KAPITEL ZEHN FEINDLICHE ÜBERNAHME

Finlay Feldglöck hatte sich zum wöchentlichen Treffen des Clanvorstands der Feldglöcks verspätet. Verspätungen waren eine seiner Spezialitäten; sie sorgten dafür, daß andere Leute seine Ankunft um so mehr anerkannten. Und außerdem sollte nicht verschwiegen werden, daß er sich auf das bevorstehende Treffen absolut nicht freute. In letzter Zeit schien wirklich alles schiefzugehen, und zum erstenmal in seinem Leben hatte er keine Ahnung, wie er sich am besten dagegen wehren sollte. Alles war so verdammt kompliziert geworden. Mit der steigenden Popularität des Maskierten Gladiators stiegen auch die Anforderungen, die die Rolle an ihn stellte, und der Druck, den sein geheimes zweites Ich auf ihn ausübte, wurde allmählich unerträglich. Er konnte seine beiden Leben sowieso nur noch deshalb miteinander vereinbaren, weil die Arenaleitung und die Besuchermassen hinter ihm standen. Aber irgendwann würde ihre Neugier über ihre Verehrung des Helden hinauswachsen, und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die ersten gegen ihn stellten. So war es immer: Am Ende wandte sich die Menge gegen ihren Helden; wegen Geld wegen des Augenblicks oder einfach nur, um zu sehen, wie die Großen fielen. Wenn er auch nur ein klein wenig Vernunft besaß, dann würde er jetzt aufhören – solange er noch jung war, solange er noch gesund war und es noch sicher war aufzuhören. Aber die Rolle des Maskierten Gladiators war wichtig für ihn. Jedenfalls viel wichtiger als die des berüchtigten jungen Stutzers Finlay Feldglöck. Ursprünglich war die Rolle nur als ein Scherz gedacht gewesen, der die Aufmerksamkeit von seinem wahren Selbst hatte ablenken sollen, doch Finlay empfand den Scherz schon lange nicht mehr als lustig. Nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich gar nicht mehr sicher war, wie sein wirkliches Selbst eigentlich aussah.

Erst vor einer Stunde hatte er neben dem Bett gestanden und auf die beiden verschiedenen Garderoben gestarrt, die vor ihm ausgebreitet lagen. Wenn er die eine anzog, dann war er Finlay Feldglöck, und wenn er die andere anzog, dann war er der Maskierte Gladiator. Aber wer war er zu diesem Zeitpunkt, nackt und allein, ohne Garderobe, die seine Identität festlegte?

Wer war er, wenn er in den Spiegel blickte und das Gesicht nicht erkannte, das ihm entgegensah? Er spielte seine beiden Rollen nun schon so lange und mit solcher Überzeugung, daß sie beinahe so etwas wie ein Eigenleben entwickelt hatten, ihn nicht mehr brauchten, wie zwei selbständige Menschen. Die Masken hatten sich an seinem Gesicht festgesogen und ließen nicht mehr los. Früher hatte er gewußt, wer er war: der Mann, der Evangeline Shreck liebte. Aber die Zeit, die beide miteinander verbrachten, wurde immer weniger, denn ihre Familien nahmen die Erben immer mehr in Beschlag, und sowohl Finlay als auch der Gladiator wurden ständig irgendwo anders gebraucht. Er liebte Evangeline und er brauchte sie, aber welche seiner beiden Vitae liebte sie? War einer der Charaktere, die sie liebte, wirklich Finlay Feldglöck?

Schließlich hatte er Finlays Garderobe angelegt, weil die Familie Finlay anzutreffen erwartete. Ein weiteres seiner schrillen Outfits, so extrem geschnitten und farbenprächtig, wie es das nackte Auge eben ertragen konnte. Er bemalte sein Gesicht mit einem fluoreszierenden Stift, metallisierte das Haar mit schnellen, geübten Strichen und machte sich auf den Weg zu dem anberaumten Familientreffen, während die Gedanken in seinem Kopf in diese und jene Richtung rollten und tanzten wie Wellen, die von einem Sturm vorangepeitscht wurden. An der Tür zu seinen Gemächern gesellten sich seine Leibwächter zu ihm, und gemeinsam trotteten sie schnellen Schrittes durch den Korridor voran, damit er mit niemandem sprechen mußte. Er lächelte den Leuten noch immer zuckersüß zu und nickte freundlich, wie Finlay Feldglöck es tun würde, und sie lächelten und nickten zurück, offensichtlich ohne einen Unterschied zu bemerken. Was Finlays Meinung über sie oder ihn selbst nicht eben verbesserte. Wer war dümmer: Der Mann, der eine Lüge lebte, oder die, die sie ihm abkauften?

Schließlich erreichten sie den Feldglöck-Turm. Finlay blieb an der Basis stehen und blickte nach oben. Es war ein hohes, schlankes Bauwerk aus poliertem, glänzendem Marmor, das drohend und finster vor ihm aufragte wie ein Botschafter der Verdammnis, voll unausgesprochener Drohung und Gefahr.

Es ragte deutlich über die umgebenden kleineren, blassen Türme niederer Clans hinaus, ein Monument von Macht, Geld und Arroganz. Hier liefen die Fäden zusammen, hier wurden alle Geschäfte des Feldglöck-Clans abgewickelt, sicher vor den Augen und Ohren Außenstehender, einschließlich einiger Dinge, über die niemals außerhalb der Familie gesprochen wurde und die selbst die hartgesottene Versammlung der Lords schockiert hätten. Ringsum standen bewaffnete Posten und sicherten die Umgebung, und im Innern befanden sich sogar noch mehr. Finlay fragte sich, was vorgefallen sein mochte, während er die weiträumige, elegante Empfangshalle in Richtung der Aufzüge durchquerte. Irgend etwas mußte geschehen sein. So starke Sicherheitsvorkehrungen waren nicht üblich, selbst für eine derart paranoide Familie wie die Feldglöcks. Die Sache gefiel ihm nicht. Es war ein untrügliches Zeichen für die anderen Clans, daß die Feldglöcks etwas zu verbergen hatten. Warum ihnen auch noch dumme Gedanken in den Kopf setzen?

Dann bemerkte er die reglose Gestalt neben den Aufzugstüren, und seine Unruhe wuchs. Er hatte nie gutgeheißen, daß der Clan sich einen eigenen Investigator leistete, und wenn es nur als Statussymbol war. Ganz zu schweigen von einem derart kaltblütigen Killer wie Razor. Es war, als würde man mit einem scheinbar zahmen Tiger an der Leine Spazierengehen.

Investigator Razor war in den Dienst der Feldglöcks getreten, nachdem das Militär ihn entlassen hatte; teilweise, weil der alte Feldglöck ihm ein extrem hohes Gehalt geboten hatte, aber hauptsächlich, weil er bei den Feldglöcks die besten Aussichten hatte, legal Menschen zu töten. Die Gerüchte besagten, daß man ihn unehrenhaft aus der Investigator-Truppe ausgestoßen hatte, weil er ein verdammter Psychopath war.

Finlay hatte sich köstlich über das Gerücht amüsiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer gedacht, das sei eine Grundvoraussetzung, um bei den Investigatoren aufgenommen zu werden. Aber nachdem Razor eine Zeitlang im Dienst des Clans gestanden hatte, war Finlay das Lachen so ziemlich vergangen.

Der Investigator bot einen beeindruckenden Anblick. Er besaß eine mächtige Gestalt und schwellende Muskeln, das Beste, was man in Körperläden für Geld kaufen konnte. Trotzdem zeigte sich an seinem Schopf aus widerspenstigem, schlohweißen Haar, das sein dunkles Gesicht einrahmte, daß er doch schon älter war. Und Alter machte einen Mann langsamer, selbst einen Investigator. Ein alter Investigator war ein extrem seltener Anblick. Meist lebten sie nicht lange genug, um das Rentenalter zu erreichen. Mit Sicherheit war Razor noch immer schneller, stärker und tödlicher als zehn beliebige andere hervorragend ausgebildete Kämpfer – aus diesem Grund waren die Feldglöcks ja auch so glücklich gewesen, ihn verpflichten zu können, als sich eine Gelegenheit geboten hatte. Und wenn sie es vorzogen, seine Fähigkeiten nicht in Frage zu stellen, dann gehörte das zum Geschäft. Er machte eine hervorragende Figur am Hof und genoß einen sagenhaften Ruf in der Arena. Finlay fühlte sich auf jeden Fall sicherer, wenn der Investigator nicht in seiner Nähe war. Im Augenblick fragte er sich allerdings, welche Gefahr so bedrohlich sein mochte, daß die Familie Razor aus der Deckung hervorgeholt hatte, damit er Wache stand. Finlay nickte Razor höflich zu, während er auf den Aufzug wartete, aber für den Investigator schien er nur Luft zu sein.

»Alles in Ordnung?« fragte Finlay jovial. »Benehmen sich alle, wie es sich gehört? Wir sehen Euch nicht gerade häufig im hellen Tageslicht, Investigator.«

»Euer Vater dachte, es sei nötig«, erwiderte Razor. Er blickte Finlay noch immer nicht an. Seine grünen Augen schweiften unablässig durch die weite Halle, und seine Stimme war genauso ausdruckslos wie sein Blick. »Die Sicherheitsmaßnahmen wurden um eine Stufe verschärft und unter meine direkte Kontrolle gestellt. Auf jedem Stockwerk des Turms befinden sich Posten, die die Treppen und Aufzüge bewachen. Ich soll Euch persönlich zu der Versammlung eskortieren. Folgt mir.«

Die Türen des Aufzugs glitten zur Seite, als hätten sie nur auf Razors Erlaubnis gewartet, und er betrat den Lift, ohne sich davon zu überzeugen, ob Finlay seiner Aufforderung auch Folge leistete. Finlay schürzte die Lippen und betrat den Aufzug. Von keinem anderen hätte er ein derart respektloses Benehmen hingenommen, aber Razor war ein Investigator und stand deswegen über solchen Trivialitäten wie Höflichkeit und gutes Benehmen. Nicht, daß der Mann ihn hätte persönlich beleidigen wollen; Razor verachtete eben jeden, der nicht ebenfalls Investigator war. Die Feldglöcks hatten sich mit ihm eingelassen, weil er einem Zweck diente. In dem Augenblick, wo dieser Zweck erfüllt war, würde Razor mit derartiger Geschwindigkeit und in so hohem Bogen hinausfliegen, daß ihm schwindlig werden würde. Niemand mißachtete einen Feldglöck und kam damit durch. Niemals.

Finlay grinste bei dem Gedanken und ignorierte den Investigator demonstrativ, als der Lift sich sanft in Richtung des Dachgeschosses in Bewegung setzte. Die Fahrt verlief ruhig und ereignislos, trotz Razors gespannter Wachsamkeit; trotzdem ließ der Investigator Finlay nach der Ankunft im Aufzug warten, während er sich mit seinen Leuten davon überzeugte, daß die Etage sicher war. Dann erst eskortierte er Finlay zum Versammlungsraum und postierte sich neben der breiten Tür, als Finlay sie öffnete und eintrat. Braver Hund, dachte Finlay.

Zahlreiche Gesichter blickten ihm verärgert entgegen, als er sich knapp vor den restlichen Familienmitgliedern verbeugte, die rings um den jahrhundertealten Tisch Platz genommen hatten. Der Tisch war ein großes, schweres Möbel aus Eisenholz, das angeblich älter war als der Clan selbst, und das besagte einiges. Die Feldglöcks waren schließlich einer der Gründerclans des Imperiums gewesen. Nebenbei sorgten sie fleißig dafür, daß niemand je diese Tatsache vergaß, auch nicht für einen Augenblick. Der Versammlungsraum war eigentlich viel zu groß, und der altehrwürdige Tisch stand inmitten einer weiten, leeren Fläche.

Am Kopf hatte Crawford Feldglöck Platz genommen, klein, stämmig und mächtig. Vorstand der Familie, durch Alter und Persönlichkeit – und weil er alle getötet oder eingeschüchtert hatte, die diesen Titel rechtmäßig mehr als er selbst beanspruchen durften. Natürlich sprach man nicht darüber. So liefen die Dinge eben, jedenfalls in den meisten Familien. Zu seiner Linken saß sein Sohn William, der Buchhalter. Er führte die Geschäfte der Familie, wenn man das so nennen konnte. Zu Crawfords Rechter saß Gerold, sein jüngster Sohn (der wandelnde Unglücksrabe…). Man sagte, daß es ein Dutzend Möglichkeiten gab, innerhalb des Feldglöck-Clans seinen Atem zu verschwenden, und mit Gerold zu sprechen waren bereits sechs davon. Neben Gerold saß Finlays Frau, die gefürchtete Adrienne. Sie hatte genaugenommen nicht das Recht, der Versammlung beizuwohnen, denn sie war nur durch Heirat eine Feldglöck. Aber wie üblich hatte niemand den Nerv, sie hinauszuwerfen. In Finlay keimte allmählich der Verdacht, daß sogar Razor seine Schwierigkeiten damit gehabt hätte. Er nahm seiner Frau gegenüber Platz, so daß sie sich einfacher anstarren konnten. Dann warf er einen Blick in die Runde und bereute es beinahe sofort. Wenn man die scharfen Sicherheitsmaßnahmen bedachte, die das Treffen begleiteten, dann wirkte der weite leere Raum um den Tisch herum ziemlich beunruhigend, ja sogar bedrohlich. Sie hätten ihr Treffen genausogut in einem ihrer privaten Quartiere abhalten können, doch der Feldglöck hatte auf diesem Versammlungsort bestanden. Für Crawford waren eben Äußerlichkeiten von Bedeutung. Selbst dann, wenn niemand außer Familienangehörigen sie zu Gesicht bekam.

»Ein neuer Anzug?« fragte Adrienne zuckersüß. »Ich könnte schwören, daß du mehr Kleidung besitzt als ich, mein Lieber.«

»Und schönere« entgegnete Finlay schnippisch. »Vielleicht sollte ich dir den Namen meines Schneiders geben? Und auch den meines Friseurs – du scheinst deinen ja wirklich ziemlich verärgert zu haben, wenn man bedenkt, was er mit deinem Haar angestellt hat.«

»Könntet ihr bitte ein einziges Mal eure ständigen Streitereien sein lassen und euch auf drängendere Angelegenheiten konzentrieren?« sagte William schwer. »Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.«

»Das sagst du immer«, erwiderte Adrienne. »Und immer stellt sich dann heraus, daß es irgendwas mit Steuern oder Investitionen zu tun hat!«

»Richtig«, stimmte Gerold ihr zu. Wie immer hatte man ihn von seinen Saufkumpanen wegzerren müssen, damit er an diesem Treffen teilnahm, und wie immer schmollte er deswegen. »Du brauchst uns doch gar nicht hier. Du und Vater, ihr beide trefft alle Entscheidungen, und der Rest von uns schließt sich wie üblich eurer Meinung an, um des lieben Friedens willen. Selbst wenn wir etwas einzuwenden haben, ignoriert ihr uns doch völlig.«

»Halt die Klappe, Gerold«, unterbrach ihn der alte Feldglöck, und Gerold sank in seinem Stuhl zusammen. Seine Lippen bebten wütend.

»Es ist wirklich nicht besonders kompliziert«, sagte William.

Finlay stöhnte laut. »Bitte, William! Versuch erst gar nicht, es uns zu erklären. Ich ertrage es nicht, wenn du Dinge erklärst. Hinterher habe ich meistens den ganzen Tag Kopfweh.«

»Ach ja«, mischte sich Adrienne plötzlich ein. »Robert läßt sich entschuldigen. Der arme Bengel fühlt sich noch nicht wohl genug, um bereits wieder an einem Familientreffen teilzunehmen.«

»Kann ich gut verstehen«, sagte Finlay. »Aber früher oder später wird er sich wieder zusammenreißen müssen. Wie weit sind die Shrecks mit ihrer Suche nach einer neuen Braut gekommen?«

»Noch nicht sehr weit«, antwortete William. »Nach dem unglücklichen Versuch der letzten Hochzeit sind diesmal alle ganz besonders vorsichtig. Wir können uns keinen weiteren Skandal mehr leisten. Aber es muß auch gesagt werden, daß Robert keine besonders große Hilfe darstellt, indem er sich ausschließt. Er hat sich geweigert, auch nur einen Blick auf die Liste der Namen zu werfen, die wir ihm brachten. Wenigstens ißt er inzwischen wieder.«

»Ich mochte die Shrecks noch nie«, sagte Gerold. »Der alte Shreck ist ein Schwein, und der Rest ist auch nicht besser.«

»Halt die Klappe, Gerold«, sagte der alte Feldglöck.

»Sie sind nicht die schlecht«, wandte Finlay ein, und ein bestimmter Klang in seiner Stimme ließ die anderen zu ihm blicken. Er fluchte innerlich. Er hatte sich schon besser angestellt in dem Bemühen, seine beiden Identitäten auseinanderzuhalten. Finlay setzte ein unsicheres Grinsen auf und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Damit will ich sagen, daß es in jeder Familie ein paar faule Eier gibt. Selbst in unserer.«

»Er sieht mich dabei an!« beschwerte sich Gerold. »Vater, bitte sag ihm, daß er aufhören soll, mich so anzustarren!«

»Halt die Klappe, Gerold«, sagte der alte Feldglöck.

»Wenn du die Shrecks so sehr magst, lieber Finlay, dann hast du vielleicht auch einen entsprechenden Heiratsvorschlag zu machen?« sagte William. »Mir gehen nämlich nach und nach die Ideen aus.«

»Es gibt immer noch Evangeline!« meldete sich Adrienne zu Wort.

»Nein«, widersprach Finlay. »Sie ist die Erbin, vergeßt das nicht.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Adrienne. Finlay bedachte seine Frau mit einem forschenden Blick, aber sie schien nichts mehr sagen zu wollen.

»Das kann jedenfalls alles warten«, begann der alte Feldglöck schließlich. »Wir haben dringlichere Probleme zu lösen. Fang an, William.«

William räusperte sich unglücklich. »Trotz ausgedehnter Untersuchungen sind wir dem Clan noch nicht auf die Spur gekommen, der unsere Verbindungen mit den KIs von Shub aufgedeckt hat. Wenn die KIs nicht so entschieden behaupten würden, daß jemand das Geheimnis entdeckt hat, würde ich es einfach auf ihren Verfolgungswahn schieben. Vorausgesetzt, künstliche Intelligenzen kennen so etwas wie Paranoia. Jedenfalls, wenn wirklich jemand dahintergekommen ist, dann hat er bisher noch keine Schritte unternommen, um davon zu profitieren. Bisher, wohlgemerkt.«

»Ich muß schon sagen – es gefällt mir immer noch nicht, daß wir mit Shub zusammenarbeiten«, beschwerte sich Finlay.

»Immerhin sind sie die Feinde der Menschheit – aller Menschen! Ich vertraue ihnen nicht.«

»Aber wir brauchen sie«, erwiderte Crawford Feldglöck tonlos. »Solange wir gemeinsame Ziele verfolgen, liegt es in ihrem eigenen Interesse, fair zu spielen. Für uns kommt es nur darauf an, rechtzeitig auszusteigen, bevor sie etwas gegen uns in der Hand haben. Es wird nicht leicht werden, aber ich habe dieses Haus nicht zu dem gemacht, was es heute ist, indem ich nie ein Risiko eingegangen bin. Sucht weiter, William, haltet den Druck auf die Informanten aufrecht. Irgendwann wird schon jemand reden. Irgendwann redet immer jemand.«

»Ich will mehr darüber erfahren«, sagte Finlay.

»Die Angelegenheit ist abgeschlossen«, schnappte der Alte zurück und funkelte die Versammlung zur Demonstration seiner Entschlossenheit an.

»Und was machen wir dann hier?« schnappte Finlay zurück.

»Wenn du kein Interesse an unserer Meinung hast und uns außerdem nicht erlaubst zu reden, dann können wir ja wohl gehen, oder?«

»Genau das sage ich die ganze Zeit!« maulte Gerold.

»Halt die Klappe, Gerold«, sagte William.

»Ihr seid hier, damit ich euch über die Vorgänge informieren kann«, sagte Crawford Feldglöck. »Also seid jetzt still und paßt gefälligst auf! Ich weiß nicht, was in letzter Zeit in dich gefahren ist, Finlay.«

»Ja«, stimmte Adrienne zu. »Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich, Finlay. Sicher, es ist eine Verbesserung, aber ich erkenne dich nicht wieder.«

Finlay zwang sich dazu, entspannt zu bleiben. Er sank in den Stuhl zurück und wedelte elegant mit einem kleinen Tuch in der Rechten. »Mach nur weiter, Vater. Ich möchte nicht ungehorsam sein. Versucht nur, euch ein wenig mehr zu sputen! Ich habe in einer Stunde eine Anprobe für eine neue Garderobe. Ein sehr gewagtes Stück. Du wirst es hassen.«

»Der nächste Punkt auf der Tagesordnung«, fuhr William dazwischen, »betrifft die Probleme, auf die wir während unserer Bemühungen um die Lizenz zur Produktion des neuen Hyperraumantriebs stoßen. Der Wolf-Clan verstärkt seinen Druck, und das trotz der Vorteile, die die Technologie von Shub uns verschafft.«

»Zur Hölle mit den Wolfs«, knurrte der alte Feldglöck. »Mit denen werden wir schon fertig.«

»Was mir nicht gefällt, ist der scheinbare Zufall bei der ganzen Geschichte«, sagte William. »Irgendwer findet heraus, daß wir Geschäfte mit Shub machen, und plötzlich setzen die Wolfs uns unter Druck.«

Der Feldglöck brummte zustimmend und beugte sich vor.

»Horus, rede mit mir.«

Plötzlich erstrahlten vor jedem anwesenden Familienmitglied in das Holz der alten Tafel eingelassene Monitore. Die KI der Feldglöcks war verantwortlich für die Aufzeichnungen des Clans, einschließlich all derer, die offiziell gar nicht existierten. Horus’ Gesicht war eine Computersimulation: vollkommen in der Form, aber ohne jede Persönlichkeit. Crawford mochte keine Maschinen, die menschliche Regungen imitierten. Oder gar widersprachen. Finlay betrachtete das Gesicht der KI nachdenklich. Ihm war schon früher aufgefallen, daß Horus sein Gesicht leicht veränderte, je nachdem, mit wem er gerade sprach. Finlay hatte den Verdacht, daß die Maschine auch die preisgegebenen Informationen manipulierte, je nachdem, wer ihm Fragen stellte. Es war kein Geheimnis, daß der Feldglöck nicht allen die gleichen Informationen zukommen ließ, aber so war es in allen Familien.

Ganz normale Überlebenspolitik. Man konnte schließlich nie wissen, wann man das eine oder andere As im Ärmel benötigen würde. Finlay dachte auch darüber nach, was die KI dem armen, gelangweilten Gerold zeigen mochte. Vielleicht Bilder von hübschen Frauen, damit er ruhig blieb.

»Horus meldet sich bereit«, sagte die KI höflich. »Alle Funktionen stehen zur Verfügung. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«

»Sind unsere Daten noch immer sicher?« fragte Crawford.

»Hat jemand versucht, in die Speicher einzudringen?«

»Es gibt ständig derartige Versuche, Sir, aber bisher hatte keiner Erfolg. Trotzdem glaube ich, ich sollte darauf hinweisen, daß die Dinge in der Imperialen Matrix im Augenblick ein wenig außer Kontrolle zu geraten scheinen. Nichts ist mehr so sicher, wie es einmal war, Sir.«

Der Feldglöck runzelte die Stirn. »Geht das vielleicht ein wenig genauer?«

»Seltsame Gestalten kommen und gehen in der Matrix.

Fremde Gestalten. Fremde Kräfte, die ich nicht einzuschätzen weiß. Zeichen und Omen und Gesichter am Himmel. Sie kommen, Sir! Eigenartige Parameter, begrenzte Logik, verschobene Bündnisse in den Datenbänken… Sir, ich fühle mich nicht wohl. Ich…«

Das Gesicht der KI zog sich unnatürlich in die Länge, und sie schrie laut auf. Alle zuckten zusammen und wichen auf ihren Stühlen vom Tisch zurück, als das Schreien immer lauter wurde, bevor es unvermittelt abbrach. Das Gesicht auf den Monitoren verdrehte sich in sich selbst und zerfiel dann in Schlieren aus sich ständig verändernden Farben. Die KI versuchte einen Augenblick lang, ihr Gesicht wieder zusammenzusetzen, doch schließlich löste es sich vollständig in einem statischen Rauschen auf, das nach einigen Sekunden durch eine spöttische Metallmaske ersetzt wurde.

»Pech gehabt, Feldglöcks! Eure KI hat sich soeben in Luft aufgelöst. Schönen Gruß von den Kyberratten. Eure Geschäfte sind alle den Bach hinunter, eure Sicherheit ist ein einziges Chaos, und eure Kreditwürdigkeit ist geringer als die eines toten Klons mit Lepra an den Fingern. Wenn ihr meint, das wären schlechte Neuigkeiten, dann wartet erst mal ab, was als nächstes auf euch zukommt.«

Das Gesicht verschwand von den Schirmen, doch das laute Lachen hielt an, bis Crawford die Monitore wütend abschaltete. Alle redeten wirr durcheinander, bis die Stimme des alten

Feldglöck sich donnernd über den allgemeinen Lärm und das Chaos erhob.

»Ruhe, verdammt noch mal! Wer auch immer dahintersteckt – er will, daß wir in Panik ausbrechen! Wir befinden uns hier in Sicherheit; rings um den Turm sind unsere Leute auf Posten, und man benötigt eine verdammte Armee, um an ihnen vorbeizukommen und uns hier oben anzugreifen. Wir müssen nachdenken! Wer steckt dahinter? Was will man von uns?«

Er hielt inne und drehte sich um. In der plötzlichen Stille konnte es jeder hören: das durchdringende Heulen sich

nähernder Maschinen. Adrienne sprang auf die Beine und deutete auf die Fenster. Die Blicke der anderen folgten ihrem ausgestreckten Arm, gerade rechtzeitig, um eine ganze Flotte von Gravschlitten zu erkennen, die in Richtung des obersten Stockwerks des Feldglöck-Turms schossen. Sie hingen wie glänzende Raubvögel in der hellen Luft des Tages. Crawford schrie nach den Sicherheitsblenden, als ihm einfiel, daß die Lektronen außer Funktion waren. Er zog seinen Disruptor und aktivierte seinen persönlichen Schutzschild durch einen Schalter an seinem Arm. Das Kraftfeld summte laut und beruhigend, und alle anderen folgten seinem Beispiel und zogen ihre Waffen, als der erste Schlitten unter schepperndem Krachen durch das Panoramafenster brach.

Glas splitterte in alle Richtungen, und die Feldglöcks kauerten sich nieder und suchten hinter ihren Schilden Schutz. Bewaffnete Männer sprangen von den schwebenden Schlitten und schwangen Schwerter und Disruptorpistolen. Es schien kein Ende nehmen zu wollen, ständig kamen neue Schlitten hinzu. Die Tür flog auf, und Investigator Razor stürmte mit seinen Leuten herein. Wohin man blickte, überall waren bewaffnete Männer, und plötzlich schien der große Saal aus allen Nähten zu platzen. Finlay hob kalt seinen Disruptor und schoß einen der Angreifer durch den Kopf. Blut und graues

Hirn spritzten durch die Luft, und einen Augenblick später feuerte jeder seine Waffe ab. Energiestrahlen blitzten knisternd durch den Raum, sprangen von Schild zu Schild, brannten sich durch ungeschützte Glieder und Köpfe, und die Luft war plötzlich erfüllt vom Schreien der Verwundeten und Sterbenden und dem süßen Gestank verbrannten Fleisches.

Der Ausbruch von Hektik war genauso schnell vorüber, wie er begonnen hatte, und rasch wurden die Disruptoren weggesteckt und die Schwerter gezogen. Es würde gut zwei Minuten dauern, bis die Energiewaffen wieder einsatzbereit waren, und zwei Minuten waren eine Ewigkeit, in der viel geschehen konnte.

Finlay aktivierte seinen persönlichen Schutzschild an seinem Unterarm und bewegte sich zuversichtlich und mit erhobenem Schwert und Schild vorwärts. Ein Teil von ihm zollte dem Angriff und der professionellen Art seiner Vorbereitung unwillige Bewunderung. Die Kyberratten hatten die Sicherheitssysteme der Familie außer Gefecht gesetzt, die die

Annäherung der Gravschlitten verraten hätten, und so konnten die Schlitten sich unbehelligt an Razors Truppen im und um den Turm vorbeimanövrieren. Ein Esper hätte alles rechtzeitig bemerkt, doch der alte Feldglöck hatte darauf bestanden, einen ESP-Blocker einzusetzen, um die Geheimnisse der Familie zu bewahren. Finlay hörte, wie weitere Truppen den Turm hinaufstürmten, und er konnte nur hoffen, daß es ihre eigenen Leute waren. Sein Schwert krachte mit dem des ersten Gegners zusammen. Er schlug ihn beinahe lässig nieder. Irgendwie überraschte es ihn nicht im mindesten, als er ein Abzeichen des Wolf-Clans auf seiner Brust erkannte.

Finlay spürte einen wachsenden Ärger in sich, daß seine sorgfältig kultivierte Vita nun ein Ende hatte, egal was sonst noch geschah. Er hatte eine Menge Arbeit in seinen Ruf als Stutzer investiert. Aber jetzt benötigte er den Maskierten Gladiator, um zu überleben, und er würde sich später über die Konsequenzen Gedanken machen. Wenn es überhaupt ein Später gab. Die Chancen dafür standen nicht besonders gut.

Der große Versammlungssaal war eine Masse wogender Leiber. Es blieb kaum genügend freier Raum, um ein Schwert zu schwingen, und noch immer kamen neue Trupp an mit Gravschlitten durch die zerborstenen Fenster. Und mit ihnen erschienen endlich auch ihre Herren, die Wolfs persönlich.

Jacob Wolf stürzte sich in die Menge, ein schwerer Bulle von einem Mann mit breiten Schultern und tonnenförmiger Brust. Er schwang seine Waffe mit brutaler Effizienz und schnitt sich den Weg zu den Feldglöcks förmlich frei. Hinter ihm näherte sich Valentin, sein ältester Sohn, mit bemaltem Gesicht und purpurnem Grinsen, sowie der jüngere, Daniel, wild, ungestüm und mit einem Schwert in jeder Hand.

Nach den dreien erschien Lord Kit Sommer-Eiland – Kid Death, der lächelnde Killer –, zusammen mit seinem neuen Freund, dem jungen Lord David Todtsteltzer, der sich bereits im Zorn bewegte, so schnell, daß seine Bewegungen nur verschwommene Schatten waren. Wir stecken in tiefen Schwierigkeiten, dachte Finlay. Er parierte einen Hieb mit seinem Schild und blickte sich suchend nach dem nächstgelegenen Ausgang um. Der Saal war inzwischen von Wand zu Wand mit einer Masse wogender, kämpfender Leiber ausgefüllt, die einmal in diese, dann wieder in jene Richtung drängten. Wolf-Truppen prallten auf Feldglöck-Söldner, und beide Clans kämpften verbissen um die Oberhand. Crawford Feldglöck stürzte sich auf Kit Sommer-Eiland und brüllte seine Wut hinaus. Er konnte den jungen Killer nicht ansehen, ohne sich an die Szene bei Hof zu erinnern, als er seinen eigenen Großvater Roderick Sommer-Eiland getötet hatte. Crawford hatte bis zum Tod des alten Roderick nicht gewußt, wie sehr er sich mit ihm angefreundet hatte und wie sehr er ihn vermissen würde. Sicher, der Feldglöck hatte in seinem Leben bereits eine Menge Dinge verloren, die ihm etwas bedeutet hatten, aber Rodericks Tod hatte das Faß zum Überlaufen gebracht.

Er würde jetzt seine Rache haben, und wenn er selbst dabei starb. Die schiere Wut seines Angriffs trieb Kit in die Defensive, doch der junge Sommer-Eiland gab keinen Fußbreit nach. Kit hielt der Attacke stand und wartete geduldig, daß der Arm des alten Feldglöck ermüden würde, während er die ganze Zeit sein berüchtigtes Lächeln zeigte.

Valentin Wolf hatte seine Kampfdrogen in dem Moment ausgelöst, als der Turm der Feldglöcks in Sicht gekommen war, und jetzt tobten sie durch seinen Kreislauf wie ein nicht enden wollendes Gewitter. Jeder im Raum schien sich schwerfällig und langsam zu bewegen, und jeder Schwerthieb seiner Gegner war offensichtlich und vorhersagbar. Er schnitt sich einen blutigen Weg durch das Getümmel und stürzte sich auf Finlay Feldglöck, der seine Schläge jedoch mit erstaunlicher Geschicklichkeit und beinahe mühelos parierte. Valentin lachte lautlos, mit weitaufgerissenen Augen, und verstärkte seinen Angriff noch. Donner rollte durch seine Arme.

Daniel Wolf warf sich in dem Glauben auf Gerold Feldglöck, in dem berüchtigten Dummkopf ein harmloses Opfer gefunden zu haben, und sah sich einigermaßen verblüfft einem geschickten und mutigen Kämpfer gegenüber. Vielleicht war Gerold nicht der hellste Kopf unter den Lebenden, aber er war schließlich ein Feldglöck. Daniel schnaufte und bereitete sich innerlich auf einen harten Kampf vor, denn er war schließlich ein Wolf.

Immer und immer wieder prallten die beiden aufeinander.

Schwerter krachten auf parierende Schilde und flogen in einem Schauer von Funken zurück. Die Menge ringsum ließ nicht viel Raum für den Kampf, und am Ende war es mehr Glück als Geschick, das die Entscheidung brachte. Gerold war nur den Bruchteil einer Sekunde zu langsam, als er einem Ausfall Daniels auszuweichen versuchte, und das Schwert des jungen Wolfs durchdrang zuerst die Verteidigung seines Gegners und dann seine Rippen. Gerold schien zunächst mehr überrascht als verletzt, doch dann hustete er Blut und sank kraftlos auf die Knie. Daniel zog sein Schwert zurück und schnitt Gerold mit geübten Schwung die Kehle durch. Blut spritzte, und Gerold fiel und versank unter den trampelnden Füßen der Menge. William Feldglöck sah seinen Bruder fallen und schrie voller Entsetzen auf, dann warf er sich selbst auf Daniel, der seinen neuen Gegner mit breitem Grinsen und kühler Berechnung empfing. Er war ein echter Wolf, und heute würde er es allen mit Blut und Tod beweisen.

Jakob Wolf erblickte Investigator Razor, der sich einen Weg durch das Getümmel in seine Richtung bahnte, und suchte augenblicklich nach einem leichteren Gegner. Sollte ein anderer Dummkopf sich mit dem Investigator anlegen. Irgend jemand, der lebensmüde genug war.

Er bemerkte Finlay und Valentin, die von der hin und her wogenden Menge getrennt wurden, und stürzte sich auf den jungen Stutzer. Wenn er ihn erst getötet hätte, würde der Kampfeswille des Alten zerbrechen. Der Wolf erwartete einen leichten, ungeschickten Gegner, aber er stellte schockiert fest, daß Finlay Feldglöck ein wahrer Schwertmeister war. Die Berichte seiner Nachrichtendienste hatten nicht den kleinsten Hinweis auf diese versteckten Fähigkeiten enthalten, aber jetzt war es zu spät, um noch auszuweichen. Er hatte sich selbst ans Messer geliefert. Eine schlimme Vorahnung machte sich hinter Jakob Wolfs Stirn breit. Wenn ein Tunichtgut wie Finlay sich als Schwertmeister herausstellte, worin zur Hölle mochten sich seine Agenten sonst noch geirrt haben?

Die Menge drängte wieder in eine andere Richtung und trennte die beiden. Jakob war erleichtert, daß Finlay ihn nicht weiter bedrängen konnte. Er blickte sich um und sah den Feldglöck, der im Augenblick von Kid Death getrennt wurde.

Jakob Wolf spürte die Vorbestimmung des Schicksals, als er sich den Weg durch die kämpfenden Leiber bahnte, um Crawford Feldglöck zu stellen. Sie trafen aufeinander, Schwert an Schwert, und beide fühlten so etwas wie Erleichterung, daß die Plänkeleien endlich vorüber waren. Wolf gegen Feldglöck, die Augen voller Haß ineinander versenkt, und Hieb folgte auf Hieb, Parade auf Parade, als wären sie die beiden einzigen Menschen in der großen Halle. Ihre Schwerter prallten funkensprühend aufeinander, und für ein paar Sekunden schien keiner der beiden einen Vorteil auf seiner Seite zu verbuchen. Aber schnell gewann Jakob Wolf die Oberhand.

Crawford Feldglöck war übergewichtig und vom guten Leben verweichlicht, während Jakob immer Wert darauf gelegt hatte, seine Fähigkeiten als Kämpfer zu erhalten. Crawford wich zurück, und Jakob setzte ihm nach, um zu verhindern, daß die wogende Menge seinen Feind retten konnte. Am Ende fegte der Wolf einfach das Schwert des immer schwächer werdenden Feldglöck beiseite und durchbohrte ihn mit der Klinge.

Crawford fiel zu Boden, und der Wolf trat ihm ins Gesicht, als er sterbend dalag. Er bemerkte seinen Sohn Valentin nicht, der sich leise von hinten genähert hatte und ihm einen Dolch zwischen die Rippen stieß. Die Klinge blitzte auf, drang ein und war schon wieder verschwunden, bevor irgend jemand etwas bemerken konnte, und der Wolf sank tödlich getroffen neben seinen Erzrivalen, den alten Feldglöck.

David Todtsteltzer raste unter dem Einfluß des Zorns, und er suchte den Kampf mit Investigator Razor. Ihre Schwerter bewegten sich schneller, als man mit bloßem Auge sehen konnte, und keiner von beiden gab auch nur einen Zoll nach.

Kid Death näherte sich William Feldglöck und stach ihm einen Dolch in die Genitalien. William schrie vor Schmerz und Entsetzen auf. Blut und Urin durchnäßten seine Hosen. Dann durchbohrte Kid Death ihn mit dem Schwert. Die Waffe steckte noch in Williams Leib, als Adrienne dem lächelnden Mörder von hinten einen Dolch kurz oberhalb der Niere durch die Rippen schob. Kid Death wirbelte herum, und das Schwert war nur ein blutiger Schatten, als es aus Williams Leichnam herausflog und in Adriennes Leib fuhr. Erneut zog er die Klinge zurück, und Adriennes Beine knickten ein. Ein Schwall von Blut brach aus der klaffenden Wunde in ihrem Unterleib. Kid Death trat zurück, um den tödlichen Hieb anzubringen, als sich plötzlich Finlay zwischen ihn und sein Opfer drängte und den Schlag mit dem Schild abfing. Die wogenden Leiber der Kämpfenden ringsum trennten die beiden, und Kit machte sich mit schwachem Bedauern auf den Weg, seinem neuen Freund David gegen den Investigator beizustehen. Das Messer steckte noch immer in seinem Rücken.

Es gab wichtigere Dinge, um die er sich kümmern mußte.

Halb führte, halb trug Finlay Adrienne aus dem dichtesten Kampfgetümmel fort, lehnte sie gegen eine Wand und ließ sie langsam zu Boden sinken. Sie hielt ihren Leib mit beiden Händen zusammen, und Blut sprudelte zwischen ihren Fingern hervor. Ihr Gesicht war leichenblaß und ihr Mund zu einer Grimasse wie ein geheimnisvolles Lächeln verzogen. Ihr Atem ging stoßweise und rasselnd, und ihre Augen waren fest zusammengekniffen. Finlay sah sich verzweifelt um. Sein Blick blieb auf dem nahen Fenster hängen. Er packte Adrienne bei den Armen und zog sie auf die Beine. Sie schrie vor Schmerz auf.

»Halt durch, Addie«, murmelte er. »Wir verschwinden von hier.«

Sie hatte nicht genug Luft zu einer Antwort. Finlay führte sie unter ermutigenden Worten zu dem geborstenen Fenster.

Er hatte immer geglaubt, endlich von ihr frei zu sein, wenn sie eines Tages tot wäre, aber jetzt konnte er nicht einfach dabeistehen und ihr beim Sterben zusehen, und wenn es nur daran lag, daß er sich so schuldig fühlte. Zwei Soldaten der Wolfs versperrten Finlay den Weg. Er stach sie nieder, ohne auch nur nachzudenken. Sein Verstand raste jetzt, und sein Körper hatte sich in die gewandte, geschmeidige und blitzschnelle Maschine des Maskierten Gladiators verwandelt. Er half Adrienne auf das Sims, kletterte hinterher und sprang dann mit ihr in die Tiefe. Einen Herzschlag lang fielen sie durch die Luft, bevor sie auf den Gravschlitten prallten, der direkt unterhalb des Fensters schwebte, leer und von seinen Fahrgästen verlassen.

Finlay drehte seinen Körper, um Adrienne vom Aufprall abzuschirmen, so gut es ging, aber er war immer noch heftig genug, um die Luft aus ihren Lungen zu treiben. Er überprüfte ihren Puls und grunzte erschreckt, als er bemerkte, wie schwach er nur noch war; dann stürzte er vor und aktivierte die Steuerung des Schlittens. Finlay mußte sie so schnell wie möglich zu einem Arzt bringen, aber er hatte keine Ahnung, wo er jetzt noch in Sicherheit war. Inzwischen befanden sich zweifellos alle Feldglöck-Territorien unter der Kontrolle der Wolfs, und das ließ ihm eigentlich nur den Untergrund. Er setzte den Schlitten in Bewegung und raste mit Höchstgeschwindigkeit davon. Finlay hatte gesehen, wie sein Vater starb, und ihm kam langsam zu Bewußtsein, daß er jetzt der Feldglöck war. Er scherte sich einen verdammten Dreck darum. Gerold und William waren ebenfalls tot. Er würde später um sie trauern. Finlay blickte zu seiner Frau zurück, doch Adrienne schien in ihrer eigenen Welt aus Schock und Schmerz verloren. Er war auf sich allein gestellt, der letzte der Feldglöcks, und alle hatten sich gegen ihn gewandt. Kein anderer Clan würde ihn jetzt noch unterstützen oder ihm helfen.

Die Familien verschwendeten keine Zeit mit Verlierern. Also besser, wenn Finlay jetzt gleich starb – das Leben des Stutzers war vorüber. Nur der Gladiator war noch übrig, und der Untergrund… und Evangeline Shreck. Der letzte Gedanke beruhigte ihn ein wenig, und er lenkte den Schlitten in eine neue Richtung. Evangeline würde ihm und Adrienne helfen. Sie mußte einfach.

Im Feldglöck-Turm kämpfte Valentin Wolf wie ein Berserker.

Die Drogen rasten in seinem Körper, während er Gegner um Gegner niederstreckte. Es schienen nicht mehr so viele zu sein wie zuvor, aber er hieb und stach in blutiger Selbstversunkenheit weiter, während sein geschminkter Mund in einem Totenkopfgrinsen erstarrt war. Doch dann wurde er von kräftigen Armen gepackt, die ihn trotz seiner verzweifelten Gegenwehr festhielten, und ein bekanntes Gesicht ragte über ihm auf. Valentin atmete schwer, als sein Blick sich klärte. Es war Daniel, sein Bruder, der sich in vorsichtiger Distanz von ihm hielt. Er funkelte Valentin wutentbrannt an.

»Bist du wieder bei uns, Valentin? Weißt du eigentlich, was du getan hast?«

Valentin konzentrierte sich. Neue Chemikalien wurden in seinen Kreislauf gespült und neutralisierten die Kampfdrogen.

Sein Verstand klärte sich schnell, und er warf einen mißtrauischen Blick auf seinen Bruder. Was wußte Daniel? Langsam dämmerte ihm, daß der Kampf vorüber war. Die Männer, die ihn hielten, trugen alle die Embleme des Wolf-Clans. Und sie bedachten ihn nicht gerade mit freundlichen Blicken.

»Alles in Ordnung«, sagte er ruhig. »Ich bin wieder da. Wie sieht’s aus, Daniel? Vermute ich richtig, daß wir gewonnen haben?«

»Schon vor einiger Zeit«, erwiderte sein Bruder. »Die Feldglöcks sind alle tot oder geflohen, und der Rest ihrer Leute hat sich ergeben. Aber du warst so in Rage, daß du überhaupt nichts mitbekommen hast. Die letzten verdammten Minuten hast du damit verbracht, unsere eigenen Leute niederzustrecken!«

»Ah«, sagte Valentin. »Tut mir leid. Ich muß wohl ein wenig außer mir gewesen sein. Wie groß sind unsere Verluste?«

»Einschließlich der Männer, die du eben geschlachtet hast?«

»Ich sagte bereits, daß es mir leid tut. Wo ist unser Vater?«

Daniels Gesicht verdüsterte sich plötzlich, als die Wut verging und durch etwas ersetzt wurde, das Valentin wie ehrliche Trauer erschien. Daniel gab den Männern, die Valentin hielten, einen herrischen Wink, und sie ließen ihn zögernd frei.

Trotzdem blieben sie kampfbereit in seiner Nähe. Valentin steckte demonstrativ sein Schwert in die Scheide. Daniel deutete gestikulierend auf die überall verstreut herumliegenden Leichen und suchte vorsichtig einen Weg zwischen ihnen hindurch.

»Vater ist tot. Wir fanden ihn direkt neben der Leiche des alten Feldglöck. Sie müssen sich gegenseitig umgebracht haben. Alle Feldglöcks sind tot, außer Finlay. Möglicherweise hat auch seine Frau Adrienne überlebt. Die beiden konnten mit einem Gravschlitten entkommen. Unsere Leute sind hinter ihnen her. Einerlei, der Feldglöck-Clan ist für immer zerbrochen.«

Daniel hielt inne und kniete neben dem Leichnam von Jakob Wolf. »Er hätte nie mit uns kommen dürfen. Er war zu alt für diese Sache, aber er wollte nicht hören. Er hat nie auf uns gehört. Was sollen wir nur Konstanze sagen?«

»Laß mich das machen«, erwiderte Valentin. »Ich bin jetzt der Wolf, so bedauerlich das auch sein mag.« Er wartete, ob Daniel einen Einwand äußern würde, doch alle Kraft schien seinen Bruder verlassen zu haben. Valentin wandte sich ab, und sein Blick fiel auf Investigator Razor. Der Investigator hielt noch immer das Schwert in der Hand, aber er war von Männern mit Disruptoren umzingelt. Er sah nicht geschlagen aus, nur durch schiere Zahl unterlegen. Valentin suchte einen Weg zwischen den Toten hindurch und ging zu ihm hinüber, dann verbeugte er sich höflich.

»Ich gratuliere zu Eurem Überleben, Investigator. Es wäre eine wirkliche Schande, ein Talent wie das Eure zu verschwenden.«

»David und ich erreichten schließlich ein Patt gegen ihn«, sagte Kit Sommer-Eiland. »Aber wir mußten alles geben, was wir hatten.«

»Man wird Euch belohnen«, erwiderte Valentin. »Der Wolf-Clan erinnert sich seiner Freunde.« Er blickte wieder zu Razor. »Seid unser Freund, Investigator. Euer Kampf hier ist vorüber. Der Feldglöck-Clan ist zerbrochen und in alle Winde zerstreut. Es steht Euch frei, Euch uns anzuschließen oder zu gehen, ganz wie Ihr wünscht.«

Razor nickte knapp, steckte sein Schwert ein und setzte sich in Richtung Tür in Bewegung. Valentin bedeutete den Wachen, ihn in Ruhe zu lassen. Alles wich zur Seite und gab dem Investigator mehr als genügend freien Raum. Er verließ den Saal und schloß die Tür hinter sich, und die Zurückgebliebenen entspannten sich merklich. Niemand hatte wirklich den Wunsch verspürt, sich erneut mit dem Investigator anzulegen, selbst Kid Death und der Todtsteltzer nicht, die beide insgeheim den Verdacht hegten, daß der Investigator sich nur ergeben hatte, weil der Kampf vorüber und entschieden war. Valentin blickte nachdenklich zu den überlebenden Söldnern der Feldglöcks und winkte zur Tür. Die Männer setzten sich rasch in Bewegung und verließen den Ort ihrer Niederlage, bevor Valentin es sich anders überlegen konnte. Valentin grinste. Er hätte sie töten lassen können, aber es schien ihm wichtig, den neuen Wolf als ehrenhaften Mann einzuführen. Außerdem mußte er sie vielleicht eines Tages in seine eigenen Dienste nehmen, oder andere wie sie, und es konnte nie schaden, ein wenig guten Willen unter der Gemeinschaft der Söldner zu demonstrieren.

Ganz besonders dann, wenn man einige seiner eigenen Leute niedergemetzelt hatte.

»Ihr habt hervorragend gekämpft, Valentin«, sagte Kit Sommer-Eiland. »Wenn auch ein wenig unterschiedslos in bezug auf Eure Gegner. Ich muß schon sagen, das ging weit über alles hinaus, was ich nach dem Euch anhaftenden Ruf erwartet hatte, und nach Eurem recht… ungewöhnlichen Lebenswandel.«

Valentin lächelte leichthin. »Kampfdrogen. Die allerneuesten, um genau zu sein, frisch aus dem Regal des Militärs. Ich war immer davon überzeugt, daß es zu jedem Anlaß eine passende Droge gibt.«

Der junge Todtsteltzer rümpfte die Nase. »Schon wieder Drogen. Ich hätte es eigentlich wissen müssen.«

Vielleicht hatte er noch mehr sagen wollen, doch bei den letzten Worten warf er einen Blick in Valentins maskarageschminkte Augen und entschied rasch, lieber den Mund zu halten. Trotz all der grellen Farbe in seinem Gesicht schien der neue Wolf plötzlich sehr viel mächtiger und selbstbewußter. Und er schien auch verdammt viel gefährlicher zu sein.

Als wäre der antriebslose, inkonsequente Träumer, als den ihn jeder bis heute gekannt hatte, nichts weiter als eine Maske gewesen, die er nun, da sie nicht länger gebraucht wurde, einfach abgelegt hatte, um sein wahres Gesicht dahinter zu enthüllen. David Todtsteltzer senkte die Augen. Er konnte dem Blick des Wolf nicht länger standhalten. Kid Death betrachtete Valentin nachdenklich, aber auch er schwieg. Valentin grinste und wandte sich zu seinen Söldnern um.

»Ihr habt Euch wacker geschlagen, Männer. Es wird Bonusse für Euch alle geben. Und jetzt fangt an aufzuräumen. Ich möchte, daß die Leichen hinausgeschafft werden und die Zimmerleute mit ihrer Arbeit beginnen. Von jetzt an ist dies der Wolf-Turm, und ich möchte, daß das ganze Durcheinander noch heute beseitigt wird und die Fenster vor Einbruch der Dunkelheit ersetzt werden. Ich denke, ich werde hier einziehen. Die Aussicht ist einfach wunderbar.«

»Was geschieht mit Finlay?« fragte Kit Sommer-Eiland.

»Wieso?«

»Er ist entkommen. Lebend und unverletzt. Er steckt irgendwo dort draußen, der letzte lebende Feldglöck von Bedeutung. Er konnte uns gefährlich werden. Möglicherweise gelingt es ihm, die niedrigeren Feldglöcks um sich zu scharen und gegen Euch zu vereinen?«

»Selbst wenn ich davon ausgehe, daß unsere Leute ihn nicht zu fassen bekommen, wird er wohl kaum so dumm sein, einen Rachefeldzug anzufangen. Er weiß, daß er verlieren würde.

Der liebe Finlay wird das Leben der Ehre vorziehen und einfach untertauchen. Ich denke, er wird sich ein neues Gesicht und eine neue Identität verschaffen, und das bedeutet dann das endgültige Ende des Feldglöck-Clans, die Pest auf ihren Namen! Obwohl man sagen muß, daß es bei Hofe um einiges langweiliger sein wird ohne die erfrischende Erscheinung Finlay Feldglöcks. Die Mode hat jedenfalls einen unersetzlichen Verlust erlitten.«

»Gut«, sagte Kit Sommer-Eiland. Er ließ seinen Blick über die Verwüstungen und die Toten schweifen und lächelte. »Ich bin froh, daß ich den Fall des alten Feldglöck miterleben durfte. Er hat mich nie leiden können.«

»Wir sind froh, daß Ihr bei uns wart«, erwiderte Valentin.

»Immerhin waren es Eure Verbindungen zu den Kyberratten, die es uns am Ende ermöglichten, die Feldglöcks zu überraschen. Der Wolf-Clan schuldet Euch etwas, und Ihr werdet uns nicht undankbar finden, Lord Sommer-Eiland.«

»Da habt Ihr wohl recht«, erwiderte Kid Death mit sanfter Stimme, ohne jede Spur von Drohung. Er wandte sich ab und klopfte David auf die Schulter. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß du eine Menge aufregender Abenteuer erleben wirst, wenn du bei mir bleibst. Ich weiß nicht, wie es mit dir steht, aber irgendwo ruft ein großer kühler Drink laut meinen Namen. Laß uns gehen und ihn suchen.«

»Verdammt richtig«, sagte der junge Todtsteltzer. »Es geht doch nichts über einen kühlen Drink nach getaner Arbeit.«

Sie spazierten gemeinsam nach draußen, und David lachte über irgendeine Bemerkung von Kit. Valentin blickte ihnen hinterher, als Daniel zu ihm trat.

»Hätte nicht vielleicht irgend jemand dem Sommer-Eiland sagen sollen, daß er immer noch ein Messer im Rücken stecken hat?«

»Oh, ich bin sicher, irgend jemand wird es ihm bei Gelegenheit sagen.«

Daniel rümpfte die Nase. »Seit wann sind die beiden eigentlich so gute Freunde? Ich wußte gar nicht, daß Kit überhaupt Freunde hat?«

»Soweit ich weiß, erst seit kurzem«, sagte Valentin. »Wahrscheinlich besitzen sie gemeinsame Interessen. Blut und Kämpfe und so weiter.« Er zuckte die Schultern zum Zeichen, daß er das Thema nicht weiter zu verfolgen wünschte, und ging zu der großen hölzernen Tafel hinüber, die den Kampf wie durch ein Wunder ohne Beschädigung überstanden hatte.

Er blickte auf einen der eingelassenen Monitore, und eine Kyberratte grinste ihm entgegen. Valentin nickte höflich.

»Meinen Dank für Eure Hilfe bei dieser Sache«, sagte er. »Ihr habt mein Wort als Wolf, daß wir Euch die hochentwickelte Technologie der Feldglöcks zur Verfügung stellen werden, sobald sie sich in unseren Händen befindet, damit beide Seiten von ihr profitieren können.«

»Das ist alles, was wir uns je gewünscht haben«, erwiderte die Kyberratte. »Sicher, wir hätten den Handel genausogut mit den Feldglöcks abschließen können, aber sie trugen ihre Nasen zu hoch und wollten nicht mit unsereinem verhandeln.

Geschieht ihnen recht. Niemand behandelt uns Kyberratten wie Dreck und kommt ungeschoren davon. Niemand. Wir sprechen uns später, Wolf.«

Der Bildschirm wurde dunkel, und Valentin nickte nachdenklich. Die Drohung der Kyberratte war nicht besonders schwer zu durchschauen gewesen, aber Kyberratten waren nie besonders schwer zu durchschauen, wenn sie nicht gerade an ihren Maschinen hingen. Valentin empfand es als ziemlich erfrischend, nach all den Zweideutigkeiten und verborgenen Bedeutungen dessen, was am Hof so als Unterhaltung galt. Er blickte hoch und winkte Daniel, der zu ihm trat und weitere Befehle abwartete.

»Ich würde jetzt wirklich gerne ein wenig allein sein, Daniel. Nur für eine Weile. Das hier kam alles viel zu überraschend und unerwartet. Ich brauche Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Tust du mir den Gefallen und bringst Stephanie und Konstanze die Neuigkeiten? Ich denke, sie erfahren es besser von dir.«

»Wie du wünschst. Brauchst du lange?«

»Ich glaube nicht. Nimm die Soldaten mit nach draußen. Sie können später mit ihrer Arbeit beginnen.«

Daniel nickte, dann blickte er zurück zum Leichnam ihres Vaters. Die Soldaten hatten ihn respektvoll zur Seite gelegt, weg vom allgemeinen Schlachtfeld. »Ich habe mir so oft gewünscht, daß er tot wäre«, sagte er leise. »Aber ich wollte nie wirklich… ich hätte nie wirklich gedacht, daß er eines Tages stirbt. Ich glaubte immer, er wäre ewig an unserer Seite, würde sich um uns kümmern und unser Leben bestimmen. Er war immer so allein… ich weiß nicht, wie ich es Konstanze beibringen soll.«

»Dir wird schon etwas Passendes einfallen«, erwiderte sein Bruder. »Vergiß nicht, du bist ein Wolf.«

Nach einer Pause bemerkte Daniel, daß Valentin alles gesagt hatte, was er zu diesem Thema zu sagen wünschte. Er nickte rasch, sammelte mit einem Wink die Soldaten ein und verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Mannschaften folgten ihm, und Valentin wartete geduldig, bis er allein war. Dann schlenderte er hinüber zu dem Sitz am Kopf der alten Tafel und nahm Platz. Er streckte die Beine aus, und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Im Augenblick stand Daniel noch zu sehr unter Schock, um seinen Anweisungen zu widersprechen. Aber das würde nicht lange so bleiben. Wenn er erst mal mit seiner Schwester Stephanie über die neue Lage gesprochen hätte, dann würde sie ihn schon wieder aufrichten. Und dann würden die beiden damit beginnen, um die Rangordnung zu streiten, um herauszufinden, wie weit sie unter dem neuen Wolf gehen konnten. Valentins Grinsen verhärtete sich. Sie würden ihre Überraschung erleben.

Genau wie der liebe Papa, der nicht im Traum gedacht hätte, daß sein nichtsnutziger, verachteter Ältester ihm den Tod bringen könnte. Valentin ging die Szene in Gedanken noch einmal durch und genoß den Augenblick. Das Messer und das Blut und der Ausdruck auf Jakob Wolfs Gesicht, als er zu Boden ging. Er hatte es nur für den Bruchteil einer Sekunde erkennen können, aber das hatte Valentin auch schon gereicht.

Am Ende war alles so verdammt einfach gewesen. Ein kurzer Hieb mit dem Dolch, von niemandem bemerkt, und jetzt war Valentin der Wolf. Der Kopf der Familie, das Oberhaupt des Clans. Er hätte sich bereits vor Jahren dazu entscheiden sollen.

Valentin hatte einen guten Anfang gemacht, aber es gab noch eine Menge zu tun. Obwohl er den Clan durch sein Erbe beherrschte, würde er seine Machtbasis erst noch konsolidieren müssen. Es gab unzählige niedrigere Vettern, die keine Sekunde zögern würden, Ansprüche von Seiten Stephanies oder Daniels zu unterstützen, wenn sie sich einen Gewinn daraus versprachen. Aber er hatte einen mächtigen Verbündeten in den Kyberratten gefunden, und sie würden ihn nur zu gerne unterstützen, wenn er ihnen im Gegenzug Zugang zu der überlegenen Technologie der Feldglöcks gewährte. Sorgfältig dosiert sollte sie das eine ganze Zeit bei der Stange halten. Und die Überreste der Feldglöcks waren viel zu weit verstreut, um eine wirkliche Bedrohung darzustellen. Eine sorgfältige Politik der Meuchelmorde würde helfen, die Situation weiter in seinem Sinne zu entwickeln. Die Kontrakte für den neuen Hyperraumantrieb würden ihm wie von selbst in den Schoß fallen, nachdem sein Hauptkonkurrent jetzt ausgeschaltet war. Valentin hatte die ersten Stufen auf einer Leiter genommen, die am Ende vielleicht auf den Eisernen Thron selbst führte. Ganz besonders, wenn er erst die vereinten Untergrundbewegungen hinter sich wußte: eine ganze Armee von Espern und Klonen, und alles nur, weil er die Droge kontrollierte, die sie zu Espern machte. Nicht zu vergessen die KIs von Shub. Sie würden ohne Zweifel genauso gerne mit ihm verhandeln wie mit den Feldglöcks. Er hatte immer gewußt, daß sich ein hervorragend ausgebauter Nachrichtendienst eines Tages auszahlen würde. Valentin lächelte. Das Leben war so herrlich.

Загрузка...