5


Charitys Zorn verrauchte zwar nicht, als Melissa und sie ins Freie traten, doch er rückte ein wenig in den Hintergrund. Zum erstenmal seit ihrer Rückkehr auf die Erde sah Charity die Basis im hellen Tageslicht - und es war ein Anblick, der sie zutiefst erschreckte.

Hartmann und Skudder hatten einen kurzen Überblick über die Schäden gegeben, die die beiden Angriffe der Fremden verursacht hatten, aber es war eine Sache, eine Aufzählung trockener Fakten zu hören, und eine ganz andere, die Verheerung zu sehen, die die Rochenschiffe angerichtet hatten.

Die große Landefläche im Zentrum des halbkreisförmig angelegten Areals war mit Kratern und Rissen übersät, die sich zum Teil bereits mit ölig schimmerndem Wasser gefüllt hatten. Obwohl der Überfall mittlerweile gut zwei Tage zurücklag, war die Luft noch immer von einem durchdringenden Brandgeruch erfüllt.

Kaum eines der Gebäude war ohne Beschädigungen geblieben, und Charity sah auch zwei oder drei Bauwerke, die vollkommen zerstört waren. Vor allem das Verwaltungsgebäude war so schwer getroffen worden, daß es praktisch reif für den Abriß war. Vermutlich hatte der hoch aufragende Turm den Piloten der Rochenschiffe nicht nur als Orientierungspunkt, sondern zugleich auch als Zielscheibe gedient.

Schon bei dem bloßen Gedanken, daß sie noch in der vergangenen Nacht auf dem Dach dieses ausgeglühten Stahlbetonskeletts gestanden hatte, lief Charity ein eisiger Schauer über den Rücken.

Melissa stockte plötzlich im Schritt, und als Charity sie anschaute, fiel ihr auf, daß das Mädchen sichtlich blaß geworden war.

Charitys Blick folgte dem Melissas. Auf der anderen Seite des Landefeldes waren zwei riesige Kettenfahrzeuge damit beschäftigt, das Wrack eines Rochenschiffes wegzuschleppen.

»Keine Angst«, sagte Charity. »Sie können dir nichts mehr tun.«

Melissa nickte. Die Bewegung war fast nur angedeutet und kaum zu erkennen. Dann hob sie den Arm und griff nach Charitys Hand; vermutlich ohne daß es ihr bewußt war.

»Du hast solche Schiffe schon einmal gesehen, nicht wahr?« fragte Charity zögernd. »Ich meine... außer hier. Und oben in der Himmelsstadt.«

»Ja«, antwortete Melissa. »Aber ich darf nicht darüber reden.«

Charity lächelte, als wäre es ganz selbstverständlich.

»Gurk hat es dir verboten, nicht wahr? Aber das ist schon in Ordnung. Wenn du nicht darüber reden willst, mußt du es auch nicht. Und du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Sie sind zwar gefährlich, aber wir haben sie besiegt. Und wir werden sie noch einmal besiegen, wenn sie wiederkommen.«

»So viele«, flüsterte Melissa. »Es sind... so schrecklich viele.«

Sie gab sich einen Ruck, sah ihre eigene Hand, die fast zwischen Charitys Fingern verschwunden war, blickte Charity beinahe erstaunt an und zog den Arm dann rasch zurück.

Was meint sie mit so schrecklich viele? dachte Charity. Melissa und Net waren in Skytown zurückgeblieben, und dort war nicht ein einziges Rochenschiff gewesen!

Sie gingen weiter. Hangar IV lag auf der gegenüberliegenden Seite des Landefeldes, so daß sie gute zehn Minuten Fußmarsch vor sich hatten.

Charity ließ einige Minuten verstreichen; dann fragte sie in ganz bewußt beiläufigem Tonfall: »Dieser Ort, an dem ihr wart, als Gurk euch gerettet hat... war der Himmel dort rot?«

»Rot?« Melissa schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Aber die Berge. Und es war kalt. Die Sonne war zu klein.«

Viele. Es sind so schrecklich viele.

Charity stellte keine weitere Frage mehr. Wahrscheinlich wäre es kein Problem gewesen, Melissa auszuhorchen - letztendlich war sie nur ein zehnjähriges Kind, das den Tricks und Schlichen eines Erwachsenen nicht viel entgegenzusetzen hatte. Aber aus irgendeinem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, schrak Charity davor zurück. Es wäre ein Vertrauensbruch gewesen, nicht nur Melissa, sondern auch Gurk gegenüber. Trotz allem war sie sicher, daß der Zwerg seine Gründe hatte, den Geheimnisvollen zu spielen.

Außerdem hatte sie schon eine Menge erfahren.

Wahrscheinlich mehr, als Gurk ahnte...

Sie erreichten den Hangar, eines der wenigen Gebäude auf der Basis, die unbeschädigt geblieben waren. Die großen Doppeltore waren geschlossen und wurden streng bewacht, aber niemand hielt Charity und Melissa auf. Doch als sie an einem der Soldaten vorüberging, bemerkte Charity, daß er sein Armbandfunkgerät an die Lippen hob und leise hineinzusprechen begann, kaum daß sie ihn passiert hatten. Die beiden Männer vor der Tür ihrer Apartments waren nicht untätig gewesen und hatten ihr Kommen offensichtlich erwartet.

Aus irgendeinem Grund mißfiel Charity dieser Gedanke, auch wenn ihre Mißbilligung völlig unsinnig war. Ein solches Vorgehen entsprach nicht nur den Vorschriften, sondern machte auch Sinn, vor allem in einer Situation wie dieser. Vielleicht lag es einfach daran, daß Charity es nicht mehr gewohnt war. Ihr Kampf gegen die Besatzer hatte Jahre gedauert, und am Schluß waren sie tatsächlich so etwas wie eine kleine, aber äußerst schlagkräftige Armee gewesen - aber mit militärischer Disziplin hatte keiner von ihnen viel am Hut gehabt.

Und im Grunde hatte sich später auch nicht allzu viel daran geändert, zumindest nicht für Skudder und für sie. Der Anblick all dieser Soldaten und ihres präzisen Handelns, das einem genau festgelegten Ablauf folgte, machte Charity deutlich, daß man Skudder und ihr wohl eine Art Narrenfreiheit eingeräumt hatte.

Und noch etwas kam erschwerend hinzu, dachte sie spöttisch. Sie waren hier in einem Teil Europas, der früher einmal Deutschland geheißen hatte. Nicht einmal fünfzig Jahre Moroni-Besatzung hatten ausgereicht, dieses bienenfleißige Volk von einigen seiner schlimmsten angeborenen Macken zu befreien.

Die Deutschen liebten es offensichtlich immer noch, Uniformen zu tragen. Und aus einem Charity völlig rätselhaften Grund liebten sie es offenbar noch viel mehr, zu gehorchen.

Der große Hangar wurde von Dutzenden riesenhafter Scheinwerfer in beinahe schon unangenehme Helligkeit getaucht. Es war sehr warm - eigentlich schon zu warm -, und im Inneren der Halle herrschte eine dermaßen hektische Aktivität, daß Charity im ersten Moment Mühe hatte, überhaupt etwas zu erkennen - sie nahm nichts als ein einziges, gewaltiges Gewusel wahr, in dem es weder ein System noch einen Sinn zu geben schien.

Erst nach einigen Sekunden erblickte sie Skudder. Er krabbelte wie eine zu groß geratene Ameise über den Rumpf eines beschädigten Rochenschiffes und war so voller Schmieröl und Schmutz, daß Charity ihn nur noch an seinem leuchtend grünen Haarkamm erkannte.

Sie winkte ihm zu, bedeutete Melissa, dicht bei ihr zu bleiben, und steuerte in einem schnellen Slalomkurs auf den beschädigten Jäger zu.

Wohin sie auch blickte, wurde gearbeitet, geschraubt, geschweißt. Es mußten Hunderte von Technikern sein, die damit beschäftigt waren, die erbeuteten Feindschiffe zu untersuchen - worunter sie offensichtlich vor allem erst einmal das Wort auseinandernehmen verstanden. Charity war ein wenig erstaunt, wie viele Wracks sich in dem großen Hangar befanden - es mußten weit über ein Dutzend sein; und dabei waren die Schiffe nicht mit eingerechnet, die während des Luftkampfs über der Basis explodiert oder abgestürzt und in Millionen Teile zerborsten waren. Die Angreifer hatten einen hohen Preis für den Überfall bezahlt.

So viele, hatte Melissa gesagt. Es sind so schrecklich viele.

Sie erreichten das Rochenschiff, auf dem Skudder herumkletterte. Der Indianer hörte auf, den Jäger mit Schraubenschlüssel und Laserschneider zu traktieren, winkte ihr zu und gestikulierte mit der anderen Hand nach vorn, auf die ausgefahrene Rampe. Charity nickte stumm - bei dem geschäftigen Lärm, der in der Halle herrschte, hätte es ohnehin keinen Sinn gehabt, zu antworten - und lief geduckt die kurze Rampe hinauf.

Zum erstenmal sah sie einen der feindlichen Raumjäger von innen. Das erste, was ihr auffiel, war die drückende Enge. Das Schiff, das nicht sehr viel größer als ihre Viper-Jäger war, bestand im Grunde lediglich aus einem schmalen Gang und einem asymmetrischen, für zwei Piloten ausgelegten Cockpit. Charity fragte sich vergeblich, wie Gurk es geschafft hatte, sich zusammen mit fünf weiteren Passagieren in eines dieser Schiffe zu quetschen.

Hartmann kniete im vorderen Teil des Cockpits und machte sich an einem aufgeklappten Computerterminal zu schaffen. Als er Charitys Schritte hörte, sah er auf, lächelte knapp und machte dann ein überraschtes Gesicht, als er Melissa erblickte.

»Hallo«, sagte er. »Wo kommst... kommt ihr denn her? Ich dachte, du wärst bei Net und den Jungen geblieben?«

»Sie wollte Gurk besuchen«, sagte Charity. »Das nennt man echte Freundschaft, nicht wahr?«

»Die Basis ist abgeriegelt«, erwiderte Hartmann stirnrunzelnd. »Wir haben immer noch gelben Alarm. Wie bist du hereingekommen?«

»Das war nicht schwer«, sagte Melissa. »Niemand sieht mich, wenn ich nicht will.«

Hartmanns Gesichtsausdruck wurde noch miesepeteriger, und Charity konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht mehr ganz unterdrücken. »Vielleicht solltest du deine Sicherheitsvorkehrungen noch einmal überprüfen«, sagte sie. »Anscheinend ist es kinderleicht, in eure Festung einzudringen. Aber das ist kein Grund zur Panik - schließlich werden wir nicht von Kindern angegriffen.«

»Sehr witzig«, nörgelte Hartmann.

»Fast so witzig wie dein Befehl, Gurk unter Hausarrest zu stellen«, erwiderte Charity. Sie grinste jetzt nicht mehr. »Was soll dieser Unsinn?«

»Es ist kein Unsinn«, antwortete Hartmann. »Außerdem war es nicht meine Idee.«

»Laß mich raten«, sagte Charity. »Drasko.«

»Außerirdische sind hier im Moment nicht gerne gesehen«, sagte Hartmann achselzuckend. »Ob du es glaubst oder nicht, es geschieht zu Gurks Schutz. Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ihm etwas zustieße. Nicht nach allem, was er für Net und die Kinder getan hat. Und natürlich für dich«, fügte er an Melissa gewandt hinzu.

»Niemand kann dem kleinen Mann etwas tun«, sagte Melissa überzeugt.

»Ich hoffe, du hast recht«, seufzte Hartmann. »Im Moment stellt er nämlich die größte Gefahr für sich selbst dar. Drasko ist nicht der einzige, der ihm nicht traut. Und solange Gurk sich weiter darin gefällt, den Geheimnisvollen zu spielen, kann ich die anderen kaum vom Gegenteil überzeugen.«

Hinter ihnen polterten Schritte die Rampe herauf, und Skudder kam ins Schiff. Der Platz reichte nicht aus, daß er das Cockpit betreten konnte, so daß er gebückt in dem schmalen Gang stehenblieb.

Der Anblick des Cockpits irritierte Charity immer mehr. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte - der Platz reichte für sechs Passagiere einfach nicht aus; nicht einmal, wenn man berücksichtigte, daß drei davon Kinder gewesen waren. Sie würde sich noch einmal mit Melissa unterhalten müssen.

Aber nicht jetzt.

Sie wechselte ganz bewußt nicht nur das Thema, sondern auch die Tonlage.

»Was habt ihr herausgefunden?« fragte sie.

»Eine Menge«, antwortete Hartmann. »Wenn auch nicht viel, was wir nicht schon vorher gewußt hätten. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten und einem technologischen Vorsprung von maximal zehn Jahren könnte dieses Schiff auf der Erde gebaut worden sein. Keine revolutionäre Technik, keine wirklich neuartigen Materialien...«

Charity sagte nichts dazu, warf aber einen eindeutigen Blick auf die fremdartigen Waffen, die in einer Haltevorrichtung neben dem Ausstieg befestigt waren. Doch Hartmann schüttelte den Kopf.

»Sie sind gar nicht so fremdartig«, sagte er. »Frag mich jetzt nicht nach Einzelheiten. Die Techniker haben versucht, es mir zu erklären, aber ganz verstanden habe ich es nicht, ehrlich gesagt. Im Prinzip läuft es darauf hinaus, daß diese Waffen nur die konsequente Weiterentwicklung unserer Railguns darstellen.«

»Können wir sie nachbauen?« fragte Charity.

»Nein«, antwortete Hartmann. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Das ist im Moment aber auch nicht unser größtes Problem.«

»Und was ist unser größtes Problem?« fragte Charity, als Hartmann keine Anstalten machte, seiner Bemerkung eine entsprechende Erklärung nachfolgen zu lassen. Und er wirft Gurk vor, einen übertriebenen Hang zur Dramatik zu haben! dachte sie.

Hartmann deutete mit einer Kopfbewegung auf das geöffnete Pult, an dem er gearbeitet hatte, als Charity hereinkam.

»Diese verdammten Computer«, sagte er. »Sie besitzen eine Art Selbstzerstörungsmechanismus. Es reicht, sie nur schief anzusehen, und die Speicherkristalle lösen sich in Wohlgefallen auf.«

»Ihre Konstrukteure waren eben vorsichtig«, sagte Charity.

»Paranoid wäre wohl der treffendere Ausdruck«, antwortete Skudder. »Es reicht, die Dinger einzuschalten, und... pfffft!« Er spreizte ruckartig die Finger der linken Hand, um eine Explosion anzudeuten.

»Das heißt im Klartext: Wir haben keine Chance herauszufinden, wo diese Fremden herkommen. Geschweige denn, wer sie sind.« Charity wandte sich an Skudder. »Hat wenigstens die Untersuchung der Leichname etwas gebracht?«

»Wenn es Leichname zum Untersuchen gäbe.« Skudder zog eine Grimasse. »Dieser Selbstzerstörungsmechanismus funktioniert hervorragend. Bisher haben wir keinen Anzug öffnen können, ohne ihn zu aktivieren.«

»Also wissen wir wenigstens, daß wir nichts wissen«, sagte Charity seufzend. »Na, das ist doch schon mal was. Stellt euch vor, wir wüßten nicht einmal, daß wir nichts wissen. Das wäre ja schrecklich.«

Hartmann und Melissa schauten sie irritiert an, aber Skudder grinste. »Immerhin wissen wir mittlerweile, wie es funktioniert«, sagte er. »Ein Enzym, das eine Art Kettenreaktion im Körper auslöst. Du hattest Glück, daß du das Zeug nicht angerührt hast. Sonst würdest du jetzt in einem Reagenzglas wohnen.«

»Sehr komisch«, sagte Charity. »Würde einer von euch beiden Witzbolden mir jetzt vielleicht verraten, warum ich eigentlich hier bin?«

Hartmann und Skudder tauschten einen bezeichnenden Blick. Keiner von beiden antwortete direkt auf ihre Frage, und Charity seufzte hörbar und sagte: »Ich habe keine Geheimnisse vor Melissa, wenn ihr das meint.«

»Also gut«, sagte Hartmann schließlich. »Wir haben etwas herausgefunden. Wir wissen nur noch nicht genau, was wir damit anfangen sollen. Hier.« Er bückte sich, hob einen tragbaren Videorecorder von der Größe einer Zigarettenschachtel vom Boden auf und legte ihn so auf den Pilotentisch, daß Charity das winzige Display sehen konnte. Im ersten Moment erkannte sie nur ein Chaos aus Farben und grellen Blitzen, dann sah sie, daß es sich offensichtlich um eine Aufzeichnung des Luftkampfes über der Basis handelte - mit einer Handkamera aufgenommen, vollkommen verwackelt und in miserabler Qualität, aber erkennbar.

»Achte auf den rechten Stingray«, sagte Hartmann.

Charity konzentrierte sich auf den winzigen, zweidimensionalen Monitor. Offensichtlich handelte es sich um eine Aufnahme des zweiten Überfalles. Ein gutes halbes Dutzend Viper-Jäger hatte zwei Stingrays in die Zange genommen, doch Charity konzentrierte sich ganz auf das rechte der beiden Rochenschiffe, wie Hartmann es gesagt hatte. Der feindliche Jäger flog halsbrecherische Manöver, um dem Beschuß der Vipern auszuweichen, aber die Übermacht war einfach zu groß. Grelle Lasersalven hämmerten in seine Schutzschilde, ließen sie aufflammen wie Mottenflügel, die dem Licht zu nahe gekommen waren, und schließlich zusammenbrechen. Flüssiges Metall spritzte in lodernden Fontänen davon, als die gebündelten Energiestrahlen über den Rumpf und die geschwungenen Flügel der Stingray glitten. Das Schiff taumelte, verlor für einen Moment an Höhe und fing sich wieder.

»Jetzt!« sagte Hartmann.

Der Treffer, der das Schicksal des Rochenschiffes endgültig besiegelte, war nicht einmal richtig zu sehen. Ein unsichtbarer Hammerschlag schien das Cockpit zu treffen und in einem Hagel aus zerborstenem Glas, Kunststoff, verdrehtem Metall und Flammen davonwirbeln zu lassen. Das Schiff bäumte sich auf, überschlug sich in einer drei-, vier-, fünffachen Pirouette und begann dem Boden entgegenzutaumeln.

Doch es stürzte nicht ab. Im buchstäblich letzten Moment erlangte der Pilot die Kontrolle über sein Schiff zurück, riß es hoch und jagte in einem Kamikaze-Manöver auf eine der Vipern zu, die über ihm kreisten. Der Pilot des irdischen Jägers konnte dem drohenden Zusammenprall nur mit einem verzweifelten Ausweichmanöver entgehen, und das Rochenschiff stieß mit lodernden Triebwerken nahezu senkrecht in den Himmel und verschwand.

»Sehr interessant«, sagte Charity verwirrt. »Aber ich habe schon einmal eine Railgun in Aktion gesehen.«

Hartmann lächelte auf eine sonderbare Art und Weise und schüttelte den Kopf. »Du hast es also auch nicht bemerkt«, stellte er fest, wobei sich ein seltsam zufriedener Tonfall in seine Stimme schlich. »Mir ging es genauso. Erst beim dritten oder viertenmal ist mir etwas aufgefallen. Paß auf!«

Er berührte eine Taste auf dem winzigen Aufzeichnungsgerät, und Charity sah eine Wiederholung des letzten Teils des Luftkampfes: langsamer und nicht nur in einer Ausschnittvergrößerung, so daß sie nur noch das getroffene Rochenschiff sah, sondern offensichtlich im Computer nachbearbeitet, so daß man diesmal viel mehr Einzelheiten erkennen konnte.

Als der Moment kam, in dem das Cockpit des Rochenschiffes vom Urangeschoß der Railgun getroffen und zertrümmert wurde, schaltete Hartmann auf Zeitlupe um.

Und jetzt sah Charity, was er meinte: Der Treffer zerfetzte nicht nur die Glaskanzel des Schiffes, sondern riß auch den Pilotensitz samt Pilot aus der Maschine und stanzte ein sauberes, medizinball-großes Loch in den Copiloten. Charity riß erstaunt die Augen auf. Sie hatte erlebt, wie unglaublich zäh und widerstandsfähig diese Männer waren, aber eine solche Verletzung hätte nicht einmal einer der legendären Megakrieger der Jared überstanden.

Doch obwohl das Schiff keinen Piloten und nur noch einen toten Copiloten hatte, fing es seinen steuerlosen Sturz nach wenigen Sekunden ab und verschwand mit dem haarsträubenden Manöver, das Charity gerade schon einmal beobachtet hatte.

»Das ist wirklich... erstaunlich«, sagte sie.

Hartmann klappte das Gerät zusammen und verstaute es in der Brusttasche seines ölverschmierten Uniformhemdes.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte er. »Augenscheinlich verfügen diese Schiffe über eine Art Rückholautomatik. Sobald der Computer registriert, daß der Pilot ausgefallen ist, bringt er das Schiff auf Heimatkurs.«

»Konntet ihr es verfolgen?« fragte Charity mit einer Geste auf die Tasche, in die Hartmann das Gerät gesteckt hatte.

Hartmann verneinte. »Bei dem Chaos, das hier am Himmel geherrscht hat? Kaum. Wir haben versucht, den Kurs hochzurechnen, aber das hatte auch wenig Sinn. Trotzdem... ich halte die Beobachtung für sehr wichtig. Möglicherweise haben wir jetzt eine Chance, herauszufinden, woher sie kommen. Es muß ein Mutterschiff geben. Es kann nicht allzu weit entfernt sein. Die Reichweite dieser Jäger ist begrenzt.« Er machte eine vage Geste. »Einige hunderttausend Meilen... geteilt durch zwei für den Rückflug und abzüglich der Treibstoffmenge, die sie während des Kampfes verbraucht haben. Sie waren nicht sehr sparsam mit dem Sprit.«

»Das heißt«, sagte Skudder nachdenklich, »dieses Mutterschiff muß irgendwo zwischen uns und dem Mars oder der Venus sein.«

Es sei denn, dachte Charity, sie sind auf die gleiche, unheimliche Weise gekommen wie der Landungstrupp, den Gurk und ich beobachtet haben.

Doch aus irgendeinem Grund glaubte sie das nicht. Sie konnte auch die Euphorie nicht ganz teilen, die sie aus Skudders Stimme heraushörte. Selbst wenn sie den ungefähren Sektor kannten, in dem sich das vermutete Mutterschiff aufhielt, war das Gebiet, das in Frage kam, unvorstellbar groß. Sie würden Monate, wenn nicht Jahre brauchen, um es abzusuchen; Zeit, die ihnen ihr unbekannter Gegner ganz bestimmt nicht lassen würde.

»Wenn deine Vermutung zutrifft«, sagte Charity nachdenklich, »und dieser Rückholmechanismus immer noch funktioniert...«

»... dann haben wir vielleicht eine Möglichkeit, sie aufzuspüren, ja«, führte Hartmann den Satz zu Ende. »Wir haben mehr als zwei Dutzend Wracks erbeutet. Keines davon ist mehr flugfähig, aber ich denke, unsere Techniker könnten eines dieser Schiffe reparieren. Wenn wir die Triebwerke einschalten und es tatsächlich nach Hause fliegt, würde ein kleiner Peilsender reichen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß es klappt, aber es ist eine Chance, die wir nutzen sollten.«

»Worauf warten wir dann noch?« fragte Skudder.

»Auf nichts«, antwortete Hartmann. »Und wir warten auch gar nicht. Ich habe bereits einige meiner besten Techniker auf das Problem angesetzt. Sie werden ein paar Tage brauchen, aber sie sind zuversichtlich, daß sie die Sache hinkriegen.«

»Und was sagt unser über alles geschätzter Freund Drasko dazu?« erkundigte sich Skudder.

»Nichts«, erwiderte Hartmann. »Ich habe es ihm nicht gesagt.«

»Das wird ihn nicht sehr freuen«, sagte Charity. »Andererseits... vielleicht regt er sich ja so sehr darüber auf, daß ihn der Schlag trifft. Das würde einiges erheblich vereinfachen.«

Skudder blickte sie nachdenklich an. »Wie kommt es nur, daß ich das Gefühl habe, daß du Drasko nicht leiden kannst?«

Charity grinste, aber im stillen mußte sie eingestehen, daß Skudders Vermutung nicht stimmte. Sie hatte nichts gegen Drasko; ganz im Gegenteil. Der Mann war ein sehr fähiger Politiker, der sein Gebiet mit einer geschickten Mischung aus Fingerspitzengefühl und der notwendigen Entschlossenheit verwaltete - hundertmal besser, als sie es je gekonnt hätte. Ganz sicher handelte er in bester Absicht, und von seinem Standpunkt aus hatte er wahrscheinlich sogar recht.

Aber das hatte Seybald auch gehabt, und Seybald war jetzt tot, zusammen mit mehr als tausend anderen Männern und Frauen, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als im falschen Moment am falschen Ort zu sein.

»Ich halte es für besser, wenn er und die anderen zuerst einmal nichts davon erfahren«, sagte Hartmann. »Es hat wohl keinen Zweck, die Pferde scheu zu machen, bevor wir überhaupt wissen, ob es funktioniert.«

Skudders Grinsen wurde noch breiter, aber er war klug genug, sich jeden Kommentars zu enthalten.

Charity war ein wenig erstaunt. Hartmann hatte sich bisher stets aus ihrem latent schwelenden Streit mit Drasko und den anderen Gouverneuren herausgehalten. Daß er jetzt - wenn auch nicht offen - ihre Partei ergriff, überraschte sie. Aber vielleicht sollte sie es auch nicht überbewerten. Es konnte ebensogut sein, daß Hartmann ihr nun ganz bewußt in einem Punkt entgegenkam, in dem er nichts zu verlieren hatte.

Fast sofort tat Charity ihr eigener Gedanke leid; es gab auf der ganzen Welt vielleicht nicht mehr als ein Dutzend Menschen, denen sie vollkommen und vorbehaltlos vertraute, und einer davon war zweifelsohne Hartmann. Außerdem befand er sich in einer weitaus komplizierteren Lage als sie selbst. Sie konnte in ein paar Tagen, vielleicht auch später, wenn ihr dieser ganze Kram hier zu bunt wurde, aber auch in einer halben Stunde in ihr Schiff steigen und nach Hause fliegen. Hartmann hatte nicht diese Möglichkeit. Er mußte hier bleiben und mit diesen Leuten leben, mit denen sie sich eigentlich nur zum Zeitvertreib stritt.

»Können wir jetzt wieder gehen?« fragte Melissa.

Charity drehte sich zu dem Mädchen um und verspürte einen heftigen Anflug ihres schlechten Gewissens, als sie den Ausdruck auf Melissas Gesicht sah. Für ein Kind ihres Alters beherrschte sie sich erstaunlich, aber in ihren Augen war trotzdem ein angstvolles Flackern, und es war ihr nicht möglich, still zu stehen. Offenbar bereitete ihr diese Umgebung Furcht. Charity fragte sich warum, hütete sich aber, diese Frage laut auszusprechen. Wenn Melissa soweit war, über das, was sie und die anderen an Bord eines solchen Schiffes erlebt hatten, zu reden, würde sie es ganz von selbst tun.

»Du hast recht«, sagte sie und wandte sich dann an Hartmann. »Ich kann mir auch einen gemütlicheren Ort vorstellen, an dem wir uns unterhalten können.«

»Ganz wie du meinst.«

Hartmann hob die Schultern und bedeutete Skudder mit der gleichen Bewegung, das Schiff zu verlassen. Der Gang war so schmal, daß sie nur in der Reihenfolge hinausgehen konnten, in der sie hereingekommen waren.

Charity hatte das Gefühl, zum erstenmal seit langen Minuten wieder frei atmen zu können, als sie aus dem Stingray hinaus und wieder auf den Betonfußboden des Hangars trat. Irgend etwas knirschte unter ihren Schuhsohlen. Sie schaute nach unten und erblickte ein wenig grobkörnigen, roten Sand, der aus der offenen Luke gerieselt war.

Rot.

Der Himmel war rot gewesen.

Sie bückte sich, hob ein paar Sandkörner auf und ließ sie nachdenklich durch die Finger rieseln. Irgend etwas daran kam ihr bekannt vor. Nein: hätte ihr bekannt vorkommen sollen. Der Anblick erinnerte sie an irgend etwas. So bizarr der Gedanke klang: Er erinnerte sie an etwas, das sie niemals mit eigenen Augen gesehen hatte, aber trotzdem wiedererkennen müßte.

Sie kam nicht darauf. Ihre Gedanken kreisten noch einen Moment, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen, und dann, plötzlich, konnte sie fast körperlich fühlen, wie in ihrem Gedächtnis etwas einrastete.

Beinahe hastig beugte sie sich noch einmal vor, schob die Sandkörner mit der Hand zusammen und hob so viel davon auf, wie auf ihre Handfläche paßte, ehe sie sich mit einem Ruck erhob.

»Was hast du?« fragte Hartmann. Charitys Reaktion war weder ihm noch Skudder entgangen.

Charity blickte nach oben. Die stahlverstärkte Decke des Hangars, die sich mehr als dreißig Meter über ihren Köpfen befand, war in gleißendes Licht getaucht. Charity deutete auf einen Punkt schräg über sich, etwa eine Handbreit über der Stelle, an der der Horizont gewesen wäre, hätten sie freie Sicht auf den Himmel gehabt.

»Richtet die Teleskope auf diese Stelle«, sagte sie. »Ich glaube, wir werden eine Überraschung erleben.«

Hartmanns Gesicht sah aus wie ein fleischgewordenes Fragezeichen.

»Würde es dir viel ausmachen, einem schon leicht senilen alten Mann zu erklären, wovon du überhaupt sprichst?«

Charity ließ den roten Sand aus der linken Hand in die geöffnete rechte rieseln.

»Vom Mars, Hartmann, vom Mars«, sagte sie.

Die Gefechtszentrale der Basis lag neun Stockwerke unter der Erde und gehörte zu den wenigen Einrichtungen, die den Angriff der Fremden vollkommen unbeschadet überstanden hatten. Wenigstens auf den ersten Blick.

Auf den zweiten Blick sah die Sache leider etwas anders aus.

Charity beobachtete mit wachsender Ungeduld die beiden Techniker, die sich an dem halb auseinandergebauten Schaltpult vor ihr zu schaffen machten, seit mittlerweile einer guten halben Stunde, und das Ergebnis ihrer Bemühungen ließ sich sehen.

Auf dem riesigen Monitor an der gegenüberliegenden Wand war zu Anfang nichts als Schneegestöber und weißes Rauschen zu sehen gewesen; mittlerweile irrlichterten diagonale und vertikale Streifen darüber, und manchmal pulsierte das ganze Bild in einer Frequenz, die einem Kopfschmerzen bereitete, wenn man länger als einige Sekunden hinschaute. Ein-, zweimal hatte Charity auch so etwas wie ein Bild gesehen, das in dem weißen Durcheinander Gestalt hatte annehmen wollen. Aber nur beinahe.

Als hätte er Charitys Gedanken gelesen (wahrscheinlich war es nicht sehr schwer, sie zu erraten) hob einer der Techniker den Kopf, zuckte mit den Schultern und blickte sie schuldbewußt an. Charity antwortete mit einem flüchtigen Lächeln. Der Mann konnte nichts dafür. Der Fehler lag nicht an den Geräten hier. Nach der Zerstörung Skytowns war praktisch ihr gesamtes außerterrestrisches Kommunikationsnetz zusammengebrochen. Die Orbitalstadt war viel mehr gewesen als nur eine fliegende Aussichtsplattform. Unendlich viel mehr.

Charity hörte das Geräusch der Tür und erkannte am Rhythmus der Schritte, daß es Skudder und eine zweite Person waren; wahrscheinlich Hartmann. Sie drehte sich nicht um.

»Wie sieht es aus?« Es war Hartmanns Stimme.

Charity zuckte mit den Schultern. Bevor sie antworten konnte, sagte einer der Techniker: »Wir kriegen es hin. Wir brauchen nur noch etwas Zeit.«

»Haben Sie das nicht vor einer Stunde schon einmal gesagt?« knurrte Hartmann.

Der Mann hielt für einen Moment in seinem Tun inne, drehte sich ganz herum und schaute Hartmann mit einer Mischung aus Trotz und schlechtem Gewissen an.

»Es ist nicht so einfach«, antwortete er. »Die meisten Antennen und Sendeanlagen sind zerstört. Wir versuchen eine Art elektronischen Bypaß zu schalten. Möglicherweise gelingt es uns, das Teleskop über eine der Sendeanlagen in Asien zu erreichen.«

»Möglicherweise?«

»Möglicherweise.«

Charity warf Hartmann einen warnenden Blick zu, und obwohl er nicht einmal in ihre Richtung schaute, schien er diesen Blick zu spüren, denn sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich zwar noch weiter, aber er sagte nichts mehr, sondern beließ es bei einem Achselzucken.

»Falls es überhaupt noch funktioniert«, sagte Skudder. »Das Ding ist seit neunzig Jahren nicht mehr bewegt worden.«

»Es funktioniert«, behauptete Charity.

»Das muß es, weil deine Leute es gebaut haben, wie?« Skudder grinste breit, machte aber im gleichen Moment auch eine besänftigende Geste. Charity fragte sich, ob Skudder sie so gut kannte wie sonst niemand.

Andererseits waren sie alle mit ihrer Geduld am Ende. Seit dem Angriff der Stingrays waren annähernd zwei Wochen vergangen, und nichts, aber auch gar nichts hatte in diesen beiden Wochen auch nur annähernd so funktioniert, wie sie es sich vorgestellt hatten. Die Reparaturarbeiten an der Basis gingen weit weniger zügig vonstatten, als geplant gewesen war - was einerseits daran lag, daß sich die Schäden als weit schwerwiegender erwiesen hatten, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte, zum anderen, daß einfach nicht genug Ersatzteile zur Verfügung standen.

Sie hatten erst nach ein paar Tagen wirklich begriffen, wie verheerend der Überfall gewesen war. Im Chaos der Angriffs selbst war es nicht zu bemerken gewesen, aber mittlerweile wußten sie, daß die Fremden mit unglaublicher Präzision angegriffen hatten. Sie hatten nicht nur schreckliche Prügel bezogen, sondern waren praktisch taub und blind. Und das würden sie noch für lange, lange Zeit bleiben. Niemand hatte es bisher laut ausgesprochen, aber nicht nur Charity war klar, daß sie einen weiteren Angriff wie den letzten wahrscheinlich nicht mehr durchstehen würden.

Und sie wußten immer noch nicht, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten.

Das Bild auf dem Wandschirm flackerte. »Es funktioniert!« rief einer der Techniker. »Wir haben Verbindung! Hubble reagiert!«

»Beeindruckend«, sagte Skudder spöttisch. »Was ist das? Der Mittelpunkt des Universums?«

Der Techniker bedachte ihn mit einem bösen Blick, doch Charity konnte nur noch mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. Sie verstand Skudders Spott. Das Schneegestöber auf dem Bildschirm hatte sich nicht sichtbar verändert.

»Das Teleskop reagiert«, beharrte der Techniker. Seine Stimme klang ein bißchen beleidigt. »Die Bildübertragung steht noch nicht, aber das ist im Moment auch nicht so wichtig. Es wird eine Zeitlang dauern, bis wir Hubble auf den Mars ausgerichtet haben.«

»Was genau heißt eine Zeitlang?« erkundigte sich Skudder.

»Ein paar Stunden«, antwortete der Techniker. »Fünf, vielleicht sechs.«

Skudder seufzte, und Charity fragte rasch: »Und die Bildübertragung?«

»Kriegen wir bis dann hin«, versicherte der Techniker. »Kein Problem.«

Charity hätte sich gewünscht, auch nur einen Bruchteil des Optimismus zu haben, den sie in der Stimme des jungen Mannes hörte. Gleichzeitig fragte sie sich, warum, zum Teufel, sie eigentlich hier war. Hartmann hatte sie hierher bestellt, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen - irgend etwas, das er nicht über Intercom besprechen wollte. Doch wohl hoffentlich nicht, daß sie in fünf oder sechs Stunden eine wunderschöne Panoramaaufnahme des Mars betrachten konnten?

»Dann kommen wir in vier Stunden wieder«, sagte Hartmann. »Charity?«

Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von dem Techniker und drehte sich ganz zu Hartmann und Skudder um. Sie hatte damit gerechnet, daß Hartmann zurück zum Aufzug gehen würde, doch statt dessen durchquerte er mit schnellen Schritten den Raum und öffnete eine schmale Tür in einer der Seitenwände. Charity hatte sie bisher nicht einmal bemerkt. Dem Geräusch nach zu schließen, das die Angeln verursachten, hatte in den letzten zehn Jahren niemand diese Tür bemerkt.

Neugierig und ein wenig verwirrt folgte sie Hartmann durch einen kurzen, unbeleuchteten Gang, in dem die Luft so trocken war, daß sie zum Husten reizte, bis zu einer weiteren Tür.

Hartmann kramte umständlich einen weiteren Schlüssel aus der Tasche und mühte sich fast eine Minute mit dem Schloß ab, ehe es ihm endlich gelang, die Tür zu öffnen. Das Licht in dem darunterliegenden Raum ging nicht automatisch an, als er hindurchtrat, so daß er einige Sekunden blind im Dunkeln an der Wand herumtastete, ehe er den Schalter fand.

Was Charity im Licht der altmodischen Glühbirne sah, erstaunte sie nun wirklich. Vor ihnen lag etwas, das augenscheinlich einmal eine Art Büro hatte werden sollen, aber niemals fertiggestellt worden war.

Zwei der vier Wände waren fertig verputzt und bereits gestrichen, die beiden anderen aber bestanden aus nacktem Beton. Überall lagen Werkzeuge und Baumaterialien herum, standen Eimer mit Farbe, die vor zehn Jahren eingetrocknet war, lagen Rollen mit Kunststoffolien, und der Schreibtisch und die Stühle waren von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt.

»Was ist das?« fragte Charity. »Ein konspirativer Treffpunkt?«

Hartmann blieb ernst. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Das hier sollte einmal mein Büro werden - als ich noch ein kleiner General war und mich nicht mit den versammelten Idioten eines ganzen Kontinents herumschlagen mußte. Das Projekt wurde aufgegeben. Kaum jemand weiß, daß es diesen Raum überhaupt gibt. Aus diesem Grund bin ich auch ziemlich sicher, daß wir hier nicht abgehört werden.«

Charity schaute Hartmann aufmerksam an. War die Schärfe seiner Worte schon ungewöhnlich genug, so alarmierte sie noch sehr viel mehr das, was er gesagt hatte.

»Abgehört?«

»Ich kann es nicht beweisen, aber ich vermute es«, erwiderte Hartmann. »Eigentlich bin ich sogar sicher.«

»Wieso?« fragte Skudder.

»Weil ich das hier in meiner Stereoanlage gefunden habe.«

Hartmann griff in die Hosentasche und zog etwas hervor, das Charity im ersten Moment für eine Münze oder eine antiquierte Knopfzelle gehalten hätte.

Doch der Gegenstand besaß eine winzige Antenne, die wie ein Stachel aus seiner Mitte ragte.

»Eine... Wanze?« murmelte sie.

»Ja«, bestätigte Hartmann. »Und sie wurde eindeutig nicht auf der Erde hergestellt.«

Sekundenlang sagte keiner von ihnen etwas. Die Konsequenzen aus Hartmanns Eröffnung waren einfach zu gewaltig, als daß man sie sofort hätte erfassen können. Schließlich sagte Skudder mit grollender Stimme: »Kein Wunder, daß sie so genau gewußt haben, wie sie uns treffen können.«

»Es ist noch viel schlimmer«, sagte Hartmann. »Ich habe das Ding untersuchen lassen. Es sendet auf einer Frequenz, die praktisch nicht anzupeilen ist. Das heißt im Klartext, daß die Dinger überall versteckt sein können. Wir müssen davon ausgehen, daß sie jedes Wort kennen, das wir gewechselt haben.«

»Wie hast du das Ding gefunden?« wollte Charity wissen.

»Zufall. Die Anlage war defekt, und du weißt ja, daß ich gerne selbst an solchen Dingen herumlöte.«

Charity nickte. »Net hat mir im Vertrauen gebeichtet, daß sie dich umbringen wird, wenn du noch ein paar ihrer Haushaltsgeräte ruinierst.«

»Vielen Dank für die Warnung«, sagte Hartmann mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber wenn ich es in diesem Fall nicht getan hätte, wüßten wir jetzt nicht, daß wir abgehört werden. Das Ding war geradezu genial versteckt. Jeder Techniker hätte es für eine Batterie gehalten.«

»Du weißt, was das bedeutet?« fragte Skudder. »Dein CD-Player wurde nicht offiziell vom Mars geliefert, oder? Wer immer das Ding eingebaut hat, ist einer von uns.«

Hartmann machte eine nicht zu deutende Geste und steckte die Wanze wieder ein. »Wir hatten schon seit langem den Verdacht, daß wir einen Verräter unter uns haben, oder? Ich meine... niemand hat es bisher laut ausgesprochen, aber geahnt haben wir es doch alle.«

»Aber das ist Wahnsinn!« murmelte Charity. »Kein Mensch auf diesem Planeten kann so verrückt sein! Niemand hat vergessen, was die Moroni uns angetan haben!«

»Wir haben es aber nicht mehr mit den Ameisen zu tun«, erwiderte Hartmann. »Ganz im Gegenteil. Ich bin mittlerweile ziemlich sicher, daß wir es nicht mit Außerirdischen zu tun haben.«

»Aber die Stingrays -«, begann Charity.

»- könnten ebensogut hier auf der Erde gebaut worden sein«, fiel Hartmann ihr ins Wort. »Nicht von uns, aber trotzdem von Menschen. Daß der Angriff auf die EXCALIBUR und auf Skytown aus dem Weltraum stattfand, bedeutet gar nichts.«

Charity schwieg einen Moment, aber sie mußte plötzlich daran denken, was Gurk gesagt hatte. Wie hatte er es genannt?

Eine Familienangelegenheit?

»Ich habe auch noch eine gute Neuigkeit«, sagte Hartmann. »Plan BREMER hat funktioniert.«

»Plan BREMER?« Charity sah ihn verständnislos an.

»Die Stingray«, erinnerte Hartmann. »Wir haben sie wieder zusammengebaut. Sie funktioniert. Unsere Techniker konnten gerade noch im letzten Moment den Stecker herausziehen, ehe die Maschine durch das Hangardach brechen und nach Hause fliegen konnte. Die Dinger haben tatsächlich eine Rückholautomatik.«

»Worauf warten wir dann noch?« fragte Skudder.

»Darauf, daß du dich in den Pilotensessel setzt«, antwortete Hartmann trocken. »Aber mach vorher bitte dein Testament. Ich bin immer noch scharf auf deine Harley Davidson.«

»Damit kannst du doch gar nicht umgehen«, erwiderte Skudder. »Eine Harley zu fahren verlangt schon etwas mehr, als sich in eine Viper zu setzen und sich vom Computer durch die Galaxis chauffieren zu lassen, weißt du?«

Hartmann lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Also gut, ihr wißt jetzt Bescheid. Wir müssen in Zukunft sehr vorsichtig sein. Wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gibt, dann treffen wir uns hier oder irgendwo im Freien. Und jetzt warten wir auf die Bilder, die Hubble uns bringt. Und wenn diese verdammten Techniker das Ding nicht bald zum Laufen bringen, dann hole ich meinen Lötkolben und versuche es selbst!«

»Diese Drohung müßte eigentlich wirken«, seufzte Charity.

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