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Das Erwachen war schwieriger als sonst, in zweierlei Hinsicht. Charity war es gewohnt, schlagartig und sofort aufzuwachen, und sie war es gewohnt, sich umgehend und ohne die geringsten Anlaufschwierigkeiten an alles zu erinnern, was vor dem Einschlafen geschehen war.

Diesmal war alles anders. Sie erwachte nur mühsam: Es war kein kraftvoller Sprung an die Oberfläche des Bewußtseins, sondern ein unendlich langsamer, mühevoller Aufstieg aus einem bodenlosen Abgrund, in dem kein Platz für Erinnerungen oder auch nur das Gefühl für das Verstreichen der Zeit gewesen war.

Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie wenige Minuten oder viele Stunden geschlafen hatte, und was vorher geschehen war.

»Das gibt sich gleich«, sagte eine Stimme irgendwo in der wattigen Dunkelheit über ihr.

Charity strengte die Augen an, versuchte die Finsternis mit bloßer Willenskraft zu vertreiben und schaffte es tatsächlich, wenigstens zum Teil: Aus dem konturlosen Brei aus verschiedenen Grautönen, durch den sie glitt, wurden die verschwommenen Umrisse eines spartanisch eingerichteten Zimmers.

Dann blickte sie in ein kantiges, markantes Gesicht, in das ein turbulentes Leben tiefere Spuren gezeichnet hatte, als ihm an Jahren auch nur annähernd zustand. Durchdringende, fast schon unnatürlich blaue Augen blickten sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge an.

Es hätte ein beinahe aristokratisches Gesicht sein können, wäre der Schädel nicht bis auf einen fingernagelkurzen Irokesenkamm kahlgeschoren gewesen, dessen Spitzen noch dazu einen Hauch von leuchtendem Neongrün aufwiesen.

Charity starrte dieses bemerkenswerte Gesicht eine geschlagene Sekunde lang an, ehe ihr der dazugehörige Name einfiel - was geradezu absurd war, denn sie kannte diesen Mann besser als sonst jemanden. Irgend etwas stimmte mit ihren Erinnerungen ganz und gar nicht.

»Was... meinst du?«

»Deine Erinnerungen. Sie kommen gleich zurück. Das ist nur eine harmlose Nebenwirkung des Schlafmittels.«

»Schlafmittel? Ich kann mich nicht erinnern, irgend jemandem erlaubt zu haben, mir ein Schlafmittel zu -«

»Hast du auch nicht«, grinste Skudder. »Das war ich. Du hast sechsunddreißig Stunden wie ein Baby geschlafen. Und du hattest es verdammt nötig.«

»Sechsunddreißig Stunden?!«

Charity setzte sich kerzengerade auf und bereute die schnelle Bewegung schon im gleichen Moment wieder. Ihr wurde so schwindelig, daß sie nach vorn sank und das Gesicht in den Händen verbarg.

»Wäre es nach den Ärzten gegangen, hätten sie dich eine Woche flachgelegt«, sagte Skudder. Seine Stimme hatte einen unangemessenen fröhlichen Klang, fand Charity. »Du hattest eine gebrochene Rippe, ein zerschmettertes Handgelenk, zwei gestauchte Rückenwirbel, ungefähr drei Dutzend ernstzunehmender Blutergüsse und Prellungen und... und den Rest habe ich vergessen, aber die Liste war noch ziemlich lang. Wie gesagt: Sie wollten dich eine Woche lang auf Eis legen. Aber ich wußte, daß du den Chefarzt erschießen würdest, wenn du aufwachst, und konnte ihn von Gegenteil überzeugen.«

»Was ist passiert?« murmelte Charity.

Das Zimmer hörte ganz allmählich auf, sich in gegenläufigen Kreisen um sie herum zu drehen.

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Skudder. »Zuerst herrschte allumfassende Dunkelheit, weißt du, und dann erschuf der große Geist Himmel und Erde -«

»Skudder!«

Skudder lachte glucksend, aber nur für einen ganz kurzen Moment.

Als Charity die Hände herunternahm und in sein Gesicht sah, war das Lächeln selbst aus Skudders Augen verschwunden.

»Nichts«, sagte er. »Jedenfalls nichts, was es erforderlich gemacht hätte, dich zu wecken. Du hast diese Ruhepause dringend gebraucht.«

Charity ersparte es sich, zu protestieren, aus dem ganz einfachen Grund, daß Skudder recht hatte: Sie war mit ihren Kräften am Ende gewesen. Sie konnte niemandem helfen, wenn sie im entscheidenden Augenblick zusammenklappte.

»Hartmann?« fragte sie.

»Es geht ihm gut«, antwortete Skudder. »Und Net und den Kindern ebenfalls. Er hat ausnahmsweise mal das Richtige getan und nicht versucht, den Helden zu spielen, sondern seine Familie in Sicherheit gebracht.«

»Sind sie noch hier?«

Skudder schüttelte den Kopf.

»Niemand ist noch hier«, antwortete er. »Wir haben das gesamte Zivilpersonal der Basis evakuiert, einschließlich der Familien der Soldaten.«

»Eine vernünftige Idee«, sagte Charity. »Zu vernünftig, um von dir zu sein. Wer ist darauf gekommen?«

»Der Hohe Rat.« Jetzt klang Skudders Stimme eindeutig wieder spöttisch. »Eigentlich bekomme ich schon grüne Pusteln im Gesicht, wenn ich diese Versammlung von Clowns auch nur sehe, aber in diesem Punkt haben sie recht. Zwei Überfälle in weniger als zwölf Stunden sind ein bißchen viel. Es könnte eine schlechte Angewohnheit daraus werden.«

Charity fand Skudders scherzhaften Tonfall immer unpassender. Sie kannte den Indianer lange genug, um zu wissen, daß es einfach nur seine Art war, den Schrecken zu verarbeiten, den er erlebt hatte; ein derber Humor, in den Charity sich oft genug selbst geflüchtet hatte, einfach um zu überleben.

Trotzdem... er störte sie in diesem Moment. Sie wußte selbst nicht genau, warum.

Nur um Skudder nicht antworten zu müssen, schlug sie die Bettdecke zurück und setzte die nackten Füße auf den Boden. Der Rest ihres Körpers war ebenso nackt, und als sie aufstand, konnte sie Skudders Blicke fast körperlich fühlen.

»Keine Chance«, murmelte sie, während sie sich auf den Weg ins Bad machte. »Ich bin immer noch müde.«

»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, grinste Skudder. »Außerdem haben wir keine Zeit. Der Hohe Rat hat in einer halben Stunde eine Versammlung einberufen. Deshalb habe ich dich auch geweckt. Ich glaube, es ist besser, wenn du dabei bist.«

»Eine halbe Stunde?« stieß Charity in übertrieben gespieltem Entsetzen hervor. »Oh, Gott! Dann muß ich mich beeilen! Ich muß noch baden, mir eine Dauerwelle legen lassen und meine Fingernägel maniküren... was meinst du? Reicht die Zeit noch, auf einen Sprung im Beauty-Salon vorbeizuschauen?«

Sie betrat das Bad, schlug den Duschvorhang beiseite und begann zitterig mit den Warm- und Kaltwasserhähnen zu kämpfen. Sie wußte, daß sie die ideale Temperatur sowieso nicht finden würde. Eines der ungelösten Rätsel des Universums würde wahrscheinlich auf immer bleiben, warum Duschwannen prinzipiell nie die richtige Temperatur hatten, ganz gleich, welcher Technologie die Mischbatterien auch entsprangen.

Sie versuchte es trotzdem und rief über die Schulter zurück: »Was ist mit Gurk?«

»Hartmann hat ihn festnehmen lassen«, antwortete Skudder.

»Was?« Charity fuhr überrascht herum.

Skudder war ihr bis zur Badezimmertür gefolgt und lehnte am Rahmen.

»Keine Angst«, sagte er. »Gurk war zwar nicht besonders begeistert, aber es war das einzige, was Hartmann tun konnte. Die Leute hier sind im Moment auf Außerirdische nicht besonders gut zu sprechen, fürchte ich.«

Wahrscheinlich hat er recht damit, dachte Charity.

Sie betrachtete den rauschenden Wasserstrahl hinter sich einen Moment lang nachdenklich, dann hielt sie die Hand hinein, stellte fest, daß er viel zu kalt war, und drehte das Wasser wieder ab.


*


»Du hast wirklich eine reizende Art, alte Freunde willkommen zu heißen«, nörgelte Gurk. »Ich sitze seit zwei Tagen in diesem verdammten Loch fest, werde mit Wasser und Brot knapp vor dem Verhungern bewahrt und -«

»Es sind anderthalb Tage«, unterbrach ihn Charity. »Und so viel ich weiß, mußt du nur alle paar Wochen etwas essen und kommst mindestens einen Monat ohne Flüssigkeit aus.«

Sie wandte sich an den jungen Soldaten, der ihr die Tür geöffnet hatte und nun nervös von ihr zu Gurk und wieder zurück sah. Seine Hand spielte am Griff der Waffe, die er an der Seite trug. Er war fast doppelt so groß wie Gurk und wog vermutlich knapp viermal so viel, aber es war nicht zu übersehen, daß er Angst vor dem kahlköpfigen Gnom hatte.

»Es ist in Ordnung«, sagte Charity zu dem jungen Burschen. »Sie können uns allein lassen.«

»Sind sie sicher?« fragte der Soldat. »Ich meine, der Kleine da -«

»Ganz sicher«, sagte Charity. »Warten Sie draußen vor der Tür. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«

Der Soldat betrachtete sie noch eine weitere Sekunde unschlüssig, aber dann deutete er ein Schulterzucken an, trat aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu.

»Man könnte meinen, daß ich mich von kleinen Kindern ernähre und ab und zu nur so zum Zeitvertreib eine kleine Stadt niederbrenne«, maulte Gurk. »Was hast du ihnen über mich erzählt?«

»Nichts«, antwortete Charity. »Bis vor anderthalb Tagen wußte ich noch nicht einmal, daß es dich noch gibt. Ich dachte, du wärst tot. Wir alle dachten, du hättest den Löffel abgegeben.«

Sie ging zum Tisch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder, so daß ihr und Gurks Gesicht sich auf gleicher Höhe befanden. Zum erstenmal, seit sie den Außerirdischen wiedergesehen hatte, fand Charity die Gelegenheit, ihn wirklich genauer in Augenschein zu nehmen.

Gurk schien sich nicht verändert zu haben. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren mehr als acht Jahren vergangen, und Charity wußte, daß Dinge - und ganz besonders Gesichter - dazu neigten, sich in der Erinnerung zu verändern. Gurk aber schien noch haargenau so zu sein wie damals.

Charity wußte nicht viel über ihn, und noch weniger über das Volk, zu dem er gehörte. Möglicherweise lebte diese Spezies Jahrhunderte, vielleicht sogar noch viel länger, so daß eine Kleinigkeit wie acht Jahre überhaupt keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen konnten.

Und trotzdem... irgendwie hatte sie damit gerechnet, daß Gurk sich verändert hätte, und sei es nur um eine Winzigkeit.

»Willst du jetzt weitere anderthalb Tage damit verbringen, mich anzustarren?« fragte Gurk.

»Nein«, antwortete Charity. »Wie geht es dir? Haben sie dich gut behandelt?«

Die zweite Frage war im Grunde überflüssig. Die »Zelle«, in die Hartmann den Zwerg hatte sperren lassen, war in Wirklichkeit ein Apartment, das um einiges größer und luxuriöser ausgestattet war als das, das Charity selbst und Skudder bewohnten.

»Natürlich haben sie mich nicht gut behandelt!« giftete Gurk. »Aber was beschwere ich mich überhaupt? Ich bin ja selbst daran schuld! Schließlich habe ich gewußt, was für ein undankbares Pack ihr seid! Niemand hat mich gezwungen, zurück zu kommen!«

»Aber du hast es getan«, erwiderte Charity. Sie schaute auf die Uhr. Die Versammlung, von der Skudder gesprochen hatte, begann in zehn Minuten. Sie würde ohnehin zu spät kommen, doch irgend etwas sagte ihr, daß es besser war, den Bogen nicht zu überspannen.

»Ich habe nicht viel Zeit, Gurk«, sagte sie.

»Aber wahrscheinlich eine Million Fragen«, vermutete der Zwerg.

»Zwei«, verbesserte ihn Charity. »Wenn nicht mehr. Aber die müssen warten. Im Moment interessiert mich nur eins: Hast du sie hierher gebracht?«

Gurk blinzelte. Seine Verblüffung war echt.

»Wie?« krächzte er.

»Ich meine es ernst, Gurk«, sagte Charity. »Diese Fremden, wer immer sie auch sind - hast du sie hierher gebracht?«

»Bist du verrückt?« fragte Gurk.

»Keineswegs«, antwortete Charity. »Aber ich habe Augen im Kopf. Und ich kann zwei und zwei zusammenzählen, weißt du. Dieser zweite Überfall galt dir. Einzig und allein.«

Gurk lachte. Es wirkte nicht echt.

»Du schmeichelst mir, Cherryschätzchen«, sagte er. »Sie haben mindestens zwanzig Schiffe verloren... ich bin vielleicht wichtig, aber so wichtig nun auch wieder nicht.«

»Sie hatten es auf dich abgesehen«, beharrte Charity.

»Auch auf mich, das stimmt«, sagte Gurk. »Ich sagte dir doch, sie sind ein ziemlich nachtragender Haufen. Hätte ich gewußt, daß sie so kleinlich sind, hätte ich ihr Schiff wahrscheinlich nicht geklaut. Mein Fehler - tut mir aufrichtig leid.«

»Glaubst du, das wäre jetzt der richtige Moment für dumme Witze?« fragte Charity mit aufkeimendem Unmut.

»Ich mache keine Scherze.« Gurk wurde plötzlich sehr ernst. »Ja, du hast recht. Dieser zweite Angriff galt mir. Sie wollten wohl verhindern, daß ich euch in die Hände falle. Ich nehme an, sie hatten Angst, daß ich euch zu viel erzähle. Dabei weiß ich gar nicht soviel. Aber ich schätze, sie glauben, daß ich eine Menge weiß.«

»Auf jeden Fall weißt du eine Menge mehr als wir«, sagte Charity. »Wer sind sie?«

»Ich dachte, du hättest keine Zeit«, sagte Gurk. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte.«

»Das dachte ich mir schon«, erwiderte Charity. »Deshalb wirst du sie auch nicht hier erzählen. Komm mit.«

Sie stand auf, ging zur Tür und klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen. Genau einmal, dann wurde die Tür regelrecht aufgerissen, noch bevor Charity die Hand vollends zurückgezogen hatte.

»Alles in Ordnung?« fragte der junge Soldat, während er versuchte, an Charity vorbei einen Blick auf Gurk zu werfen.

Charity lächelte fast gegen ihren Willen. Der Bursche war kaum mehr als ein Kind, der eigentlich nicht in eine Uniform gehörte, geschweige denn in den Besitz einer Waffe. Aber er nahm seine Aufgabe offensichtlich sehr ernst.

»Alles in Ordnung?« fragte er noch einmal.

»Ja«, antwortete Charity. »Vielen Dank. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ab jetzt übernehme ich den Gefangenen.«

Der Soldat blinzelte. »Wie bitte?«

»Ich nehme ihn mit«, sagte Charity. »Seine Anwesenheit ist bei der Ratsversammlung erforderlich.«

»Ich glaube nicht, daß das... geht«, antwortete der Posten zögernd. »Mister Hartmann -«

»General Hartmann«, unterbrach ihn Charity betont und eine Spur schärfer, allerdings immer noch freundlich, »ist für den Gefangenen ab sofort nicht mehr zuständig. Ich übernehme die volle Verantwortung. Sie können den General gerne anrufen, wenn Sie es wünschen.«

Ihr Gegenüber wurde mit jeder Sekunde nervöser. Charity spielte ein gefährliches Spiel. Strenggenommen war Hartmann ihr militärischer Vorgesetzter, ebenso wie Drasko, Harris und andere... so ziemlich jedes Mitglied des Rates. Sie konnte hier niemandem etwas befehlen.

Aber sie war immer noch Charity Laird, und allein das Gewicht ihres Rufes, der ihr vorauseilte, brachte auch in diesem Fall wieder die Entscheidung.

Manchmal, dachte sie mit leiser Ironie, hat es eben seine Vorteile, eine lebende Legende zu sein.

»Ich muß... das melden«, sagte der Soldat zögernd, und Charity wußte, daß sie gewonnen hatte. Ohne sich zu dem jungen Burschen herumzudrehen, winkte sie Gurk heran. Sie konnte hören, wie der Zwerg einen Moment lang zögerte, dann aber mit schnellen Schritten herankam und an ihr vorüberging.

Und dann tat er natürlich genau das, was Charity befürchtet hatte: Sie hatte gehofft, daß es nicht passieren würde, doch Gurk war eben Gurk: Stolz erhobenen Hauptes ging er an dem jungen Soldaten vorbei. Aber dann blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal zu ihm herum, streckte dem vollkommen fassungslosen Mann die Zunge heraus und drehte ihm eine lange Nase.

Er hat sich wirklich nicht verändert, dachte Charity resignierend. Nicht im geringsten.

Der Tumult, der durch Gurks plötzliches Auftauchen in der Ratsversammlung ausgelöst wurde, war nicht so schlimm, wie Charity erwartet hatte.

Im Grunde blieb er sogar beinahe aus. Die Versammlung - die sich im Laufe der nächsten anderthalb Stunden mehr und mehr als eine Krisensitzung entpuppte - war bereits im vollen Gange, als Charity den Konferenzraum betrat. Sie kam trotz allem fast eine halbe Stunde zu spät, was ihr persönlich vollkommen egal war, Skudder aber zu einer Kombination aus einem Kopfschütteln und einem mißbilligenden Stirnrunzeln veranlaßte.

Gurks Erscheinen beendete die hitzige Diskussion, die bei Charitys Eintreten im Gange war, von einem Moment auf den anderen. Für zwei oder drei Sekunden breitete sich ein fast lähmendes Schweigen in dem halb abgedunkelten Raum aus, dann sprang eines der Ratsmitglieder mit einer so heftigen Bewegung auf, daß sein Stuhl umfiel. Charity stellte ohne sonderlich große Überraschung fest, daß es sich um Gouverneur Drasko handelte.

»Was... was soll das?« keuchte er. Seine Hand wies anklagend auf Gurk. »Was tut dieses... Alien hier?«

Charity seufzte. »Man sollte Fremdworte nie benutzen, wenn man ihre genaue Bedeutung nicht kennt«, murmelte sie, wohlweislich aber so leise, daß außer Gurk vermutlich niemand die Worte verstand. Lauter, und mit einer entsprechenden Geste auf den Außerirdischen, fuhr sie fort: »Gouverneur Drasko, das ist Haraach Ibn Al Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte. Ein guter alter Freund.«

»Der Fünfte«, korrigierte sie Gurk.

»Der Fünfte?«

»Der Fünfte.«

Drasko ächzte. »Das... das ist ein Scherz.«

»Das vermute ich auch, seit ich ihn kenne«, bestätigte Charity, »aber er hat sich diesen Namen nun einmal zugelegt, und -«

»Ich meine nicht den Namen, Captain Laird«, unterbrach Drasko sie betont. »Ich meine Ihre Behauptung, daß dieser... diese Kreatur Ihr Freund ist.«

Charity zählte in Gedanken langsam bis drei, ehe sie antwortete. Sie hatte nicht erwartet, mit offenen Armen aufgenommen zu werden, wenn sie zusammen mit Gurk hier auftauchte, aber diese Reaktion überraschte sie nun doch.

»Gouverneur, Gurk ist ein alter Freund«, sagte sie. »Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet, und dasselbe gilt für Skudder, General Hartmann und noch ein paar andere in diesem Raum. Ohne Gurk hätten wir den Kampf gegen die Moroni vielleicht nicht gewonnen. Ich verbürge mich für ihn!«

»Und was tut er hier?« fragte Drasko.

»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?« antwortete Charity ärgerlich, hob aber gleichzeitig die Hand und schnitt Drasko das Wort ab, als dieser etwas erwidern wollte. »Dürfte ich vorher fragen, welchen Zweck diese... Zusammenkunft hat?«

»Nennen wir es eine Bestandsaufnahme«, sagte Hartmann rasch.

Er bedachte Drasko mit einem raschen, eindeutig ermahnenden Blick, dann deutete er einladend auf zwei leere Stühle zu seiner Linken. Während Charity und Gurk sich in Bewegung setzten, registrierte sie zum erstenmal, daß der Rat nicht vollzählig war.

Außer Seybald, der bei dem Angriff auf Skytown ums Leben gekommen war, fehlten noch mindestens vier oder fünf weitere Mitglieder der Ratsversammlung. Charity sagte nichts dazu, hoffte aber inständig, daß die übrigen Ratsmitglieder nur aus irgendwelchen Gründen verhindert und nicht bei dem Angriff auf die Basis ums Leben gekommen waren. Drasko richtete mit wütenden Bewegungen seinen Stuhl wieder auf und ließ sich darauffallen. Er bemühte sich, Charity und vor allem Gurk mit Blicken zu durchbohren, sagte aber zu ihrer Erleichterung nichts mehr.

»Also«, begann Charity. »Leider fehlen mir ein paar Stunden. Wie ist die Lage?«

»Sie haben nicht noch einmal angegriffen, falls du das meinst«, antwortete Hartmann. »Aber das ist auch schon alles, wenn du nach positiven Neuigkeiten fragst.«

»So schlimm?« fragte Charity erschrocken.

»Schlimmer«, antwortete Hartmann. »Wir haben immer noch keinen vollständigen Überblick über das gesamte Ausmaß der Schäden. Aber sie haben uns ziemlich übel erwischt.«

»Was genau heißt das?«

»Wollen Sie eine exakte Aufstellung?« fragte Drasko.

»Gouverneur, bitte!«

Hartmann hob besänftigend die Hand und wandte sich gleich darauf mit einem resignierenden Kopfschütteln an Charity.

»Es ist schlimm, mehr läßt sich im Moment noch nicht sagen«, erklärte er. »Noch einen Angriff wie diesen stehen wir jedenfalls nicht durch, das ist so ziemlich das einzige, was ich im Moment genau sagen kann.« Er atmete hörbar ein und schaute Gurk an. »Müssen wir damit rechnen? Mit einem weiteren Angriff, meine ich.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Gurk. Es klang ehrlich.

»Aber du weißt, wer sie sind.«

»Nein«, sagte Gurk.

Drasko lachte. »Was für eine Überraschung.«

»Bitte, Gouverneur!«

Hartmanns Stimme klang eine Spur schärfer als vorhin, doch als er sich dann wieder an Gurk wandte, hatte er sich bereits wieder in der Gewalt. »Du weißt nicht, wer sie sind? Du bist doch in einem Schiff der Fremden hierher gekommen.«

»Ich hätte mir ein Taxi gerufen, aber ich hatte kein Kleingeld«, antwortete Gurk schnippisch. Er wackelte mit dem Kopf. »Ich weiß kaum mehr über sie als ihr. Vielleicht sogar weniger. Aber sie sind euch ziemlich ähnlich, wißt ihr? Sie haben mich sofort geschnappt und in eine ihrer gemütlichen Gefängniszellen gesteckt.«

Charity gestand sich ein, daß es wahrscheinlich ein Fehler gewesen war, Gurk mit hierherzubringen.

Sie hätte die Versammlung sausen lassen und sich zuallererst einmal allein mit Gurk unterhalten sollen.

»Das ist doch grotesk!« stieß Drasko hervor. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie von diesem... Wesen irgend etwas erfahren werden, Captain Laird? Wenn Sie mich fragen, ist er hierher geschickt worden, um zu spionieren.«

»Er hat Hartmanns Familie gerettet«, gab Dubois zu bedenken.

»Und damit sicherlich das Vertrauen des Generals errungen«, sagte Drasko grimmig. »Bitte, verzeihen Sie, General - ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich bezweifle, daß Sie in dieser Angelegenheit objektiv urteilen können.«

»Vielleicht kann ich es ja«, schaltete Dubois sich wieder ein, ehe Hartmann antworten konnte. »Ich kenne Gurk ebenfalls. Es stimmt, was Captain Laird gesagt hat. Gurk war uns eine unschätzbare Hilfe im Kampf gegen die Besatzer. Ohne ihn hätten wir es vielleicht wirklich nicht geschafft. Auf jeden Fall hätte der Kampf sehr viel mehr Opfer gefordert.«

»Und Sie haben sich nie gefragt, warum er Ihnen geholfen hat?« Drasko schnaubte. »Vielleicht hat er Ihnen damals ja geholfen, die Moroni zu vertreiben, um Platz für seine Leute zu schaffen.«

»Das ist absurd«, sagte Charity.

Die Situation begann zu eskalieren, schlimmer noch: Sie begann ihr zu entgleiten. Nicht, daß Charity sie jemals wirklich beherrscht hätte.

»Finden Sie?« Draskos Stimme war schroff und ironisch zugleich. Wieder stand er auf, diesmal nicht so abrupt, daß sein Stuhl umfiel, aber trotzdem auf eine Art und Weise, die seine Entschlossenheit deutlich machte. »Ich traue jedenfalls niemandem, der nicht auf diesem Planeten geboren worden ist und über dessen Motivationen ich nichts weiß. Ich werde diese Versammlung verlassen.«

Und damit drehte er sich ohne ein weiteres Wort herum und ging.

Charity und Hartmann starrten ihm fassungslos hinterher.

Skudder, der außergewöhnlich schweigsam war - wie immer in einer Situation wie dieser -, schüttelte nur stumm den Kopf, und auch Dubois und Harris wirkten ziemlich verwirrt. Aber Charity entging auch nicht die Reaktion auf den Gesichtern einiger der anderen. Niemand zeigte offene Zustimmung - doch Charity war fast sicher, daß der eine oder andere es gerne getan hätte.

»Was ist denn in den gefahren?« murmelte Dubois kopfschüttelnd.

»Wir sind alle ein bißchen nervös«, sagte Hartmann. »Angesichts dessen, was in den vergangenen Tagen passiert ist, kann man das ja auch beinahe verstehen. Ich schlage vor, daß wir uns alle ein wenig zusammenreißen und versuchen, dort weiter zu machen, wo wir unterbrochen worden sind.«

Er warf einen fragenden Blick in die Runde. Als niemand widersprach, fuhr er fort: »Wie ich bereits sagte, wissen wir leider immer noch nicht, wer die Fremden sind, oder woher sie kommen. Geschweige denn, warum sie uns angegriffen haben.«

Charity war nicht die einzige, die Gurk fragend anschaute, doch der Zwerg erwiderte ihren Blick gelassen und ohne mit der Wimper zu zucken.

Hartmann fuhr fort: »Aber das bedeutet nicht, daß wir nichts über sie wissen.«

»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Gurk.

Charity warf ihm einen warnenden Blick zu, und Hartmann behandelte ihn so, wie er es immer schon getan hatte: Er beachtete ihn gar nicht.

»Die Fremden sind eindeutig humanoid«, fuhr Hartmann fort. »Und das ist nicht die einzige Ähnlichkeit mit uns. Sie atmen eine Atmosphäre, die ein wenig sauerstoffhaltiger ist als die der Erde, ihr im großen und ganzen aber entspricht. Und auch die Technik der Fremden ist der irdischen ähnlich. Nicht identisch, aber ähnlich.«

»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Harris. »Wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, den Störsender zu eliminieren, hätten sie uns fertig gemacht.«

»Das mag sein«, antwortete Hartmann. »Trotzdem ist der Unterschied nicht so gewaltig, wie es aussieht, glauben Sie mir. Warten Sie zwanzig Jahre, und wir sind genau so weit. Ihre Schiffe sind etwas schneller als unsere, ihre Waffen etwas effektiver, ihre Schutzschirme etwas leistungsfähiger... aber die Betonung liegt eindeutig überall auf dem Wort etwas. Glauben Sie mir - wir haben dort oben ein paar Runden mit ihnen im Ring gestanden.«

»Und sie geschlagen«, mischte sich einer der Gouverneure ein.

Charity brauchte eine Sekunde, um sich überhaupt an seinen Namen zu erinnern. Sie hätte sich in den letzten Jahren vielleicht wirklich ein bißchen mehr um Politik kümmern sollen, nicht nur um den Wiederaufbau der Raumflotte.

»Soviel ich weiß, Mister Hartmann, haben Sie, Mister Skudder und Captain Laird mehr als ein halbes Dutzend ihrer Jäger abgeschossen«, fuhr Heydliß fort. Er sah vor allem Charity fragend an, doch in seinen Augen stand dabei ein Ausdruck geschrieben, der seinen zweifelnden Tonfall mehr als entschärfte. »Wie paßt das zu Ihrer Behauptung, die Schiffe der Fremden wären den unseren so sehr überlegen?«

»Wir hatten Glück«, antwortete Charity an Hartmanns Stelle.

»Drei zu acht ist kein Glück mehr, Captain«, sagte Heydliß sanft.

»Natürlich war es Glück«, mischte Gurk sich ein. »Die drei da sind nämlich rein zufällig die besten Raumpiloten, die eure sogenannte Space-Force jemals hatte. Hätte irgendein anderer in dieser Viper gesessen, hätten die Fremden sie auseinandergenommen.«

»Gurk!« sagte Charity scharf.

»Schon gut.« Heydliß lächelte. »Dieser... Fremde hat recht. Wir alle hier wissen, daß Sie tatsächlich die beste Pilotin sind, die wir haben. Es geht mir ja auch nur darum, Klarheit zu bekommen.«

»Klarheit? Worüber? Daß jemand uns überfallen hat?«

»Klarheit über das wirkliche Ausmaß der Bedrohung«, antwortete Heydliß. »Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich teile keineswegs die Auffassung meines Kollegen Drasko, daß wir am besten sofort und vollständig auf das Militär verzichten sollten.«

»Das wäre auch ein unpassender Moment.«

»Ich denke nur, daß wir jetzt nicht hysterisch werden sollten«, fuhr Heydliß unbeeindruckt fort. »Es gibt eine Gefahr dort draußen, und wir müssen ihr zweifellos angemessen begegnen. Aber einen Feind zu überschätzen, kann genau so gefährlich sein, wie ihn zu unterschätzen. Ich jedenfalls glaube nicht an eine Invasion aus dem Weltall.«

»Und was war das dann vorgestern?« fragte Charity spöttisch.

»Ein Überfall«, sagte einer der anderen Gouverneure. Charity machte sich nicht einmal die Mühe, sich seinen Namen ins Gedächtnis zu rufen. »Eine Invasion haben Sie vor sechzig Jahren erlebt, Captain Laird. Hätten wir es damit zu tun, säßen wir alle jetzt wahrscheinlich nicht hier.«

Charity biß sich wütend auf die Unterlippe und schluckte die Antwort herunter, die sie dieser Versammlung von Narren am liebsten entgegengeschleudert hätte. Sie wäre zwar nicht besonders klug und diplomatisch gewesen, dafür aber um so drastischer.

»Dieser ganze Streit ist nicht nur sinnlos, sondern auch verfrüht«, meldete Hartmann sich zu Wort. »Bisher kann niemand sagen, womit wir es zu tun haben - mit dem Beginn einer Invasion oder einem Piratenüberfall, der irgendwie außer Kontrolle geraten ist. Aber ich bin nun einmal Soldat, und als solcher ist es meine Pflicht, vom Schlimmsten auszugehen, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Unsere wichtigste Aufgabe besteht nun darin, herauszufinden, wer unsere Gegner überhaupt sind.«

»Dann sollten Sie das tun, General«, sagte Gouverneur Heydliß.

Charity seufzte. Diese Dummköpfe hatten nichts, aber auch gar nichts aus der Vergangenheit gelernt. Selbst der Überfall auf Skytown und die EXCALIBUR hatten nichts daran geändert, begriff sie plötzlich.

Sie hatten vor ein paar Tagen schon einmal hier gesessen und mit dem Rat über den Fortbestand der Space-Force diskutiert, und nun bewegte sich die Diskussion schon wieder in diese Richtung.

Charity fluchte lautlos.

Diese Dummköpfe!

Seybald war tot, Skytown vernichtet und die Basis - möglicherweise zusammen mit der Millionenstadt - zu deren Schutz sie errichtet worden war, um Haaresbreite der völligen Zerstörung entgangen, und nun saßen sie schon wieder hier und diskutierten darüber, ob die Größe der Gefahr ihre Verteidigungsanstrengungen rechtfertigte!

»Gurk«, sagte sie. »Ich finde, wir haben diese Farce jetzt lange genug ertragen. Wer sind diese Fremden?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Gurk stur. »Ich habe es schon ein paarmal gesagt, aber ich sage es gerne noch einmal: Ich bin zurückgekommen, wurde von ihnen gefangen genommen, und das ist alles!«

Das ist ganz und gar nicht alles, dachte Charity.

Gurk verschwieg ihnen hundertmal mehr, als er sagte, aber möglicherweise hatte er ja einen Grund dafür. Ebenso, wie Hartmann möglicherweise einen Grund gehabt hatte, Gurk einsperren und scharf bewachen zu lassen.

Es war ein Fehler gewesen, Gurk einfach mit hierher zu bringen. Aber das war weiß Gott nicht der erste Fehler, der Charity unterlaufen war.

Und sie hatte auch das sichere Gefühl, daß es nicht der letzte bleiben würde.

Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und verließ die Versammlung.

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