einer der Samenbänke abliefern und offiziell verheiratet bleiben. Armer Robert, arme Letitia. Soweit ich weiß, haben sie sich noch nie im Leben gesehen.«

Georg lächelte. »Du wirst es schrecklich langweilig finden nach dem aufregenden Tag in der Arena.«

»Nicht unbedingt. Manchmal können Familientreffen gefährlicher sein als alles, was dir in der Arena begegnet. Überall lauern Fallen und Hinterhalte.«

Georg zuckte die Schultern. »Ich jedenfalls werde mich schön da raushalten. Schließlich bin ich auch nur ein unbedeutender Sohn aus einem unbedeutenden Haus.«

»Wenn sie nur wüßten«, grinste Finlay. »Früher oder später wirst du es leid sein, dich zivilisiert zu verhalten, und der Ruf der Arena wird zu laut. Du kannst genausowenig dagegen ankämpfen wie ich – es steckt uns im Blut.«

»Nein«, entgegnete Georg mit Bestimmtheit. »Ich bin aus diesem Alptraum aufgewacht und habe meinen Frieden gefunden. Ich bleibe nur noch so lange hier, bis auch du soweit bist, mein Freund.«

»Dann richte dich auf eine lange Wartezeit ein«, sagte Finlay tonlos. »Ich könnte selbst dann nicht damit aufhören, wenn ich es wollte. Die Arena ist alles, was mich am Verrücktwerden hindert.«

Georg hob eine Augenbraue. »Wenn man bedenkt, wo wir sind und was du hier tust, dann ist geistige Gesundheit ein ziemlich relativer Begriff.«

Plötzlich schwang die gesicherte Tür zum Gang auf, und die beiden fuhren herum. Es hätte unmöglich sein müssen! Das Sicherheitssystem war auf dem neuesten Stand der Technik.

Finlay ergriff sein Schwert Morgana, und Georg hielt unvermittelt einen Disruptor in der Hand. Eine Nonne! Ganz in ihre schwarze Tracht gehüllt, die Hände fromm gefaltet und die Kapuze ihres Umhangs weit in die Stirn gezogen, um ihr Gesicht zu verbergen, trat sie durch die weit offene Tür. Finlay hielt unbeeindruckt sein Schwert erhoben, und auch Georgs Waffe blieb weiter auf sie gerichtet. Die Barmherzigen Schwestern waren hier unten in den Katakomben nichts Außergewöhnliches, aber es hätte trotzdem auf keinen Fall möglich sein dürfen, daß sie ohne weiteres in Finlays private Räume eindringen konnte. Die Nonne blieb in respektvoller Distanz zu den beiden stehen, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Für einen gespannten Augenblick rührte sich keiner der drei vom Fleck. Dann hob die Nonne langsam ihre schlanken, aristokratischen Hände und legte die Kapuze zurück. Georg und Finlay stießen beinahe gleichzeitig den angehaltenen Atem aus und entspannten sich. Finlay senkte sein Schwert, und Georgs Disruptor verschwand aus seiner Hand, als wäre er nie dort gewesen.

»Evangeline!« rief Finlay und machte ein paar Schritte auf sie zu. »Du hast versprochen, daß du nicht wieder herkommen würdest! Es ist zu gefährlich!«

»Ich weiß«, erwiderte Evangeline Shreck. »Aber ich konnte nicht wegbleiben. Ich mußte dich einfach sehen.«

Plötzlich lag sie in seinen Armen, und sie küßten sich mit einer Leidenschaft, die den kleinen Umkleideraum wie einen Ofen aufheizte. Georg verdrehte die Augen nach oben, schüttelte den Kopf und ging nach nebenan, um den beiden ein wenig Privatsphäre zu lassen. Als sie alleine waren, klammerten sich die Liebenden aneinander wie verlorene Kinder in einem heftigen Sturm. Finlays Herz schmerzte in der Brust, und er schien keine Luft mehr zu bekommen. Es war immer das gleiche, wenn er Evangeline in seinen Armen hielt; er konnte einfach nicht fassen, daß jemand so Besonderes wie sie ausgerechnet ihn genauso liebte wie er sie. Die Arena wärmte sein Blut, aber Evangeline brannte in seinem Herzen wie eine reine, weißglühende Flamme. Ihr vertrauter Geruch stieg ihm wie eine Droge zu Kopf, aber sie war real und wirklich in seinen Armen, und ihre Hände gruben sich in seinen Rücken, als fürchtete sie, man könne sie jeden Augenblick von ihm wegziehen. Sie war seine große Liebe, seine eine und einzige, und er hätte für sie getötet, wäre für sie gestorben, hätte wirklich alles für sie getan.

Eines Tages mochte es durchaus soweit kommen. Denn ihre geheime Liebe war verboten. Er war der Erbe des Feldglöck-Clans, und sie die Erbin der Shrecks. Zwei Familien, die seit Generationen verfeindet waren. Die Hochzeit, die für diesen Nachmittag zwischen einem unbedeutenden Vetter Finlays und einer unbedeutenden Base Evangelines arrangiert worden war, hatte bereits ein gutes Dutzend blutiger Auseinandersetzungen heraufbeschworen. Und daß die beiden Erben der Clans heiraten würden – undenkbar! Eines der beiden Häuser würde unausweichlich vom anderen verschlungen werden, aber nicht, ohne daß vorher ein massives Blutbad auf beiden Seiten seine Opfer gefordert hätte. Er war ein Feldglöck, und sie war eine Shreck. Sie hatten einfach Todfeinde zu sein, bis an ihr Ende und noch darüber hinaus.

Nur, daß die Sache nicht so einfach war. Sie hatten sich auf einem Maskenball kennengelernt; keiner hatte gewußt, wer der andere war, bis es viel zu spät gewesen war, und sie hatten sich heftig ineinander verliebt. Es geschah so schnell, doch es änderte ihrer beider Leben für immer. Und jetzt lebten sie nur noch für die kurzen ungestörten Augenblicke, die sie sich davonstehlen konnten, immer in dem Bewußtsein, daß eine Entdeckung Schande und wahrscheinlich sogar den Tod über sie bringen würde. Manche Skandale waren so unmöglich, daß sie einfach nicht toleriert werden durften.

Finlay hielt Evangeline in seinen Armen und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Sie roch so unglaublich gut. Sie schien ihm so klein und verletzlich, so sehr der Gnade gewaltiger, zermahlender Kräfte ausgeliefert, die sich nicht im mindesten um sie scherten. Wenn er gekonnt hätte, er wäre lieber davongerannt und hätte sein Leben irgendwie voller Schmerz und Trauer zu Ende gelebt, als sie in Gefahr zu bringen, aber das konnte er genausowenig wie sie. Nicht mehr. Sie war alles, wovon er je zu träumen gewagt hatte, und sie zu verlieren hätte bedeutet, sein Herz herauszureißen und wegzuwerfen.

Sie kuschelte sich erneut an ihn wie ein kleines Kind oder ein verängstigtes Tier, und nach und nach verlangsamte sich ihrer beider Atem.

»Das Risiko hierherzukommen ist einfach zu groß für dich«, murmelte er in ihr Ohr. »Man könnte dir folgen.«

»Niemand ist mir gefolgt«, sie blickte nicht zu ihm hoch.

»Ich habe einen Esper benutzt, um sicherzugehen. Und wer würde mich in dieser Verkleidung schon erkennen? Hier gibt es so viele Barmherzige Schwestern, die sich um die Verletzten und die Sterbenden kümmern. Niemand erinnert sich je an das Gesicht einer Nonne. Ich mußte einfach kommen, Finlay.

Ich hörte von der Kreatur, die sie auf dich gehetzt haben. Ich mußte sicher sein, daß dir nichts zugestoßen ist.«

»Wie ich dir immer wieder sage: Es gibt nichts, weswegen du dir Sorgen machen müßtest. Ich bin der Beste, mein Liebling. Ich war noch nicht einmal ernsthaft in Gefahr heute.«

»Ja, das sagst du immer wieder, aber jeder kann einmal einen schlechten Tag erwischen oder eine falsche Bewegung machen. Ich wünschte…«

»Ich weiß. Aber ich kann nicht damit aufhören. Ich brauche es genausosehr, wie ich dich brauche. Es ist ein Teil dessen, was mich ausmacht. Ich könnte nicht einfach damit aufhören und noch immer der Mann sein, den du liebst. Evangeline…«

»Ich weiß es selbst, Liebster. Es ist nur, daß ich mich so um dich ängstige. Ich hätte nie geglaubt, daß einmal jemand wie du in mein Leben treten könnte, jemand, der mir so viel bedeutet. Ich hasse alles, was zwischen uns kommen könnte.«

»Hör auf. Es ist unnötig.« Finlay schob sie sanft von sich und blickte in ihr Gesicht. Evangelines dunkle Augen umklammerten ihn wie eine eiserne Faust. »Du bist immer in meinen Gedanken, meine Liebe. Du bist immer bei mir. Ich habe sogar mein Schwert auf deinen zweiten Vornamen getauft.«

»Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dir dafür bin«, entgegnete Evangeline trocken. »Andere Liebende schenken sich Blumen oder Schmuck, und nach mir wird ein Schwert benannt.«

»Es ist ein gutes Schwert.«

»Das macht natürlich einen Unterschied.« Ihr Gesicht umwölkte sich düster, und sie zog sich aus seinen Armen zurück.

»Wie geht es deiner Frau, Finlay?«

Er blinzelte unsicher. »Gut, so weit ich weiß. Wir sehen uns nicht häufiger als unbedingt notwendig. Sie lebt ihr Leben, und ich lebe meines. Solange wir uns nicht gegenseitig über den Weg laufen, geht alles glatt. Warum fragst du, meine Liebste? Du weißt, daß ich sie nie geliebt habe, genausowenig wie sie mich. Es war eine arrangierte Ehe, die einen Handel bekräftigen sollte. Ich würde mich augenblicklich von ihr scheiden lassen, wenn es einen Weg für uns beide gäbe, zusammen zu sein. Warum kommst du ausgerechnet jetzt mit diesem Thema?«

»Weil du und ich auf dieser Hochzeit heute nachmittag sein werden. Unsere Anwesenheit ist erforderlich. Aber was ist mit ihr? Was ist mit Adrienne? Wird sie ebenfalls anwesend sein?«

»Ich schätze ja. Aber wie ich die liebe Adrienne kenne, wird sie ihre Nase sofort nach ihrem Eintreffen in die Bowleschalen stecken. Mit ziemlicher Sicherheit ist sie schon lange vor Beginn der eigentlichen Zeremonie stockbetrunken. Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Wir werden eine Gelegenheit finden, zusammenzusein; wir müssen nur vorsichtig sein. Sehr vorsichtig. Niemand darf je von unserer Liebe erfahren, Evangeline. Ich weiß, du hoffst, daß sich die Dinge zwischen den Clans eines Tages ändern, aber das werden sie nicht.

Wenn sie etwas von uns erfahren, bricht ein Krieg aus.«

»Und was noch schlimmer ist«, sagte Evangeline, »wir werden uns nie wieder sehen.«

Finlay nahm seine Geliebte in die Arme und verschloß ihren Mund mit einem langen Kuß. Lange Zeit standen beide einfach nur da, und klammerten sich aneinander wie Ertrinkende, so fest, daß keine Kraft der Welt je imstande gewesen wäre, sie zu trennen.

Die politisch sensibelste Hochzeit des Jahres mit den am wenigsten zusammenpassenden Brautleuten fand in einem Ballsaal des Wolf-Clans statt. Unter Berücksichtigung des komplizierten Geflechts aus Intrigen, Falschheit und Blutrache, das den Clan der Feldglöcks mit dem der Shrecks verband, war das Gebiet des Wolf-Clans das neutralste Territorium, das sich nur irgendwie finden ließ. Beide Familien lagen seit langem im Streit mit den Wolfs, aber im Augenblick fanden wenigstens keine offenen Kampfhandlungen statt. Sie waren sicher alles andere als Verbündete, und sie würden höchst wahrscheinlich auch nie Freunde sein, aber es war immer noch besser, sich mit seinen Feinden einzulassen und wachsam zu sein, als mit Freunden, die sich unvermittelt und unerwartet gegen einen wenden konnten. Also hatte man sich auf den Wolf-Clan als Gastgeber geeinigt, einen horrenden Preis gezahlt und das Versprechen abgeben müssen, sich anständig zu benehmen. Trotzdem hatten die Wolfs noch eine ganze Kompanie zusätzlicher Wachen aufgestellt.

Die beiden Familien brachten jede für sich eine kleine Armee von Sicherheitsleuten, Leibwächtern und sonstigen Beschützern mit, zusammen mit einer weiteren, nicht ganz so kleinen Armee von nahen und fernen Verwandten, Schranzen und Kriechern. In den oberen Gesellschaftskreisen war das persönliche Gefolge in der Öffentlichkeit von vitaler Bedeutung. Es zeigte die Macht einer Familie. Es ging nicht an, daß ein Feind auf die Idee kam, ein Familienoberhaupt könnte keine Loyalität unter seinen Verwandten und Verbündeten einfordern. Es wäre nicht… gesund. Außerdem liebten die Familien eine gute Schau.

Der Ballsaal selbst war groß und sehr prunkvoll eingerichtet. Wände, Boden und Decke waren dekoriert bis an die Grenze des Erträglichen, aber das war keineswegs unüblich.

Silberne und goldene Säulen und Pfeiler, verziert mit Efeuranken, die aus Jade geschnitzt worden waren, stützten die Decke. Der Boden war ein einziges großes Marmormosaik aus den Porträts bedeutender Wolf-Vorfahren und Bildern wichtiger Siege. Jedes einzelne Plättchen maß nur wenige Zentimeter im Quadrat und war mit Sicherheit bereits mehr, als sich eine gewöhnliche Familie hätte leisten können. Die Wände zeigten sich ständig verändernde holographische Szenerien, die von den Hauslektronen willkürlich aus jedem ihnen passend oder modisch erscheinenden Exterieur ausgesucht wurden. Die Decke zeigte ein Hologramm des Nachthimmels und große, wie Diamanten glänzende Sterne auf samtschwarzem Untergrund. Aber nur wenige Gäste hatten Interesse an dem zur Schau gestellten Reichtum. Sie waren mehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu beobachten.

Finlay Feldglöck und seine Frau waren pflichtschuldig anwesend. Sie waren beide nicht besonders glücklich darüber.

Die beiden Eheleute hatten bereits in ihrer Hochzeitsnacht einen ganz gewaltigen Krach gehabt, und seither hatte sich ihre Beziehung rapide verschlechtert. Sie hatten der vereinbarten Hochzeit nur nach Androhung schlimmster Repressionen und nach ein paar ziemlich ernsten Drohungen seitens ihrer Eltern zugestimmt. Sie hätten sich wahrscheinlich schon lange gegenseitig umgebracht, wenn sie eine Möglichkeit gefunden hätten, ungestraft davonzukommen. Aber die Imperialen Esper hatten dem Mord an Familienmitgliedern jegliches Vergnügen genommen, und so bestand die Ehe der beiden unter Protest fort.

In der Zwischenzeit gingen sie sich soweit wie möglich aus dem Weg und trafen sich lediglich bei offiziellen Angelegenheiten, die ihre Gegenwart erforderten. Wie zum Beispiel diese Hochzeit hier. Das einzige, was sie gemeinsam hatten, waren ihre beiden Kinder, fünf und sechs Jahre alt und nach allen Maßstäben bereits eine heilige Plage. Nicht, daß sie zu ihrer Zeugung miteinander hätten schlafen müssen – der Nachwuchs war das Produkt künstlicher Befruchtung und in Brutkästen ausgetragen worden. Die beiden Kinder waren von Ammen aufgezogen worden, die beiden Familien genehm gewesen waren, und zur Zeit besuchten sie Internate, für die das gleiche galt. Loyalität zu den Clans war nicht angeboren, sondern mußte anerzogen werden, und nach der Überzeugung der Familien hatte man bereits früh damit zu beginnen. Und man durfte nicht riskieren, daß die Eltern sich in die Erziehung einmischten.

Finlay dachte oft wehmütig an seinen Sohn und seine Tochter. Er leistete ihnen Gesellschaft, so oft er nur konnte oder durfte, und er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er den Kindern ein guter Vater hätte sein können – wenn man ihn nur gelassen hätte. Aber wie so viele andere Dinge in diesen Tagen war es NICHT GESTATTET. Finlay seufzte leise und blickte sich im Saal um. Er suchte nach Ablenkung, vielleicht auch nach Inspiration. Seine Kleidung war auf der absoluten Höhe der Mode, vom schockig pinkfarbenen Frack bis hin zum mit fluoreszierender Maskara bedeckten Gesicht und dem schulterlangen, leuchtend bronzefarben metallisierten Haar. Seine Krawatte aus mitternachtsblauer Seide war modisch schlecht gebunden, als Beweis, daß er sie selbst geknüpft hatte. Auf dem Kopf trug Finlay eine pechschwarze Samtkappe, deren einziger Schmuck aus einer großen Pfauenfeder bestand, und er betrachtete die umgebende Szenerie durch einen juwelenbesetzten Kneifer, den er zwar nicht benötigte, der seiner Montur jedoch – seiner Meinung nach – den letzten Schliff gab. An der Hüfte trug er außerdem, wie der Brauch es gebot, ein langes Schwert mit reich verziertem Griff und prachtvoller, mit Edelsteinen besetzter Scheide.

Außer Finlay selbst wußte niemand, daß die Klinge, die sich in der Scheide verbarg, messerscharf und nicht im mindesten als Schmuck oder Zierde gedacht war.

Die Hochzeitszeremonie sollte erst in etwa einer halben Stunde stattfinden; trotzdem war der Ballsaal bereits gerammelt voll. Helle Farben stachen ins Auge, wohin Finlay auch blickte, nur hier und da von den flackernden Hologrammen derer unterbrochen, die nicht persönlich anwesend sein konnten. Die meisten Familienangehörigen lebten über das gesamte Reich verstreut und hatten Geschäfte zu erledigen, aber sie besuchten die Feier zumindest im Geiste, um ihre Solidarität zu zeigen und den neuesten Klatsch aufzuschnappen.

Eine Stimme übertönte scheinbar mühelos den Lärm der allgemeinen Unterhaltungen, und ohne hinzusehen wußte Finlay, daß sie seiner Frau gehörte. Adrienne. Sie besaß eine dieser Stimmen, die durch alles hindurchgingen, wie Laserstrahlen. Nicht zum ersten Mal kam Finlay der Gedanke, daß er ein Vermögen verdienen könnte, wenn es ihm endlich gelänge, aus ihrer Stimme eine Waffe zu konstruieren. Langsam und resigniert wandte er sich um, und wie konnte es anders sein?

Dort stand seine Gemahlin und hielt hof vor einer Gruppe niedrigerer adliger Ehefrauen, die allesamt den Eindruck erweckten, als wären sie lieber woanders. Ganz egal wo.

Adrienne war durchschnittlich groß und nur wenig überdurchschnittlich schwer, aber ihre Gegenwart bildete in jeder Versammlung den – sowohl visuell als auch audibel – schrillen Mittelpunkt. Sie trug ein langes schwarzes Kleid, teilweise wahrscheinlich weil sie dachte, daß die Farbe ihre vornehme Blässe betonte, aber hauptsächlich wohl aus dem Grund, daß sie auf diese Weise stets behaupten konnte, noch immer wegen ihrer Hochzeit mit Finlay Feldglöck zu trauern. Es zeigte so viel von der Schulter, wie nur irgendwie möglich, ohne daß es haltlos bis zu ihren Knien hinabrutschte, und die Seiten waren geschlitzt bis hinauf zu ihren Hüften. Es schien, als würde ein kräftiges Niesen völlig ausreichen, um das Kleidungsstück davonzublasen.

Adrienne besaß ein scharfgeschnittenes Gesicht mit deutlich hervortretenden Knochen und wütendem Schmollmund. Ihre blitzenden Augen standen ein wenig zu eng beieinander. Sie hatte die kleinste Stupsnase, die man für Geld nur kaufen konnte, und ihr lockiges Haar glänzte hell und golden wie eine Signalboje. Ihre Bewegungen waren plötzlich und abgehackt wie die eines umherstolzierenden Huhns, und sie behandelte jede Konversation wie einen Feind, den es zu besiegen und in die Knie zu zwingen galt. Möglicherweise hatte sie irgendwann einmal etwas über Takt gehört, aber wenn, dann war es schon lang wieder in Vergessenheit geraten. Jedenfalls schien sie sich niemals mit derartigen Konventionen zu belasten. Wäre sie ein Mann gewesen, ihr loses Mundwerk hätte ihr Hunderte von Duellen eingetragen. Aber so blieb ihren Gegnern nichts weiter übrig, als darauf zu hoffen, daß zumindest in dieser Beziehung eines Tages Gleichberechtigung eingeführt werden würde, damit Menschen wie Adrienne Feldglöck endlich zum Schweigen gebracht werden konnten.

In der Hand hielt sie ein großes Glas, das ursprünglich unanständig voll gewesen war. Aber während sie ihre Zuhörerinnen mit ihrem durchdringenden Organ einschüchterte, nahm sie große Schlucke daraus, und Gott mochte den armen Dienern gnädig sein, wenn sie nicht rechtzeitig zur Stelle waren und ihr nachschenkten. Sie ließ den Blick über den herrlichen Ballsaal gleiten und schüttelte angewidert den Kopf.

»Mein Gott, dieser Raum ist eine Müllhalde! Ich habe schon lebhaftere Begräbnisse gesehen, und erst recht bessere Verpflegung! Ich würde den Wein glatt in die Toilette spülen, aber ich könnte schwören, daß mir schon jemand zuvorgekommen ist. Und seht Euch nur den Bräutigam an! Ich kenne Leute, die bei ihrer eigenen Beerdigung ein fröhlicheres Gesicht gemacht haben als dieser arme Bursche. Und erst die Braut! Sie ist noch ein Kind! Wahrscheinlich muß sie in der Hochzeitsnacht ihre Schulaufgaben nachholen. Hat sich irgendwer die Mühe gemacht und das Kind auf die Seite genommen, um es über das Leben aufzuklären? Zum Beispiel, daß sie immer ein Kontrazeptivum nehmen soll, oder daß sie sich immer alles schriftlich oder zumindest vor Zeugen geben lassen soll? Seht nur hin! Das arme Ding sieht so verwirrt aus wie eine blinde Lesbierin auf einem Fischmarkt! Vielleicht bringt ein guter Beischlaf ein wenig Farbe auf ihre blassen Wangen. Aber glaubt ja nicht, daß dieser lange schlaffe Sack Reis dort, der ihr zukünftiger Mann wird, es ihr vernünftig besorgen könnte.«

Und so weiter und so weiter. Adrienne versprühte noch eine ganze Weile ihr Gift und machte nur Pausen, wenn es absolut unumgänglich war – wenn sie atmen oder trinken mußte oder eine der Frauen anfunkelte, die scheinbar nicht aufmerksam genug zuhörte. Finlay bewunderte sie aus sicherer Entfernung.

Er wußte einen guten Auftritt durchaus zu schätzen, und Adrienne schien an diesem Nachmittag in Höchstform zu sein. Glücklicherweise hatte er nach einigen Jahren verbaler Überfälle aus kürzester Distanz eine gewisse Immunität gegen die Tiraden seiner Frau erlangt. Andere hatten weniger Glück.

Mehr als eine der Zuhörerinnen Adriennes erweckte den unzweifelhaften Eindruck, wehmütig darüber nachzudenken, wie man dieser Person am besten etwas wirklich Unangenehmes (wenn auch vielleicht nicht Tödliches) in den Wein schütten könnte, wenn sie einen Moment unachtsam wurde.

Finlay hatte vollstes Verständnis für derartige Gedankengänge. Adriennes Stimme besaß den angenehmen Klang eines Luftschlags und war ungefähr genauso willkommen. Wer auch immer Partys oder andere gesellschaftliche Ereignisse und Treffen arrangiert, zeigte ungewöhnlichen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, Begründungen zu erfinden, um Adrienne nicht einladen zu müssen. Alles war schon vorgebracht worden: Seuchen, soziale Aufstände, die Pest – umsonst. Es spielte keine Rolle. Irgendwann stand Adrienne vor der Tür, und da sie durch ihre Ehe mit Finlay eine Feldglöck war, konnte man sie unmöglich abweisen. Sie hatte ein außerordentlich dickes Fell. Und was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden darf – je mehr Aufmerksamkeit man Adrienne widmete, desto mehr geriet Finlay selbst in den Hintergrund. Was ihm genaugenommen ganz hervorragend in den Kram paßte.

Er ließ seine Blicke durch den überfüllten Ballsaal schweifen und musterte die vertrauten aristokratischen Paradiesvögel und all die schon fast rituellen Tänze aus Intrige und Verführung, Politik und Klatsch. Überall sah er leuchtende Gesichter und strahlend glänzende metallische Haare und Kleider, die bis an die Grenzen des modischen Geschmacks designt waren.

Finlay kamen sie vor wie bunte Spielzeuge mit verborgenen scharfen Krallen. Die Gesichter besaßen keine Tiefe, keine Leidenschaft, keine Hingabe an irgendwas außer dem Vergnügen des Augenblicks. Nur ihre extrem schwach entwickelte Konzentrationsfähigkeit und die angeborene Faulheit bewahrte die meisten der Anwesenden vor vollkommener Dekadenz, die in Wirklichkeit ein gutes Stück harter Arbeit war, von der die meisten gar keine Ahnung hatten. Finlay verachtete seine Standesgenossen. Sie wußten nichts über Mut, und die wahren Extreme von Leben und Tod kannten sie nur aus ihren sorgfältig orchestrierten Duellen, bei denen häufig schon die erste Schramme und der erste Tropfen Blut ausreichten, um der Ehre Genüge zu tun. Ehre! Finlay beobachtete sie mit leerem Lächeln auf dem Gesicht und Verachtung im Herzen.

Verzweifelt suchte er nach einer Ablenkung von seinen düsteren Gedanken, und sein Blick blieb schließlich an den Wolfs hängen. Der alte Wolf selbst war nicht anwesend, genausowenig wie seine junge Frau; eine höfliche Geste, die ihm allerdings ermöglichte, offiziell jedes Verhalten zu ignorieren, das die Neutralität der Veranstaltung zu stören vermochte. Aber Valentin, Stephanie und Daniel waren da, und alle drei erweckten in Finlay den Eindruck, als wären sie lieber woanders. Er grinste schwach. Ja, sicher – die drei standen kurz vor ihren eigenen Hochzeiten. Vermutlich hatte der alte Wolf darauf bestanden, daß sie an der Feier teilnahmen, damit sie einen Eindruck von dem sie erwartenden Schicksal gewannen. Stephanie und Daniel standen eng beieinander und ignorierten ihre zukünftigen Ehepartner demonstrativ, die sich nett miteinander unterhielten und prächtig zu amüsieren schienen.

Valentin stand ein wenig abseits, allein wie immer, eine große, schlanke, düstere Gestalt in einem pflaumenfarbenen Rock und Kniebundhosen. Mit seinem langen dunklen Haar und dem bemalten Gesicht machte er ganz den Eindruck eines reichen und entsetzlich gelangweilten Sprößlings aus einem nicht mehr ganz gesunden Geschlecht. Hinter der maskara-bemalten Fassade und dem unechten Lächeln schien sein Gesicht freundlich, doch mit seinen Gedanken schien er ganz woanders zu sein. Finlay gefiel die Vorstellung nicht, wo das sein könnte. Valentin hielt kein Weinglas in der Hand. Wahrscheinlich gab es im gesamten Haus keinen Tropfen, der seinen hochentwickelten Geschmacksnerven standhielt.

Finlay beschloß, sich lieber selbst einen Gesprächspartner zu suchen, bevor sich einer der wirklich langweiligen Gäste zu ihm gesellte, und der Wolf war genausogut wie jeder andere. Außerdem faszinierte Valentin ihn auf geheimnisvolle Weise. Sie waren beide gemeinsam zur Schule gegangen, aber das war schon so ziemlich alles, was sie an Gemeinsamkeiten besaßen, damals wie heute. Soweit Finlay sich erinnern konnte, war Valentin ein ganz normales Kind ohne besondere Gaben oder Talente gewesen, aus denen man hätte schließen können, was einmal aus ihm werden mochte. Aber das traf für ihn selbst wahrscheinlich ebenfalls zu. Er setzte sich in Bewegung und schlenderte lässig zu den Wolfs hinüber, als würde er rein zufällig in ihre Richtung kommen. Er nickte und lächelte grüßend nach rechts und links, jede Bewegung ein Sinnbild der Eleganz. Nichts besonders Schwieriges. Eine der ersten Lektionen, die man in der Arena lernte, war die völlige Kontrolle jeder und aller Bewegungen. Die bewundernden Blicke blieben ihm nicht verborgen, als er an den anderen Gästen vorbeischlenderte, doch er verspürte lediglich Stolz wegen seiner phantastischen Verkleidung. Sicher, er war extrem modisch angezogen; ein leuchtender Spiegel, in dem die Leute nur das sahen, was sie zu sehen erwarteten.

Vor Valentin Wolf blieb er stehen und verbeugte sich schwungvoll. Der Wolf nickte zur Antwort höflich. Das schwere Make-up um seine Augen und der grell geschminkte Mund stachen seltsam aus seinem bleichen Gesicht hervor.

Die Art und Weise, wie er sich geschminkt hatte, war schon seit Jahren nicht mehr modern, aber anscheinend hatte Valentin einen Stil gefunden, der seiner inneren Natur entsprach, und jetzt verspürte er eine Abneigung, sich wieder davon zu trennen. Mit plötzlicher Klarheit überlegte Finlay, ob die aufgemalte Maske Valentins vielleicht eine ähnliche Täuschung war wie seine eigene. Und wenn das der Fall war – welcher andere, fremde Valentin verbarg sich hinter der Maske? Ein beunruhigender Gedanke. Was auch immer hinter Valentins Maske liegen mochte, es mußte verdammt anders sein, um das zu überbieten, was der junge Wolf bereits im Alltag darstellte.

Finlay setzte sein strahlendstes Lächeln auf.

»Ihr seht aus, als ginge es Euch ganz hervorragend, Valentin Wolf. Ich muß schon sagen, es überrascht mich immer wieder, Euch in diesen Tagen außer Haus anzutreffen. Wenn Ihr auch nur die Hälfte all der Dinge tut, die man Euch nachsagt, müßtet Ihr zweifellos auf einer Bahre hereingerollt werden und hättet einen Tropf im Arm. Ganz zu schweigen von den Atemschläuchen in Eurer Nase.«

»Ich versuche nur, ein sorgfältiges Gleichgewicht zwischen meinem Innenleben und meiner Umgebung aufrecht zu erhalten«, erwiderte Valentin leichthin. »Ich sehe mich als lebendes Kunstwerk, und Drogen sind meine Farbpalette. Und wie jedes Kunstwerk muß auch ich von fachkundigem Publikum betrachtet werden, das meine Arbeit anerkennt. Aber nicht daß Ihr meint, viele Leute würden die Anstrengung und harte Arbeit erkennen, die sich hinter einer lebenslangen Aufführung verbirgt.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Finlay. »Genau wie niemand die Anstrengungen würdigt, derer es bedarf, um modisch auf der Höhe der Zeit zu sein. Aber der Druck scheint Euch ganz hervorragend zu bekommen, Valentin. Vielleicht könntet Ihr mir bei Gelegenheit den Namen Eures Drogisten geben?«

Valentin musterte sein Gegenüber einen Augenblick lang schweigend, mit ausdruckslosem Gesicht, und Finlay überlegte, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Etwas, das den Wolf-Erben aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Finlay entschloß sich, lieber das Thema zu wechseln, anstatt auf ein Ende zuzusteuern, das ihm vielleicht nicht gefiel.

»Wie ich erfahren habe, findet Eure Hochzeit schon in allernächster Zeit statt, Valentin. Vielleicht kann ich Euch meine Hilfe anbieten, da ich dieses häßliche Geschäft ja bereits hinter mich gebracht habe?«

»Danke, Finlay. Aber ich glaube, ich habe soweit alles unter Kontrolle. Die Blumen sind bereits bestellt, die Brautjungfern sind ausgewählt, und ich habe einen ganz besonderen Fruchtpunsch entworfen, bei dem einige die Augen aufreißen werden. Ich für meinen Teil werde mich ganz in Weiß kleiden und einen Schleier tragen. Vielleicht noch einen Hauch Belladonna, des Duftes wegen. Ich habe schon dafür Sorge getragen, daß meine Zukünftige darüber informiert wird, damit unsere Kleidung zueinander paßt.«

»Ich bin sicher, sie war Euch sehr dankbar dafür«, entgegnete Finlay trocken.

»Nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist«, sagte Valentin, »hat sie eine hübsche Belohnung für jeden ausgesetzt, der mich rechtzeitig ermordet. Und für den Fall, daß es nicht funktioniert, hat sie mir mit großem Ernst angekündigt, daß sie es am Tag unserer Hochzeit selbst machen wird, wenn sie nur eine Waffe in ihre Finger bekommt. Im Augenblick ist sie vollauf damit beschäftigt, eine Blutrache zwischen unseren beiden Familien in Gang zu bringen, aber da ihre Eltern ein persönliches Interesse an unserer Hochzeit haben – nicht zuletzt wegen der ziemlich großen Mitgift, die mein Haus beisteuert –, kommt sie in ihren Bemühungen nicht so recht voran.«

»Sie scheint sehr… resolut zu sein?«

»O ja. Ich bewundere Frauen mit Geist.«

»Ihr müßt mich ihr unbedingt vorstellen, Valentin. Eines Tages.«

»Nichts leichter als das, Finlay. Hier kommt die Dame bereits. Sieht sie nicht prächtig aus?«

Finlay drehte sich um und erblickte eine große, schlanke Frau Ende Zwanzig, die auf die kleine Gruppe zuhielt. Sie steckte in einem hellroten Kleid mit goldenen und silbernen Spitzen, die ihre makellose, bleiche Haut und ihr natürliches rotes Haar betonten. Finlay überlegte, ob die Mode der fluoreszierenden Gesichter und metallisierten Haare vielleicht vorüber war. Die Dinge änderten sich heutzutage so rasend schnell. Die junge Dame verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich vor Valentin und Finlay stehen. Sie zitterte vor mühsam unterdrückter Wut, und ihre Augenbrauen trafen sich in der Mitte ihrer Stirn und steuerten ihren Teil zu einer wild entschlossenen Miene bei. Ihr Mund war kaum mehr als ein gerader Strich und sprach von mühsam beherrschtem Zorn.

Finlay bemerkte, daß seine Hand bei ihrem Anblick beinahe automatisch auf den Griff des Schwertes gefallen war. Sein Instinkt erkannte eine wirkliche Bedrohung, sobald er sie sah.

Er verbeugte sich höflich, und sie schoß einen unverhohlt giftigen Blick auf ihn ab. Finlay verspürte plötzlich den Drang, sich nach dem nächstgelegenen Notausgang umzusehen. Sie machte ganz den Eindruck einer Person, die mit Gegenständen um sich warf. Mit schweren Gegenständen. Valentin schien von all dem überhaupt nichts zu bemerken und lächelte seiner Braut freundlich zu.

»Finlay Feldglöck, darf ich Euch Beatrice Cristiana vorstellen, meine zukünftige Gattin?«

»Friß Scheiße und stirb, du ungehobelter Klotz!« zischte die zukünftige Ehefrau. »Und nimm bloß deine blöde Hand weg.

Ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, sie zu schütteln.

Ich würde eher einem Leprakranken einen Zungenkuß geben als dich anzufassen. Wahrscheinlich macht sogar dein Schweiß süchtig, wenn man bedenkt, wie viele Drogen durch das zirkulieren, was von deinem Kreislauf noch übrig ist. Jedenfalls habe ich deine letzte Botschaft erhalten. Ich schätze, der Schleier ist eine ganz ausgezeichnete Idee. Ich würde vorschlagen, daß du auch noch einen Maulkorb und einen Keuschheitsgürtel anziehst, weil du mich ganz bestimmt nicht anfassen wirst, du Penner! Ich für meinen Teil werde in einem Dekontaminationsanzug erscheinen und einen elektrischen Viehstock statt eines Buketts tragen.«

»Ich muß Euch unbedingt mit meiner Gemahlin bekanntmachen!« sagte Finlay.

»Ist sie nicht wundervoll?« strahlte Valentin. »Ich liebe Frauen mit Mumm! Wir sind wie füreinander geschaffen, liebe Beatrice. Denk nur, wie prächtig unsere Kinder sein werden!«

»Du hast größere Chancen, den jährlichen Kirchenpreis für Bescheidenheit und vorbildliches Bürgertum zu gewinnen, als mit mir ein Kind zu zeugen, Valentin Wolf! Ich hasse künstliche Befruchtung in der Retorte, und wenn du es auch nur wagen solltest, eines deiner ekelhaften Körperteile in meine

Nähe zu bringen, dann stopfe ich sie dir in einen Mixer. Das ist eine rein politische Ehe, Valentin, und dabei wird es auch bleiben. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muß nämlich los und etwas wirklich Teures und Zerbrechliches suchen, um es an die Wand zu werfen.« Sie bedachte Finlay mit einem kurzen, verächtlichen Blick. »Habt Ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie Ihr ausseht? An Eurer Stelle würde ich diesen dämlichen Ausdruck aus meinem Gesicht wischen, Finlay Feldglöck, bevor Ihr es nicht mehr könnt.«

Sie wandte sich ab und stampfte durch die Menge davon, die sich bemühte, ihr aus dem Weg zu gehen – aber die meisten waren nicht schnell genug und mußten sich beiseite rempeln lassen. Finlay bemerkte, daß er die Luft angehalten hatte.

Jetzt atmete er langsam und unter lautem Seufzen wieder aus.

Vollkommen sprachlos blickte er zu Valentin, doch der junge Wolf schien unbeeindruckt. Er schnippte einen imaginären Fleck von seinem Revers und lächelte Finlay an.

»Eines Tages wird sie meine kleinen Geheimnisse zu schätzen lernen. Früher oder später.«

Nicht weit weg von den beiden stand Evangeline Shreck, groß, schlank, und trotz ihres aufregenden, schulterfreien Kleids wie ein verlorenes Kind aussehend, und beobachtete, wie ihr geliebter Finlay sich mit dem berüchtigten Valentin Wolf unterhielt. Sie spürte ein beinahe übermächtiges Verlangen, hinzustürzen und Finlay vor diesem Kerl zu retten. Oder ihn zumindest zu beschützen. Valentin war für sie nichts weiter als eine Gestalt in einer Karnevalsmaske, ein lebendiger Harlekin, und er verkörperte in ihren Augen all das Kranke und Korrupte der gegenwärtigen Gesellschaft. Aber sie durfte sich Finlay ohne guten Grund keinesfalls auch nur nähern.

Selbst wenn man die bevorstehende Hochzeit berücksichtigte, durch die die beiden Häuser der Feldglöcks und der Shrecks eine Verbindung miteinander eingingen, blieb noch genug an Vorbehalten und heimlichem Groll übrig. Es war schon ein kleines Wunder, daß während der bisherigen Feiern noch niemand eine offene Aufforderung zum Duell ausgesprochen hatte. Wenn sie jetzt zu Finlay gehen und mit ihm ein Gespräch beginnen würde, dann sähe es bestenfalls eigenartig aus, und schlimmstenfalls könnte ein aufmerksamer Beobachter sogar Verdacht schöpfen. Offiziell trafen sie sich höchstens bei Gelegenheiten wie dieser hier, und auch dann nur im Vorübergehen. Die Leute würden die Augenbrauen heben und Kommentare abgeben. Vielleicht würden sie sogar beginnen, unangenehme Fragen zu stellen. Evangeline zwang sich dazu, den Blick von ihrer Liebe abzuwenden, und plötzlich stand ihr Vater neben ihr. Sie gewann rasch ihre Fassung zurück und hoffte, daß er ihr Zusammenzucken als Überraschung und nicht als verräterisches Schuldgefühl interpretierte.

Lord Gregor Shreck lächelte seine Tochter liebevoll an und tätschelte ihr mit seiner pummeligen Hand den Arm. Der Shreck war ein kleiner Fettklops von einem Mann, dessen Augen tief in seinem rundlichen Gesicht lagen. Er zeigte ein nie endendes, leicht nervtötendes Grinsen. Der Shreck liebte gutes Essen und Trinken und scherte sich einen Dreck um die herrschende Mode – welche sich im Gegenzug einen Dreck um ihn scherte. Er war kein sehr geselliger Mensch, der Shreck, und er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, alle Feierlichkeiten zu vermeiden, bei denen seine Anwesenheit nicht aus zwingenden Gründen erforderlich war. Er war ungeachtet seines hohen Standes und seiner vorzüglichen Verbindungen nie besonders beliebt gewesen oder gar hofiert worden, aber auch darauf gab er einen Dreck, der Shreck. Er hatte andere Sorgen. Privater Natur.

»Kann ich dir einen Drink anbieten, meine Liebe?« fragte er seine Tochter freundlich. »Oder vielleicht eine Kleinigkeit zu essen? Du weißt, daß ich mir Gedanken mache, wenn du nicht vernünftig ißt.«

»Danke, lieber Vater. Aber ich mag nichts. Wirklich nicht.«

Der alte Shreck schüttelte unglücklich den Kopf. »Du mußt darauf achten, daß du nicht vom Fleisch fällst, mein Kind. Du möchtest doch hübsch aussehen für deinen Papa, oder nicht?«

Die Hand auf ihrem Arm schloß sich zu einer schmerzhaften Warnung. Evangeline nickte artig und lächelte verkrampft.

Es war nicht klug, Vater zu verärgern. Er wirkte nach außen wie ein gutmütiger Mann, doch er besaß ein äußerst jähzorniges Temperament, und in ihm wohnte eine häßliche, erfinderische Bosheit. Also ließ Evangeline zu, daß ihr Vater sein übliches Theater veranstaltete und versuchte ansonsten, sich so weit wie nur möglich von ihm entfernt zu halten, ohne ihn zu verärgern. Es war ein Drahtseilakt, den sie da vollführte, und obwohl sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte, wurde es nie einfacher. Der alte Shreck ließ seine Augen über die laut schnatternde Menge schweifen und zog eine verdrießliche Miene.

»Sieh sie dir nur gut an: Leben einfach so in den Tag, und kein Gramm Gehirn belastet ihre Köpfe. Sie stopfen sich mein Essen in den Bauch und kippen meinen Wein hinter ihre Binden, und meine arme Nichte ist noch immer eine willenlose Sklavin der Eisernen Hexe. Sie tun sich hier auf meine Kosten gütlich, aber frag mal einen einzigen von ihnen, ob er mir dabei hilft, meine arme Nichte zu befreien. Ich kann bitten und betteln, aber nein. Keiner von ihnen weiß, wieviel sie mir bedeutet hat. Genausoviel wie du, Evangeline. Aber ich werde sie irgendwie befreien und zurückholen, eines Tages, und dann werde ich mich an all jenen rächen, die mir ihre Hilfe verweigert haben.«

Die dunklen Wolken verzogen sich ebenso rasch wieder aus seinem pummeligen Gesicht, wie sie gekommen waren, und der Shreck ließ endlich den Arm seiner Tochter los. Er pochte dumpf und schmerzte von seinem eisernen Griff, aber Evangeline wagte nicht, die schmerzende Stelle zu reiben. Es war nicht klug, ihren Vater abzulenken, wenn seine Stimmung ausnahmsweise einmal nicht ganz so schlecht war.

»Reden wir von etwas Erfreulicherem«, sagte er mit einem strahlenden Gesichtsausdruck. »Ich erwarte mir viel von dieser Hochzeit, mein Kind. Die liebe Letitia gibt eine hübsche Braut ab, und Robert Feldglöck soll ein feiner, aufrechter junger Mann sein. Ich habe mir nie viel Zeit für die Feldglöcks genommen, für keinen von ihnen, aber man muß ihnen zugestehen, daß sie eine Menge guter Verbindungen zu interessanten und wichtigen Leuten haben. Und diese Verbindungen werden mir in den Schoß fallen, wenn unsere beiden Häuser erst durch die Heirat miteinander verflochten sind. Als Gegenleistung müssen wir ihnen nur den Rücken freihalten und sie vor Angriffen aus unerwarteten Richtungen schützen, während sie sich um die Kontrakte für die Massenproduktion des neuen Hyperraumantriebs kümmern. Einige ihrer Einkünfte aus diesem Geschäft werden in meine Richtung fließen. Die Dinge entwickeln sich gut, mein Kind. Bald schon kann ich dir all die phantastischen Dinge zu Füßen legen, die ich dir schon immer schenken wollte. Du warst stets sehr geduldig mit mir, hast dir all meine Versprechungen angehört und dich nie beschwert, aber wenn wir erst zu Geld kommen, soll keiner deiner Wünsche mehr offenbleiben, meine Liebe… kein einziger. Und als Gegenleistung wünsche ich mir nur, daß du deinen Vater liebst. Ist das denn zu viel verlangt, Evangeline?«

»Nein, Vater.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, Vater«, erwiderte Evangeline fest. »Du weißt, daß ich dich als meinen Vater ehre und all meine Pflichten dir gegenüber erfülle. Mein Herz gehört dir.«

Gregor Shreck lächelte seine Tochter liebevoll an. »Du siehst deiner Mutter von Tag zu Tag ähnlicher, mein Kind, weißt du das?«

Evangeline dachte noch immer über eine unverbindliche, sichere Antwort nach, als sich James Kassar, der Vikar der Kirche von Christus dem Krieger, zu ihnen gesellte. Groß und muskulös und mit einer Ausstrahlung physischer Überlegenheit, sah der Vikar in seinem tiefschwarzen militärischen Chorhemd einfach umwerfend aus – und er wußte es nur zu gut. Die Imperatorin hatte der Kirche ihre offizielle Unterstützung gewährt, nachdem sie an die Macht gekommen war, und als Gegenleistung unterstützte die Kirche die Eiserne Hexe mit all ihrer nicht unbeträchtlichen Macht. Die Kirche besaß im gesamten Reich ihre Anhänger und kam inzwischen einer offiziellen Staatskirche ziemlich nahe, wenn es denn eine gegeben hätte. Die Kirche hatte der Eisernen Hexe den Titel Hüterin der Kreuzwegstationen, Kriegerin aller Seelen und Verteidigerin des Glaubens verliehen und ihre zahlreichen militärischen Schulen unter Imperiales Kommando gestellt. In der Praxis bedeutete dies, daß die Kirche von Christus dem Krieger alle anderen Religionen verdrängt hatte – zumindest in der Öffentlichkeit – und daß ihr Einfluß praktisch bis in den letzten Winkel des Imperiums reichte. Die Imperatorin hatte die Kirche von sämtlichen Steuern befreit und ihr sogar erlaubt, einen Zehnt (oder mehr) von ihren Anhängern einzutreiben. Auch hierfür erhielt die Imperatorin eine Gegenleistung: Sie benutzte die elitären Jesuitenkommandos der Kirche, um in ihrem Namen Verräter auszumerzen. Und so kam es, daß man sich nicht mit der Kirche stritt oder sie kritisierte.

Ersteres nie, und letzteres zumindest nicht in der Öffentlichkeit.

James Kassar war der aufgehende Stern am Himmel der Kirche. Er hatte sich mehrere Jahre als Soldat ausgezeichnet und die Feinde des Reiches mit unerbittlicher Härte ausradiert, ohne Rücksicht auf eigene Verluste und Kosten. Er wurde rasch zum Major befördert, bis er eines Tages den Ruf des Heilands vernahm und zur Kirche hinüberwechselte. Dort wandte er sich mit großem Eifer der Aufgabe zu, all diejenigen zu finden und zu verfolgen, die sich der Einen und Wahren Kirche von Christus dem Krieger zu widersetzen wagten.

In seiner Hingabe an den Glauben übertrat er hin und wieder die weltlichen Gesetze und radierte ein paar unbeteiligte Dritte zusammen mit den eigentlichen Bösewichten aus – man kann eben kein Omelett machen, ohne Eier aufzuschlagen… und so weiter. Kassar war der aufgehende Stern am Himmel der Kirche, und so schwieg man eben. Zumindest dort, wo Entscheidungen getroffen wurden. Für die Feldglöcks und die Shrecks bedeutete es eine große Ehre, daß Hochwürden zugestimmt hatte, diese Ehe zu schließen – und Hochwürden gab sich alle Mühe, damit es auch das letzte der anwesenden Schafe kapierte. Lord Gregor Shreck verbeugte sich vor dem Vikar, und Evangeline knickste höfisch.

»Wie freundlich von Euch, Euer Gnaden, daß Ihr uns mit Eurer Anwesenheit ehrt«, sagte Gregor mit Honig in der Stimme. »Ich hoffe doch sehr, alles ist zu Eurer Zufriedenheit?«

»Dann hofft Ihr falsch, mein Lieber«, entgegnete der Vikar scharf. »Ich habe noch nie zuvor so viele dekadente Parasiten in einem einzigen Raum versammelt gesehen! Eine Verpflichtung beim Militär würde ihnen wieder Rückgrat verleihen. Ich bezweifle stark, daß mehr als die Hälfte von ihnen seit ihrer Taufe eine Kirche von innen gesehen hat. Oder auf Verlangen den Katechismus des Kriegers rezitieren könnte. Aber solange die Aristokratie sich in die Arme der Imperatorin – lang möge sie leben! – kuschelt, kann sich Euereins erlauben, der Kirche eine lange Nase zu machen. Doch das wird nicht ewig so weitergehen, das verspreche ich Euch!«

»Sicher habt Ihr recht«, stimmte der Shreck dem Vikar zu.

»Darf ich Euch ein Glas Wein oder etwas anderes anbieten?«

»Ich habe dieses Teufelszeug noch niemals angerührt!« empörte sich der Vikar. »Der Körper ist der Tempel des Herrn und nicht dazu da, mit giftigen Substanzen angefüllt zu werden! Ich nehme an, die Einzelheiten für diese Heirat sind sorgfältig ausgearbeitet worden, Shreck? Ich habe noch weitere Verabredungen, und wenn ich meine Termine verschieben muß, wird jemand darunter leiden – aber nicht ich.«

Genau in diesem Augenblick erschien unter lautem Donnergetöse mitten im Ballsaal und scheinbar aus dem Nichts ein wild dreinblickender Zelot. Er war lediglich mit einem zerfetzten Lendenschurz bekleidet, und seine nackte Haut war über und über von frischen und alten Narben bedeckt. Auf der Stirn trug er eine Dornenkrone, und als er das Gesicht verzog, rannen kleine Ströme von Blut an seinen Wangen hinab. Er sah halb verhungert aus. Sein Blick war der eines wahren Fanatikers und Sehenden. Die betäubte Menge begann mit lautem Stimmengewirr auf sein Erscheinen zu reagieren, bis plötzlich aus dem Nichts Flammen aufzüngelten und an dem Zeloten emporleckten, ohne ihm jedoch etwas anhaben zu können. Ehrfürchtig verstummte die Menge aufs neue. Der Zelot funkelte die Umstehenden an, und die Leute wichen ängstlich zurück. Dann begann er zu sprechen. Seine Stimme war überraschend ruhig und wohlklingend.

»Ich bin hier, um gegen die fortwährende Versklavung von Espern und Klonen zu protestieren. Ich protestiere gegen die Schändung der Einen und Wahren Kirche von Christus dem Erlöser! Christus war ein Mann des Friedens und der Liebe, aber wenn er sehen könnte, was heutzutage in seinem Namen geschieht, würde er sein Gesicht von uns allen abwenden und verzweifeln. Ich fürchte Eure Wachen und die Verhöre nicht; ich habe mein Leben dem Heiland gewidmet, und ich opfere es jetzt als ein Zeichen für Euch alle, daß Esper und Klone eine eigene Persönlichkeit und einen eigenen Glauben besitzen, der ihnen nicht verweigert werden darf!« Der Zelot machte eine kurze Pause, blickte die Anwesenden böse grinsend an und fuhr fort: »Wir sehen uns in der Hölle.«

Sein Körper platzte und ging in heiß sengende Flammen auf. Diejenigen, die ihm am nächsten standen, wichen vor der schrecklichen Hitze zurück. Der Zelot stand mitten in den Flammen, noch immer auf den Beinen, unverwandt grinsend, selbst dann noch, als die Flammen auch an seinem Gesicht zu lecken begannen. Schließlich war es vorbei, und Flammen und Hitze verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren.

Nur ein schmieriger Fleck auf dem Marmor des Bodens blieb übrig, ein wenig Asche, die langsam durch die Luft nach unten sank und eine einzelne Hand, die irgendwie aus dem alles verzehrenden Flammeninferno herausgefallen und übriggeblieben war. Sie lag auf dem Boden des Ballsaals wie eine bleiche Blume, die Finger wie zu einem letzten Aufruf an die Vernunft ausgestreckt.

»Esper-Pack«, rümpfte Vikar James Kassar die Nase. »Jedenfalls hat er uns die Arbeit erspart, ihn zu exekutieren. Offensichtlich handelt es sich um Pyrokinese. Es stellt sich nur die Frage, wie er hier hereinkommen konnte? Man hat mir versichert, daß der Ballsaal durch ESP-Blocker geschützt sei.«

»So ist es auch«, erwiderte Valentin und trat vor. »Ich bin nicht sicher, was sich vor unseren Augen abgespielt hat, aber als der älteste Vertreter des Wolf-Clans darf ich Euch versichern, daß unsere Sicherheitsleute in diesem Augenblick an der Angelegenheit arbeiten.«

»Das reicht mir nicht, Wolf!« fauchte Kassar und musterte Valentin mit unverhohlener Abneigung und einem Ausdruck von Ekel. »Gleich, ob der Verbrecher hereinteleportiert ist oder geschmuggelt wurde, er muß hier drinnen Helfer gehabt haben. Und das bedeutet, daß sich ein Verräter unter uns aufhält, Wolf. Ich werde eine Kompanie meiner Leute abstellen, die Euch bei der Suche helfen. Wir haben eine Menge Erfahrung, wenn es um das Aufspüren von Verrätern geht.«

»Ich danke Euch«, erwiderte Valentin. »Doch das wird nicht nötig sein. Meine Leute sind sehr wohl selbst in der Lage, die nötigen Schritte zu unternehmen, ohne all meine Gäste zu erschrecken.«

Die Gäste erschraken dennoch. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannten auch die langsamsten unter ihnen mit weitaufgerissenen Augen, daß Valentin dem Vikar soeben untersagt hatte, seine eigenen Leute in das Haus zu bringen.

Der Vorgang war nicht vollkommen beispiellos, aber trotzdem verdammt selten. Heutzutage riskierte man Leib und Seele, wenn man sich der Kirche widersetzte – und ganz besonders James Kassar, der es nicht gewohnt war, daß man ihm die Stirn bot. Das Gesicht des Vikars lief rot an vor Wut, und er trat einen Schritt vor, um Valentin direkt in die geschminkten Augen zu starren.

»Bring mich nicht in Versuchung, Knabe! Ich verliere keine Träne wegen eines toten Espers, aber ich habe auch keine Nachsicht für Verräter, ganz egal, hinter welchen Positionen sie sich verschanzen! Und eine hohe Herkunft bietet noch lange keinen Schutz gegen den Willen des Herrn.«

»Wie äußerst beruhigend«, sagte Valentin, sonst nichts. Der Augenblick dehnte sich in die Länge, und die Spannung wuchs. Der Vikar durchbohrte Valentin förmlich mit seinen Blicken »Ihr seht aus wie die Dekadenz in Person«, sagte der Vikar schließlich. »Wischt Euch augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht!«

Alles starrte atemlos auf die beiden Männer, deren sagenhafter Wille eisern aufeinanderprallte. Und dann trat Valentin einen weiteren Schritt nach vorn und brachte sein Gesicht direkt vor das Kassars. Sein purpurnes Lächeln wurde noch breiter, und seine dunklen Augen blickten fest und ohne jedes Zeichen von Angst.

»Leckt sie ab!«

Kassar erstarrte. Er stierte Valentin an. Sein Mund war ein blutleerer Strich. Die Hand des Vikars schwebte über dem Griff seines Schwertes, aber er zog die Waffe nicht. Hätte er es getan und hätte er den Wolf in seinem eigenen Haus

getötet, dann hätte er seine Kirche der vollen Blutrache des gesamten Wolf-Clans ausgesetzt. Die Kirche war zwar reich und besaß Macht und Einfluß, und der Clan hätte ihr sicher nicht lange widerstehen können, aber… wenn die Wolfs irgendwie den Kontrakt für den neuen Hyperraumantrieb gewinnen sollten, hätte die Kirche mit gezogenem Hut um die Antriebe bitten müssen… Abrupt wandte Kassar sich ab und stampfte davon. Allmählich begannen die übrigen Gäste wieder zu atmen. Valentin grinste zu Gregor Shreck und Evangeline.

»Bitte entschuldigt die unwillkommene Unterbrechung«, sagte er. »Meine Leute werden sich darum kümmern.«

Der Shreck schnaufte. »Diese verdammte Esper-Brut. Wenn er sich nicht selbst umgebracht hätte, dann hätte ich ihn höchstpersönlich erschossen. Wir sind diesem Pack gegenüber viel zu nachgiebig. Man kann ihnen einfach nicht über den Weg trauen.«

»Es sind noch immer Menschen, Vater«, widersprach seine Tochter leise. »Genau wie Klone auch.«

»Das solltet Ihr den Vikar besser nicht hören lassen«, sagte Valentin leichthin. »Die Position von Staat und Kirche in bezug auf Esper und Klone ist unmißverständlich. Sie existieren lediglich als Resultat wissenschaftlicher Forschung und sind daher Sachen. Die Kirche will ihnen nicht einmal eine Seele zugestehen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet…?«

Valentin Wolf verneigte sich tief, drehte sich um und spazierte davon. Leises Gemurmel und heimliche Glückwünsche erschollen ringsum, als er sich durch die Menge bewegte. Die Kirche hatte in letzter Zeit verdammt zuviel Druck auf die Familien auszuüben versucht und war unter der Aristokratie lange nicht so populär, wie sie es gerne gewesen wäre. Gregor wartete, bis Valentin außer Hörweite war, dann packte er den Arm seiner Tochter und drückte so fest zu, bis der Schmerz Evangeline nach Luft schnappen ließ.

»Mach das nie wieder, mein Kind. Du darfst niemals mit solchen Meinungen über Esper und Klone die Aufmerksamkeit auf dich ziehen, hast du verstanden? Keiner von uns beiden kann sich eine genauere Untersuchung deiner Herkunft erlauben. Niemand darf je herausfinden, was es damit auf sich hat!«

Er schüttelte Evangeline ein letztes Mal warnend am Arm und stapfte mit hochrotem Gesicht davon. Der Shreck war stinkwütend, und alle Leute beeilten sich, ihm aus dem Weg zu gehen. Evangeline legte die Hand auf ihren schmerzenden Arm. Sie stand alleine inmitten der Menge, aber das war für sie nichts Neues. Evangeline war ein Klon. Ihr Vater hatte sie heimlich gezogen, um die echte Evangeline zu ersetzen, die bei einem Unfall gestorben war. Die älteste Tochter war der Liebling des alten Shreck gewesen, und der konnte nicht ertragen, ohne sie zu leben. Und da niemand außer ihm selbst ihren Tod gesehen hatte, verwendete er all sein Geld und seinen Einfluß darauf, seine Tochter zu klonen. Er lehrte den Klon alles, was er wissen mußte, und entließ Evangeline anschließend vorsichtig in die Gesellschaft. Nach einer langen, unbekannten Krankheit sozusagen. Sie hielt sich gut. Sie hatte immer eine rasche Auffassungsgabe besessen, jedenfalls nach den Worten ihres Vaters, und alle akzeptierten sie als die echte Evangeline. Aber sie hatten ja auch keinen Grund, an ihrer Echtheit zu zweifeln. Ein einziger Gentest würde ausreichen, um die Lüge wie eine Seifenblase platzen zu lassen und sie und ihren Vater zu verdammen. Durch einen Klon ersetzt zu werden war der schlimmste Alptraum eines jeden Aristokraten. Man würde Evangeline zerstören (nicht exekutieren; nur Menschen wurden exekutiert, Dinge wurden zerstört), und ihr Vater würde seiner Titel enthoben und verbannt werden.

Sie hatte Finlay Feldglöck noch nicht erzählt, daß sie ein Klon war, und das, obwohl er ihr das Geheimnis seines Doppellebens als Maskierter Gladiator anvertraut hatte. Evangeline hatte bisher einfach nicht den Mut dazu gefunden. Sie liebte ihn über alles, sie vertraute ihm, aber… Aber. Würde er sie noch immer lieben, wenn er wüßte, daß sie nur ein Klon war?

Sie würde es zu gerne glauben, aber… Aber. Sie lächelte freudlos. Wenn sie ihm schon das nicht anvertrauen konnte, wie sollte sie ihm da erst von ihren Verbindungen zur Klon-Bewegung und den Espern erzählen? Schließlich war sie es auch gewesen, die die ESP-Blocker der Wolfs abgeschaltet und damit den Elfen ermöglicht hatte, den Zeloten in den Saal zu schmuggeln…

Evangeline bemerkte, wie ihre Gedanken scheinbar ziellos hin und her irrten, doch sie war nicht imstande, sie unter Kontrolle zu halten. Sie schuldete so vielen Leuten soviel: ihrem Vater, der Klon-Bewegung, Finlay… und nur ein einziger Fehler konnte dazu führen, daß sie in Ungnade fiel oder gar sterben würde. Sie mußte auf jedes Wort achten, das sie sagte, jede Bewegung – verschiedene Lügen für verschiedene Menschen. Manchmal verspürte sie das Bedürfnis, einfach laut aufzuschreien, damit endlich alles aufhörte und der ganze Druck von ihr wich, aber sie konnte nicht. Sie konnte sich nicht leisten, etwas Ungewöhnliches zu tun oder aufzufallen.

Manchmal dachte sie daran, sich umzubringen, aber dann fiel ihr immer Finlay ein, und wie sicher und geborgen sie sich in seinen Armen fühlte. Eines Tages würde sie ihm alles beichten. Eines Tages. Und dann…

Evangeline hob den Blick und sah, wie Finlay lässig heranschlenderte, als würde er sich rein zufällig nähern. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und eine verräterische Röte erschien auf ihren Wangen. Finlay blieb vor ihr stehen und verbeugte sich galant. Sie nickte zur Antwort betont kühl mit dem Kopf. Nicht mehr als die beiden Erben zweier verschiedener Clans, die sich in der Öffentlichkeit begegneten. Finlay lächelte sie an, und sie lächelte zurück.

»Meine liebe Evangeline«, begann er leichthin. »Ihr seht ganz vorzüglich aus. Ich hoffe doch, der unselige Zwischenfall mit dem Esper hat Euch nicht über Gebühr erregt?«

»Nein, überhaupt nicht, Finlay. Ich bin sicher, das die Männer der Wolfs die Dinge im Griff haben. Aber auch Ihr seht gut aus. Ist das eine neue Garderobe?«

»Selbstverständlich. Ich hasse es so, zweimal die gleichen Dinge zu tragen. Schließlich bin ich einer der geheimen Großmeister der Mode und habe die Pflicht, jederzeit innovativ und schockierend aufzutreten. So steht es in meinem Vertrag. Ich sehe, daß Eure Hand leer ist; darf ich Euch vielleicht ein Glas Punsch bringen?«

Evangeline schüttelte entschieden den Kopf. Sie hatte den Punsch gesehen. Er war leuchtend pinkfarben und extrem alkoholreich, wie man sagte. Sie hatte unidentifizierbare Fruchtstücke darin herumschwimmen gesehen, und einige davon schienen sich sogar langsam aufzulösen. Wenn man bedachte, daß der Punsch von den Wolfs spendiert worden war, dann bestand immer die Möglichkeit, daß Valentin eines seiner seltsamen, irritierenden Mittelchen hineingegeben hatte. Die meisten Gäste hatten genug Verstand und Voraussicht gezeigt, um ihre eigenen Getränke mitzubringen. Finlay grinste und zog einen kunstvoll verzierten silbernen Flachmann aus der Tasche. Er schraubte die Kappe ab und schenkte ihr einen großzügigen Schluck aus. Evangeline schnüffelte

prüfend und grinste ihrerseits, als sie das warme Aroma guten Branntweins roch. Sie nippte vorsichtig an der gefüllten Kappe und erlaubte ihrem Blick, zu den Augen Finlays zu wandern. Sie spürte, wie ihr Atem sich beschleunigte, und als sie ihm die Kappe zurückgab, damit auch er trinken konnte, berührten sich ihre Finger.

»Jetzt, da unsere beiden Familien durch eine Heirat vereint werden, bietet sich vielleicht eine Gelegenheit, daß wir uns häufiger sehen«, murmelte Finlay.

»Das wäre höchst erfreulich«, erwiderte Evangeline. »Ich bin sicher, daß wir einige Gemeinsamkeiten entdecken könnten.«

»Gerade im Augenblick habt Ihr jedenfalls einen steifen Drink gemeinsam, und ich würde glatt dafür sterben!« sagte eine vertraut schrille Stimme. Evangeline mußte sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer sich da näherte. Es gab nie irgendeinen Zweifel an der Gegenwart Adrienne Feldglöcks.

Evangeline und Finlay tauschten einen letzten verstohlenen Blick, dann wandten sie sich Finlays berüchtigter Gemahlin zu. Adrienne streckte demonstrativ ihr leeres Glas vor, und Finlay füllte es bis zum Rand mit Brandy. Sie nahm einen tiefen Zug und nickte anerkennend.

»Eine der wenigen Tugenden, Finlay. Du bist eitel und oberflächlich und hast absolut keine Ahnung, wie man eine Dame behandelt, aber du verstehst etwas von dem Gesöff.

Wenn nicht dein Weinkeller wäre, hätte ich mich bereits vor Jahren von dir scheiden lassen. Evangeline, meine Liebe! Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen! Ihr tragt eine sehr… bemerkenswerte Garderobe. Fühlt Euch frei, jederzeit zu mir zu kommen und um Rat zu fragen, wenn Ihr Euch in modischen Dingen unsicher seid.« Sie streckte Finlay das Glas entgegen, damit er es nachfüllte, und ihr Mann gehorchte kommentarlos. Adriennes Trinkfestigkeit war beinahe legendär, selbst an einem Hof, der für seine Exzesse bekannt war. Sie grinste ihren Gatten über den Rand des Glases hinweg gemein an. »Ein guter Brandy, Finlay. Ich mag es, wenn mein Gesöff ist wie meine Liebhaber: stark, geheimnisvoll und verlockend.«

»Also wirklich«, beschwerte sich Finlay. »Ich möchte das nicht hören.«

»Verdammt richtig, Finlay. Das glaube ich gern«, erwiderte Adrienne. Sie wandte sich zu Evangeline um, die sich mit Gewalt dagegen wehrte, zusammenzuzucken. »Es wird allmählich Zeit, meine Liebe, daß auch Ihr Euch nach einem Gemahl umseht. Euer Vater nimmt viel zuviel von Eurer Zeit für sich in Anspruch. Ehemänner können ziemlich langweilig sein, sie sind lästig wie ein ständiger Schmerz im Hintern, aber wenn Ihr in der Gesellschaft vorankommen wollt,

benötigt Ihr einen. Ich persönlich möchte nicht wieder unverheiratet sein, ganz besonders nicht, wenn es darum geht, wer die Zeche bezahlt. Aber wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt?

Ich muß unbedingt ein ernstes Wort mit der Braut und dem Bräutigam reden. Irgendwer muß ihnen schließlich die Augen über das Leben öffnen.«

»Und wer könnte das besser als du«, murmelte Finlay leise…

… doch nicht leise genug. Adrienne grinste ihn an. »Recht hast du.«

Sie bahnte sich ihren Weg durch das Gedränge, und vor ihr öffnete sich wie von Geisterhand eine schmale Gasse. Ihre Beute hatte nicht die geringste Ahnung, was sich da zusammenbraute. Robert Feldglöck, der Bräutigam, wurde im Augenblick von den Brüdern seines Vetters Finlay, William und Gerold Feldglöck, aufgemuntert und ermutigt. Roberts Vater war der jüngere Bruder des alten Feldglöck gewesen und erst vor drei Monaten bei einem Unfall gestorben, über den die Familie noch immer nicht sprach. Hauptsächlich, weil es so peinlich war. Um Robert und seinen Zweig der Familie davor zu bewahren, daß sie zum Gespött der Leute wurden, hatte man hastig eine Heirat arrangiert, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen sollte: Robert würde in die Gesellschaft eingeführt und gleichzeitig die Lücke zwischen den Felglöcks und den Shrecks geschlossen werden. Und wenn etwas dabei schiefgehen sollte – nun, Robert war zur Zeit das entbehrlichste Mitglied der gesamten Familie.

Er war durchschnittlich groß und so durchtrainiert, wie man durch viele Jahre in der Kadettenanstalt nur sein konnte. Mit siebzehn war Robert alt genug, um zu heiraten, aber zu jung, um sein Veto dagegen einzulegen. Er versuchte noch immer, sich an den Gedanken an die bevorstehenden Veränderungen zu gewöhnen. Im einen Augenblick noch waren die Shrecks seine Todfeinde gewesen, die bei jeder Gelegenheit bekämpft werden mußten, und nun heiratete er eine Frau aus diesem Clan. Aber Robert war alt genug, um etwas von Politik zu verstehen und seine Pflichten gegenüber der Familie zu erkennen. Ganz besonders, weil Gerold und William Feldglöck nicht müde wurden, ihm alles genau zu erklären.

William Feldglöck war ein großer, schlanker und ernsthafter Mann und der Buchhalter des Clans. Es war eine Arbeit, die man keinem Außenstehenden anvertrauen durfte, die aber von den meisten Mitgliedern der Familie dennoch wie die Pest gemieden wurde – sie erinnerte viel zu sehr an harte Arbeit, und wenn sie arbeiten sollten, warum waren sie dann als Aristokraten auf die Welt gekommen? Zum Glück fand William den Umgang mit Zahlen sowohl interessanter als auch leichter als den Umgang mit Menschen, und somit war er für die Buchführung wie geschaffen. Er kam nicht viel unter Leute, trotzdem schaffte es der gutmütige William hin und wieder, seine Gesprächspartner mit seinem politischen Sachverstand zu überraschen. Aber schließlich war er ein Feldglöck, oder?

Gerald war im Gegensatz dazu der große Fehlgriff der Familie. Einen wie ihn gab es anscheinend überall. Zu dumm, um mit wichtigen Geschäften betraut zu werden, aber bereits zu alt, um ihn einfach zu übergehen. Die Familie hatte alles versucht, um einen geeigneten Platz für ihn zu finden – vergeblich. Gerold war groß gewachsen wie sein Bruder, besaß blondes Haar und sah blendend aus – aber das war auch schon alles. Er hatte zwei linke Hände und wurde mit untrüglicher Sicherheit von jedem Fettnäpfchen in seiner Nähe angezogen.

Nichts konnte er richtig machen, doch am schlimmsten war, daß alle es wußten, außer ihm. Man hatte den alten Feldglöck sagen hören – und nur halb im Scherz! –, daß man Gerold am besten einer Familie schenken sollte, auf die man richtig sauer war.

»Jetzt versuch wenigstens, ein fröhliches Gesicht zu machen!« sagte William gerade zum jungen Robert. »Immerhin ist das eine Hochzeit und kein Besuch beim Zahnarzt!«

»Richtig«, stimmte Gerold zu. »Beim Zahnarzt holt man dir etwas raus, und bei der Hochzeit steckst du etwas rein. Wenn du weißt, was ich meine, eh?«

Robert lächelte höflich, aber verkrampft. Er erweckte den Eindruck eines kleinen Tiers, das auf der Straße von den Scheinwerfern eines heranrasenden Autos erfaßt worden war und nicht wußte, wohin es fliehen sollte. Er zerrte an seinem Frack, um die Falten zu glätten, und fummelte anschließend an seiner Krawatte herum. Sein Kammerdiener hatte ihm versichert, daß er sowohl modisch als auch würdevoll in seiner Garderobe aussah, doch Robert wußte nicht, ob er den Worten des Dieners Glauben schenken sollte. Der junge Bräutigam verspürte das dringende Bedürfnis, einen harten Drink zu kippen – oder besser mehrere –, aber William ließ ihn nicht. Valentin hatte ihm eine ›kleine Kleinigkeit zur Beruhigung‹ angeboten, Robert lehnte jedoch ab. Er hatte das Gefühl, noch nicht reif zu sein für Valentins ›kleine Kleinigkeiten‹. Wahrscheinlich war außer Valentin selbst niemand reif genug dazu.

»Du hast doch die Probe bereits mitgemacht«, sagte William beruhigend. »Nichts, weshalb du dich aufregen müßtest.

Sag einfach die Worte, küß die Braut, und alles ist vorbei, bevor du es merkst. Denk dran, zuerst den Schleier zu heben.

Du würdest staunen, wenn du wüßtest, wie viele Leute das vergessen. Manchmal denke ich, das sind die Auswirkungen der Inzucht. Reiß dich zusammen, es dauert nicht mehr lange.«

»Und dann kannst du dir deine Braut erst mal in aller Ruhe ansehen«, sagte Gerold. »Freust du dich nicht darauf, eh? Eh?«

»Gerold«, sagte William. »Geh und hol Robert einen Drink.«

»Aber eben hast du noch gesagt, daß er nichts trinken darf!«

»Dann geh und hol mir einen Drink.«

»Aber du trinkst doch gar keinen Alkohol?«

»Dann geh und hol dir selbst einen verdammten Drink, und komm ja nicht wieder, bevor du ihn geleert hast!«

Gerold schluckte einige Male, dann drehte er sich wortlos um und stapfte in Richtung der Punschbowle davon. Er schien ein wenig verwirrt. Wie immer. William sah zu Robert und zuckte die Schultern.

»Nimm’s deinem Onkel Gerold nicht übel, Junge. Er meint es gut, aber er ist als Baby einmal zu oft auf den Kopf gefallen. Es ist nicht allein seine Schuld, daß er genauso nützlich ist wie ein einbeiniger Invalide beim Elfmeterschießen. Gibt es… gibt es noch etwas, das du mich vor Beginn der Zeremonie fragen möchtest? Ich meine, ich… ich bin schließlich ein verheirateter Mann, und…«

»Ach das«, sagte Robert schnell. »Nein, das geht schon in Ordnung. Wenn du wüßtest, wie viele Leute bereits mit mir darüber gesprochen haben. Alle gaben mir freizügig Rat, aber was mich als einziges wirklich interessiert ist, wie ich diesem Schlammassel entkommen kann.«

William lächelte und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Junge, aber das steht nicht zur Debatte. Die Pflicht ruft. Der Feldglöck erteilt die Befehle, und wir haben ihm zu gehorchen. Wo kämen wir sonst hin? In ein einziges verdammtes Chaos, und all die anderen Familien würden sich wie Haie auf uns stürzen, die Blut gerochen haben. Oder geschmeckt? Das kann ich mir nie merken! Aber egal. Wenn es dir ein wenig hilft – ich habe mich vor meiner eigenen Hochzeit genauso gefühlt wie du jetzt. Und ich schätze, ich habe noch Glück gehabt.«

»Mach nur weiter so, und wir müssen eine Bullenpeitsche benutzen, um ihn vor den Altar treiben«, ertönte eine wohlbekannte, schrille Stimme.

Robert und William Feldglöck wandten de Köpfe um und sahen sich Adrienne Feldglöck gegenüber, lebensgroß und doppelt so penetrant. William zuckte merklich zusammen, und er dachte noch über die richtigen Worte nach, um Robert und Finlays Frau einander vorzustellen, als Adrienne schon einen Schritt vortrat, ihn zur Seite schob und Robert anlächelte.

»Hallo, Robert. Ich bin Adrienne, Finlays Frau. Ich bin diejenige, vor der dich wahrscheinlich jeder schon einmal gewarnt hat, und du tust gut daran, jedes einzelne Wort zu glauben. Meist versuchen sie, mich von öffentlichen Auftritten abzuhalten, weil ich sie immer wieder in peinliche Verlegenheit bringe. Ich muß schon sagen. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie peinlich oder verlegen gefühlt! Aber zu deinem großen Glück konnten sie mich nicht von einer so wichtigen Hochzeit fernhalten. Los, du kommst mit mir, mein Lieber. Da ist jemand, den ich dir unbedingt vorstellen möchte.«

»Äh…«, sagte Robert.

Adrienne rauschte los, und Robert hielt sich zögernd einen Schritt hinter ihr. »Wolltest du etwas sagen, mein Lieber?

Nein? Dachte ich mir’s doch. Los, komm schon, wir haben nicht viel Zeit.«

Adrienne nahm ihr Opfer mit einem Griff wie ein Schraubstock an der Hand und zog es hinter sich her durch das Gedränge. Robert blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, jedenfalls schien es ihm das sicherste, wenn er seine Hand unbeschädigt zurück haben wollte. Sie erreichten den Rand der Versammlung, und überall folgte ihnen empörtes Getuschel. Dann zog Adrienne ihn durch eine Seitentür in einen ruhigen Wohnraum, der mit ziemlich alten und unvorstellbar häßlichen Antiquitäten vollgestopft war. Und dort saß, wie eine vereinzelte Blume in einem Garten voller Gestrüpp, Letitia Shreck, seine zukünftige Braut. Sie sprang auf, als Adrienne mit ihrem Opfer durch die Tür gestürmt kam, und blieb dann mit züchtig niedergeschlagenen Augen ruhig stehen. Sie war sechzehn Jahre alt und mehr als hübsch. Vieles deutete darauf hin, daß sie zu einer wunderschönen Frau heranwachsen würde. Das lange Brautkleid ließ sie sehr zerbrechlich erscheinen, beinahe wie eine Porzellanfigur, die ganz alleine auf einem breiten Regal stand. Robert blickte erst zu ihr und dann zu Adrienne, und auf seinem Gesicht stand sein Erschrecken geschrieben.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Adrienne barsch. »Es ist nicht üblich, daß Brautleute sich vor der Zeremonie zu sehen bekommen. Aber sie werden diesmal darüber hinwegsehen, weil sie Angst haben, ich könnte ihnen vor allen Leuten eine Szene machen. Ich kann sehr gut sein, wenn es um eine Szene geht.

Egal. Ich habe euch beide zusammengebracht, damit ihr reden könnt, also fangt an. Ich werde an der Tür Wache stehen. Ihr habt ungefähr zwanzig Minuten, bevor sie kommen und euch vor den Altar zerren, also macht das Beste daraus… ach was, redet einfach miteinander. Ihr werdet überrascht sein, wie viele Gemeinsamkeiten ihr habt.«

Mit diesen Worten rauschte Adrienne Feldglöck aus der Tür hinaus und zog sie mit festem Griff hinter sich ins Schloß.

Robert und Letitia blieben allein zurück und starrten sich wortlos an. Es war plötzlich sehr still im Zimmer. Sie konnten das Gemurmel erhobener Stimmen aus dem Ballsaal durch die verschlossene Tür hindurch hören, aber es hätte ebensogut von einer anderen Welt stammen können. Einen Augenblick lang schien die Zeit selbst stillzustehen, und keiner von beiden rührte sich. Dann räusperte sich Robert verlegen.

»Möchtest du dich nicht setzen, Letitia?« fragte er.

»Ja, danke.«

Sie nahmen einander gegenüber Platz, wobei sie peinlich darauf achteten, genügend Distanz zwischen sich zu bewahren. Robert überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, um nicht als kompletter Idiot dazustehen.

»Letitia…?«

»Titz.«

»Verzeihung?«

»Ich… ich möchte, daß du mich Titz nennst. Wenn es dir nichts ausmacht.«

»Oh? Ja, ja natürlich. Du kannst Bobby zu mir sagen. Wenn du möchtest.« Sie blickten sich zum ersten Mal in die Augen, und plötzlich lächelte Robert. »Sag mal, Titz, fühlst du dich in deinem Kleid genauso unwohl wie ich mich in diesem Frack?«

Sie lachte laut auf und schlug erschreckt die Hände vor den Mund. Vorsichtig blickte sie zu Robert, um zu sehen, ob er nicht schockiert war. Beruhigt durch sein freundliches Lächeln, senkte sie die Hände wieder und lächelte zurück.

»Ich hasse dieses Kleid. Wenn es auch nur einen Millimeter enger wäre, dann hätte ich es unter der Haut. Ich wage es nicht, etwas zu essen oder zu trinken. Ich glaube nicht, daß in diesem Kleid dafür Platz ist. Und jedesmal, wenn ich auf die Toilette muß, benötige ich zwei Dienerinnen, die alle Schnüre und Schnallen öffnen. Und ich war schon ziemlich oft auf der Toilette. Ich glaube, das ist die Aufregung. Aber wenn ich etwas sage oder mich gar beschwere, dann kriege ich als Antwort nur, daß die Tradition es so verlangt. Als ob das irgendein Problem lösen würde.«

»Ja, du hast recht«, sagte Robert, als Letitia eine kurze Pause machte, um Luft zu schöpfen. »Wenn ich noch ein einziges Mal das Wort Tradition zu hören bekomme, muß ich schreien.

Ich hab’ erst vor sechs Stunden erfahren, daß ich heiraten muß. Und du?«

»Genauso. Sie dachten wahrscheinlich, wenn sie uns mehr Zeit geben, suchen wir das Weite oder so etwas.«

»Weit daneben lagen sie damit nicht. Jedenfalls bei mir«, gestand Robert trocken. »Das hier ist nicht im entferntesten das, was ich vorhatte, als ich heute morgen aufgestanden bin.

Wenn ich gewußt hätte, was auf mich zukommt, wäre ich so schnell davongerannt, daß sich in ihren Köpfen alles gedreht hätte, und ich hätte erst am Horizont wieder angehalten. Aber das war, bevor ich dich getroffen habe. Ich meine… ich dachte… Also ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber du… du bist in Ordnung.«

»Danke«, erwiderte Letitia. »Du weißt wirklich, wie man einer Dame ein Kompliment macht, was?«

Robert grinste. »Nein, eigentlich nicht. Ich war die meiste Zeit meines Lebens in der Kadettenanstalt. Man erwartet es von jungen Aristokraten, die kein Erbe antreten werden. Beim Militär trifft man nicht viele Frauen. Und wie steht es mit dir? Gab es schon einmal jemand… Besonderen in deinem Leben?«

»Es gab da jemanden, ja. Aber… es ist vorbei. Sie sind dahintergekommen und haben uns jeden weiteren Kontakt unmöglich gemacht.« Letitia lächelte schief. »Er war einer meiner Leibwächter. Aber ich durfte auch so nicht besonders häufig ausgehen. Nicht mehr, seit die Imperatorin damit begonnen hat, ihre Dienerinnen aus den Familien zu entführen. Ich kannte die arme Lindsay, weißt du, die Nichte des alten Shreck, die verschwand. Sie war so fröhlich und lustig. Seither werden wir schwer bewacht. Ich schätze, es ist nur zu verständlich, aber es macht das Leben auch sehr… ruhig.«

Robert nickte zustimmend. »Und jetzt sind wir hier und kurz davor zu heiraten. Es ist irgendwie eigenartig, daß ich jemanden zur Frau nehmen soll, der aus einem lebenslang verfeindeten Clan stammt.«

»Finde ich auch«, stimmte Letitia ihm zu. Dann klatschte sie unvermittelt in die Hände und grinste verschlagen. »Eßt ihr Feldglöcks wirklich kleine Kinder zum Frühstück?«

»Oh, jeden Tag. Schmeckt viel besser als diese blöden Frühstücksflocken.«

»Vielleicht bringen wir unsere Familien ja wirklich näher zusammen, wie es geplant ist. Man hat schon Pferde vor der Apotheke… du weißt schon. Bobby…?«

»Ja, Titz?«

»Wenn ich schon heiraten muß, dann bin ich froh, daß es wenigstens jemand wie du ist.«

»Danke gleichfalls, Titz. Danke gleichfalls.«

Sie streckte ihre Hand aus, und er ergriff sie zaghaft und umschloß ihre schlanken Finger mit den seinen. Dann saßen sie eine Weile nur schweigend da und lächelten sich an. Wieder schien die Zeit stillzustehen, bis Adrienne hereingeplatzt kam.

»Du lieber Gott, jetzt habt ihr soviel Zeit gehabt und seid noch immer beim Händchenhalten? Ich weiß wirklich nicht, was mit euch jungen Leuten heutzutage los ist. Wenn ich du wäre, dann hätte ich ihn inzwischen schon längst an die Wand gedrückt und… Aber die Zeit ist um, fürchte ich. Finlay hat mich geschickt, um dich zu holen, Robert. Dringende Familienangelegenheiten, und deine Anwesenheit ist erforderlich.«

Robert drückte Letitias Hand ein letztes Mal und erhob sich.

»Familienangelegenheiten sind immer dringend. Ganz besonders dann, wenn es einem ungelegen kommt. Ich bin sehr froh, daß wir diese Gelegenheit hatten, miteinander zu reden, Titz. Wir sehen uns dann.«

»Bis später«, erwiderte Letitia und warf ihm einen Kuß zu.

Robert fing ihn mitten aus der Luft und steckte ihn in die Brusttasche über seinem Herzen, bevor er Adrienne erlaubte, ihn herauszuführen.

Die dringenden Familienangelegenheiten stellten sich als Vollversammlung heraus. Alle waren in einem Nebenraum zusammengedrängt, und vor der Tür hatte man Leibwächter postiert, um sicherzustellen, daß niemand stören würde. Finlay stand in seinem atemberaubend geckenhaften Kostüm im Eingang und musterte Adrienne durch seinen Kneifer hindurch, als wäre sie eine Fremde. William und Gerald stritten sich leise, aber heftig, und unterbrachen ihre Diskussion nur kurz, um Robert bei seinem Eintreten zuzunicken. Er schloß die Tür hinter sich. Ringsum erblickte er nur ernste Gesichter, und seine Stimmung sank. Irgend etwas lag in der Luft. Er konnte es förmlich spüren. Finlay räusperte sich laut, und alle drehten die Köpfe zum Feldglöck-Erben.

»Der Feldglöck kann nicht persönlich anwesend sein«, begann Finlay tonlos. »Er hat eine Nachricht von unseren Verbündeten auf Shub übersandt. Sie kam über eine ganze Reihe von Espern hier an, also können wir ziemlich sicher sein, daß niemand sie abgefangen hat. Wie es scheint, hat eines der anderen Häuser unsere Verbindungen zu Shub entdeckt.«

»Halt, halt! Einen Augenblick mal!« unterbrach ihn Robert.

»Habe ich das richtig verstanden? Was ist das für ein Gerede von wegen Shub? Welche Verbündeten haben wir auf dieser Höllenwelt?«

»Du hast ein Recht, es zu erfahren«, erwiderte Finlay. Seine Stimme besaß einen überraschend ernsten Tonfall, zum ersten Mal, seit Robert ihn kannte. »Du wirst schließlich in Zukunft eine zentrale Rolle bei den Geschäften der Familie spielen.

Aber du darfst mit niemandem außerhalb der Familie darüber sprechen, nicht einmal mit deiner Frau. Niemand darf etwas davon erfahren. Unsere Existenz als eines der Häuser des Imperiums steht auf dem Spiel. Wir intrigieren nun schon seit einiger Zeit gemeinsam mit den KIs von Shub gegen die Politik des Imperiums. Die Feinde der Menschheit haben uns

Pläne fortgeschrittener Technologien zur Verfügung gestellt, damit wir den Kontrakt für die Massenfertigung des neuen Antriebs gewinnen können. Als Gegenleistung müssen wir sie ebenfalls mit dem Antrieb ausrüsten. Sie sind verzweifelt darum bemüht, dem Imperium ebenbürtig zu bleiben, und wir brauchen den Kontrakt. Unsere Finanzen sind im Augenblick ziemlich erschöpft.«

»Um genau zu sein«, fuhr Adrienne dazwischen, »wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. Wenn wir den Kontrakt nicht kriegen, sind wir ruiniert. Bankrott

William zuckte zusammen, aber er nickte. »Wir müssen den Kontrakt unter allen Umständen gewinnen, wenn unser Clan überleben soll. Alles hängt davon ab.«

»Jedenfalls«, sprach Finlay weiter, »hat anscheinend jemand herausgefunden, daß wir mit Shub zusammenarbeiten.

Bis jetzt haben sie wohl keinerlei Beweise, oder wir würden schon in Ketten vor der Imperatorin liegen. Uns stünde eine rasche Verhandlung und ein langsamer Tod bevor.«

»Und wer will Ihr einen Vorwurf daraus machen?« empörte sich Robert. »Wir arbeiten mit den KIs auf Shub zusammen!

Sie haben sich geschworen, die gesamte Menschheit auszulöschen, und wir geben ihnen den neuen Antrieb? Bin ich verrückt, oder hat diese gesamte verdammte Familie den Verstand verloren?! «

»Bitte schrei nicht so!« sagte Finlay ruhig. »All das wurde ausgiebig diskutiert und von den obersten Mitgliedern des Clans beschlossen. Wir haben ganz bestimmt nicht die Absicht, die KIs mit dem neuen Antrieb auszurüsten, ganz egal, was geschieht. Wir sind ehrgeizig und stecken in einer verzweifelten Situation, aber wir haben keinesfalls – um es mit deinen Worten auszudrücken – den Verstand verloren.«

»Es ist lebenswichtig, daß wir herausfinden, wer unser Geheimnis kennt«, sagte Adrienne. »Genau aus diesem Grund bist du hier, Robert. Wir haben bereits einige heimliche Operationen gestartet, um unseren Feind zu entdecken, aber du bist in der einzigartigen Position, die Shrecks auszuhorchen.

Du darfst unter keinen Umständen mit deiner Frau darüber sprechen. Sie mag vielleicht in die Feldglöcks einheiraten, doch im Augenblick ist sie noch eine Shreck. Benutze sie, aber vertrau ihr nicht. Und sieh mich nicht so schockiert an, mein Lieber. Das ist eine Familienangelegenheit, und die Familie kommt immer an erster Stelle.«

»Es ist wichtig, daß wir herausfinden, wieviel unsere Gegner bereits erfahren haben«, sagte William. »Jeder, der zuviel weiß, muß sterben. Die Sicherheit des Clans steht auf dem Spiel.«

»Was macht der Feldglöck?« fragte Gerald neugierig.

»Warum ist er nicht hier? Er sollte diese Entscheidungen treffen, nicht wir.«

»Er verhandelt über eine Esper-Verbindung mit den KIs. Er versucht sie zu beruhigen«, sagte Finlay. »Wir wollen nicht, daß sie etwas Unüberlegtes oder… Überhastetes unternehmen. Wir sind für sie nur so lange von Wert, wie unsere Verbindung unentdeckt bleibt. Der Feldglöck hat ein höllisches Risiko auf sich genommen, um einen Boten hierherzuschleusen, aber es war wichtig, daß er uns sofort in Kenntnis setzte.

Von diesem Augenblick an geht niemand von uns mehr ohne Leibwächter aus dem Haus, und niemand unternimmt etwas auf eigene Faust. Unser unbekannter Feind plant vielleicht, den einen oder anderen von uns zu entfuhren, um ihn nach Informationen auszuquetschen oder als Druckmittel gegen den Rest von uns einzusetzen. Du bist ganz besonders gefährdet, Robert; du kennst dich in diesem Spiel noch nicht so gut aus wie wir. Wir können dich nicht unmittelbar nach der Hochzeit unter Verschluß nehmen, das würde nur den unnötigen Verdacht wecken, wir hätten etwas zu verbergen. Von jetzt an werden du und deine Frau mit doppelten Wachen unterwegs sein. Wenn sie fragt, warum, dann erzähl ihr, wie einfach der Zelot die Feier stören konnte. Und jetzt wollen wir zur Zeremonie zurückkehren, bevor unsere Abwesenheit zum Gesprächsthema wird. Alles lächelt und grinst; es macht keinen Sinn, wenn wir unseren Feinden auch noch die Munition in die Hand geben, mit der sie auf uns schießen. Schließlich wissen sie nicht, daß wir bereits Bescheid wissen. Sieh mich nicht so verwirrt an, Gerald. Zerbrich dir nicht unnötig den Kopf, Vetter. Bleib einfach in unserer Nähe, und wenn du meinst, etwas sagen zu müssen, kneif den Mund zusammen.

William, du behältst ihn im Auge. Wenn er den Mund aufmacht, tritt ihm auf den Fuß.«

Adrienne blickte ihren Gatten nachdenklich an. »Seit wann bist du ein so ausgekochter Konspirateur?«

Finlay grinste sie strahlend an. »Es liegt anscheinend im Blut, meine Liebe. Schließlich bin ich ein Feldglöck, oder hast du das vergessen?«

Er nahm Robert am Arm und führte ihn in den vollen Ballsaal zurück. Überall lächelten ihnen Gesichter zu, und Köpfe verneigten sich höflich. Robert erwiderte mechanisch ihre Grüße. Er fühlte sich wie betäubt. Einige der Gestalten waren nur Hologramme; persönliche Anwesenheit war ein Privileg und eine Ehre, und die weniger Einflußreichen hatten sich üblicherweise damit zu begnügen, ihr Hologramm zu entsenden. Das half wenigstens, die leidigen Duelle zu verringern.

Es ging doch nichts über eine Hochzeit, um alte Familienstreitigkeiten Wiederaufleben zu lassen. Robert dachte darüber nach, um sich von den schockierenden Neuigkeiten abzulenken, aber irgendwie wollte es nicht gelingen. Er entwand seinen Arm Finlays Griff und blickte ihn böse an.

»Jetzt sag schon, wie groß ist die Gefahr für mich? Wie groß ist das Risiko, dem ich Letitia durch unsere Ehe aussetze?«

»Nicht größer als das, dem sie auch jetzt schon ausgesetzt ist. Vergiß nicht, sie ist immerhin eine Shreck, und die Shrecks haben eine Geschichte, neben der die unsere sich ausnimmt wie ein Gesangsbuch. Jetzt beruhige dich endlich und denk an deine Hochzeit, Junge!«

Schließlich rief James Kassar, der Vikar der Kirche von Christus dem Krieger, die Versammlung in der netten Tonlage eines Feldwebels auf dem Exerzierplatz dazu auf, ihm Gehör zu schenken, und die Familien teilten sich in zwei Gruppen auf, die sich gegenseitig argwöhnisch beobachteten. Zwischen den beiden Parteien bildete sich ein schmaler Gang, und bevor er es richtig bemerkte, stand Robert bereits in der Lücke, umgeben von Finlay und William und Gerold, die alle sehr ernst und vornehm dreinblickten. Dann wurde die Braut, umgeben von Frauen aus dem Shreck-Clan, nach vorn gebracht und neben Robert geführt. Letitias Ankunft wurde begleitet von geflüsterten Scherzen und Kommentaren und unterdrücktem Lachen, doch Roberts Begleiter blieben steif und förmlich, wie der Brauch es gebot. Robert war ihnen dankbar, zumindest dafür. Er hatte das starke Gefühl, daß schon der kleinste üble Witz ausreichen würde, ihn – zumindest im Augenblick – in hysterisches Geheul ausbrechen zu lassen. Dann fand er sich neben Letitia durch den Gang nach vorn schreitend, beide allein, beide streng nach vorn blickend und beide verzweifelt darum bemüht, sich auf die Worte und Bewegungen zu konzentrieren, die das Ritual von ihnen erforderte und die man ihnen bei der Probe beigebracht hatte.

Vor dem Vikar, der inzwischen einen prächtigen purpurnen Talar übergeworfen hatte, blieben sie stehen. Kassar verneigte sich kurz vor den Brautleuten und begann in ruhigem, geschäftsmäßigem Ton mit der Zeremonie. Robert war es lieber so. Es ließ den Vikar und die Zeremonie an sich weniger furchterregend erscheinen. Die Worte klangen vertraut von den vielen Hochzeiten, die Robert und Letitia seit ihrer Kindheit besucht hatten, und ihre Antworten kamen in ruhigem, würdevollem Ton. Alles lief sehr glatt, und Robert erinnerte sich sogar rechtzeitig daran, den Schleier zu heben, bevor er die Braut küßte. Nur der rituelle Knoten mußte noch gebunden werden, und dann war es geschafft. Kassar bedeutete dem Meßdiener, die zeremonielle goldene Kordel auf einem Tablett nach vorn zu bringen, nahm die Schnur entgegen und schlang sie lose um die Handgelenke der Brautleute. Dann winkte er den Kirchenesper herbei. Bevor die Kirche der Ehe ihren Segen erteilen und die Hochzeit somit für gültig erklären konnte, war es erforderlich, daß die Identität beider Partner überprüft und bestätigt wurde. Niemand erwähnte je das Wort Klon, aber jeder dachte bei der nun folgenden Prozedur unwillkürlich daran.

Viele der anwesenden Gäste bewegten sich unruhig. Die ESP-Blocker waren für diesen Augenblick abgeschaltet worden, so daß nun wirklich die Gefahr eines psionischen Angriffs von außen bestand, aber die meisten machten sich viel mehr Sorgen wegen der kleinen Geheimnisse, die sie mit sich herumschleppten und die der Kirchenesper vielleicht entdecken mochte. Zu verbergen hatte mehr oder weniger jeder etwas. Und zwar eher mehr.

Doch die Sorgen waren unbegründet. Der Esper wußte genau, daß er nicht riskieren durfte, seine Gedanken in Richtung der Gäste abschweifen zu lassen. Nur zur Erinnerung stand neben ihm ein Gardist der Kirche und hielt den Disruptor auf ihn gerichtet. Also konzentrierte er sich auf die Braut und den Bräutigam vor sich, und jede Unterhaltung verstummte. Bis sein Kopf plötzlich hochruckte und er überrascht einen Schritt zurückwich. Kassar funkelte ihn wütend an.

»Was gibt’s? Ist die Identität eines der beiden fragwürdig?«

»Nein, Hochwürden«, erwiderte der Esper rasch. »Die beiden sind genau die, die sie zu sein behaupten. Es ist nur… ich habe nicht zwei, sondern drei Egos gespürt. Die Lady Letitia ist schwanger. Und der Vater ist nicht der Bräutigam.«

Für einen Augenblick herrschte schockiertes Schweigen, bevor ein Aufstand unter den anwesenden Hochzeitsgästen ausbrach. Robert starrte mit offenem Mund auf Letitia, und Letitia starrte wie betäubt zu ihm zurück. Gab es schon einmal jemand… Besonderen in deinem Leben, hatte er sie gefragt, und sie hatte mit Ja geantwortet. Kassar riß die goldene Schnur von ihren Handgelenken und warf sie in die Ecke. Es schien, daß jeder jeden anschrie und brüllte, so groß war der Lärm, und dann fuhren Schwerter aus der Scheide. Rasch bildete sich ein freier Raum um die befleckte Braut, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Adrienne versuchte sich zu ihr vorzudrängen, doch diesmal bot die Menge selbst für sie kein Durchkommen. Eine befleckte Braut zu einer Hochzeit zwischen verfeindeten Clans zu bringen, würde den Shrecks den Bann der Imperatorin einbringen. Es war die allergrößte Beleidigung.

Die Shrecks schrien und beteuerten ihre Unschuld und daß sie nichts davon gewußt hätten, aber niemand hörte ihnen zu.

Robert machte einen tröstenden Schritt zu Letitia hin, obwohl er nicht wußte, was er sagen oder tun sollte. Und dann brach plötzlich Gregor Shreck durch die tobende Menge, in der Hand die goldene Kordel, das Gesicht rot vor rasender Wut.

Letitia wich ängstlich vor ihm zurück. Bevor noch jemand wußte, was der alte Shreck vorhatte, warf er die goldene Schnur um den Hals seiner Nichte und zog sie zu. Ihre Augen quollen hervor, als sie verzweifelt um Luft kämpfte, und sie umklammerte hilflos die Handgelenke des alten Shreck. Er wirbelte sie herum, stemmte das Knie in ihren Rücken und verstärkte seinen Griff noch. Die Muskeln in seinen Armen traten deutlich hervor. Robert stürzte vor, um ihn aufzuhalten, aber William und Gerald hielten ihn mit kalten, leidenschaftslosen Gesichtern gepackt, so sehr er auch gegen sie kämpfte und sich wehrte.

Letitias Gesicht wurde entsetzlich rot, und die Zunge hing aus dem Mund. In der Menge wurden Rufe und Schreie laut, doch niemand machte Anstalten, ihr zu Hilfe zu kommen.

Robert kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung gegen seine beiden Onkel, aber William und Gerald hatten ihn im Griff.

Er schrie Letitias Namen. Ihm war nicht bewußt, daß er weinte. Letitia sank zu Boden, nur noch durch das strangulierende Seil in den Händen des alten Shreck gehalten. Dann, als ihr Ende nahte, wurde es im Ballsaal plötzlich ganz still. Nur noch der stoßweise Atem des Shreck, das letzte panische Röcheln Letitias und Roberts gequältes Schluchzen waren zu vernehmen. Schließlich verdrehte Letitia die Augen nach oben. Ihr Körper wurde schlaff, und Gregor Shreck lockerte beinahe zögernd seinen Griff. Leblos sank die Braut zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Gregor wandte sich an Finlay, das Gesicht von der Anstrengung noch immer hochrot, sein Atem stoßweise hechelnd.

»Ich bitte um Verzeihung für mich und meinen Clan und präsentiere Euch diesen Tod als Sühne. Darf ich hoffen, daß Ihr uns vergebt?«

»Wir vergeben Euch«, erwiderte Finlay Feldglöck. »Der Ehre ist Genüge getan. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt über eine andere Braut beraten, so daß die Heirat dennoch stattfinden kann. Diese Zeremonie soll vergessen sein und niemals wieder erwähnt werden.«

Er nickte William und Gerald zu, und sie ließen Robert los.

Der junge Bräutigam stolperte vor und kniete neben Letitias Leichnam nieder. Finlay blickte über seine Familie und dirigierte sie mit den Augen aus dem Saal. Die Shrecks folgten ihnen, dann die Wolfs, und schließlich der Vikar James Kassar mit seinen Leuten, bis nur noch Robert Feldglöck übrig war. Noch immer kniete er neben seiner toten Braut, und noch immer hielt er ihre blasse Hand in der seinen.

Draußen, auf dem Gang, musterte der alte Shreck schweigend seine Lieblingstochter Evangeline. Es soll ihr eine Lehre sein, dachte er. Er würde auch sie töten, wenn es sein mußte.

Er hatte es schon früher getan. Bei dem Gedanken stahl sich ein kaltes Lächeln auf sein Mondgesicht. Er hatte seine wirkliche Tochter Evangeline getötet, weil sie ihn nicht so hatte lieben wollen wie er sie.

Wie eine Frau einen Mann.

Er war der Shreck, und man hatte ihm zu gehorchen.

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