Hartmann war alles andere als begeistert, doch Charity setzte ihren Willen durch und brachte Gurk mit, als sie sich fünf Stunden später erneut in der unterirdischen Befehlszentrale trafen.
Der Raum hatte sich verändert. Hatte es vorher von Männern und Frauen hier nur so gewimmelt, war die Besatzung nun auf ein absolutes Minimum reduziert worden - vier Mann, die alle Hände voll damit zu tun hatten, die unzähligen Instrumente und Monitore im Auge zu behalten und damit wahrscheinlich hoffnungslos überfordert waren, und dazu die beiden Techniker. Sie machten zwar einen vollkommen erschöpften Eindruck, wirkten aber trotzdem sehr zufrieden. Charity wußte schon, bevor die Männer es ihr sagten, daß ihre Arbeit erfolgreich gewesen war.
Sie erlebte allerdings auch eine unangenehme Überraschung. Außer Hartmann, Gurk, Skudder und ihr selbst waren noch drei weitere Personen anwesend: Zwei schwerbewaffnete Soldaten, die rechts und links vom Aufzug postiert waren, und Gouverneur Drasko, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen dastand und den Monitor betrachtete, obwohl im Moment noch gar nichts zu sehen war.
Als sie eintraten und Drasko sah, daß Gurk die anderen begleitete, verfinsterte sich sein Gesicht.
»Was tut dieser Außerirdische hier?« fragte er scharf.
»Guten Tag, Gouverneur«, entgegnete Charity. »Ja, ich freue mich auch, Sie zu sehen.«
Draskos Augen schossen wütende Pfeile in ihre Richtung. »Captain Laird, ich -«
»Gurk ist auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier«, fiel Hartmann ihm ins Wort.
Charity mußte sich beherrschen, um ihn nicht erstaunt anzuschauen. Gurk war ganz eindeutig nicht auf Hartmanns Wunsch hin mitgekommen. Ganz im Gegenteil...
»Wieso?« schnappte Drasko.
»Weil es möglich ist, daß wir ihn brauchen«, antwortete Hartmann gelassen. »Wir erhoffen uns wertvolle Erkenntnisse von den Bildern, die uns das Teleskop liefert. Möglicherweise kann Gurk uns dabei helfen, die Bilder auszuwerten.«
»Und Sie halten es für klug, einen Angehörigen einer nichtmenschlichen Spezies in einem solchen Moment dabei zu haben?« sagte Drasko. »General Hartmann, ich glaube nicht, daß -«
»Wir sind soweit«, sagte einer der Techniker.
Drasko verstummte mitten im Wort, warf Hartmann aber einen Blick zu, der sehr deutlich machte, daß das Thema damit noch nicht erledigt war, ehe er sich wieder zum Bildschirm herumdrehte. Einen Moment lang blieb der übermannsgroße Monitor noch schwarz, dann füllte er sich mit grauen Schleiern, um im nächsten Augenblick eine gewaltige, rostrot schimmernde Kugel mit dunkleren und hellen Flecken zu zeigen.
Den Mars.
Es war ein Anblick von einer Majestät, daß Charity im ersten Moment wie erschlagen war. Sie hatte den Mars unzählige Male gesehen. Sie war zweimal dort gewesen, in ihrem früheren Leben als Raumpilotin, nicht auf der Oberfläche, aber doch in einer Umlaufbahn, die niedrig genug war, um mit ein wenig gutem Willen als Beinahe-Landung durchzugehen. Doch es war lange her, sehr lange. So lange, daß Charity vergessen hatte, wie unglaublich schön dieser Planet war. Seine Oberfläche war fast so lebensfeindlich wie die des Mondes, aber das änderte nichts daran, daß er eine Aura von Gewaltigkeit, Erhabenheit und Alter ausstrahlte, die man fast körperlich spüren konnte.
»Was... ist das?« murmelte Drasko.
»Der Mars«, antwortete Charity. »Unser Nachbarplanet.«
Drasko warf ihr einen bösen Blick zu. »Das meine ich nicht. Diese Linien. Sind das... Straßen?«
Im allerersten Moment konnte Charity Drasko nur verblüfft ansehen. Aber dann wurde ihr klar, daß niemand in diesem Raum sehr viel über den Mars wußte. Niemand außer ihr hatte den Planeten je gesehen. Nicht so. Die Menschen der neuen Erde hatten genug mit dem nackten Überleben zu tun. Niemand hatte Zeit, sich um die Geographie eines anderen Planeten zu kümmern.
»Die Kanäle«, sagte Charity. »Es sind nur riesige Schluchten. Als die Menschen damit begannen, den Mars durch Teleskope zu beobachten, dachten einige dasselbe wie Sie, Gouverneur. Sie hielten diese Linien für künstliche Kanäle, angelegt von den Bewohnern des Mars.«
»Hatte er denn Bewohner?«
Charity schüttelte den Kopf. »Niemals. Es ist ein natürliches Phänomen. Soviel wir herausgefunden haben, hat es auf dem Mars außer einigen Mikroben niemals Leben gegeben.«
»Schade«, sagte Drasko.
»Wieso?«
Drasko deutete ein Achselzucken an, und auf seinem Gesicht erschien tatsächlich so etwas wie die Andeutung eines Lächelns, auch wenn er den Blick nicht für eine Sekunde vom Monitor nahm.
»Vielleicht wären wir besser... vorbereitet gewesen, hätte es die kleinen grünen Männchen wirklich gegeben.«
»Bestimmt nicht«, sagte Gurk.
Erstaunlicherweise ignorierte Drasko ihn, schaute statt dessen weiter auf den großen Monitor, auf dem die Oberfläche des Mars in allen nur erdenklichen Rot- und Brauntönen schimmerte.
Charity wandte sich an die beiden Techniker. »Geht es noch größer?«
»Ich werde es versuchen.« Der Mann begann verschiedene Tasten und Schalter zu drücken, und das Bild auf dem Monitor wechselte tatsächlich. Allerdings erschien keine Vergrößerung der Oberfläche, sondern wieder eine Totalansicht des Mars.
»Entschuldigung«, sagte der Mann.
»Genau falsch herum. Ich -«
»Moment!« sagte Charity rasch. »Lassen Sie es genau so, wie es ist.«
Der Techniker schaute sie verwirrt an, zuckte aber nur mit den Schultern und trat demonstrativ einen halben Schritt vom Pult zurück.
Charity blickte gebannt auf den Schirm. Sie blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte noch einmal. Das unglaubliche Bild blieb.
»Was ist denn?« fragte Skudder.
Charity deutete auf den Monitor. »Seht ihr es denn nicht?«
»Bitte, Miss Laird«, sagte Drasko unwillig. »Was sollen wir denn sehen? Den Mars?«
Charity deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die winzigen Lichtpunkte, die neben dem roten Planeten zu sehen waren. »Den Mars«, bestätigte sie. »Und was ist das?«
»Seine Monde, nehme ich an«, sagte Drasko. »Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Daß es drei Stück sind«, antwortete Charity. »Einer zuviel.«
Sowohl Skudder als auch Drasko blickten sie nur verständnislos an, doch Hartmann wandte sich mit einer befehlenden Geste an den Techniker. »Vergrößern!«
Diesmal erwischte der Mann auf Anhieb den richtigen Schalter. Der Anblick des Mars machte dem eines unregelmäßig geformten, langgestreckten Felsbrockens Platz, auf dessen dem Mars abgewandten Seite das Sonnenlicht glitzerte. Phobos, einer der beiden Marsmonde.
»Das ist Phobos«, sagte Charity. »Den anderen.«
Das Bild wechselte; wenn auch nicht spektakulär. Sie sahen jetzt einen anderen, etwas kompakter geformten Felsbrocken. Dheimos. Statistisch gesehen hätte es der überzählige Mond sein müssen.
»Der andere«, sagte Hartmann.
Offensichtlich war Charity in diesem Raum doch nicht die einzige, die gewisse grundlegende Fakten über ihren Nachbarplaneten kannte.
Wieder wechselte das Bild, und fast jeder im Raum reagierte auf seine ganz eigene Art.
Charity starrte das, was auf dem Monitor erschien, einfach nur wortlos und mit weit aufgerissenen Augen an. Hartmann sog erschrocken die Luft ein, während Skudder einfach nur verwirrt aussah.
Gurk hingegen reagierte äußerst heftig. Er prallte regelrecht vom Monitor zurück und stieß ein Keuchen aus, das wahrscheinlich ein mühsam unterdrückter Aufschrei war. Charity schaute ihn eine halbe Sekunde lang nachdenklich an, dann wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu.
Was darauf zu sehen war, war... sonderbar. Sonderbar, bizarr und auf eine schwer in Worte zu fassende Weise beunruhigend.
Sie konnte nicht einmal genau sagen, was sie da eigentlich erblickte. Wenn der Vergrößerungsfaktor der gleiche war wie vorhin bei Phobos und Dheimos, mußte das Gebilde einen Durchmesser von mindestens zwanzig Kilometern haben, aber es war kein Felsbrocken, wie die beiden Marsmonde. Es war allerdings auch kein künstliches Objekt, keine Raumstation aus Stahl und Glas und Kunststoff. Es wirkte auf eine unheimliche Weise... lebendig.
»Was ist das?« murmelte Drasko.
Charity deutete ein Achselzucken an, obwohl Drasko nicht einmal in ihre Richtung blickte.
Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Sie war sicher, niemand auf diesem Planeten hatte schon einmal ein solches Gebilde erblickt. Es besaß eine ungefähre Kugelform, war aber unregelmäßig und mit zahllosen Auswüchsen, Narben, Kratern, Falten, Tentakeln und ganz und gar formlosen... Dingen übersät.
Auf den ersten Blick erinnerte das Gebilde ein wenig an einen verschrumpelten Apfel, der zu lange in der Sonne gelegen hatte. Überall auf seiner Oberfläche schienen sich Dinge zu bewegen, auch wenn diese Bewegung stets sofort aufhörte, wenn Charity versuchte, sie mit Blicken zu fixieren.
Sie wiederholte Draskos Frage, lauter und direkt an Gurk gewandt: »Was ist das?«
Und jetzt behaupte bloß nicht wieder, daß du es nicht weißt, fügte ihr Blick hinzu.
Gurk versuchte es erst gar nicht. Sie war auch nicht sicher, ob er ihre Frage überhaupt gehört hatte. Er starrte weiter auf den Monitor. Sein Gesicht war so weiß wie die sprichwörtliche Wand, und seine Augen waren ein deutliches Stück aus den Höhlen getreten.
»Nein«, stammelte er. »Das... das können sie nicht getan haben. So verrückt können sie nicht sein!«
»Was meinst du?« fragte Charity alarmiert. Sie hatte Gurk selten so erschrocken gesehen.
»Das können sie nicht getan haben«, keuchte Gurk. »So wahnsinnig sind sie nicht! Nicht einmal sie!«
»Gurk!« Charity schrie es beinahe. »Wovon redest du?!«
»Die Zone«, flüsterte Gurk. »Das ist ein Zonenschiff!«
»Aha«, sagte Skudder. »Und was, bitte schön, ist ein Zonenschiff?«
»Der Tod«, antwortete Gurk. »Euer aller Tod. Unser aller Tod.«
Charity schaute wieder auf den Schirm. Das Gebilde schien sich irgendwie... verändert zu haben. Als hätte es auf Gurks Worte reagiert.
Sie verscheuchte den Gedanken. Wenn überhaupt, dann war sie es, die auf die Worte des Zwerges reagierte. Und möglicherweise ganz genau so, wie er es wollte.
»Da stimmt was nicht«, sagte der Techniker plötzlich. »Irgend etwas... stört das Übertragungssignal.«
Tatsächlich begann die Bildqualität sich rapide zu verschlechtern.
Das Bild wurde grobkörniger, zugleich verblaßten die Farben, und das Abbild verlor an Schärfe und Tiefe.
»Was ist da los?« fragte Hartmann scharf.
»Das Teleskop arbeitet einwandfrei«, antwortete der Techniker. »Ich verstehe das nicht. Irgend etwas stört die Übertragung von Hubble zur Erde.«
»Sie haben bemerkt, daß wir sie beobachten«, sagte Drasko. »Anscheinend sind sie nicht sehr erfreut darüber.«
»Bemerkt?« fragte Skudder. »Wie?«
»Nun, das Teleskop ist -« Drasko brach verblüfft ab, starrte erst Skudder, dann eine Sekunde lang den Monitor und dann wieder Skudder an.
»Das Teleskop. Sie sagen es, Gouverneur«, meinte Skudder. »Niemand merkt, wenn ein Teleskop auf ihn gerichtet ist.«
Das Bild auf dem Wandmonitor erlosch jetzt endgültig. Der Schirm zeigte nur noch weißes Schneegestöber. Nach einem Augenblick gab Hartmann dem Techniker einen Wink, woraufhin dieser abschaltete. »Ich versuche, eine neue Verbindung herzustellen.«
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte Skudder. »Ich verwette mein nächstes Monatsgehalt, daß sie sämtliche Frequenzen stören.«
»Aber wie können sie wissen, daß wir sie beobachten?« murmelte Drasko. »Das ist vollkommen unmöglich. Es sei denn...«
Er sprach nicht weiter, sondern drehte sich langsam herum und fuhr erst nach sekundenlangem Schweigen und mit veränderter Betonung fort: »Es sei denn, irgend jemand hier treibt ein falsches Spiel.«
»Und warum sehen Sie mich dabei so an?« fragte Gurk.
»Die Auswahl ist nicht besonders groß«, antwortete Drasko. Gleichzeitig machte er eine kaum sichtbare Bewegung mit der linken Hand. Zwei seiner Männer traten vor und nahmen in unmißverständlicher Haltung rechts und links von Gurk Aufstellung.
»Darf ich fragen, was das bedeutet?« fragte Hartmann.
»Das, wonach es aussieht«, antwortete Drasko. »Ich nehme diesen Außerirdischen in Haft. Und sparen Sie sich gleich die Mühe, mir erklären zu wollen, daß ich das nicht kann. Ich kann, und ich werde, General. Dieser Außerirdische hätte keine Sekunde lang unbeobachtet bleiben dürfen.«
»Sie werden hier niemanden verhaften, Gouverneur«, sagte Hartmann spröde. »Diese Anlage untersteht dem Militär. Sie haben hier keinerlei -«
»Bitte!« sagte Charity. »Wir haben im Moment wirklich andere Probleme, meint ihr nicht?« Sie wandte sich mit einem - wie sie hoffte - beruhigenden Blick an Gurk. »Geh einfach mit. Skudder und ich kommen in einer Stunde nach und holen dich raus.«
»Das bezweifle ich«, sagte Drasko kühl. Er gab den beiden Soldaten einen Wink. »Abführen!«
Die Männer zögerten einen Augenblick. Sie wußten natürlich, daß Hartmann recht hatte: Gouverneur Drasko mochte ein mächtiger Mann sein, aber hier unten hatte er keinerlei Befehlsgewalt, während Hartmann ihr oberster Vorgesetzter war. Erst als Hartmann unmerklich nickte, ergriffen sie den Zwerg und führten ihn zum Lift. Gurk widersetzte sich nicht, aber als er sich herumdrehte, warf er Charity einen vorwurfsvollen Blick zu.
Ihr Mitleid hielt sich allerdings in Grenzen. Natürlich war Draskos Verdacht schlichtweg absurd, und sie würde auch nicht tatenlos zusehen, wie Gurk länger als ein paar Stunden gefangen gehalten wurde. Diese paar Stunden allerdings gönnte sie ihm. Möglicherweise tat es Gurk ganz gut, einmal am eigenen Leib zu erfahren, was das Wort Ungewißheit bedeutete. Sollte er ruhig eine oder zwei Stunden schmoren.
Das Licht über der Aufzugtür wechselte von rot auf grün. Die Türen glitten lautlos auf. Aber die Kabine dahinter war nicht leer.
Genaugenommen war sie nicht einmal mehr da.
Wo die zwei mal drei Schritte messende Aufzugkabine sein sollte, erstreckte sich eine endlose, rostfarbene Ebene unter einem blaßrosa Himmel. Formlose, dunkle Umrisse bedeckten sie, so weit der Blick reichte, und die Luft auf der anderen Seite der Tür mußte viel dünner sein als hier drinnen, denn die Türen waren kaum aufgeglitten, da begann sich ein wahrer Sturm zu erheben, der in die Liftkabine hineinfauchte.
Allerdings verschwendete Charity keinen einzigen Gedanken daran.
Es wäre möglicherweise ihr letzter gewesen...
Aus dem Aufzug stürzten zwei riesige, in schwarze Kampfanzüge gehüllte Gestalten. Ihre beeindruckende Größe ließ sie plump erscheinen, aber sie waren es ganz und gar nicht, sondern bewegten sich im Gegenteil mit fast übermenschlicher Schnelligkeit. Einen von ihnen griff sofort und kompromißlos die beiden Soldaten an, die Gurk flankierten, während sich der andere unverzüglich auf den Zwerg selbst stürzte. Doch trotz seiner übermenschlichen Schnelligkeit verfehlte er Gurk, denn der Zwerg duckte sich blitzschnell unter den zupackenden Händen des Riesen hindurch und flitzte zur Seite.
Selbst Charity, die gewußt hatte, wie schnell Gurk sein konnte, war überrascht. Hätte er auch nur eine einzige Sekunde mehr gehabt, wäre er dem Angreifer vielleicht sogar entwischt.
Aber diese Sekunde hatte er nicht.
Aus dem Sturm, der in die Liftkabine hineinströmte, wurde ein Orkan. Charity bekam schlagartig keine Luft mehr; zugleich wurde sie aus dem Gleichgewicht und auf die Aufzugtüren zu gerissen. Während sie mit verzweifelt rudernden Armen darum kämpfte, nicht die Balance zu verlieren, mußte sie hilflos zusehen, wie die beiden Soldaten rechts und links des Aufzugs in die luftleere rote Einöde auf der anderen Seite gezerrt und meterweit davongeschleudert wurden.
Sie stürzte. Der keuchende Schmerzensschrei, der über ihre Lippen kam, verbrauchte auch noch das letzte bißchen Luft in ihren Lungen. Haltlos schlitterte sie weiter auf den Lift zu, griff ebenso verzweifelt wie erfolglos um sich, um irgendwo Halt zu finden und sah, wie auch einer der Techniker von dem furchtbaren Luftsog gepackt und weggerissen wurde.
Dann war es vorbei. Schlagartig.
Charitys haltlose Rutschpartie endete knapp zwei Meter vor den Aufzugtüren. Überall rings um sie herum stürzten Männer zu Boden und rangen qualvoll und verzweifelt nach Luft. Nur die beiden Angreifer, geschützt durch ihre Anzüge, waren noch auf den Beinen. Einer von ihnen packte Gurk, der wie alle anderen zu Boden gefallen war, und zerrte ihn auf den Aufzug zu. Der andere Hüne folgte ihm rückwärts gehend, die Waffe im Anschlag.
Nicht, daß es nötig gewesen wäre. Niemand hier drinnen war noch auf den Beinen, geschweige denn in der Lage, die beiden anzugreifen. Selbst Skudder war auf die Knie gesunken und hatte beide Hände gegen den Hals geschlagen. Sein weit aufgerissener Mund schnappte verzweifelt nach Luft, die es nicht mehr gab.
Die beiden Fremden und Gurk verschwanden in der Liftkabine, und einen Sekundenbruchteil später verschwanden sie tatsächlich, zusammen mit der roten Einöde und dem falschfarbenen Himmel.
Charity war nicht sicher, ob sie wirklich sah, was passierte, oder ob ihre schwindenden Sinne ihr bereits einen Streich spielten, aber für einen winzigen, unendlich kurzen Moment schien sich die Wirklichkeit jenseits der Türen zu verbiegen, als würde die Welt sich in verschiedenen Richtungen zusammenfalten - Richtungen, von denen es mehrere überhaupt nicht gab -, bis Charity schließlich wieder auf das grau lackierte Metall der Aufzugkabine starrte. Die Türen begannen sich zu schließen.
Charity kämpfte mit aller Kraft darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Es war noch nicht vorbei. Es gab kein Loch mehr in der Wirklichkeit, durch das der Sauerstoff entwich, aber die wenigen Sekunden hatten bereits ausgereicht, um in der Kontrollzentrale ein Beinahe-Vakuum zu erzeugen.
Charitys Lungen schrien immer verzweifelter nach Luft. Ihre Trommelfelle knackten. Alles drehte sich um sie, und sie spürte, wie der Druck ihre Augen aus den Höhlen quellen ließ. Die Metallgitter der Klimaanlage explodierten funkensprühend, und irgendwo brach Feuer aus und erlosch augenblicklich wieder, als die Flammen keinen Sauerstoff bekamen.
Irgendwie gelang es Charity, bei Bewußtsein zu bleiben. Der rapide Druckabfall hatte sie nahezu taub werden lassen, so daß sich alles in unheimlicher Lautlosigkeit abzuspielen schien, doch sie sah zumindest, daß der Luftstrom aus den Klimaschächten Papier und Trümmerstücke durcheinanderwirbelte. Die Atmosphäre im Raum wies wieder Sauerstoff auf - vielleicht nicht mehr als auf dem Gipfel des Mount Everest, aber genug, um am Leben zu bleiben.
Charity konnte nicht sagen, wie lange es dauerte - wahrscheinlich nur Sekunden, allerhöchstens eine Minute -, bevor sich die blutigen Schleier vor ihren Augen lichteten und sie wieder das Gefühl hatte, mehr als nur Vakuum in ihre Lungen zu saugen.
Sie hatte heftige Schmerzen, nicht nur in der Brust, sondern praktisch überall, und ihr Kopf fühlte sich an, als wollte er jeden Augenblick explodieren. Als sie versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, brauchte sie drei Anläufe.
Skudder und Charity kamen praktisch im gleichen Moment auf die Füße. Der Indianer sagte irgend etwas, doch Charity sah nur, wie seine Lippen sich bewegten. Sie war jetzt nicht mehr taub, aber in ihren Ohren war nun ein dumpfes Rauschen und Hämmern, das jeden anderen Laut einfach verschluckte.
Charity schüttelte den Kopf und deutete mit beiden Zeigefingern auf ihre Ohren, und Skudder antwortete mit einem knappen Nicken. Wahrscheinlich erging es ihm nicht anders als ihr.
Hinter ihm bemühte sich Hartmann mit ungeschickten, aber hartnäckigen Bewegungen, sich auf die Knie hochzustemmen, und auch Drasko und der überlebende Techniker regten sich bereits wieder, so daß Charity als erstes zu den beiden reglos daliegenden Soldaten eilte.
Die Männer waren bewußtlos, aber noch am Leben. Der Angreifer hatte darauf verzichtet, sie zu töten, obwohl Charity wußte, daß er es mit der gleichen Mühelosigkeit gekonnt hätte, mit der er sie niedergeschlagen hatte. Aus irgendeinem Grund erschien ihr dieser Umstand wichtig, obwohl sie nicht sagen konnte, warum.
In das Rauschen und Hämmern in ihren Ohren mischte sich jetzt ein weiterer Laut: ein dünnes, an- und abschwellendes Singen, das sie trotz allem als das Heulen der Alarmsirene identifizierte.
Charity stand wieder auf und schaute sich um. Der Kommandoraum war vollkommen verwüstet. Die Hälfte der Monitore und Computer war ausgefallen oder zerstört, und der Tornado hatte alles, was nicht niet- und nagelfest war, durcheinandergewirbelt.
Der ganze Zwischenfall hatte weniger als fünf Sekunden gedauert, aber der Raum sah aus, als hätte eine zweistündige Schlacht darin getobt.
Jemand berührte Charity an der Schulter. Sie fuhr mit einer übertrieben heftigen Bewegung herum und blickte in Gouverneur Draskos Gesicht. Er bot einen furchtbaren Anblick. Die kleinen Äderchen in seinem Gesicht und seinen Augen waren geplatzt, so daß sein Teint jetzt dem Skudders glich, und er mußte sich beim Sturz verletzt haben, denn seine Unterlippe blutete heftig.
Seiner Mimik und den Lippenbewegungen nach zu schließen redete er nicht mit ihr, sondern schrie sie an, aber sie konnte immer noch nicht gut genug hören, um ihn zu verstehen.
Nicht, daß Charity besonderen Wert darauf gelegt hätte.
Trotzdem hob sie nach einer Sekunde die Hand, drückte ihre Nasenflügel zusammen und versuchte gleichzeitig mit aller Kraft, durch die Nase auszuatmen.
Der alte Trick, der ihr auf unzähligen Interkontinentalflügen geholfen hatte, funktionierte auch diesmal: Ihre Trommelfelle knackten, und mit einem Mal konnte sie wieder hören. Das Gellen der Alarmsirene und Draskos Gebrüll vermischten sich zu einem solchen Lärm, daß sie das Gesicht verzog.
»Gouverneur, bitte!« sagte sie. »Wenn Sie es so machen wie ich, dann brauchen Sie nicht zu schreien. Und wir alle verlieren unser Gehör nicht sofort wieder.«
Drasko hatte offensichtlich kein Wort verstanden, denn er blickte sie nur verwirrt an, aber er tat ihr immerhin den Gefallen und hielt für einen Moment die Klappe, so daß sie ihm mit Gesten zu verstehen geben konnte, was sie meinte. Drasko tat, was Charity ihm bedeutete, und blickte sie dann noch erstaunter an.
»Das funktioniert ja wirklich«, sagte er.
Charity grinste. »Sie hätten öfter billige Pauschalreisen in Flugzeugen mit schlechtem Druckausgleich buchen sollen, dann würden sie alle diese Tricks kennen.«
Draskos Gesicht wurde noch verständnisloser, doch bevor er etwas sagen konnte, flogen die Aufzugtüren auf, und ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Soldaten stürzte herein.
Charity erstarrte ebenso wie Skudder und Hartmann zur Regungslosigkeit. Die Männer hatten den Alarm gehört und vermutlich auch mitbekommen, daß hier drinnen irgend etwas nicht stimmte. Sie waren angespannt und auf alles gefaßt. Und Charity wußte aus Erfahrung, daß es nichts Gefährlicheres gab als Männer, die bewaffnet und nervös waren.
Drasko schien auch in dieser Hinsicht weniger Erfahrung zu haben, denn er fuhr herum und trat den Soldaten so ungestüm entgegen, daß einer der Männer tatsächlich erschrocken seine Waffe hob und auf den Gouverneur anlegte, ehe ihm klar wurde, wem er gegenüberstand. Drasko bemerkte es nicht einmal. Ehe der unglückliche Soldat auch nur einen Laut herausbringen konnte, fuhr er ihn an:
»Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen? Wir sind überfallen worden! Wir hatten feindliche Eindringlinge hier! In der Kommandozentrale unserer stärksten Festung! Sie gehen hier nach Belieben ein und aus, und Sie -«
»Gouverneur.« Hartmann sprach nicht einmal sehr laut, doch in seiner Stimme war plötzlich ein Beiklang, der selbst Drasko zu beeindrucken schien, denn statt seine Tirade fortzusetzen, drehte er sich zu Hartmann um und blinzelte verwirrt.
Hartmann sah ihn eine Sekunde lang durchdringend an, dann wandte er sich an die Soldaten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Sie können gehen. Und stellen Sie diese verdammte Alarmanlage ab!«
Drasko keuchte, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt, und auch der Soldat starrte Hartmann für einen Moment an, als zweifelte er an seinem Verstand. Dann aber nickte er, drehte sich mit einer abrupten Bewegung herum und verschwand wieder im Aufzug. Seine Kameraden folgten ihm.
Erst als die Aufzugtüren sich hinter den Männern geschlossen hatten, fand Drasko seine Sprache wieder.
»Sind... sind Sie verrückt geworden?« keuchte er. »Wieso schicken Sie die Soldaten weg?«
»Weil sie uns nichts nutzen.« Charity antwortete an Hartmanns Stelle und wies mit einer eindeutig wütenden Kopfbewegung auf den Lift. »Sie haben es gerade selbst gesagt, Gouverneur: Sie gehen hier nach Belieben ein und aus. Ein halbes Dutzend Soldaten mehr oder weniger macht da keinen Unterschied.«
»Außerdem wollten die Fremden uns nicht töten«, fügte Skudder hinzu.
»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte Drasko.
»Weil wir anderenfalls bereits tot wären«, entgegnete Skudder ruhig. »Sie hätten nur die Tür noch ein paar Sekunden länger geöffnet lassen müssen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Als er den Arm wieder senkte, klebte Blut an seinen Fingern. »Ein paar Sekunden hätten gereicht.«
Drasko funkelte ihn an. Aber er sagte nichts, sondern machte nur ein verächtliches Gesicht und wandte sich wieder an Charity.
»Jedenfalls dürfte es jetzt keine Unklarheiten mehr geben, was die Loyalität ihrer außerirdischen Verbündeten angeht«, sagte er.
Charity verstand im ersten Moment nicht einmal, was er meinte.
»Was soll das heißen?«
»Er hat schnell reagiert«, sagte Drasko.
»Das meinen Sie nicht ernst, Drasko«, sagte Skudder. »Sie wollen andeuten, daß diese Kerle hier aufgetaucht sind, weil Gurk sie gerufen hat?«
»Ich will gar nichts andeuten, Mr. Skudder«, sagte Drasko eisig.
Daß Skudder in der Anrede Draskos Rang weggelassen hatte, war eine Provokation, die der Gouverneur sehr wohl verstand. »Ich finde es nur merkwürdig, daß diese Männer genau in dem Moment auftauchen, in dem ihrem Freund offensichtlich der Boden unter den Füßen zu heiß wird.«
»Oder als er drauf und dran war, etwas Wichtiges zu erraten«, sagte Charity.
Drasko bedachte sie nur mit einem geringschätzigen Lächeln. »Wieso überrascht es mich nicht, daß Sie immer noch seine Partei ergreifen, Miss Laird?« fragte er.
Charity setzte zu einer wütenden Antwort an, fing aber im letzten Moment einen warnenden Blick Hartmanns auf und schluckte herunter, was ihr auf der Zunge lag. Es hatte keinen Sinn, sich zu streiten. Nicht jetzt, und schon gar nicht mit Drasko.
Charity drehte sich auf dem Absatz herum und wandte sich an den überlebenden Techniker. Der Mann war bleich wie die sprichwörtliche Wand, blutete aus Nase, Augenwinkeln und Ohren und lehnte zitternd an einem Computertisch.
»Könnten Sie mir helfen?« fragte Charity.
Selbst in ihren eigenen Ohren klang diese Frage wie der blanke Hohn. Trotzdem erzielte sie die beabsichtigte Wirkung. Die flackernde Panik in den Augen des Mannes erlosch nicht ganz, ging aber ein wenig zurück, und der Techniker rang sich sogar zu einem angedeuteten Nicken durch.
»Ich weiß, es ist viel verlangt«, sagte Charity, »aber trotzdem: Können Sie versuchen, die Übertragung wieder herzustellen?«
Der Mann zögerte eine Sekunde; dann aber nickte er noch einmal, stieß sich vom Pult ab und drehte sich in einer kompliziert anmutenden Bewegung herum. Seine Hände zitterten immer noch, bewegten sich aber trotzdem mit erstaunlicher Präzision und Schnelligkeit über das Pult.
Das Ergebnis seiner Bemühungen entsprach allerdings genau dem, was Charity erwartete: Nach zwei oder drei Minuten richtete der Techniker sich wieder auf und schüttelte den Kopf.
»Tot«, sagte er.
»Was haben Sie erwartet?« fragte Drasko. »Wahrscheinlich haben sie das ganze verdammte Teleskop abgeschossen.«
»Kaum«, antwortete Charity. »So dumm sind sie nicht.«
»Dumm?«
»Warum sollten sie wertvolle Hardware zerstören, wenn ein simpler Störimpuls reicht?« Charity schüttelte in einer müde anmutenden Bewegung den Kopf. »Sie wollen uns nicht vernichten, Gouverneur. Sie wollen uns besiegen. Das ist ein Unterschied.«
»Das müssen Sie mir bei Gelegenheit erklären«, sagte Drasko.
»Bei Gelegenheit, ja«, mischte Hartmann sich ein. »Aber nicht jetzt. Ich schlage vor, wir lassen erst einmal eine Putzkolonne hier herein, und anschließend jemanden, der mit einem Lötkolben umzugehen versteht. Treffen wir uns in zwei Stunden... am besten in Ihrem Büro, Gouverneur. Meine Räume sind im Moment leider auch nicht in einem besonders guten Zustand.«
Drasko wollte widersprechen, doch Hartmann gab ihm gar keine Gelegenheit dazu, sondern drehte sich auf dem Absatz herum und ging zum Aufzug. Charity und Skudder folgten ihm.
Die Türen öffneten sich fast augenblicklich, als Hartmann den entsprechenden Knopf drückte, aber Charity war nicht die einzige, die ein mulmiges Gefühl hatte, als sie die Kabine betrat. Auch Skudder und Hartmann zögerten merklich, als hätten sie Angst, sich nicht in der Aufzugkabine, sondern auf der luftlosen Oberfläche des Mars wiederzufinden.
Charity warf Hartmann einen beinahe schon beschwörend-fragenden Blick zu, doch er ignorierte ihn einfach. Erst als sie nicht nur den Lift, sondern das gesamte Gebäude verlassen hatten, brach Hartmann endlich sein Schweigen:
»Ist euch eigentlich klar, was gerade passiert ist?«
»Nein«, antwortete Skudder. »Warum erklärst du es uns nicht?«
Es kam Charity fast schon lächerlich vor, aber Hartmann sah sich tatsächlich nach beiden Seiten um, ehe er antwortete.
»Es ist schlimmer, als wir dachten.«
»Ach?« fragte Charity spöttisch.
Hartmann blieb ernst.
»Habt ihr eigentlich überhaupt nichts begriffen?« fragte er. »In einem Punkt hat Drasko hundertprozentig recht, so ungern ich es zugebe. Das gerade war kein Zufall!«
»Wie meinst du das?« fragte Charity. »Redest du von Gurk oder von der Bildstörung?«
Der plötzliche, feindselige Unterton in ihrer Stimme erschreckte sie selbst, doch Hartmann schien ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Von beidem«, antwortete er. »Vielleicht. Ich weiß es nicht, verdammt. Aber es kann kein Zufall sein. Drasko hat recht. Sie haben verdammt schnell reagiert.«
»Du meinst... sie haben uns abgehört.« Charity brachte es auf den Punkt.
»Jedes Wort«, bestätigte Hartmann. »Ich verwette meine rechte Hand, daß wir eine Wanze finden, wenn wir den Kontrollraum auseinanderschrauben.«
»Oder Gouverneur Drasko einer Leibesvisitation unterziehen«, fügte Skudder hinzu.
Charity - und selbst Hartmann - schauten ihn überrascht an, und Skudder hob in einer besänftigenden Geste die Hände. »Seht mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich habe diesem Kerl nie getraut. Und ihr auch nicht, wenn ihr ehrlich seid.«
»Jetzt übertreibst du«, sagte Charity. »Ich würde Drasko nie heiraten, aber ein Verräter ist er bestimmt nicht.«
»Wieso?«
»Du weißt, wo er herkommt«, antwortete Charity. »Von den USA abgesehen hat Osteuropa wahrscheinlich am meisten unter den Moroni gelitten. Drasko ist ein Widerling und ein Trottel, aber er würde sich eher die Hände abhacken lassen, als mit einer außerirdischen Macht zusammenzuarbeiten.«
»Und wenn es keine Außerirdischen sind?« Skudder machte eine komplizierte Handbewegung. »Hast du vergessen, was Gurk gesagt hat? Das hier ist eine Familienangelegenheit. Was glaubst du wohl, hat er damit gemeint?«
Charity hatte keine Ahnung.
Aber sie hätte in diesem Moment wahrscheinlich ihre rechte Hand für die Antwort auf diese Frage gegeben.