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Skudder, Hartmann und Gurk fanden sie zwei Stunden später auf den Trümmern der Dachterrasse des Verwaltungsgebäudes. Skudders Gesichtsausdruck nach zu schließen, mußten sie eine ganze Weile nach ihr gesucht haben, aber sowohl er als auch die beiden anderen ersparten sich jede entsprechende Bemerkung.

»Ihr seht ziemlich geschafft aus«, begrüßte Charity sie. »War es noch lustig?«

»Zum Schreien komisch«, bestätigte Skudder grimmig. »Erinnere mich daran, daß ich das nächste Mal einen Flammenwerfer mitnehme.« Er schüttelte den Kopf. »Am Schluß habe ich mich ernsthaft gefragt, wer eigentlich die Angreifer waren - sie oder wir.«

»Das kommt ganz auf den Standpunkt an«, sagte Gurk. Er lachte kurz, ging an Charity vorbei und trat so dicht an den Rand der Dachterrasse heran, daß Charity schon vom bloßen Hinsehen schwindelig wurde. Vor zwei Tagen hatte es dort, wo der Zwerg jetzt stand, noch ein nahezu unsichtbares Kraftfeld gegeben, das die Dachterrasse begrenzte. Nun bedurfte es nur einer winzigen, unbedachten Bewegung, und Gurk würde mehr als hundertfünfzig Meter in die Tiefe stürzen.

»Unglaublich«, murmelte Gurk, nachdem er eine ganze Weile nach Westen geblickt hatte. »Und das alles habt ihr in wenigen Jahren wieder aufgebaut?«

Im ersten Moment verstand Charity nicht einmal, wovon er überhaupt sprach. Der Anblick unterschied sich in nichts von dem, der sich ihr vor zwei Tagen von hier oben aus geboten hatte. Die Dunkelheit hatte einen barmherzigen Schleier über die Welt gebreitet, der die Spuren des zweifachen Überfalles verbarg. Alles sah so friedlich und unverändert aus, daß es beinahe schon absurd war. Die Lichter der zwanzig Kilometer entfernten Stadt glitzerten, als hätte jemand einen Teil der Milchstraße vom Himmel geholt und dort hinten abgelegt, aber erst, nachdem er jeden einzelnen Stern sorgsam auf Hochglanz poliert hatte.

»Wie viele Menschen leben in dieser Stadt?« fragte Gurk.

»Nicht ganz eine Million«, antwortete Hartmann. »Aber sie bietet Platz für doppelt so viele.«

»Als ich das letzte Mal hier war, gab es dort hinten nur ein paar Ruinen«, sagte Gurk.

»Als ich das letzte Mal hier war, haben in diesem Land hundert Millionen Menschen gelebt«, sagte Charity bitter. »Was soll daran phantastisch sein, Gurk? Unsere Welt wird nie wieder so werden, wie sie war.«

»Nichts wird jemals wieder so, wie es war«, antwortete Gurk, doch Charity konnte nicht genau sagen, ob das nun eine besonders kluge oder eine besonders dumme Bemerkung war. Dann aber drehte der Gnom sich zu ihr herum und fuhr sehr leise und mit tiefem Ernst in der Stimme fort: »Ihr habt die schrecklichste Macht in diesem Teil des Universums bezwungen, Charity. Ihr habt einen Feind besiegt, der nicht besiegt werden kann. Moron hat ganze Sternensysteme überrannt, in unglaublich kurzer Zeit. Sie haben gewaltige Imperien niedergeworfen, von deren Größe ihr nicht einmal zu träumen wagt! Glaub mir, ich habe mehr als eine Welt gesehen, von der Moron sich nach seinem Sieg zurückgezogen hat. Manche dieser Welten hat Jahrhunderte gebraucht, um sich wieder zu erholen, und manche wird es nie mehr schaffen! Ihr habt die Moroni vor zehn Jahren besiegt, und ihr seid bereits dabei, eure Welt wieder aufzubauen. Ihr seid wirklich ein erstaunliches Volk, Charity. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht Angst vor euch haben sollte.«

»Nur, wenn du noch länger so dummes Zeug redest«, sagte Charity.

Gurk reagierte gar nicht darauf, und auch Charity selbst kamen ihre Worte unpassend vor.

Gurk hatte vermutlich recht, auch wenn er dabei außer acht ließ, daß das unglaubliche Tempo des Wiederaufbaus nicht allein ihr Verdienst war. Die Invasoren von Moron hatten die Erde nicht nur verwüstet, sondern den Überlebenden der fünfzigjährigen Besatzungszeit auch einen Technologieschub verpaßt, der die Erde regelrecht ins übernächste Jahrtausend katapultiert hatte. Auch wenn die Menschen den größten Teil der Technik, die sie benutzten, nicht einmal verstanden - sie benutzten sie.

Daß Charity jetzt hier oben stand und diese Unterhaltung rührte, war ein gutes Beispiel dafür: Sechsunddreißig Stunden Schlaf und ein Griff in den Zauberkasten einer Medizin, die der der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts um eine Zehnerpotenz überlegen war, hatten genügt, ihre Verletzungen ausheilen zu lassen. Aber was sie gemeint hatte, war auch nicht der materielle Wiederaufbau. Gurk hatte recht: Die Stadt, die sie dort hinten errichtet hatten, hätte Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch das Prunkstück eines jeden Science-Fiction-Films abgegeben.

Aber darum ging es nicht.

Es spielte keine Rolle, ob sie zehn oder hundert neue Gebäude zu errichten imstande waren, ob eine oder zehn funkelnde Städte. Nicht, solange es Menschen wie Melissa und ihre Mutter gab, die zwanzig Meter unter diesen Städten um ihr Überleben kämpften, ohne daß die Bewohner der Städte darüber auch nur etwas von der Existenz dieser Menschen ahnten.

Die Welt würde nicht wieder dieselbe sein wie vor der Ankunft der Moroni, doch Charity würde sich auch nicht damit abfinden, auf einem Planeten zu leben, der zu einem Großteil nicht einmal mehr Ähnlichkeit mit jener Welt hatte, auf der sie geboren und aufgewachsen war, und der nun von Lebensformen beherrscht wurde, die aussahen, als entstammten sie ihren schlimmsten Fieberphantasien - und sich nur allzu oft auch so benahmen.

»Was machen wir falsch?« murmelte sie.

»Falsch?« fragte Hartmann.

»Drasko und dieser... Heydliß. Wir wollen doch dasselbe wie sie.«

Hartmann zuckte mit den Schultern. »Niemand mag Soldaten«, sagte er. »Sie brauchen uns, aber das heißt nicht, daß sie uns lieben müssen. War das früher anders?«

Wenn Charity ehrlich zu sich selbst war, lautete die Antwort nein. Sie schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. »Ich war nie ein richtiger Soldat, weißt du. Ich habe ein Raumschiff geflogen. Damals war das... ein gewisser Unterschied.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Gurk hämisch. »Damals brauchtet ihr keine Kampfschiffe.«

»Brauchen wir denn heute welche?« fragte Charity.

Gurk wollte antworten, doch Charity hob rasch die Hand und fuhr mit leicht erhobener Stimme und eine Spur schärfer fort: »Die Wahrheit. Ausnahmsweise, okay?«

»Habe ich dich je belogen, Charity?« fragte Gurk.

»Hast du jemals die Wahrheit gesagt?« gab Charity zurück. »Du bist nicht einfach nur zurückgekommen, Gurk. Fangen wir damit an: Wie lange bist du wirklich schon hier? Einen Monat? Ein Jahr? Oder die ganze Zeit über?«

»Ein paar Wochen«, gestand Gurk nach kurzem Zögern.

»Und du hast es nicht für nötig gehalten, vorbeizukommen und hallo zu sagen?« fragte sie.

»Oder uns zu warnen?« fügte Skudder hinzu.

»Ich war nicht ganz sicher, ob ich mich einmischen soll«, sagte Gurk. »Ehrlich gesagt, bin ich es immer noch nicht.«

»Dich nicht einmischen?« Skudder machte ein keuchendes Geräusch, von dem Charity annahm, daß es ein abfälliges Lachen sein sollte. »Ich schätze, das hast du bereits.«

»Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie sie Net und die Kinder umbringen«, antwortete Gurk. Er zauberte noch ein paar Falten mehr auf seine Stirn, als ohnehin schon darauf waren, und blickte Hartmann vorwurfsvoll an. »Ich hätte mir eigentlich ein bißchen mehr Dankbarkeit gewünscht. Immerhin habe ich meinen Hals riskiert. Unter anderem.«

»Und dafür bin ich dir dankbar, Gurk«, antwortete Hartmann. »Aber das ändert nichts daran, daß Skudder recht hat. Du hättest uns warnen können. Verdammt noch mal, es wäre deine Pflicht gewesen! Weißt du, wie viele Menschen in den letzten beiden Tagen gestorben sind?«

»Nicht annähernd so viele, wie noch sterben werden, wenn ihr die Fremden nicht aufhaltet«, sagte Gurk leise. »Ihr wißt nicht, mit wem ihr es zu tun habt.«

Seltsam - aber Charity hatte immer mehr das Gefühl, daß sie es im Grunde doch wußte. Das Wissen war in ihr verborgen, irgendwo, so tief in ihrem Bewußtsein vergraben, daß sie es noch nicht greifen konnte, aber es war da.

»Dann sag es uns!« verlangte Skudder.

»Das darf ich nicht«, antwortete Gurk. »Es gibt Regeln. Ich bin nur als Beobachter hier und nicht, um Partei zu ergreifen.«

»Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hast du ziemlich heftig Partei ergriffen«, antwortete Charity.

Sie hatte scharf klingen wollen, oder wenigstens vorwurfsvoll, doch ihre Stimme machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie klang einfach nur traurig. Vielleicht ein bißchen verbittert, aber mehr auch nicht.

»Das war damals«, erwiderte Gurk. »Heute ist die Situation anders. Das hier ist sozusagen eure Sache. Ich kann euch nicht helfen. Ich darf es nicht.« Plötzlich wurde seine Stimme schrill, nahm den Tonfall einer hysterischen Verteidigung an. »Ihr habt gesehen, was passiert, wenn ich mich einmische! Dieser zweite Angriff hätte nicht stattgefunden, hätte ich mich nicht eingemischt!« Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich hätte gar nicht herkommen sollen! Man hat mich gewarnt, aber ich wollte ja nicht hören, ich Dummkopf!«

»Du willst uns also nicht helfen«, stellte Charity fest. Sie wußte, daß sie unfair war, aber sie hatte keine andere Wahl. »Dann beantworte mir wenigstens eine Frage, Gurk. Nur eine einzige.«

Gurk schwieg. Aber zumindest sagte er nicht gleich nein.

»Der Überfall gestern nacht«, sagte Charity. Sie warf Hartmann einen fragenden Blick zu. »Ich nehme an, die Schiffe sind vorher nicht auf den Radarschirmen aufgetaucht.«

»Nein«, bestätigte Hartmann. »Wären sie es, wären sie nicht bis hierher gekommen.«

Charity war nicht überrascht.

Ihre Erinnerungen waren mittlerweile vollkommen zurückgekehrt, und sie war sicher, sich das unheimliche Auftauchen der Rochenschiffe aus dem Nichts ganz bestimmt nicht nur eingebildet zu haben.

»Was war es?« fragte sie. »Ein Transmitter?«

Obwohl sie ihren Blick fest auf Gurk gerichtet hielt und nicht einmal in Skudders und Hartmanns Richtung sah, konnte sie regelrecht spüren, wie die beiden erbleichten. Fünf, zehn endlose Sekunden lang hielt Gurk ihrem Blick vollkommen ausdruckslos stand, dann schüttelte er knapp den Kopf.

»Nein. Es gibt keine Materietransmitter mehr. Ihr habt damals ganze Arbeit geleistet. Die Black-Hole-Bombe hat nicht nur die Verbindung nach Moron zerstört. Das gesamte Netz ist zusammengebrochen. Vielleicht für immer. Ich weiß nicht, ob wir es jemals wieder aktivieren können.«

»Wir?« fragte Skudder.

Gurk grinste. »Das wäre dann die zweite Frage.«

Skudder machte einen wütenden Schritt auf den Zwerg zu, aber Charity brachte ihn mit einer raschen Bewegung wieder zur Ruhe.

»Was war es dann?« fragte sie. »Ich bin nicht blind, Gurk. Ich habe gesehen, wie sie am Himmel aufgetaucht sind!«

Aber eigentlich stimmte das nicht. Die Schiffe waren nicht am Himmel über der Basis erschienen. Über der Erde war für einen Moment ein anderer Himmel erschienen, eine rote, sturmgepeitschte Einöde mit einer viel zu kleinen, viel zu kalten Sonne.

»Frage Nummer drei?« fragte Gurk.

»Gurk! Verdammt!«

»Materietransmitter sind nicht das einzige Mittel, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, ohne Zeit zu verlieren«, antwortete Gurk. »Nicht einmal das effektivste. Ich verstehe nicht genug von diesem Techno-Kram, um es euch zu erklären, und selbst wenn so wäre, würdet ihr es nicht verstehen. Man könnte es eine... Dimensionsverschiebung nennen. Obwohl es die Sache nicht wirklich beschreibt.«

»Soll das heißen, daß die Fremden in der Lage sind, jederzeit und ohne Vorwarnung zu erscheinen, wie es ihnen paßt?« keuchte Skudder.

»Theoretisch, ja«, antwortete Gurk. »Praktisch nein. Diese Technik verschlingt unvorstellbare Mengen an Energie. Und sie ist gefährlich. Es wird Monate dauern, bis sie in der Lage sind, es noch einmal zu versuchen.«

»Wie beruhigend«, knurrte Skudder. »Dann haben wir ja gar nichts zu befürchten.«

»Ende der Fragestunde«, sagte Gurk patzig. »Ich habe euch eine Antwort versprochen, und ihr habt zwei bekommen. Ich finde, das ist großzügig genug. Jetzt bin ich dran, eine Frage zu stellen.«

»Nur zu«, sagte Skudder.

»Kocht ihr immer noch so gräßlichen Kaffee wie früher, oder habt ihr mittlerweile gelernt, wie man's macht?« fragte Gurk.

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