Teil 6 DER MANN MIT DER GRÜNEN KARTE

Kapitel 29

1

Ich wurde nicht richtig verhaftet, aber in Gewahrsam genommen und mit einem Streifenwagen auf ein Polizeirevier gefahren. Auf dem letzten Teil der Strecke hämmerten Leute – manche von ihnen Reporter, die meisten gewöhnliche Bürger – an die Scheiben und spähten ins Wageninnere. Auf nüchterne, distanzierte Weise fragte ich mich, ob ich vielleicht aus dem Wagen gezerrt und wegen versuchten Mordes an dem Präsidenten gelyncht werden würde. Mir war das egal. Mich beschäftigte vor allem mein blutbeflecktes Hemd. Ich wollte es ausziehen; gleichzeitig wollte ich es für immer tragen. Es war Sadies Blut.

Keiner der beiden Cops auf dem Vordersitz stellte mir irgendwelche Fragen. Vermutlich hatten sie den Befehl, das nicht zu tun. Hätten sie welche gestellt, hätte ich nicht geantwortet. Ich musste nachdenken. Das konnte ich, weil mich wieder die Kälte beschlich. Ich hieß sie willkommen. Ich legte sie an wie eine Rüstung. Ich konnte die Sache in Ordnung bringen. Ich würde die Sache in Ordnung bringen. Aber als Erstes musste ich mich ein paar Gesprächen stellen.

2

Sie steckten mich in einen Raum, der ganz in Weiß gehalten war. Hier gab es einen Tisch und drei ungepolsterte Stühle. Ich setzte mich auf einen davon. Draußen klingelten Telefone, und ein Fernschreiber ratterte. Leute kamen und gingen, redeten laut, schrien manchmal durcheinander, lachten manchmal. Ihr Lachen klang so erleichtert wie das von Menschen, denen bewusst war, dass sie einer großen Gefahr entgangen waren. Einer Kugel ausgewichen, sozusagen. Vielleicht hatte Edwin Walker am Abend des 10. April auch so gelacht, als er mit Reportern gesprochen und sich dabei Glassplitter aus den Haaren geklaubt hatte.

Dieselben beiden Beamten, die mich vom Schulbuchlager hergebracht hatten, durchsuchten mich und nahmen mir mein Eigentum ab. Ich bat sie um meine letzten beiden Tütchen Goody’s. Nach kurzer Beratung rissen sie die Tütchen auf und kippten den Inhalt auf die Tischplatte, die mit eingeritzten Initialen und Brandflecken übersät war. Einer von ihnen machte einen Finger nass, kostete das Pulver und nickte dann. »Brauchen Sie Wasser?«

»Nein.« Ich kehrte das Kopfschmerzpulver in eine Hand und kippte es mir in den Mund. Es schmeckte bitter, aber das war mir nur recht.

Einer der beiden ging hinaus. Der andere verlangte mein blutiges Hemd, das ich widerstrebend auszog und ihm überließ. Dann zeigte ich auf ihn. »Ich weiß, dass es ein Beweisstück ist, aber behandeln Sie es mit Respekt. Das Blut stammt von der Frau, die ich geliebt habe. Das bedeutet Ihnen vielleicht nicht viel, aber es stammt auch von der Frau, die mitgeholfen hat, den Mord an President Kennedy zu verhindern, und das sollte Ihnen etwas bedeuten.«

»Wir wollen es nur für die Blutuntersuchung.«

»Schön. Aber es kommt auf die Liste meiner persönlichen Sachen. Ich will es zurückhaben.«

»Klar.«

Der Beamte, der hinausgegangen war, kam mit einem einfachen weißen Unterhemd zurück. Es sah aus wie das, das Oswald auf dem Polizeifoto kurz nach seiner Verhaftung im Texas Theatre getragen hatte – beziehungsweise getragen hätte.

3

Um zwanzig nach eins wurde ich in den kleinen Vernehmungsraum gebracht. Etwa eine Stunde später (genau kann ich das nicht sagen, weil es dort keine Uhr gab und man mir meine neue Timex mit allen übrigen Sachen abgenommen hatte) brachten dieselben beiden Beamten mir Besuch. Nämlich einen alten Bekannten: Dr. Malcolm Perry, der eine große, schwarze Landarzttasche schleppte. Ich betrachtete ihn leicht erstaunt. Er konnte mich hier auf dem Polizeirevier besuchen, weil er nicht im Parkland Memorial Hospital sein und Geschoss- und Knochensplitter aus John Kennedys Gehirn operieren musste. Der Fluss der Geschichte floss bereits in seinem neuen Bett.

»Hallo, Dr. Perry.«

Er nickte. »Mr. Amberson.« Bei unserer letzten Begegnung hatte er mich George genannt. Falls ich Zweifel gehegt hätte, ob ich als Mittäter verdächtigt wurde, wären sie durch sein Verhalten beseitigt worden. Aber ich hatte keine Zweifel. Ich war am Tatort gewesen, und ich hatte vorher gewusst, was geschehen würde. Das hatte Bonnie Ray Williams sicher längst ausgesagt.

»Wie ich höre, haben Sie sich das Knie noch einmal verletzt.«

»Ja, leider.«

»Sehen wir es uns also mal an.«

Er wollte mein linkes Hosenbein hochziehen, aber das ging nicht. Das Kniegelenk war zu stark angeschwollen. Als er eine Schere hervorholte, traten beide Beamten vor, zogen ihre Waffe und ließen sie mit dem Zeigefinger außerhalb der Abzugbügel auf den Fußboden gerichtet. Dr. Perry betrachtete sie leicht verwundert und schnitt dann das Hosenbein entlang der Naht auf. Er untersuchte, er betastete, er brachte eine Injektionsspritze zum Vorschein und zapfte Flüssigkeit ab. Ich wartete zähneknirschend darauf, dass er fertig war. Dann holte er eine Elastikbinde aus der Arzttasche und bandagierte mein Knie. Das linderte die Schmerzen etwas.

»Ich kann Ihnen ein Schmerzmittel geben, wenn diese beiden Beamten nichts dagegen haben.«

Sie hatten nichts dagegen, aber ich wollte nicht. Die wichtigste Stunde meines – und Sadies – Lebens lag unmittelbar vor mir. Ich wollte nicht von einem Betäubungsmittel benebelt sein, wenn sie kam.

»Haben Sie zufällig Goody’s Powder?«

Perry rümpfte die Nase wie gegen einen üblen Geruch. »Ich habe Aspirin und Emprin. Emprin ist etwas stärker.«

»Dann geben Sie mir das bitte. Und, Dr. Perry?«

Er sah von seiner Arzttasche auf.

»Sadie und ich haben nichts Unrechtes getan. Sie hat ihr Leben für ihr Land geopfert … und ich hätte meines für ihres gegeben. Ich bekam nur keine Gelegenheit dazu.«

»Dann möchte ich der Erste sein, der Ihnen dankt. Im Namen des gesamten Landes.«

»Der Präsident. Wo ist er jetzt? Wissen Sie das?«

Dr. Perry sah zu den Polizisten hinüber und zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie wechselten einen Blick, dann sagte einer der beiden: »Er fliegt wie geplant nach Austin weiter, um bei einem Dinner zu reden. Ich weiß nicht, ob das tollkühn oder bloß dämlich ist.«

Vielleicht, dachte ich, stürzt die Air Force One ab, sodass Kennedy und alle an Bord tot sind. Vielleicht erleidet er einen Herz- oder Gehirnschlag. Vielleicht schießt irgendein anderer Feigling ihm den gut aussehenden Kopf runter. Arbeitete die unerbittliche Vergangenheit gegen die geschehenen Veränderungen ebenso wie vorher gegen den Verursacher der Veränderungen? Keine Ahnung. Es war mir auch ziemlich egal. Ich hatte meinen Teil getan. Was Kennedy von nun an zustieß, konnte ich nicht mehr beeinflussen.

»Ich habe im Radio gehört, dass Jackie ihn nicht begleitet«, sagte Perry ruhig. »Er hat sie zur Ranch des Vizepräsidenten in Johnson City vorausgeschickt, wo sie wie geplant das Wochenende verbringen werden. Wenn es stimmt, was Sie sagen, George …«

»Ich denke, das reicht, Doc«, sagte einer der Beamten. Mir genügte es jedenfalls; für Malcolm Perry war ich wieder George.

Dr. Perry – der eine gute Portion ärztlicher Arroganz mitbekommen hatte – ignorierte ihn. »Wenn es stimmt, was Sie sagen, sehe ich für Sie einen Ausflug nach Washington voraus. Und sehr wahrscheinlich eine Ordensverleihung im Rosengarten des Weißen Hauses.«

Als er ging, war ich wieder allein. Nur nicht wirklich allein, denn Sadie war auch da. Wie wir getanzt haben, hatte sie gesagt, kurz bevor sie diese Welt verlassen hatte. Ich konnte die Augen schließen und sie in einer Reihe mit den anderen jungen Frauen sehen, wie sie die Schultern schüttelte und den Madison tanzte. In dieser Erinnerung lachte sie, ihre Haare flogen, und ihr Gesicht war makellos. Operationsverfahren im Jahr 2011 konnten viel gegen die von John Clayton auf diesem Gesicht angerichteten Schäden tun, aber ich glaubte, ein noch besseres Verfahren zu kennen. Das heißt, wenn ich die Gelegenheit dazu bekam, es anzuwenden.

4

Ich durfte zwei Stunden lang schmerzhaft im eigenen Saft schmoren, bevor die Tür des Vernehmungsraums wieder aufging. Zwei Männer kamen herein. Der mit dem faltigen Dackelgesicht unter dem weißen Stetson stellte sich als Captain Will Fritz von der Dallas Police vor. Er hatte eine Aktentasche dabei – aber nicht meine, also war das in Ordnung.

Der zweite Kerl hatte Hängebacken, einen Trinkerteint und kurze, schwarze Haare, die von Brillantine glänzten. Sein Blick war scharf und forschend, aber auch leicht besorgt. Er zog ein Lederetui aus der Innentasche seines Jacketts und wies es aufgeklappt vor. »James Hosty, Mr. Amberson. Federal Bureau of Investigation.«

Sie haben allen Grund, besorgt zu sein, dachte ich. Sie waren für die Überwachung Lee Oswalds verantwortlich, nicht wahr, Agent Hosty?

Will Fritz sagte: »Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, Mr. Amberson.«

»Ja«, sagte ich. »Und ich will hier raus. Leute, die den Präsidenten der Vereinigten Staaten retten, werden im Allgemeinen nicht wie Verbrecher behandelt.«

»Na, na«, sagte Agent Hosty. »Wir haben Ihnen einen Doc geschickt, stimmt’s? Und nicht nur irgendeinen Doc. Ihren Doc.«

»Stellen Sie Ihre Fragen«, sagte ich.

Und machte mich zum Tanz bereit.

5

Fritz öffnete die Aktentasche und holte einen Plastikbeutel mit aufgeklebtem Beweisstücketikett heraus. Er enthielt meinen .38er-Revolver. »Den haben wir neben der von Oswald errichteten Barrikade aufgefunden, Mr. Amberson. Glauben Sie, dass er ihm gehört hat?«

»Nein, das ist ein Police Special. Er gehört mir. Lee hatte zwar einen .38er, aber das Modell Victory. Wenn er ihn nicht bei sich hatte, müsste er in seiner Unterkunft zu finden sein.«

Fritz und Hosty wechselten einen überraschten Blick, dann sahen sie wieder mich an.

»Sie geben also zu, Oswald gekannt zu haben«, sagte Fritz.

»Ja, allerdings nicht gut. Ich weiß nicht, wo er gewohnt hat, sonst wäre ich dort hingefahren.«

»Wie’s aussieht, hatte er ein Zimmer in der Beckley Street«, sagte Hosty. »Dort hat er sich unter dem Namen O. H. Lee eingemietet. Außerdem hat er anscheinend einen weiteren Decknamen benutzt. Alek Hidell. Damit hat er postlagernde Sendungen abgeholt.«

»Frau und Kindchen nicht bei ihm?«, fragte ich.

Hosty lächelte. Dabei wurden seine Hängebacken ungefähr eine Meile breit. »Wer stellt hier die Fragen, Mr. Amberson?«

»Wir beide«, sagte ich. »Ich habe mein Leben riskiert, um den Präsidenten zu retten, und meine Verlobte hat ihres geopfert, also fühle ich mich berechtigt, Fragen zu stellen.«

Dann wartete ich ab, wie hart sie mich anfassen würden. Mit echt harten Bandagen würde bedeuten, dass sie mich tatsächlich für einen Mittäter hielten. Echt locker hieße, dass sie es nicht taten, sich aber vergewissern wollten. Wie sich zeigte, war ihr Verhalten etwa in der Mitte zwischen diesen Extremen einzuordnen.

Fritz benutzte seinen dicken Zeigefinger, um den Plastikbeutel mit dem Revolver kreisen zu lassen. »Ich will Ihnen erzählen, was passiert sein könnte, Mr. Amberson. Ich behaupte nicht, dass es so war, aber Sie müssten uns vom Gegenteil überzeugen.«

»Mhm. Haben Sie Sadies Eltern verständigt? Sie leben in Savannah. Außerdem sollten Sie Deacon Simmons und Ellen Dockerty in Jodie anrufen. Die beiden waren sozusagen ihre Ersatzeltern.« Ich überlegte. »Eigentlich sogar unser beider. Ich wollte Deke bitten, mein Trauzeuge zu sein.«

Fritz ignorierte, was ich sagte. »Was passiert sein könnte, ist, dass Sie und Ihr Mädchen mit Oswald unter einer Decke gesteckt haben. Und zuletzt haben Sie vielleicht kalte Füße bekommen.«

Die allseits beliebte Verschwörungstheorie. Jeder Haushalt sollte eine haben.

»Vielleicht ist Ihnen in letzter Minute bewusst geworden, dass Sie den mächtigsten Mann der Welt erschießen wollten«, sagte Hosty. »Sie hatten einen lichten Augenblick. Also haben Sie ihn daran gehindert, die Tat auszuführen. Wenn es so war, könnten Sie mit viel Milde rechnen.«

Klar. Milde würde bedeuten, dass ich vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre lang in Leavenworth Gefängnisfraß aß, statt in Texas auf dem elektrischen Stuhl zu sterben.

»Wieso waren wir dann nicht bei ihm, Agent Hosty? Statt an die Eingangstür zu hämmern, um eingelassen zu werden?«

Hosty zuckte die Achseln. Erzählen Sie’s mir.

»Und wenn wir das Attentat gemeinsam geplant hätten, müssten Sie mich mit ihm gesehen haben. Ich weiß nämlich, dass Sie ihn zumindest teilweise überwacht haben.« Ich beugte mich vor. »Wieso haben Sie ihn nicht aufgehalten, Hosty? Das wäre Ihr Job gewesen.«

Er wich zurück, als hätte ich die Faust gegen ihn erhoben. Seine Hängebacken liefen rot an.

Zumindest einige Augenblicke lang verhärtete meine Trauer sich zu einer Art boshaftem Vergnügen. »Das FBI hat ihn im Auge behalten, weil er nach Russland übergelaufen ist, in die Vereinigten Staaten zurückflüchtete und dann nach Kuba überlaufen wollte. Vor dieser Horrorshow von heute hat er monatelang an Straßenecken Pro-Fidel-Handzettel verteilt.«

»Woher wissen Sie das alles?«, blaffte Hosty.

»Weil er’s mir erzählt hat. Und was passiert dann? Der Präsident, der nichts unversucht gelassen hat, um Castro zu stürzen, kommt nach Dallas. An seinem Arbeitsplatz im Schulbuchlager hatte Lee einen Logenplatz für die Vorbeifahrt der Autokolonne. Das wussten Sie, aber Sie haben nichts getan.«

Fritz starrte den FBI-Agenten mit unverhohlenem Entsetzen an. Hosty bedauerte sicher, dass der Polizist aus Dallas überhaupt anwesend war, aber was hätte er dagegen tun können? Dies war Fritz’ Revier.

»Wir hielten ihn nicht für gefährlich«, antwortete Hosty steif.

»Tja, das war ein klarer Fehler. Was stand in seiner Mitteilung an Sie, Hosty? Ich weiß, dass Lee in Ihrer Dienststelle war und dass er eine Nachricht abgegeben hat, als man ihm sagte, Sie wären nicht da, aber er wollte mir nicht erzählen, was darin gestanden hat. Er hat mich nur mit seinem dünnen kleinen Du-kannst-mich-mal-Grinsen angesehen. Wir reden von dem Mann, der die Frau, die ich geliebt habe, erschossen hat, deshalb habe ich ein Recht darauf, das zu erfahren. Hat er geschrieben, dass er etwas tun wird, was die ganze Welt aufhorchen lassen würde? Ich wette, genau das hat er getan.«

»Es war nichts dergleichen.«

»Dann zeigen Sie mir die Mitteilung. Aber das trauen Sie sich bestimmt nicht!«

»Irgendwelche Mitteilungen von Mr. Oswald gehen nur das Bureau etwas an.«

»Ich glaube nicht, dass Sie sie irgendwem vorzeigen können. Ich wette, dass man sie auf Mr. Hoovers Anweisung auf der Toilette Ihrer Dienststelle zu Asche verbrannt hat.«

Wenn sie noch nicht Asche war, würde sie es bald sein. So stand es in Als Notizen.

»Wenn Sie so unschuldig sind, dann erzählen Sie uns jetzt doch mal, woher Sie Oswald kannten und wieso Sie eine Waffe tragen«, sagte Fritz.

»Und weshalb die Lady ein Fleischermesser hatte, an dem Blut war«, fügte Hosty hinzu.

Daraufhin sah ich rot. »Die Lady hatte überall Blut!«, brüllte ich. »An ihrer Kleidung, an ihren Schuhen, in ihrer Umhängetasche! Der Hundesohn hat sie in die Brust geschossen, oder ist Ihnen das etwa entgangen?«

Fritz: »Beruhigen Sie sich, Mr. Amberson. Niemand wirft Ihnen etwas vor.« Zwischen den Zeilen: Bisher.

Ich holte tief Luft. »Haben Sie mit Dr. Perry gesprochen? Sie haben ihn zu mir geschickt, damit er mich untersucht und mein Knie versorgt, also haben Sie’s wahrscheinlich getan. Dann wissen Sie auch, dass ich im August fast totgeschlagen worden bin. Der Mann, der angeordnet hat, mich zusammenzuschlagen – und der selbst daran teilgenommen hat –, war ein Buchmacher namens Akiva Roth. Ich glaube nicht, dass er mich so schwer verletzen wollte, aber ich war wahrscheinlich frech zu ihm und habe ihn verärgert. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Seit damals kann ich mich an vieles nicht mehr erinnern.«

»Warum haben Sie den Überfall nicht angezeigt?«

»Weil ich im Koma gelegen habe, Detective Fritz. Als ich daraus erwacht bin, konnte ich mich an nichts erinnern. Als die Erinnerung zurückkam – wenigstens teilweise –, habe ich mich daran erinnert, dass Roth erzählt hat, er hätte Verbindungen zu einem Buchmacher in Tampa, bei dem ich schon mal eine Wette abgeschlossen hätte, und zum Mafiapaten Carlos Marcello in New Orleans. Danach war’s mir zu riskant, zur Polizei zu gehen.«

»Wollen Sie behaupten, das DPD wäre korrupt?« Ich wusste nicht, ob Fritz’ Empörung echt oder gespielt war, aber das war mir ziemlich egal.

»Ich sage nur, dass ich die Serie Die Unbestechlichen sehe und weiß, dass die Mafia Verräter hasst. Ich habe mir zum persönlichen Schutz eine Waffe gekauft – was laut zweitem Zusatzartikel zur Verfassung mein Recht ist – und sie getragen.« Ich zeigte auf den Plastikbeutel. »Diesen Revolver.«

»Wo haben Sie die Waffe gekauft?«, fragte Hosty.

»Daran erinnere ich mich nicht.«

»So ein Gedächtnisverlust ist schon ziemlich praktisch, was?«, sagte Fritz. »Wie etwas aus The Secret Storm oder Wie das Leben so spielt.«

»Reden Sie mit Perry«, wiederholte ich. »Und sehen Sie sich noch mal mein Knie an. Ich habe es mir wieder verletzt, als ich fünf Treppen hinaufgestürmt bin, um dem Präsidenten das Leben zu retten. Was ich der Presse erzählen werde. Außerdem werde ich ihr erzählen, dass meine Belohnung dafür, dass ich meine Pflicht als amerikanischer Bürger getan habe, ein Verhör in einem heißen, kleinen Raum war, bei dem es nicht mal ein Glas Wasser gab.«

»Wollen Sie ein Wasser?«, fragte Fritz, und ich begriff, dass die Sache gut ausgehen könnte, wenn ich nicht strauchelte. Der Präsident war mit knapper Not einem Attentat entgangen. Diese beiden Männer – von Polizeipräsident Jesse Curry ganz zu schweigen – standen unter gewaltigem Druck, einen Helden zu präsentieren. Weil Sadie tot war, mussten sie sich mit mir begnügen.

»Nein«, sagte ich. »Aber eine Co’-Cola wäre nett.«

6

Während ich auf meine Cola wartete, dachte ich daran, wie Sadie gesagt hatte: Wir hinterlassen eine verdammt auffällige Fährte. Das stimmte. Aber vielleicht konnte ich das zu meinen Gunsten ausnutzen. Das heißt, wenn ein bestimmter Abschleppwagenfahrer einer bestimmten Esso-Tankstelle in Fort Worth das getan hatte, wozu der Zettel unter dem Scheibenwischer des Chevrolets ihn aufgefordert hatte.

Fritz zündete sich eine Zigarette an und schob das Päckchen zu mir herüber. Als ich den Kopf schüttelte, nahm er es wieder an sich. »Erzählen Sie uns, wie Sie ihn kennengelernt haben«, sagte er.

Lees Bekanntschaft hätte ich in der Mercedes Street gemacht, sagte ich. Ich hätte mir seine Tiraden über die Übel des faschistisch-imperialistischen Amerikas und den wundervollen sozialistischen Staat, zu dem Kuba werden würde, angehört. Kuba sei das Ideal, habe er gesagt. In Russland hätten wertlose Bürokraten die Macht übernommen, weshalb er das Land wieder verlassen habe. In Kuba gebe es Onkel Fidel. Lee habe nicht direkt behauptet, dass Onkel Fidel übers Wasser wandeln könne, aber er habe es angedeutet.

»Ich hielt ihn für verrückt, aber ich habe seine Familie gemocht.« Zumindest das entsprach der Wahrheit. Ich mochte seine Familie wirklich und hielt ihn wirklich für verrückt.

»Wie kommt’s, dass ein ausgebildeter Lehrer wie Sie überhaupt in dieser heruntergekommenen Gegend von Fort Worth gewohnt hat?«, fragte Fritz.

»Ich habe versucht, einen Roman zu schreiben. Und gemerkt, dass ich das nicht neben dem Unterricht konnte. Die Wohnung in der Mercedes Street war eine Bruchbude, aber sie war billig. Ich dachte, ich würde mindestens ein Jahr für das Buch brauchen, was bedeutete, dass ich meine Ersparnisse strecken musste. Als das Viertel anfing, mich zu deprimieren, habe ich versucht mir vorzustellen, ich würde in einer Mansarde auf der Rive Gauche leben.«

Fritz: »Gehörte zu Ihren Ersparnissen auch Geld, das Sie bei Buchmachern gewonnen haben?«

Ich: »In diesem Punkt verweigere ich die Aussage.«

Darüber musste Will Fritz tatsächlich lachen.

Hosty: »Sie haben Oswald also kennengelernt und sich mit ihm angefreundet.«

»Wir hatten ein einigermaßen freundschaftliches Verhältnis. Aber mit Verrückten freundet man sich nicht an. Wenigstens ich nicht.«

»Bitte weiter.«

Lee sei mit seiner Familie ausgezogen; ich sei geblieben. Dann hätte ich eines Tages aus heiterem Himmel einen Anruf von ihm erhalten, dass Marina und er jetzt in der Elsbeth Street in Dallas wohnten. Er habe gesagt, das sei ein besseres Viertel, in dem es viele billige Wohnungen zu mieten gebe. Ich erklärte Fritz und Hosty, dass es mir in der Mercedes Street nicht mehr gefallen hätte, also sei ich nach Dallas gefahren, um mit Lee bei Woolworth’s an der Imbisstheke zu essen und einen Rundgang durch das Viertel zu machen. Ich hätte die Erdgeschosswohnung des Hauses West Neely Street 214 gemietet, und als die obere Wohnung frei geworden sei, hätte ich Lee davon erzählt. Sozusagen um mich für den Gefallen zu revanchieren.

»Seiner Frau hat es in der Elsbeth Street nicht gefallen«, sagte ich. »Das Haus in der West Neely Street war gleich um die Ecke und viel netter. Also sind sie eingezogen.«

Ich hatte keine Ahnung, wie genau sie diese Geschichte überprüfen wollten, wie stimmig die Chronologie wäre oder was Marina ihnen erzählen würde, aber das war für mich alles nicht wichtig. Ich brauchte nur Zeit. Eine Geschichte, die auch nur halbwegs plausibel war, konnte sie mir verschaffen, vor allem weil Agent Hosty allen Grund hatte, mich mit Samthandschuhen anzufassen. Wenn ich publik machte, was ich über seine Beziehung zu Oswald wusste, konnte er seine restlichen Dienstjahre damit verbringen, sich in Fargo den Arsch abzufrieren.

»Dann ist etwas passiert, was mich hat aufhorchen lassen. Das war dieses Jahr im April. Ziemlich genau zu Ostern. Ich habe am Küchentisch gesessen und an meinem Buch gearbeitet, als eine Luxuslimousine – ein Cadillac, glaube ich – vorgefahren ist. Ausgestiegen sind zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Gut angezogen. Sie hatten ein Plüschtier für Junie dabei. Sie ist …«

Fritz: »Wir wissen, wer June Oswald ist.«

»Sie sind die Treppe raufgegangen, und ich habe gehört, wie der Kerl – er hatte einen deutsch klingenden Akzent und eine dröhnend laute Stimme – gerufen hat: ›Wieso hast du ihn verfehlt, Lee?‹«

Hosty beugte sich vor. Seine Augen waren so groß, wie sie in seinem fleischigen Gesicht nur werden konnten. »Wie bitte?«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Also hab ich in der Zeitung nachgesehen, und wissen Sie was? Vier oder fünf Tage vorher hatte jemand auf irgendeinen pensionierten General geschossen. Großes Tier vom rechten Flügel. Genau die Art Kerl, die Lee hasste.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Nichts. Ich wusste, dass er einen Revolver hatte – er hat ihn mir mal gezeigt –, aber in der Zeitung stand, auf Walker wäre mit einem Gewehr geschossen worden. Außerdem war ich damals ziemlich mit meiner Freundin beschäftigt. Sie wollten wissen, warum sie ein Messer in ihrer Umhängetasche hatte. Die Antwort ist einfach – weil sie Angst hatte. Auch sie ist überfallen worden, aber nicht von Mr. Roth, sondern von ihrem Exmann. Er hat sie ziemlich schlimm entstellt.«

»Wir haben die Narbe gesehen«, sagte Hosty. »Unser Beileid zu Ihrem Verlust, Amberson.«

»Danke.« Deine Anteilnahme ist nicht echt, dachte ich. »Mit dem Messer, das sie in ihrer Tasche hatte, hat ihr Exmann – John Clayton, so hieß er – sie angegriffen. Sie hat es überallhin mitgenommen.« Ich dachte daran, wie sie gesagt hatte: Nur für den Fall, dass … Ich dachte daran, wie sie gesagt hatte: Und dieser Fall ist jetzt eingetreten, oder?

Ich verbarg mein Gesicht eine Minute lang in den Händen. Sie warteten. Ich ließ die Hände sinken und sprach mit tonloser Joe-Friday-Stimme weiter. Nichts als die Tatsachen, Ma’am.

»Ich habe die Wohnung in der West Neely Street behalten, aber den Sommer größtenteils in Jodie verbracht und mich um Sadie gekümmert. Die Idee mit dem Roman hatte ich ziemlich aufgegeben; ich habe daran gedacht, mich an der Denholm Consolidated wieder als Lehrer zu bewerben. Dann haben Akiva Roth und seine Schläger sich mich vorgeknöpft. Danach musste ich selbst ins Krankenhaus. Nach der Entlassung kam ich ins Rehazentrum Eden Fallows.«

»Das kenne ich«, sagte Fritz. »Eine Art betreutes Wohnen.«

»Ja, und Sadie war meine Hauptbetreuerin. Ich habe mich um sie gekümmert, nachdem ihr Exmann ihr das Gesicht zerschnitten hatte; sie hat sich um mich gekümmert, nachdem Roth und seine Leute mich zusammengeschlagen hatten. So drehen die Dinge sich im Kreis. Sie bilden … ich weiß nicht … eine Art Harmonie.«

»Dinge geschehen nicht ohne Grund«, sagte Hosty feierlich, und ich musste mich beherrschen, um mich nicht über den Tisch zu werfen und ihm in sein fettes, gerötetes Gesicht zu dreschen. Allerdings nicht etwa, weil er im Unrecht war. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach geschah wirklich nichts ohne einen Grund, aber mochten wir diesen Grund? Selten.

»Gegen Ende Oktober hat Dr. Perry mir erlaubt, wieder kurze Strecken mit dem Auto zu fahren.« Das war zwar eine freche Lüge, aber sie würden sich bei Perry wohl nicht so bald rückversichern … und falls sie in mich als einen authentischen amerikanischen Helden investierten, würden sie vielleicht gar nicht nachfragen. »Letzten Dienstag war ich in Dallas, um das Mietshaus in der West Neely Street zu besuchen. Eigentlich nur aus einer Laune heraus. Ich wollte sehen, ob sein Anblick ein paar verschüttete Erinnerungen zurückbringen würde.«

Ich war zwar wirklich in der West Neely Street gewesen, allerdings um den Revolver unter der Verandatreppe hervorzuholen.

»Danach habe ich beschlossen, wie in der guten alten Zeit zum Mittagessen zu Woolworth’s zu gehen. Und wen habe ich an der Theke sitzen sehen? Lee, der Thunfisch auf Roggenbrot bestellt hatte. Ich habe mich zu ihm gesetzt, und als ich wissen wollte, wie es ihm geht, hat er mir erzählt, dass das FBI seine Frau und ihn belästigen würde. Er hat gesagt: ›Ich werde diese Dreckskerle lehren, sich nicht mit mir anzulegen, George. Wenn du am Freitagnachmittag fernsiehst, kriegst du vielleicht was zu sehen.‹«

»Jesus!«, sagte Fritz. »Haben Sie das mit dem Besuch des Präsidenten in Verbindung gebracht?«

»Nicht sofort. Ich habe mich nie besonders für Kennedys Reisen interessiert; ich bin Republikaner.« Zwei Lügen zum Preis von einer. »Außerdem hat Lee gleich wieder sein Lieblingsthema angeschnitten.«

Hosty: »Kuba.«

»Richtig. Kuba und viva Fidel. Er hat nicht mal gefragt, weshalb ich hinke. Er war irgendwie völlig in seinem eigenen Kram gefangen. Aber das war typisch Lee. Ich habe ihn zu einem Vanillepudding eingeladen – der ist echt gut bei Woolworth’s und kostet nur einen Vierteldollar – und habe mich erkundigt, wo er jetzt arbeitet. In dem Schulbuchlager in der Elm Street, hat er gesagt. Mit einem breiten Grinsen, als wäre Lastwagen zu entladen und Stapel von Bücherkartons hin und her zu schleppen der tollste Job der Welt.«

Ich hätte sein Gelaber größtenteils von mir abtropfen lassen, fuhr ich fort, weil mein Bein wehgetan und ich wieder meine Kopfschmerzen bekommen hätte. Ich sei zum Eden Fallows zurückgefahren und hätte ein Nickerchen gemacht. Aber beim Aufwachen sei mir wieder die Frage des Deutschen (Wieso hast du ihn verfehlt?) eingefallen. Ich hätte den Fernseher angestellt und einen Bericht über den bevorstehenden Besuch des Präsidenten gesehen. Dabei, sagte ich, hätte ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich hätte die im Wohnzimmer gestapelten Zeitungen durchgeblättert, die Route der Autokolonne entdeckt und festgestellt, dass sie direkt an dem Schulbuchlager vorbeiführe.

»Darüber habe ich den ganzen Mittwoch nachgegrübelt.« Die beiden saßen jetzt vorgebeugt am Tisch und saugten begierig jedes Wort auf. Hosty machte sich Notizen, ohne auf seinen Schreibblock zu sehen. Ich fragte mich, ob er sie später überhaupt würde entziffern können. »Ich habe mir gesagt: Vielleicht meint Lee das ernst. Dann habe ich mir gesagt: Ach was, Lee hat ’ne große Klappe, aber nichts dahinter. So ging das ständig hin und her. Gestern Morgen habe ich Sadie angerufen, ihr die ganze Geschichte erzählt und sie nach ihrer Meinung dazu gefragt. Sie hat mit Deke telefoniert – Deke Simmons, den ich als ihren Ersatzvater bezeichnet habe – und hat mich dann zurückgerufen. Sie hat gesagt, ich soll damit zur Polizei gehen.«

»Ich will Ihren Schmerz nicht verschlimmern, mein Sohn, aber wenn Sie auf Ihre Freundin gehört hätten, würde sie jetzt noch leben«, sagte Fritz.

»Moment. Sie haben noch nicht die ganze Geschichte gehört.« Ich natürlich auch nicht; ich erfand große Teile davon erst beim Reden. »Ich habe Deke und ihr erklärt, die Cops dürften nicht eingeschaltet werden, denn wenn Lee unschuldig war, würde ihm das den Rest geben. Sie müssen verstehen, dass der Kerl nur mit knapper Not zurechtkam. Die Mercedes Street war ein Loch, die West Neely Street nicht viel besser, aber für mich war das okay – ich war ledig und hatte mein Buch, an dem ich arbeiten konnte. Und ein bisschen Geld auf der Bank. Lee dagegen … er hatte eine schöne Frau und zwei Töchter, eine erst vier Wochen alt, und konnte kaum dafür sorgen, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten. Er war kein schlechter Kerl …«

Als ich das sagte, spürte ich den Drang, mir an die Nase zu fassen und mich zu vergewissern, dass sie nicht länger wurde.

»… aber er war Weltklasse im Scheißebauen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wegen seiner verrückten Ideen hatte er Schwierigkeiten, einen Job zu behalten. Er hat gesagt, sobald er einen gehabt hätte, hätte das FBI sich eingemischt und ihn in der Firma unmöglich gemacht. Zum Beispiel als er den Job als Fototechniker hatte.«

»Bockmist!«, sagte Hosty. »Der Junge hat die Schuld fürs eigene Versagen immer bei anderen gesucht. Aber in anderer Beziehung sind wir uns einig, Amberson. Er war Weltklasse im Scheißebauen, und seine Familie hat mir immer leidgetan. Verdammt leid.«

»Ehrlich? Schön von Ihnen. Jedenfalls hatte er einen Job, und ich wollte nicht schuld daran sein, dass er ihn verliert, bloß weil er ziemlich angegeben hatte … worauf er spezialisiert war. Ich hab Sadie gesagt, dass ich morgen – also heute – ins Schulbuchlager gehen würde, nur um nach ihm zu sehen. Sie hat gesagt, sie würde mitkommen. Aber ich wollte das nicht, denn wenn Lee wirklich übergeschnappt war und etwas Verrücktes tun wollte, konnte das auch sie in Gefahr bringen.«

»Ist er Ihnen denn übergeschnappt vorgekommen, als Sie mit ihm zu Mittag gegessen haben?«, fragte Fritz.

»Nein, kühl wie eine Hundeschnauze, aber das war er immer.« Ich beugte mich zu ihm hinüber. »Ich möchte, dass Sie mir aufmerksam zuhören, Detective Fritz. Ich wusste, dass sie entschlossen war, mich trotz aller Einwände zu begleiten. Das konnte ich in ihrer Stimme hören. Also bin ich Hals über Kopf abgehauen. Um sie zu schützen. Für alle Fälle.«

Und dieser Fall ist jetzt eingetreten, oder?, flüsterte die Sadie in meinem Kopf. Wo sie leben würde, bis ich sie leibhaftig wiedersah. Ich schwor mir, das unter allen Umständen zu tun.

»Ich wollte in einem Hotel übernachten, aber die Hotels waren natürlich alle belegt. Dann ist mir die Mercedes Street eingefallen. Den Schlüssel zum Haus 2706, in dem ich früher gewohnt hab, hatte ich damals abgegeben, aber ich hatte noch den Schlüssel zur Nummer 2703 gegenüber, Lees Wohnung. Er hatte ihn mir gegeben, damit ich reingehen und seine Pflanzen gießen könnte.«

Hosty: »Er hatte Pflanzen?«

Meine Beachtung galt weiter Will Fritz. »Sadie war beunruhigt, als sie feststellen musste, dass ich aus dem Eden Fallows verschwunden war. Deke ebenso. Also hat er die Polizei angerufen. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Bei jedem Anruf hat der Beamte, den er jeweils erreicht hat, ihn aufgefordert, keinen Unsinn zu erzählen, und aufgelegt. Ich weiß nicht, ob jemand sich die Mühe gemacht hat, diese Anrufe zu protokollieren, aber Deke kann Ihnen sagen, wo er überall angerufen hat, und er hat keinen Grund zu lügen.«

Diesmal lief Fritz rot an. »Wenn Sie wüssten, wie viele Morddrohungen bei uns eingegangen sind …«

»Ja, natürlich. Und Sie haben nur soundso viel Leute. Erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sadie noch leben würde, wenn wir die Polizei angerufen hätten. Das will ich nicht von Ihnen hören, ja?«

Er schwieg.

»Wie hat sie Sie gefunden?«, fragte Hosty.

Das war etwas, bei dem ich nicht zu lügen brauchte, also tat ich es auch nicht. Als Nächstes würden sie jedoch nach unserer Fahrt von der Mercedes Street in Fort Worth zum Texas School Book Depository in Dallas fragen. Dieser Teil meiner Geschichte enthielt die meisten Fallstricke. Der Studebaker-Cowboy machte mir keine Sorgen; Sadie hatte ihn verletzt – aber erst nachdem er versucht hatte, ihr die Umhängetasche zu stehlen. Sein Auto war ein Wrack, und ich vermutete, dass der Cowboy es nicht mal als gestohlen melden würde. Natürlich hatten wir ein weiteres Auto gestohlen, aber angesichts der Dringlichkeit unserer Rettungsmission würde die Polizei diesen Fall bestimmt nicht weiterverfolgen. Sie würde von den Medien scharf kritisiert werden, sollte sie das versuchen. Wirklich Sorgen machte mir der rote Chevrolet, der mit den Heckflossen, die an die Augenbrauen einer Frau erinnerten. Das Gepäck im Kofferraum ließ sich wegerklären; wir hatten schon früher Liebeswochenenden in den Candlewood Bungalows verbracht. Aber wenn die Ermittler Al Templetons Notizbuch auswerteten … daran mochte ich nicht einmal denken.

Jemand klopfte kurz an die Tür des Vernehmungsraums, und einer der Beamten, die mich aufs Polizeirevier gebracht hatten, steckte den Kopf herein. Am Steuer des Streifenwagens und später, während sein Partner mein persönliches Eigentum aufgenommen hatte, hatte er mit seiner steinernen Miene gefährlich gewirkt, ein Bulle direkt aus einem Kriminalfilm. Jetzt, unsicher und mit vor Aufregung hervorquellenden Augen, war zu erkennen, dass er nicht älter als dreiundzwanzig war und noch mit den Überresten einer Jugendakne kämpfte. Hinter ihm waren eine Menge Leute zu sehen – teils in Uniform, teils in Zivil –, die sich den Hals verrenkten, um einen Blick auf mich zu erhaschen. Fritz und Hosty wandten sich dem Eindringling ungeduldig zu.

»Meine Herren, tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber Mr. Amberson hat einen Anruf.«

Hostys Hängebacken liefen wieder rot an. »Mein Sohn, wir sind hier bei einer Vernehmung. Mir wär’s egal, selbst wenn der Präsident der Vereinigten Staaten anriefe.«

Der Beamte schluckte. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab wie ein Affe an einer Kletterstange. »Äh, Sir … es ist der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Anscheinend war es ihm dann doch nicht so egal.

7

Sie führten mich den Flur entlang zu Chief Currys Dienstzimmer. Fritz hielt mich unter einem Arm gefasst, Hosty unter dem anderen. Weil sie fünfundzwanzig bis dreißig Kilo meines Gewichts trugen, hinkte ich nur wenig. Umringt waren wir von Reportern, Fernsehkameras und riesigen Scheinwerfern, die die Temperatur auf bestimmt über 35 Grad brachten. Diese Leute – nur eine Stufe über Paparazzi – hatten im Kielwasser eines Attentatsversuchs nichts auf einem Polizeirevier verloren, aber mich überraschte ihre Anwesenheit nicht. Entlang einem anderen Zeitstrahl hatten sie sich nach Oswalds Verhaftung hereingedrängt, und niemand hatte sie hinausgeworfen. Meines Wissens hatte niemand das auch nur versucht.

Hosty und Fritz bahnten sich mit steinernen Mienen einen Weg durch diesen Abschaum. Sie und ich wurden mit Fragen bombardiert. Hosty brüllte: »Mr. Amberson gibt eine Erklärung ab, sobald er von den zuständigen Stellen eingehend befragt worden ist!«

»Wann?«, rief jemand.

»Morgen, übermorgen, vielleicht nächste Woche!«

Das wurde mit einem Stöhnen quittiert, das Hosty grinsen ließ.

»Vielleicht nächsten Monat. Im Augenblick wartet President Kennedy am Telefon auf ihn, lasst uns also durch, Leute!«

Sie ließen uns durch und krächzten dabei wie die Elstern.

Für Kühlung sorgte in Chief Currys Dienstzimmer nur ein Ventilator in einem Bücherregal, aber nach der Hitze im Vernehmungsraum und dem Mediengrill auf dem Flur war der Luftstrom ein wahrer Segen. Auf der Schreibunterlage lag ein großer schwarzer Telefonhörer. Daneben lag eine Akte, die mit LEE H. OSWALD beschriftet war. Sie war dünn.

Ich griff nach dem Hörer. »Hallo?«

Die näselnde Stimme aus Neuengland, die mir antwortete, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Dies war ein Mann, der jetzt auf einer Steinplatte im Leichenhaus gelegen hätte, wenn Sadie und ich nicht gewesen wären. »Mr. Amberson? Hier ist Jack Kennedy. Wie ich höre … äh … verdanken meine Frau und ich Ihnen … äh … unser Leben. Ich habe auch gehört, dass Sie einen Menschen, der Ihnen sehr teuer war, verloren haben.« Er sprach mit dem Akzent, mit dem ich aufgewachsen war.

»Ihr Name war Sadie Dunhill, Mr. President. Oswald hat sie erschossen.«

»Mein herzliches Beileid zu Ihrem … äh … Verlust, Mr. Amberson. Darf ich Sie … äh … George nennen?«

»Wenn Sie möchten.« Dabei dachte ich: Dieses Gespräch führst du nicht wirklich. Du träumst es nur.

»Ihr Land wird diese Frau mit einer Flut von Dankesbezeugungen bedenken … und Sie mit einer Flut trostreicher Worte, dessen bin ich mir sicher. Lassen Sie mich … äh … der Erste sein, der Ihnen beides spendet.«

»Danke, Mr. President.« Etwas schnürte mir die Kehle zu, und ich konnte nur noch flüsternd sprechen. Ich sah wieder ihre glänzenden Augen, wie sie sterbend in meinen Armen lag. Jake, wie wir getanzt haben. Machten Präsidenten sich etwas aus solchen Dingen? Wussten sie überhaupt von ihnen? Die besten taten es vielleicht. Vielleicht dienten sie deshalb.

»Es gibt … äh … noch jemand, der Ihnen danken möchte, George. Meine Frau ist gerade nicht hier, aber sie … äh … will Sie heute Abend anrufen.«

»Mr. President, ich weiß leider nicht, wo ich heute Abend sein werde.«

»Meine Frau findet Sie. Sie ist sehr … äh … zielstrebig, wenn sie sich bei jemand bedanken will. Und jetzt sagen Sie mir noch, George, wie geht es Ihnen?«

Ich sagte ihm, mir gehe es gut, was natürlich nicht stimmte. Er versprach mir, mich sehr bald im Weißen Haus zu empfangen, und ich bedankte mich dafür, obwohl ich nicht glaubte, dass es zu einem Besuch im Weißen Haus kommen würde. Während dieses ganzen traumartigen Gesprächs, bei dem der Ventilator mein schweißnasses Gesicht anblies und die Milchglasscheibe der Tür von Chief Currys Dienstzimmer im übernatürlichen Licht der draußen aufgebauten Fernsehscheinwerfer leuchtete, wiederholte meine innere Stimme ständig vier Wörter.

Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit.

Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte aus Austin angerufen, um sich dafür zu bedanken, dass ich ihm das Leben gerettet hatte, und ich war in Sicherheit. Ich konnte tun, was ich tun musste.

8

Fünf Minuten nach meinem surrealen Gespräch mit John Fitzgerald Kennedy hasteten Fritz und Hosty mit mir über die Hintertreppe in die Tiefgarage hinunter, in der Oswald von Jack Ruby erschossen worden wäre. Damals hatte hier wegen der bevorstehenden Verlegung des Attentäters ins Bezirksgefängnis Gedränge geherrscht. Heute war die Garage so menschenleer, dass unsere Schritte darin hallten. Meine Aufpasser fuhren mich ins Hotel Adolphus, und ich war nicht überrascht, mich in demselben Zimmer wiederzufinden, in dem ich bei meinem ersten Dallas-Besuch gewohnt hatte. Man begegnete sich im Leben immer zweimal, wie man sagte, und obwohl ich nie herausfinden konnte, wer die geheimnisvollen Weisen waren, die sich hinter »man« verbargen, hatten sie unbedingt recht, was Zeitreisen betraf.

Fritz erklärte mir, dass die auf dem Flur und unten in der Hotelhalle postierten Polizisten ausschließlich meinem Schutz dienten und die Medien fernhalten sollten. (Aha.) Dann schüttelte er mir die Hand. Auch Agent Hosty schüttelte mir die Hand, und als er es tat, spürte ich, wie ein winzig zusammengefalteter Zettel von seiner in meine Handfläche wechselte. »Ruhen Sie sich aus«, sagte er. »Das haben Sie sich verdient.«

Nachdem die beiden gegangen waren, faltete ich den kleinen Zettel auseinander. Er war aus einem Notizbuch herausgerissen. Hosty hatte ihn vermutlich während meines Gesprächs mit Jack Kennedy geschrieben.

Ihr Telefon wird abgehört. Ich komme um neun heute Abend vorbei. Das hier verbrennen & Asche im WC runterspülen.

Ich verbrannte die Mitteilung, wie Sadie meine verbrannt hatte, dann nahm ich den Telefonhörer ab und schraubte die Sprechmuschel auf. Unter dem Deckel war ein kleiner, blauer Zylinder von kaum der Größe einer AA-Batterie an die Drähte angeklemmt. Mich amüsierte, dass er japanisch beschriftet war – das erinnerte mich an meinen alten Kumpel Silent Mike.

Ich löste ihn heraus, steckte ihn ein, schraubte den Deckel wieder auf und wählte die 0. Nachdem ich meinen Namen genannt hatte, entstand am anderen Ende eine lange Pause. Ich wollte schon auflegen und es erneut versuchen, als die Telefonistin schluchzend begann, ihren Dank für die Rettung des Präsidenten zu brabbeln. Wenn sie irgendwas tun könne, sagte sie, wenn irgendjemand im Hotel irgendwas tun könne, brauchte ich nur anzurufen, sie heiße Marie, sie würde alles tun, um mir zu danken.

»Sie könnten damit anfangen, dass Sie mich mit Jodie verbinden«, sagte ich und gab ihr Dekes Nummer.

»Natürlich, Mr. Amberson. Gott segne Sie, Sir. Ich verbinde Sie.«

Das Telefon schnarrte zweimal, dann meldete Deke sich. Seine Stimme war belegt und heiser, als wäre er stark erkältet. »Wenn das ein weiterer gottverdammter Reporter …«

»Es ist keiner, Deke. Ich bin’s, George.« Ich machte eine Pause. »Jake.«

»Oh, Jake«, sagte er traurig, und dann fing er an zu weinen. Ich wartete und hielt dabei den Hörer so fest umklammert, dass meine Hand schmerzte. Meine Schläfen pochten. Der Tag ging zur Neige, aber das durchs Fenster einfallende Abendlicht blendete noch. In der Ferne hörte ich Donnergrollen. Schließlich sagte er: »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Aber Sadie …«

»Ich weiß. Es kommt in den Nachrichten. Ich hab’s auf der Fahrt nach Fort Worth gehört.«

Also hatten die Frau mit dem Kinderwagen und der Fahrer des Abschleppwagens der Esso-Tankstelle getan, worum ich sie gebeten hatte. Gott sei Dank. Nicht dass es mir wichtig vorkam, während ich dasaß und diesem untröstlichen alten Mann zuhörte, der sich bemühte, nicht zu weinen.

»Deke, gibst du mir die Schuld daran? Ich würde es verstehen.«

»Nein«, sagte er schließlich. »Auch Ellie tut das nicht. Wenn Sadie zu etwas entschlossen war, hat sie es durchgezogen. Und falls du tatsächlich in Fort Worth in der Mercedes Street warst, hat sie den Tipp, wo du zu finden sein würdest, von mir bekommen.«

»Ich war dort.«

»Hat der Hundesohn sie erschossen? In den Nachrichten wird gemeldet, dass er es war.«

»Ja. Er wollte eigentlich auf mich schießen, aber mein schlimmes Bein … Ich bin hingefallen. Und sie war genau hinter mir.«

»Herrgott!« Seine Stimme klang etwas kräftiger. »Aber sie ist gestorben, während sie das Richtige getan hat. An diesen Gedanken werde ich mich klammern. Das rate ich auch dir.«

»Ohne sie wäre ich niemals hingekommen. Wenn du sie hättest sehen können … wie entschlossen sie war … wie tapfer …«

»Herrgott«, sagte er wieder. Es klang wie der Seufzer eines sehr alten Mannes. »Alles war also wahr. Alles, was du gesagt hast. Und alles, was sie über dich erzählt hat. Du bist wirklich aus der Zukunft, nicht wahr?«

Wie gut, dass ich die Wanze in meiner Tasche hatte. Obwohl ich bezweifelte, dass sie Zeit gehabt hatten, im Zimmer Abhörmikrofone anzubringen, hielt ich die Sprechmuschel halb zu und senkte die Stimme. »Kein Wort darüber zur Polizei oder gegenüber Reportern, okay?«

»Großer Gott, nein!« Allein der Gedanke daran schien ihn zu empören. »Du würdest nie mehr ungesiebte Luft atmen!«

»Hast du unser Gepäck aus dem Chevy geholt? Auch nachdem wir …«

»Aber natürlich. Ich wusste, dass das wichtig war, weil sie dich sofort verdächtigen würden.«

»Das wird sich wohl alles in Luft auflösen, aber du musst meine Aktentasche aufmachen und …« Ich hielt inne. »Hast du einen Müllverbrennungsofen?«

»Ja, hinter der Garage.«

»In der Aktentasche findest du ein blaues Notizbuch. Leg es in den Ofen, und verbrenn es. Würdest du das für mich tun?« Und für Sadie. Wir verlassen uns beide auf dich.

»Ja, tue ich. Jake, mein herzliches Beileid zu deinem Verlust.«

»Und meines zu deinem. Zu Miz Ellies und deinem.«

»Das war kein fairer Tausch!«, brach es aus ihm heraus. »Mir ist es egal, ob er der Präsident ist … Das war kein fairer Tausch!«

»Nein, das war keiner«, sagte ich. »Aber, Deke … hier geht es nicht bloß um den Präsidenten. Es geht um all das schlimme Zeug, das nach seinem Tod passiert wäre.«

»Das muss ich dir vermutlich glauben, aber es fällt mir schwer.«

Würde es in der Highschool eine Gedenkveranstaltung für Sadie geben wie damals für Miz Mimi? Natürlich würde eine stattfinden. Die großen Fernsehgesellschaften würden Kamerateams schicken, und ganz Amerika würde in Tränen zerfließen. Aber wenn die Show vorbei war, würde Sadie immer noch tot sein.

Es sei denn, ich änderte es. Das würde bedeuten, dass ich alles noch einmal durchmachen musste, aber für Sadie würde ich es tun. Selbst wenn sie auf der Gartenparty, auf der ich sie kennengelernt hatte, schon nach dem ersten Blick zu dem Schluss gelangen sollte, dass ich zu alt für sie war (obwohl ich mein Bestes tun würde, um sie in diesem Punkt umzustimmen). Das Ganze hatte sogar einen Vorteil: Weil ich jetzt wusste, dass Lee wirklich ein Einzeltäter gewesen war, würde ich nicht so lange warten müssen, bevor ich diese Jammergestalt ins Jenseits beförderte.

»Jake? Bist du noch da?«

»Ja. Und denk daran, mich George zu nennen, wenn du von mir redest, okay?«

»Keine Sorge. Ich mag alt sein, aber mein Gehirn arbeitet noch ziemlich gut. Sehe ich dich wieder?«

Nicht, wenn Agent Hosty mir erzählt, was ich hören möchte, dachte ich.

»Falls nicht, beweist das, dass alles zum Besten steht.«

»Also gut. Jake, hat sie … hat sie im Sterben noch etwas gesagt?«

Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, was ihre letzten Worte gewesen waren – die gingen ihn nichts an –, aber ich hatte einen Trost für ihn. Er würde ihn Ellie weitergeben, und Ellie würde ihn allen von Sadies Freunden in Jodie weitergeben. Sie hatte viele gehabt.

»Sie hat gefragt, ob der Präsident in Sicherheit ist. Als ich ja gesagt habe, hat sie die Augen geschlossen und sich fortgestohlen.«

Deke weinte wieder. Mein Gesicht pochte. Tränen wären eine Erleichterung gewesen, aber meine Augen blieben trocken.

»Mach’s gut«, sagte ich. »Leb wohl, alter Freund.«

Ich legte behutsam auf, blieb eine Zeit lang still sitzen und beobachtete, wie die rote Sonne hinter Dallas unterging. Abendrot, Gut-Wetter-Bot’ hieß es im Volksmund, aber ich hörte von irgendwoher schon wieder Donner. Fünf Minuten später, als ich mich wieder gefangen hatte, nahm ich den entwanzten Hörer noch einmal ab und wählte die 0. Ich erklärte Marie, ich wolle mich etwas hinlegen, und bat um einen Weckruf um 20 Uhr. Und ich bat sie, bis dahin keine Anrufe durchzustellen.

»Oh, das ist schon veranlasst«, sagte sie aufgeregt. »Keine eingehenden Gespräche für Sie, Anordnung des Polizeichefs.« Sie senkte die Stimme. »War er verrückt, Mr. Amberson? Ich meine, er muss es ja gewesen sein, aber hat er auch so ausgesehen?«

Ich erinnerte mich an die zähnefletschende Grimasse und das dämonische Knurren. »O ja«, sagte ich. »So hat er allerdings ausgesehen. Zwanzig Uhr, Marie. Keine Störung bis dahin.«

Ich legte auf, bevor sie noch etwas sagen konnte. Dann zog ich die Schuhe aus (den linken vom Fuß zu bekommen war ein langwieriger, schmerzhafter Prozess), streckte mich auf dem Bett aus und legte einen Arm über die Augen. Ich sah Sadie den Madison tanzen. Ich hörte Sadie, wie sie mich aufforderte einzutreten, liebster Herr, und mich fragte, ob ich Lust auf Napfkuchen hätte. Ich sah sie in meinen Armen, wie sie mit glänzenden, sterbenden Augen zu mir aufblickte.

Ich dachte an den Kaninchenbau und daran, dass jede Rückkehr einen kompletten Neustart bewirkte.

Irgendwann schlief ich ein.

9

Hosty klopfte um Punkt neun an meine Tür. Ich machte ihm auf, und er kam hereingeschlendert. In der einen Hand trug er eine Aktentasche (aber nicht meine Aktentasche, also war das in Ordnung), in der anderen hielt er eine Flasche Champagner, das gute Zeug, Moët & Chandon, mit einer patriotisch rot-weiß-blauen Schleife um den Hals. Er sah sehr müde aus.

»Amberson«, sagte er.

»Hosty«, antwortete ich.

Er schloss die Tür und deutete dann auf das Telefon. Ich holte die Wanze aus der Tasche und zeigte sie ihm. Er nickte.

»Gibt es noch andere?«, fragte ich.

»Nein. Die Wanze gehört dem DPD, aber das hier ist jetzt unser Fall. Alle Befehle kommen direkt von Hoover. Falls jemand nach der Wanze fragt, haben Sie sie selbst entdeckt.«

»Okay.«

Er hielt den Champagner hoch. »Mit einer Empfehlung der Hoteldirektion. Ich sollte ihn unbedingt mit raufnehmen. Möchten Sie auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten trinken?«

Wenn ich daran dachte, dass meine schöne Sadie jetzt im Leichenschauhaus auf einer Steinplatte lag, hatte ich keine Lust, auf irgendjemand zu trinken. Ich war erfolgreich gewesen, aber der Erfolg schmeckte in meinem Mund wie Asche.

»Nein.«

»Ich auch nicht, aber ich bin verdammt froh, dass er lebt. Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?«

»Nur zu.«

»Ich habe für ihn gestimmt. Vielleicht bin ich der einzige Agent im ganzen Bureau, der das getan hat.«

Ich sagte nichts.

Hosty sank in einen der beiden Sessel und ließ einen langen Seufzer der Erleichterung hören. Er stellte die Aktentasche zwischen seinen Beinen ab und drehte dann die Flasche, damit er das Etikett lesen konnte. »Ein 1958er. Weinkenner wüssten vermutlich, ob das ein gutes Jahr war, aber ich selbst bin eher ein Biertrinker.«

»Ich auch.«

»Dann wird Ihnen das Lone Star schmecken, das unten für Sie bereitsteht. Ein Kasten von dem Zeug, dazu ein gerahmtes Schreiben, das Ihnen für den Rest Ihres Lebens einen Kasten pro Monat garantiert. Und massenhaft Champagner – mindestens zwei Dutzend Flaschen. Von der Handelskammer Dallas bis zum Fremdenverkehrsamt haben alle eine geschickt. Sie haben einen original verpackten Zenith-Farbfernseher, einen goldenen Siegelring mit dem Bildnis des Präsidenten von Calloway’s Fine Jewelry, einen Gutschein für drei Anzüge von Dallas Menswear und alles mögliche weitere Zeug, darunter die Stadtschlüssel. Die Hoteldirektion hat ein Zimmer im ersten Stock für Ihre Geschenke reserviert, und ich vermute, dass morgen früh ein zweites dazukommen muss. Und all das Essen! Die Leute bringen Kuchen und anderes Gebäck, Aufläufe, Braten aller Art, Grillhähnchen und genügend mexikanische Gerichte für fünf Jahre Durchfall. Wir weisen sie alle ab, und sie ziehen äußerst ungern wieder ab, das kann ich Ihnen flüstern. Draußen vor dem Hotel sind Frauen, die … Na, ich sage bloß, dass selbst Jack Kennedy neidisch wäre, und der ist ein legendärer Frauenheld. Sie würden nicht glauben, was Hoover über das Sexleben dieses Mannes in seinen Akten hat.«

»Sie wären vielleicht überrascht, was ich alles glauben kann.«

»Dallas liebt Sie, Amberson. Teufel, das ganze Land liebt Sie.« Er lachte. Aus dem Lachen wurde ein Husten. Als es vorbei war, zündete er sich eine Zigarette an. Dann sah er auf seine Armbanduhr. »Seit einundzwanzig Uhr sieben Central Standard Time am 22. November 1963 sind Sie Amerikas absoluter Liebling.«

»Was ist mit Ihnen, Hosty? Lieben Sie mich? Liebt Hoover mich?«

Er legte seine Zigarette nach nur einem Zug im Aschenbecher ab, beugte sich vor und spießte mich mit seinem Blick auf. Obwohl die in tiefen Höhlen liegenden Augen müde gewirkt hatten, funkelten sie plötzlich hellwach.

»Sehen Sie mich an, Amberson. Direkt in die Augen. Erzählen Sie mir dann, dass Sie nicht Oswalds Komplize waren. Aber sagen Sie die Wahrheit, ich merke nämlich, wenn Sie lügen.«

Angesichts seines ungeheuerlichen Versagens im Fall Oswald glaubte ich das zwar eher nicht, aber ich glaubte, dass er es glaubte. Also sah ich ihm in die Augen und sagte: »Das war ich nicht.«

Er antwortete nicht gleich. Dann seufzte er, lehnte sich zurück und griff wieder nach seiner Zigarette. »Nein, das waren Sie nicht.« Er stieß Rauch aus den Nasenlöchern aus. »Für wen arbeiten Sie also? Die CIA? Vielleicht die Russen? Ich sehe das nicht so, aber Hoover glaubt, dass die Russen bereitwillig einen Schläfer opfern würden, um ein Attentat zu verhindern, das einen internationalen Zwischenfall auslösen könnte. Vielleicht sogar den Dritten Weltkrieg. Vor allem wenn die Leute von Oswalds Aufenthalt in Russland hören.« Hosty sprach Russland wie der Fernsehprediger Hargis in seinen Sendungen aus. Vielleicht hielt er das für witzig.

Ich sagte: »Ich arbeite für niemand. Ich bin ein ganz normaler Bürger, Hosty.«

Er deutete mit seiner Zigarette auf mich. »Darauf kommen wir noch zurück.« Er öffnete die Aktentasche und zog eine Akte heraus, die noch dünner als die Akte Oswald war, die ich auf Currys Schreibtisch gesehen hatte. Es war meine Akte, die aber allmählich anwachsen würde … wenn auch nicht so schnell, wie sie es im 21. Jahrhundert mit Computerhilfe getan hätte.

»Vor Dallas waren Sie in Florida. In der Kleinstadt Sunset Point.«

»Ja.«

»Sie waren Aushilfslehrer im Schulbezirk Sarasota.«

»Korrekt.«

»Davor waren Sie unseren Recherchen nach eine Zeit lang in … War das Derren? Derren, Maine?«

»Derry.«

»Wo Sie was genau getan haben?«

»Wo ich angefangen habe, mein Buch zu schreiben.«

»Aha, und davor?«

»Mal hier, mal dort.«

»Wie viel wissen Sie über meinen Umgang mit Oswald, Amberson?«

Ich schwieg.

»Seien Sie nicht so schüchtern. Wir sind hier unter uns Pfarrerstöchtern.«

»Genug, um Sie und Ihren Direktor in große Schwierigkeiten zu bringen.«

»Es sei denn?«

»Ich will’s mal so ausdrücken: Was ich an Ärger verursache, wird direkt proportional zu den Schwierigkeiten sein, die Sie mir vielleicht machen.«

»Wäre es angemessen zu behaupten, dass Sie dabei Dinge, die Sie nicht wirklich wissen, notfalls erfinden würden – zu unserem Schaden?«

Ich schwieg.

Er sprach weiter, als redete er mit sich selbst. »Dass Sie ein Buch geschrieben haben, überrascht mich nicht. Dabei hätten Sie bleiben sollen, Amberson. Es wäre wahrscheinlich ein Bestseller geworden. Weil Sie verdammt gut darin sind, sich Dinge auszudenken, das gestehe ich Ihnen zu. Heute Nachmittag waren Sie ziemlich glaubhaft. Und Sie wissen Dinge, die Sie eigentlich nicht wissen können, was uns in der Überzeugung bekräftigt, dass Sie kein gewöhnlicher Bürger sind. Kommen Sie, wer hat Sie auf Oswald angesetzt? Vielleicht Angleton von der Firma? Er war’s, stimmt’s? Dieser verschlagene, Rosen züchtende Hundesohn, der er ist.«

»Ich bin allein«, sagte ich. »Und weiß wahrscheinlich weniger, als Sie glauben. Auf jeden Fall aber genug, um das Bureau schlecht aussehen zu lassen. Zum Beispiel wie Lee mir erzählt hat, dass er Ihnen geradeheraus verraten hat, dass er Kennedy erschießen wird.«

Hosty drückte die Zigarette so energisch aus, dass Funken stoben. Ein paar davon fielen auf seinen Handrücken, aber er schien sie gar nicht zu spüren. »Das ist eine gottverdammte Lüge!«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Aber ich werde sie sehr glaubhaft erzählen. Ist schon jemand auf die Idee gekommen, mich zu beseitigen, Hosty?«

»Verschonen Sie mich mit dem Comicheft-Mist. Wir ermorden keine Leute.«

»Erzählen Sie das den Diem-Brüdern in Vietnam.«

Er starrte mich an, wie jemand eine für harmlos gehaltene Maus betrachten würde, die plötzlich zugebissen hatte. Und zwar mit sehr scharfen Zähnen. »Woher wissen Sie, dass Amerika irgendwas mit den Brüdern Diem zu tun hatte? Nach dem, was in allen Zeitungen stand, sind unsere Hände sauber.«

»Schon gut. Bleiben wir lieber beim Thema. Es ist eine Tatsache, dass ich zu beliebt bin, als dass man mich ermorden würde. Oder täusche ich mich da?«

»Niemand will Sie ermorden, Amberson. Und niemand will Ihre Story durchlöchern.« Er bellte ein humorloses Lachen heraus. »Falls wir damit anfangen würden, würde sie in sich zusammenfallen. So dünn ist sie nämlich.«

»›Phantastische Geschichten aus dem Stegreif waren ihre Spezialität‹«, sagte ich.

»Hä?«

»H. H. Munro. Auch als Saki bekannt. Die Geschichte heißt ›Das offene Fenster‹. Die müssen Sie mal lesen. In Sachen spontan irgendwelchen Unsinn zu erzählen, ist die sehr lehrreich.«

Er musterte mich mit besorgt zusammengekniffenen kleinen Augen. »Ich werde aus Ihnen überhaupt nicht schlau. Das macht mir Sorgen.« Weit im Westen, in Richtung Midland, wo unaufhörlich pochend Öl gefördert wurde und Gasfackeln die Sterne verblassen ließen, grollte wieder Donner.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich. Nach dem ersten Abtasten war das der Kern der Sache.

»Wenn wir Sie aus Derren oder Derry, oder wie das Nest sonst heißt, weiter zurückverfolgen, finden wir wahrscheinlich … nichts. Als hätten Sie sich aus dem Nichts materialisiert.«

Das kam der Wahrheit so nahe, dass es mir fast den Atem verschlug.

»Wir möchten von Ihnen, dass Sie in das Nichts zurückkehren, aus dem Sie gekommen sind. Die Skandalpresse wird die üblichen hässlichen Spekulationen und Verschwörungstheorien bringen, aber wir können Ihnen garantieren, dass Sie ziemlich gut wegkommen werden. Das heißt, falls Sie darauf überhaupt Wert legen. Marina Oswald wird Ihre Story vorbehaltlos bestätigen.«

»Sie haben vermutlich schon mit ihr gesprochen.«

»Das vermuten Sie richtig. Sie weiß, dass sie ausgewiesen wird, wenn sie nicht mitspielt. Die Gentlemen von der Presse haben Sie nur flüchtig zu Gesicht bekommen; die Fotos in den morgigen Zeitungen werden ziemlich verschwommen sein.«

Ich wusste, dass er recht hatte. Fotografiert worden war ich nur auf dem kurzen Weg den Flur entlang zu Chief Currys Dienstzimmer, und da hatten Fritz und Hosty, zwei große Kerle, mich untergefasst und ziemlich abgeschirmt. Außerdem hatte ich wegen der grellen Scheinwerfer den Kopf gesenkt gehalten. In Jodie gab es massenhaft Fotos von mir – sogar eine Porträtaufnahme im DCHS-Jahrbuch für das Jahr, in dem ich dort voll unterrichtet hatte –, aber in dieser Ära vor JPEG-Bildern oder auch nur Telefaxen würde es bis Dienstag oder Mittwoch kommender Woche dauern, bevor sie aufgespürt und veröffentlicht werden konnten.

»Hier ist eine Geschichte für Sie«, sagte Hosty. »Sie mögen Geschichten, oder? Welche wie diese mit der offenen Tür.«

»Ich bin Englischlehrer. Ich liebe Geschichten geradezu.«

»Dieser Bursche, dieser George Amberson, ist so untröstlich über den Tod seiner Freundin …«

»Verlobten.«

»Verlobten, richtig. Er ist so tief betrübt, dass er den ganzen Krempel hinwirft und einfach abhaut. Will nichts mit der Öffentlichkeit, geschenktem Champagner, Orden vom Präsidenten oder Konfettiparaden zu tun haben. Er will nur fort und seinen Verlust in aller Stille betrauern. Amerikaner lieben solche Storys. Im Fernsehen kriegen sie die dauernd vorgesetzt. Statt ›Die offene Tür‹ heißt sie ›Der bescheidene Held‹. Und dann gibt es diesen FBI-Agenten, der bereit ist, jedes Wort zu bestätigen und sogar eine Erklärung zu verlesen, die Sie zurückgelassen haben. Na, wie klingt das?«

Das klang wie Manna vom Himmel, aber ich ließ mein Pokergesicht aufgesetzt. »Sie scheinen sich sehr sicher zu sein, dass ich verschwinden kann.«

»Das sind wir.«

»Und Sie meinen es wirklich ernst, wenn Sie sagen, dass ich nicht auf Befehl des Direktors auf dem Boden des Trinity River verschwinden werde?«

»Nichts dergleichen.« Er lächelte. Das Lächeln sollte beruhigend wirken, aber es erinnerte mich an eine Redensart aus meiner Jugend: Keine Sorge, du wirst nicht schwanger, ich hatte mit vierzehn Mumps.

»Weil ich vielleicht eine kleine Rückversicherung habe, Agent Hosty?«

Ein Augenlid zuckte. Das war das einzige Anzeichen dafür, dass diese Vorstellung ihm Sorgen machte. »Wir glauben, dass Sie verschwinden können, weil wir annehmen … sagen wir einfach, dass Sie Unterstützung anfordern können, sobald Sie Dallas verlassen haben.«

»Keine Pressekonferenz?«

»Das ist das Letzte, was wir wollen.«

Er öffnete die Aktentasche wieder und zog einen Schreibblock heraus. Er legte ihn mir zusammen mit dem Füller aus der Brusttasche seines Jacketts vor mich hin. »Schreiben Sie mir einen Brief. Fritz und ich finden ihn, wenn wir Sie morgen früh abholen kommen, aber Sie können als Anrede ›An alle, die es angeht‹ schreiben. Sehen Sie zu, dass er gut wird. Dass er genial wird. Das schaffen Sie doch, oder?«

»Klar«, sagte ich. »Phantastische Geschichten aus dem Stegreif sind meine Spezialität.«

Er grinste humorlos und griff nach der Champagnerflasche. »Vielleicht koste ich davon, während Sie dichten. Sie kriegen allerdings nichts. Vor Ihnen liegt eine lange Nacht. Viele Meilen, bevor Sie zum Schlafen kommen, und so weiter.«

10

Ich gab mir viel Mühe beim Schreiben, aber ich brauchte trotzdem nicht lange. In einem Fall wie diesem (nicht dass es in der gesamten Weltgeschichte jemals einen vergleichbaren Fall gegeben hätte) hielt ich kürzer für besser. Dabei konzentrierte ich mich vor allem auf Hostys Idee von dem bescheidenen Helden. Ich war froh, dass ich die Chance, ein paar Stunden zu schlafen, genutzt hatte. Es war zwar ein unruhiger Schlaf gewesen, durchsetzt mit Albträumen, aber mein Kopf war relativ klar.

Als ich fertig war, war Hosty beim dritten Glas Champagner angelangt. Er hatte verschiedene Gegenstände aus seiner Aktentasche geholt und auf dem Couchtisch verteilt. Ich gab ihm den Block, und er las, was ich geschrieben hatte. Draußen donnerte es wieder, und Blitze erhellten kurz den Nachthimmel, aber ich glaubte, dass das Gewitter noch weit entfernt war.

Während Hosty las, begutachtete ich die Sachen auf dem Couchtisch. Dort lag zum Beispiel meine Timex, die ich aus irgendeinem Grund nicht mit meinem sonstigen Eigentum zurückbekommen hatte, als wir das Revier verlassen hatten. Und eine schwarze Hornbrille. Ich probierte sie auf und stellte fest, dass die Gläser aus Fensterglas waren. Weiterhin ein aus einem Hohlzylinder bestehender Schlüssel ohne Einkerbungen. Ein Briefumschlag mit schätzungsweise tausend Dollar in Zwanzigern und Fünfzigern. Ein Haarnetz. Und eine weiße Uniform in zwei Teilen: Hose und Kittel. Der Baumwollstoff sah so dünn aus, wie meine Geschichte nach Hostys Aussage angeblich war.

»Der Brief ist gut«, sagte Hosty und legte den Schreibblock weg. »Sie kommen ein bisschen traurig rüber – wie Richard Kimble in Auf der Flucht. Haben Sie die Serie gesehen?«

Ich hatte die Kinoversion mit Tommy Lee Jones gesehen, aber jetzt war kaum der richtige Augenblick, das zu erwähnen. »Nein.«

»Sie werden tatsächlich auf der Flucht sein, aber nur vor den Medien und der amerikanischen Öffentlichkeit, die alles über Sie erfahren wollen wird – vom Fruchtsaft, den Sie morgens trinken, bis zu Ihrer Unterhosengröße. Sie verkörpern eine Geschichte aus dem Leben, Amberson, aber Sie sind kein Fall für die Polizei. Sie haben Ihre Freundin nicht erschossen; Sie haben nicht mal Oswald erschossen.«

»Ich hab’s versucht. Hätte ich ihn nicht verfehlt, würde sie noch leben.«

»Machen Sie sich in dieser Beziehung keine großen Vorwürfe. Der Raum dort oben ist ziemlich groß, und ein .38er ist auf größere Entfernungen wenig treffsicher.«

Richtig. Man musste auf weniger als fünfzehn Schritt herankommen. Das hatte ich mehr als nur einmal gehört. Aber das sagte ich nicht. Ich vermutete, dass meine kurze Bekanntschaft mit Special Agent James Hosty bald zu Ende sein würde. Im Grunde genommen konnte ich es kaum erwarten.

»Sie sind sauber. Sie brauchen nur noch einen Ort zu erreichen, an dem Ihre Leute Sie aufsammeln und mit Ihnen ins gespenstische Nimmerland davonfliegen können. Können wir uns darauf verlassen?«

In meinem Fall war das Nimmerland ein Kaninchenbau, der mich achtundvierzig Jahre weit in die Zukunft versetzen würde. Immer unter der Voraussetzung, dass der Kaninchenbau noch da war.

»Ich werde schon zuverlässig sein.«

»Das will ich hoffen, denn wenn Sie versuchen, uns zu schaden, revanchieren wir uns doppelt. Mr. Hoover … sagen wir nur, dass der Direktor kein Mensch ist, der bereitwillig verzeiht.«

»Erzählen Sie mir, wie ich aus dem Hotel kommen soll.«

»Sie ziehen diese Küchenklamotten an – mitsamt Haarnetz und Hornbrille. Der Schlüssel ist für den Lastenaufzug. Damit gelangen Sie ins Untergeschoss B-1. Unten durchqueren Sie die Küche und verlassen sie durch den Hinterausgang. Bis dahin alles klar?«

»Ja.«

»Dort wartet ein Wagen von uns. Sie steigen hinten ein, ohne mit dem Fahrer zu reden. Es ist kein Limousinenservice. Dann geht’s zum Busbahnhof. Ihr Fahrer hat drei Tickets für Sie zur Auswahl: Tampa um elf Uhr vierzig, Little Rock um elf Uhr fünfzig oder Albuquerque um zwanzig Minuten nach Mitternacht. Ich will gar nicht wissen, welches Sie nehmen. Und Sie brauchen nur zu wissen, dass unser Kontakt damit beendet ist. Ab dann sind Sie selbst dafür verantwortlich, untergetaucht zu bleiben. Sie und Ihre Auftraggeber, versteht sich.«

»Natürlich.«

Mein Telefon klingelte. »Falls das irgendein cleverer Reporter ist, der’s geschafft hat, zu Ihnen vorzudringen, wimmeln Sie ihn ab«, sagte Hosty. »Und wenn Sie ein einziges Wort davon sagen, dass ich hier bin, schneide ich Ihnen die Kehle durch.«

Ich vermutete, dass das scherzhaft gemeint war, war mir aber nicht ganz sicher. Ich nahm den Hörer ab. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich bin im Augenblick ziemlich müde, deshalb …«

Die rauchige Stimme am anderen Ende sagte, sie werde mich nicht lange aufhalten. Jackie Kennedy, sagte ich mit lautlosen Lippenbewegungen zu Hosty. Er nickte und goss sich noch etwas von meinem Champagner ein. Ich kehrte ihm den Rücken zu, als könnte ich ihn auf diese Weise daran hindern, meine Hälfte des Gesprächs mitzuhören.

»Mrs. Kennedy, Sie hätten wirklich nicht anrufen müssen«, sagte ich. »Aber es ist mir trotzdem eine Ehre, von Ihnen zu hören.«

»Ich wollte Ihnen dafür danken, was Sie getan haben«, sagte sie. »Ich weiß, dass mein Mann sich schon in unserem Namen bedankt hat, aber … Mr. Amberson …« Die First Lady fing an zu weinen. »Ich wollte Ihnen im Namen unserer Kinder danken, die ihren Eltern heute Abend am Telefon gute Nacht sagen konnten.«

Caroline und John-John. An die beiden hatte ich bislang überhaupt nicht gedacht.

»Mrs. Kennedy, ich habe es sehr gern getan.«

»Wie ich höre, hätte die junge Frau, die gestorben ist, Ihre Frau werden sollen.«

»Ja, das stimmt.«

»Sie sind sicher untröstlich. Bitte nehmen Sie mein herzliches Beileid entgegen – ich weiß, es genügt nicht, aber mehr kann ich nicht geben.«

»Danke.«

»Wenn ich es ändern könnte … wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte …«

Nein, dachte ich. Das ist mein Job, Miz Jackie.

»Ich weiß. Vielen Dank.«

Wir sprachen noch etwas länger. Das Gespräch war weit schwieriger als das, das ich auf dem Polizeirevier mit Kennedy geführt hatte. Zum einen lag es daran, dass mir das Gespräch mit ihm wie ein Traum erschienen war, aber der Hauptgrund war wohl die zurückgebliebene Angst, die ich in Jacqueline Kennedys Stimme hörte. Sie schien wirklich zu begreifen, wie knapp sie diesmal entkommen waren. Diesen Eindruck hatte ihr Mann mir nicht vermittelt. Er schien zu glauben, er wäre durch göttliche Vorsehung vom Glück begünstigt, gesegnet, vielleicht sogar unsterblich. Ich weiß noch, wie ich sie gegen Ende des Gesprächs bat, ihren Mann zu überreden, nicht mehr in offenen Wagen herumzufahren, solange er Präsident sei.

Sie sagte, darauf könne ich mich verlassen, und bedankte sich nochmals. Ich versicherte ihr meinerseits nochmals, dass ich es gern getan hätte, und legte dann auf. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass ich allein war. Während ich mit Jacqueline Kennedy telefoniert hatte, war Hosty irgendwann gegangen. Hinterlassen hatte er nur zwei Kippen im Aschenbecher, ein halb ausgetrunkenes Glas Champagner und eine weitere hingekritzelte Mitteilung, die neben dem Schreibblock mit meinem Abschiedsbrief lag.

Werfen Sie die Wanze weg, bevor Sie den Busbahnhof betreten, stand dort. Und darunter: Alles Gute, Amberson. Ich bedaure Ihren Verlust. H.

Vielleicht bedauerte er ihn wirklich, aber Bedauern war billig, oder nicht? Bedauern war so billig.

11

Ich verkleidete mich als Spüler und fuhr mit dem Lastenaufzug, in dem es nach Hühnersuppe, Barbecuesauce und Jack Daniel’s roch, hinunter ins B-1-Untergeschoss. Als die Tür sich öffnete, ging ich rasch durch die dampfende, appetitlich duftende Küche. Ich glaube nicht, dass mich jemand eines Blickes würdigte.

Ich trat auf die rückwärtige Hotelzufahrt hinaus, auf der sich gerade ein paar Stadtstreicher für den Inhalt eines Müllbehälters interessierten. Auch sie beachteten mich nicht, obwohl sie kurz aufsahen, weil ein Wetterleuchten einige Sekunden lang den Himmel erhellte. Am Ende der Zufahrt wartete mit laufendem Motor ein unscheinbarer Ford. Ich stieg hinten ein, und wir fuhren los. Bevor wir am Greyhound-Busbahnhof hielten, sagte der Mann am Steuer nur einen einzigen Satz: »Sieht nach Regen aus.«

Er hielt mir drei Fahrkarten hin wie ein Blatt beim Poker für Arme. Ich nahm die Fahrkarte nach Little Rock. Bis zur Abfahrt blieb mir ungefähr eine Stunde Zeit. Ich ging in den Geschenkartikelladen und kaufte mir einen billigen Koffer. Falls alles wie geplant klappte, würde ich irgendwann etwas haben, was ich hineintun konnte. Viel würde ich nicht brauchen; in meinem Haus in Sabbatus hatte ich reichlich Kleidung, und obwohl dieses Zuhause fast fünfzig Jahre weit in der Zukunft lag, hoffte ich, es in weniger als einer Woche zu erreichen. Das war ein Paradox, das Einstein sicher gefallen würde, und mein erschöpfter, trauernder Verstand kam nie auf den Gedanken, dass dieses Zuhause – wegen des Schmetterlingseffekts – bestimmt nicht mehr mir gehören würde. Falls es überhaupt noch stand.

Ich kaufte auch eine Zeitung, ein Extrablatt des Slimes Herald. Auf Seite eins gab es nur ein Foto, das vielleicht einem Profi, vermutlich aber eher einem Zuschauer, der Glück gehabt hatte, gelungen war. Es zeigte Kennedy, wie er sich über die Frau beugt, mit der ich vorhin telefoniert hatte: die Frau, an deren rosa Kostüm keine Blutflecken gewesen waren, als sie es an diesem Abend ausgezogen hatte.

John F. Kennedy schützt seine Frau mit seinem Körper, während die Präsidentenlimousine der möglichen nationalen Katastrophe davonrast, lautete die Bildunterschrift. Darüber prangte eine 36 Punkt große Schlagzeile. Platz dafür war reichlich, denn sie bestand nur aus einem einzigen Wort:

GERETTET!

Ich blätterte um und wurde auf Seite zwei mit einem weiteren Foto konfrontiert. Es zeigte Sadie, die unglaublich jung und unglaublich schön aussah. Sie lächelte. Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir, sagte dieses Lächeln.

Ich setzte mich auf eine Wartebank. Es schlurften Nachtreisende an mir vorbei, Babys schrien, Soldaten mit Seesäcken lachten, Geschäftsleute ließen sich die Schuhe putzen, die Deckenlautsprecher kündigten Ankünfte und Abfahren an. Ich faltete die Zeitung sorgfältig entlang den Linien, die das Bild einrahmten, damit ich es heraustrennen konnte, ohne es zu beschädigen. Als das geschafft war, betrachtete ich lange ihr Gesicht, bevor ich das Foto zusammengefaltet in meine Geldbörse steckte. Den Rest des Extrablatts warf ich weg. Es enthielt nichts, was ich hätte lesen wollen.

Der Bus nach Little Rock wurde um zwanzig nach elf aufgerufen, und ich gesellte mich zu den Fahrgästen, die am entsprechenden Ausgang warteten. Außer der Hornbrille unternahm ich nichts zur Tarnung, aber ich wurde sowieso nicht sonderlich beachtet. Ich war bloß ein einziges weiteres Blutkörperchen im Kreislauf Amerikas, nicht bedeutender als jedes andere.

Ich habe heute euer Leben verändert, dachte ich, während ich die hier an der Schwelle eines neuen Tages Versammelten beobachtete, aber mit dieser Vorstellung war weder Triumph noch Verwunderung verbunden; sie schien keine elektrische Ladung zu besitzen, weder positiv noch negativ.

Ich stieg in den Bus und suchte mir ziemlich weit hinten einen Platz. Vor mir saßen viele junge Männer in Uniform, vermutlich unterwegs zur Little Rock Air Force Base. Hätte ich nicht getan, was ich heute getan hatte, wären einige von ihnen in Vietnam gefallen. Andere wären als Invaliden heimgekehrt. Aber jetzt? Wer wusste das schon.

Der Bus fuhr los. Als wir Dallas verließen, wurden die Donnerschläge lauter und die Blitze greller, aber es regnete immer noch nicht. Als wir Sulphur Springs erreichten, war das dräuende Gewitter hinter uns, und die Sterne waren zu Zehntausenden herausgekommen: wie Eissplitter glänzend und doppelt so kalt. Ich beobachtete sie eine Zeit lang, dann schloss ich die Augen und hörte zu, wie die Reifen des Greyhound-Busses die Meilen der Interstate 30 fraßen.

Sadie, sangen die Reifen. Sadie, Sadie, Sadie.

Irgendwann nach zwei Uhr morgens schlief ich ein.

12

In Little Rock kaufte ich mir eine Fahrkarte für den Mittagsbus nach Pittsburgh, der nur in Indianapolis hielt. Ich frühstückte im Diner des Busbahnhofs neben einem alten Mann, der beim Essen ein Kofferradio vor sich stehen hatte. Der Diner war groß und voller glänzender Anzeigen. Die wichtigste Story war natürlich weiterhin der Attentatsversuch … und Sadie. Sadie war die große Sensation. Sie sollte ein Staatsbegräbnis mit anschließender Beisetzung auf dem Nationalfriedhof Arlington erhalten. Es gab Spekulationen, dass JFK persönlich die Trauerrede halten werde. Im Zusammenhang damit wurde gemeldet, dass die für zehn Uhr angesetzte Pressekonferenz mit George Amberson, Miss Dunhills Verlobtem, ohne Angabe von Gründen auf den späten Nachmittag verschoben worden sei. Hosty verschaffte mir so viel Zeit zur Flucht wie nur möglich. Gut für mich. Für ihn natürlich auch. Und für seinen kostbaren Direktor.

»Der Präsident und seine heldenhaften Retter sind nicht die einzige Nachricht, die heute Morgen aus Texas kommt«, sagte das Radio des alten Knackers, und ich erstarrte mit meiner halb an die Lippen gehobenen Kaffeetasse. Im Mund spürte ich das saure Kribbeln, das ich zu deuten gelernt hatte. Ein Psychologe hätte es vielleicht als Presque-vu bezeichnet – das Gefühl, dass gleich etwas Außergewöhnliches geschehen wird –, aber mein Name dafür war weit bescheidener: eine Harmonie.

»Auf dem Höhepunkt eines Gewitters hat kurz nach ein Uhr morgens ein Tornado Fort Worth erfasst und ein Montgomery-Ward-Lagerhaus und rund ein Dutzend Wohnhäuser zerstört. Zwei Personen wurden tot geborgen, vier weitere werden noch vermisst.«

Dass zwei dieser Häuser die Nummern 2703 und 2706 in der Mercedes Street waren, stand für mich außer Zweifel; ein zorniger Wind hatte sie ausradiert wie eine falsche Gleichung.

Kapitel 30

1

Am 26. November kurz nach Mittag stieg ich in Auburn, Maine, an der Busstation Minot Avenue aus meinem letzten Greyhound. Nach über achtzig Stunden fast ununterbrochener Busfahrerei, die mir die kurzen Schlafphasen nur wenig erleichtert hatten, fühlte ich mich, als würde ich nur noch in meiner Einbildung existieren. Es war kalt. Gott räusperte sich und spuckte gelegentlich Schnee aus einem schmutzig grauen Himmel. Als Ersatz für die Arbeitskleidung einer Spülkraft hatte ich mir Jeans und ein paar blaue Arbeitshemden aus Baumwolle gekauft, die aber bei Weitem nicht ausreichten. Während meines Aufenthalts in Texas hatte ich das Wetter in Maine vergessen, aber mein Körper erinnerte sich gleich daran und zitterte. Deshalb war der Herrenausstatter Louie’s for Men mein erstes Ziel. Ich fand eine Lammfelljacke in meiner Größe und ging damit zum Verkäufer.

Als er sein Exemplar der Lewiston Sun weglegte, um mich zu bedienen, sah ich mein Porträt – ja, das aus dem DCHS-Jahrbuch – auf der ersten Seite. WO STECKT GEORGE AMBERSON?, fragte die Schlagzeile. Der Verkäufer stellte mir eine Quittung aus. Ich tippte auf das Bild von mir. »Was in aller Welt ist wohl mit diesem Kerl los?«

Der Verkäufer sah zu mir auf und zuckte die Achseln. »Er meidet die Öffentlichkeit, und das kann ich ihm nicht verübeln. Ich liebe meine Frau verdammt über alles, und wenn sie plötzlich sterben würde, würde ich nicht wollen, dass Leute mich für die Zeitungen fotografieren oder mein verheultes Gesicht im Fernsehen zeigen. Sie vielleicht?«

»Nein«, sagte ich. »Vermutlich nicht.«

»An seiner Stelle würde ich bis mindestens 1970 untergetaucht bleiben. Erst mal abwarten, bis der Rabatz vorbei ist. Wie wär’s mit einer netten Mütze zu der Jacke? Erst gestern sind Flanellmützen reingekommen. Mit schön dicken Ohrenklappen.«

Also kaufte ich mir zu meiner neuen Jacke noch eine Mütze. Dann hinkte ich zwei Straßen weit zur Busstation zurück, wobei ich den Koffer am Ende meines gesunden Arms schwang. Irgendwie wollte in dieser Minute nach Lisbon Falls zurückkehren und mich davon überzeugen, dass der Kaninchenbau noch existierte. Wenn dem so war, würde ich es jedoch gleich benutzen, obwohl mir meine Vernunft sagte, dass ich nach fünf Jahren im Land des Einst nicht auf einen Frontalangriff dessen, was ich für mich das Land des Voraus nannte, vorbereitet sei. Ich brauchte erst etwas Erholung. Wirklich erholsamen Schlaf, keinen Halbschlaf im Bus, während um mich herum Babys heulten und Männer lachten.

Im Schnee, der jetzt wirbelte, statt dass nur hin und wieder ein paar Flocken fielen, warteten vier oder fünf Taxis am Randstein. Ich stieg in das erste und genoss dankbar den warmen Luftstrom der Heizung. Der Taxifahrer drehte sich zu mir um: ein fetter Kerl, der eine abgewetzte Baseballmütze mit einem Aufnäher trug, auf dem TAXIKONZESSION stand. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber ich wusste, dass sein Radio auf WJAB aus Portland eingestellt sein würde, wenn er es einschaltete – und wenn er seine Kippen aus der Hemdtasche zog, würden es Lucky Strikes sein. Man begegente sich im Leben immer zweimal.

»Wohin, Chef?«

Ich sagte ihm, er solle mich zum Tamarack-Autohof bringen, draußen an der Route 196.

»Wird gemacht.«

Er schaltete das Radio ein und bekam die Miracles rein, die »Mickey’s Monkey« sangen.

»Diese modernen Tänze!«, grunzte er, während er nach seinen Kippen griff. »Die sind für nichts gut, außer dass die Halbwüchsigen lernen, mit den Hüften zu wackeln.«

»Tanzen ist Leben«, sagte ich.

2

Die Angestellte am Empfang hatte zwar gewechselt, aber sie gab mir dasselbe Zimmer. Natürlich tat sie das. Der Preis war etwas höher, und der alte Fernseher war durch einen neueren ersetzt worden, aber an der Zimmerantenne auf dem Gerät, deren Form an Hasenohren erinnerte, lehnte dasselbe Schild: KEINE »ALUFOLIE« VERWENDEN! Der Empfang war immer noch beschissen. Es gab keine Nachrichten, nur Seifenopern.

Ich schaltete den Fernseher aus. Ich hängte das Schild BITTE NICHT STÖREN! außen an die Tür. Ich zog die Vorhänge zu. Dann zog ich mich aus und kroch ins Bett, in dem ich – abgesehen von einem nur halb wachen Stolpern ins Bad, um meine Blase zu erleichtern – zwölf Stunden lang schlief. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, war der Strom ausgefallen, und draußen heulte ein Nordweststurm. Hoch am Himmel stand ein strahlend heller Halbmond. Ich holte mir die Zusatzdecke aus dem Kleiderschrank und schlief weitere fünf Stunden.

Als ich das nächste Mal wach wurde, leuchtete der Autohof im ersten Morgenlicht in den klaren Farben und Halbtönen eines Fotos aus der National Geographic. Die vor manchen Wohneinheiten parkenden Autos waren mit Raureif bedeckt, und ich konnte meinen Atem sehen. Ich versuchte es mit dem Telefon, obwohl ich mir nichts davon versprach, aber am Empfang meldete sich prompt ein junger Mann, auch wenn er noch halb zu schlafen schien. Klar, sagte er, die Telefonleitung sei nicht beschädigt worden, und er rufe mir gern ein Taxi – wohin ich denn fahren wolle?

Lisbon Falls, sagte ich. Ecke Main Street und Old Lewiston Road.

»Zur Fruit?«, fragte er.

Ich war so lange fort gewesen, dass mir das einen Augenblick lang als total unlogisch erschien. Dann klickte es. »Ja, genau. Zur Kennebec Fruit.«

Nach Hause, dachte ich. Gott steh mir bei, ich gehe nach Hause.

Nur stimmte das nicht. 2011 war nicht mein Zuhause, und ich würde nicht lange dort bleiben – immer unter der Voraussetzung, dass ich überhaupt hingelangen konnte. Vielleicht nur für ein paar Minuten. Jodie war jetzt mein Zuhause. Oder würde es sein, sobald Sadie dort ankam. Sadie die Jungfrau. Sadie mit ihren langen Beinen und dem langen Haar und ihrem Hang, über alles zu stolpern, was irgendwie im Weg war … nur dass im kritischen Augenblick ich derjenige gewesen war, der zu Fall gekommen war.

Sadie mit ihrem makellosen Gesicht.

Sie war mein Zuhause.

3

An diesem Morgen wurde mein Taxi von einer stämmigen Mittfünfzigerin gefahren, die in einen alten, schwarzen Parka eingemummt war und statt einer Mütze mit dem Aufnäher TAXIKONZESSION eine Red-Sox-Kappe trug. Als wir in Richtung The Falls nach links auf die 196 abbogen, sagte sie: »Ham Sie die Meldung gehört? Eher nich, schätz ich – hier in der Gegend ist nämlich der Strom ausgefallen.«

»Welche Meldung meinen Sie?«, fragte ich, obwohl mich bereits eine schreckliche Gewissheit erfasst hatte: Kennedy war tot. Keine Ahnung, ob er bei einem Unfall, wegen eines Herzanfalls oder doch durch ein Attentat gestorben war, aber er war tot. Die Vergangenheit war unerbittlich, und Kennedy war tot.

»Erdbeben in Los Angeles.« Sie sprach den Namen Las Ange-lies aus. »Die Leute sagen seit Jahren, dass Kalifornien einfach irgendwann ins Meer abbricht, und jetzt sieht’s so aus, als könnten sie vielleicht recht haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sag nicht, dass das von dem lockeren Lebenswandel der Leute dort draußen kommt – diese Filmstars und alle –, aber ich bin ’ne ziemlich gute Baptistin, drum sag ich nicht, dass es nicht davon kommt.«

Wir fuhren gerade am Autokino von Lisbon vorbei. DEN WINTER ÜBER GESCHLOSSEN, stand auf dem Vordach. AUF WIEDERSEHN ’64 MIT VIELEN NEUEN FILMEN!

»Wie schlimm war es?«

»Die Rede ist von siebentausend Toten, aber wenn man eine solche Zahl hört, weiß man, dass sie sich erhöhen wird. Die meisten Dammbrücken sind eingestürzt, die Freeways liegen in Trümmern, und überall gibt’s Brände. Der Teil der Stadt, in dem die Neger leben, scheint fast ganz abgebrannt zu sein. Warts! Ist das nicht ein schlimmer Name für ’nen Stadtteil? Ich meine, selbst für einen, in dem Schwarze leben? Warzen! Ha!«

Ich antwortete nicht darauf. Ich musste an unser Hündchen Rags danken, das wir hatten, als ich neun war und wir noch in Wisconsin wohnten. An Schultagen hatte ich morgens mit ihm im Garten spielen dürfen, bis der Bus kam. Ich brachte ihm bei, Platz zu machen, zu apportieren, sich auf der Erde zu wälzen, solches Zeug, und er lernte rasch – kluger Hund! Ich liebte ihn innig.

Wenn der Bus kam, sollte ich das Gartentor schließen, bevor ich losrannte, um einzusteigen. Rags legte sich dann immer auf die Stufen zur Küchentür. Meine Mutter ließ ihn herein und fütterte ihn, wenn sie zurückkam, nachdem sie meinen Dad zu unserer Bahnstation gefahren hatte. Ich dachte immer daran, das Tor zu schließen – oder ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, es jemals vergessen zu haben –, aber als ich eines Tages von der Schule heimkam, sagte meine Mutter, Rags sei tot. Er sei auf der Straße gewesen und von einem Lieferwagen überfahren worden. Sie machte mir niemals explizit Vorwürfe, keinen einzigen, aber ihr Blick war Tadel genug. Denn auch sie hatte Rags geliebt.

»Ich habe ihn eingesperrt wie immer«, sagte ich damals unter Tränen, und ich glaube – wie schon gesagt –, dass ich das tatsächlich getan hatte. Vielleicht weil ich es immer getan hatte. An diesem Abend begruben mein Dad und ich ihn im Garten. Wahrscheinlich gesetzeswidrig, sagte mein Dad, aber wenn du nichts verrätst, tu ich das auch nicht.

In jener Nacht lag ich endlos lange wach: verfolgt von etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte, und entsetzt darüber, was ich vielleicht getan hatte. Von Schuldgefühlen ganz zu schweigen. Dieses schlechte Gewissen hielt lange an, mindestens ein Jahr. Hätte ich mich sicher erinnern können – so oder so –, wären meine Schuldgefühle bestimmt schneller abgeklungen. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Hatte ich das Tor geschlossen oder nicht? Immer wieder ging ich in Gedanken den letzten Morgen meines Welpen durch und konnte mich an nichts deutlich erinnern, außer dass ich seinen Beißknochen aus Rindsleder geworfen und dabei »Hol ihn, Rags, hol ihn!« gerufen hatte.

Ähnlich erging es mir auf der Taxifahrt nach The Falls. Anfangs versuchte ich mir einzureden, dass es im Spätherbst 1963 bestimmt schon immer ein Erdbeben gegeben hatte. Dass dies nur – wie der Anschlag auf Edwin Walker – zu den irrelevanten Vorkommnissen gehörte, jenen, die mir entgangen waren. Wie ich Al Templeton gesagt hatte, war mein Hauptfach Englisch gewesen, nicht Geschichte.

Aber das zog nicht. Wäre das Amerika, in dem ich gelebt hatte, bevor ich in den Kaninchenbau gestiegen war, von einem solchen Erdbeben heimgesucht worden, hätte ich es gewusst. Sicher, es gab weit schlimmere Katastrophen – 2004 hatte der Tsunami im Indischen Ozean über zweihunderttausend Todesopfer gefordert –, aber für Amerika war siebentausend eine hohe Zahl, mehr als doppelt so viele Opfer wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001.

Als Nächstes fragte ich mich, was ich in Dallas getan haben mochte, was die Katastrophe, die nach Aussage dieser stämmigen Frau über L. A. hereingebrochen war, ausgelöst haben könnte. Die einzige Antwort, die mir einfiel, war der Schmetterlingseffekt, aber würde der so unvermittelt einsetzen? Niemals. Ganz ausgeschlossen. Zwischen den beiden Ereignissen existierte kein vorstellbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung.

Und trotzdem flüsterte eine tief sitzende innere Stimme: Das war deine Schuld. Du hast Rags’ Tod verursacht, indem du das Gartentor nicht oder nicht fest genug geschlossen hast … und du hast das hier verschuldet. Al und du habt große Töne gespuckt, wie ihr Tausende von Menschenleben in Vietnam retten werdet, aber das hier ist dein erster konkreter Beitrag zur Neueren Geschichte: siebentausend Tote in L. A.

Das durfte einfach nicht sein. Selbst wenn es so war …

Die Sache hat eigentlich keine Nachteile, hatte Al gesagt. Sollten sich die Dinge beschissen entwickeln, machst du einfach alles rückgängig. Das ist so einfach, wie ein unanständiges Wort von einer Schultafel zu wi

»Mister?«, sagte meine Fahrerin. »Wir sind da.« Sie sah sich neugierig nach mir um. »Schon seit fast drei Minuten. Für Einkäufe eigentlich noch etwas zu früh. Sind Sie sich sicher, dass Sie hierherwollen?«

Ich wusste nur, dass ich hierhermusste. Ich zahlte, was ihr Taxameter anzeigte, legte ein großzügiges Trinkgeld drauf (schließlich gehörte das Geld dem FBI), wünschte ihr einen schönen Tag und stieg aus.

4

Lisbon Falls stank wie eh und je, aber immerhin gab es hier keinen Stromausfall; das Blinklicht über der Kreuzung blinkte gelb, während es im Nordwestwind pendelte. Die Kennebec Fruit lag dunkel da, die Schaufenster noch ohne die Äpfel, Orangen und Bananen, die später darin liegen würden. Am Eingang des Greenfront verkündete ein Schild: AB 10 UHR GEÖFFNET. Auf der Main Street waren einige wenige Autos unterwegs, und ein paar Fußgänger hasteten mit hochgeschlagenem Kragen die Straße entlang. Die Worumbo-Weberei auf der Straßenseite gegenüber lief jedoch auf Hochtouren. Das schat-USCH-schat-USCH der gewaltigen Webstühle konnte ich selbst von meinem Standort aus hören. Dann hörte ich noch etwas anderes: eine Stimme, die mich rief, allerdings mit keinem meiner Namen.

»Jimla! He, Jimla!«

Ich wandte mich der Weberei zu und dachte: Er ist wieder da. Der Gelbe-Karte-Mann ist von den Toten auferstanden, genau wie President Kennedy.

Nur war er ebenso wenig der Gelbe-Karte-Mann, wie der Taxifahrer, bei dem ich an der Busstation eingestiegen war, der Fahrer gewesen war, der mich 1958 von Lisbon Falls zum TamarackAutohof gefahren hatte. Allerdings waren die beiden Fahrer fast identisch gewesen, weil die Vergangenheit Harmonie erzeugte, und der Mann dort drüben auf der anderen Straßenseite sah dem Mann ähnlich, der mich um einen Dollar angeschnorrt hatte, weil im Greenfront an diesem Tag alles die Hälfte koste. Er war viel jünger als der Gelbe-Karte-Mann, und sein schwarzer Mantel war neuer und sauberer … aber es war fast derselbe Mantel.

»Jimla! Hierher!« Er winkte mich zu sich. Der Saum seines Mantels flatterte im Wind, der auch das Schild links von ihm an der Absperrkette schwingen ließ wie zuvor das Blinklicht über der Kreuzung. Trotzdem konnte ich es immer noch lesen. AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST.

Fünf Jahre, dachte ich, und das verdammte Rohr ist immer noch kaputt.

»Jimla! Zwing mich nicht dazu, rüberzukommen und dich zu holen!«

Das konnte er vermutlich tun; sein lebensmüder Vorgänger hatte es sogar bis zum Greenfront geschafft. Aber ich war mir sicher, dass diese neue Version Pech haben würde, wenn ich die Old Lewiston Road schnell genug hinunterhinkte. Vielleicht würde er mir bis zum Red & White Supermarket folgen können, in dem Al sein Hackfleisch gekauft hatte, aber wenn ich es bis zur Chevron-Tankstelle oder dem Jolly White Elephant schaffte, konnte ich haltmachen und ihm eine lange Nase drehen. Er saß hier fest, gezwungen, in unmittelbarer Nähe zum Kaninchenbau zu bleiben. Wäre das nicht der Fall, hätte ich ihn in Dallas gesehen. Das wusste ich so sicher, wie ich wusste, dass die Schwerkraft uns Menschen daran hinderte, ins Weltall hinauszuschweben.

Wie um das zu bestätigen, rief er jetzt: »Jimla, bitte!« Die Verzweiflung, die ich auf seinem Gesicht sah, glich dem Wind: substanzlos, aber irgendwie unnachgiebig.

Ich blickte nach beiden Seiten, ohne ein Auto zu sehen, und überquerte die Straße zu seinem Standort. Als ich näher herankam, entdeckte ich zwei weitere Unterschiede. Zwar trug er wie sein Vorgänger einen weichen Filzhut, aber der war sauber statt schmutzig. Und wie bei seinem Vorgänger steckte im Hutband eine farbige Karte wie der Presseausweis eines Reporters aus alter Zeit. Nur war diese weder gelb noch orange noch schwarz.

Sie war grün.

5

»Gott sei Dank«, sagte er. Er umfasste eine meiner Hände mit seinen und drückte sie. Das Fleisch seiner Handflächen war fast so kalt wie die Luft. Ich entzog ihm meine Hand, aber ganz sanft. Ich spürte nichts Bedrohliches an ihm, nur diese substanzlose, unnachgiebige Verzweiflung. Allerdings konnte diese selbst gefährlich sein; sie konnte so scharf wie die Klinge des Messers sein, mit dem John Clayton Sadies Gesicht entstellt hatte.

»Wer bist du?«, fragte ich ihn. »Und warum nennst du mich Jimla? Jim LaDue ist weit von hier entfernt, mein Freund.«

»Wer Jim LaDue ist, weiß ich nicht«, sagte der Grüne-Karte-Mann. »Ich habe mich möglichst weit von deinem Strang ferngehalten …«

Er verstummte. Sein Gesicht war verzerrt. Er hob die Hände und presste die Handflächen an die Schläfen, als wollte er sein Gehirn zusammenhalten. Aber es war die in seinem Hutband steckende Karte, die meine Aufmerksamkeit am meisten fesselte. Ihre Farbe war nicht gleichbleibend. Einen Augenblick lang changierte sie und erinnerte mich an den Bildschirmschoner, der meinen Computer übernahm, wenn die letzte Eingabe eine Viertelstunde oder so zurücklag. Als er nun langsam die Hände sinken ließ, wurde sie wieder grün – allerdings nicht mehr so leuchtend grün wie beim ersten Anblick.

»Ich habe mich möglichst weit von deinem Strang ferngehalten, aber ganz fernhalten geht nicht«, sagte der Mann in dem schwarzen Mantel. »Außerdem, es gibt jetzt so viele Stränge. Wegen dir und deinem Freund dem Koch gibt es jetzt so viel Scheiß.«

»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte ich, aber das stimmte nicht ganz. Ich konnte zumindest erraten, was es mit der Karte auf sich hatte, die dieser Mann (wie schon sein schwachsinniger Vorgänger) trug. Die Karten glichen den Strahlendosimetern, die das Personal von Kernkraftwerken trug. Aber statt die Strahlenbelastung zu messen, überwachten die Karten … was? Geistige Gesundheit? Grün: Man hatte alle Tassen im Schrank. Gelb: Man hatte ein paar Schrauben locker. Orange: Man war ein Fall für die Männer in weißen Kitteln. Und wenn die Karte schwarz wurde …

Der Grüne-Karte-Mann beobachtete mich aufmerksam. Über die Straße hinweg hatte er nicht älter als dreißig ausgesehen. Aus der Nähe betrachtet, schien er eher Mitte vierzig zu sein. Erst wenn man dicht genug herankam, um ihm in die Augen zu sehen, war er anscheinend steinalt und nicht ganz richtig im Kopf.

»Bist du eine Art Wächter? Bewachst du den Kaninchenbau?«

Er lächelte … oder versuchte es zumindest. »So hat dein Freund das bezeichnet.« Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Die Packung trug keine Marke. Das hatte ich noch nie gesehen, weder im Land des Einst noch im Land des Voraus.

»Ist das der einzige?«

Er brachte ein Feuerzeug zum Vorschein, schützte die Flamme mit der freien Hand vor dem Wind und zündete sich eine Zigarette an. Sie duftete süßlich, mehr wie Marihuana als wie Tabak. Aber das hier war kein Joint. Obwohl er sich nie dazu äußerte, tippte ich auf eine Art Medizin. Vielleicht nicht sehr viel anders als Goody’s Powder.

»Es gibt ein paar. Stell dir ein Glas Gingerale vor, das draußen stehen geblieben ist und vergessen wurde.«

»Okay …«

»Nach zwei, drei Tagen ist fast alle Kohlensäure entwichen, aber ein paar Bläschen haben sich erhalten. Was du als Kaninchenbau bezeichnest, ist in Wirklichkeit gar kein Loch, überhaupt kein Durchgang. Es ist eine Blase. Und was die Bewachung angeht … nein. Nicht im eigentlichen Sinn. Es wäre nett, aber wir könnten nur sehr wenig tun, was nicht alles schlimmer machen würde. Das ist das Problem bei Zeitreisen, Jimla.«

»Mein Name ist Jake.«

»Na gut. Was wir tun, Jake, ist, die Ereignisse zu beobachten. Manchmal warnen wir. Wie Kyle deinen Freund den Koch zu warnen versucht hat.«

Der verrückte Kerl hatte also einen Namen gehabt. Dann halt Kyle, in Gottes Namen. Es machte die Dinge schlimmer, weil es sie realer machte.

»Er hat nie versucht, Al zu warnen! Er hat nie mehr getan, als ihn um einen Dollar für billigen Wein anzuschnorren!«

Der Grüne-Karte-Mann zog an seiner Zigarette, starrte den rissigen Beton zu seinen Füßen an und runzelte die Stirn, als stünde dort etwas geschrieben. Schat-USCH, schat-USCH, sagten die gewaltigen Webstühle. »Anfangs hat er’s getan«, sagte er. »Auf seine Weise. Aber dein Freund war zu fasziniert von der neuen Welt, die er entdeckt hatte, als dass er auf ihn geachtet hätte. Und Kyle stand damals schon am Rand des Zusammenbruchs. Das ist ein … Wie soll man’s ausdrücken? Ein Berufsrisiko. Was wir tun, bringt eine gewaltige mentale Belastung mit sich. Weißt du auch, weshalb?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Denk mal einen Augenblick nach. Wie viele kleine Erkundungen und Einkaufstrips hat dein Freund der Koch gemacht, schon bevor er auf die Idee gekommen ist, nach Dallas zu übersiedeln, um Oswald zu aufzuhalten? Fünfzig? Hundert? Zweihundert?«

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie lange Al’s Diner auf dem Fabrikhof gestanden hatte, aber es gelang mir nicht. »Vermutlich sogar noch mehr.«

»Und was hat er dir erzählt? Dass jeder Trip das erste Mal war?«

»Ja. Ein kompletter Neustart.«

Er lachte müde. »Klar hat er das getan. Die Leute glauben, was sie sehen. Und trotzdem hätte er’s besser wissen müssen. Du hättest es besser wissen müssen. Jeder Trip erzeugt seinen eigenen Zeitstrang, und wenn man genügend Stränge hat, verwirren sie sich unweigerlich. Hat sich dein Freund nie gefragt, wieso er immer wieder dasselbe Fleisch kaufen konnte? Oder weshalb Dinge, die er aus dem Jahr 1958 mitgebracht hat, nicht bei der nächsten Zeitreise verschwunden sind?«

»Danach habe ich ihn gefragt. Al hatte keine Erklärung dafür, also hat er sich nicht weiter darum gekümmert.«

Der Kartenmann begann zu lächeln, aber dann verzog er schmerzlich das Gesicht. Das Grün der Karte, die in seinem Hutband steckte, verblasste wieder. Er zog gierig an seiner süßlich riechenden Zigarette. Die Farbe kehrte zurück und stabilisierte sich. »O ja, das Offensichtliche ignorieren. Das tun wir doch alle! Selbst als sein Verstand nachgelassen hat, wusste Kyle zweifellos, dass die kleinen Ausflüge zu dem Spirituosenladen dort drüben seinen Zustand verschlimmern würden, aber er ist trotzdem immer wieder hingegangen. Das kann ich ihm nicht mal verübeln. Der Wein hat bestimmt seine Schmerzen gelindert. Vor allem zum Ende hin. Manches wäre besser gewesen, wenn er das Greenfront nicht hätte erreichen können – wenn der Laden außerhalb des Kreises gelegen hätte –, aber das war nicht der Fall. Aber mal ehrlich, wer weiß das schon. Hier gibt’s keine Schuldzuweisungen, Jake. Keine Verdammung.«

Das zu hören war gut, aber nur weil es bedeutete, dass wir uns über dieses verrückte Thema wie halbwegs vernünftige Menschen austauschen konnten. Was er dachte oder empfand, betraf mich allerdings nicht sonderlich; ich musste weiterhin das tun, was ich für meine Pflicht hielt. »Wie heißt du?«

»Zack Lang. Ursprünglich aus Seattle.«

»Seattle wann?«

»Das ist eine Frage, die für unsere gegenwärtige Unterredung nicht relevant ist.«

»Es tut dir weh, hier zu sein, oder?«

»Ja. Wenn ich nicht zurückkehre, hält mein Verstand nicht mehr lange durch. Und die Spätfolgen werde ich mein Leben lang spüren. Die Selbstmordrate unter unseresgleichen ist hoch, Jake. Sehr hoch. Menschen – und wir sind Menschen, nicht Außerirdische oder überirdische Wesen, falls du das glaubst – sind nicht dafür geschaffen, in ihrem Kopf multiple Realitätsstränge festzuhalten. Das ist nicht so, als würde man einfach seine Fantasie gebrauchen. So ist es ganz und gar nicht. Wir sind natürlich dafür ausgebildet, aber man spürt trotzdem, wie es sich in einen hineinfrisst. Wie Säure.«

»Also bedeuten diese Trips keineswegs einen völligen Neustart.«

»Ja und nein. Sie hinterlassen Rückstände. Immer wenn dein Freund der Koch …«

»Er hieß Al.«

»Ja, das habe ich bestimmt mal gewusst, aber mein Gedächtnis lässt allmählich nach. Das ist wie Alzheimer, nur dass es nicht Alzheimer ist. Es kommt daher, dass das Gehirn nicht mit seinen Versuchen aufhören kann, all diese dünnen Realitätsschichten miteinander zu vereinen. Die Stränge erzeugen multiple Zukunftsbilder. Manche sind klar, andere verschwommen. Deshalb dachte Kyle vermutlich, dein Name wäre Jimla. Er muss ihn irgendwo entlang einem Strang gehört haben.«

Er hat ihn nicht gehört, dachte ich. Er hat ihn in einer Art Strang-O-Vision gesehen. Auf einer Werbetafel in Texas. Vielleicht sogar durch meine Augen.

»Du weißt nicht, wie glücklich du dich schätzen kannst, Jake. Für dich sind Zeitreisen einfach.«

So einfach nun auch wieder nicht, dachte ich.

»Es gab Paradoxien«, sagte ich. »Alle möglichen Arten. Habe ich recht?«

»Nein, das ist das falsche Wort. Es sind Rückstände. Hab ich dir das nicht gerade erzählt?« Er schien sich seiner Sache nicht ganz sicher zu sein. »Sie verstopfen die Maschine. Dann ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Maschine einfach … stoppt.«

Ich dachte daran, wie der Motor des Studebakers, den Sadie und ich gestohlen hatten, geplatzt war, und musste trocken schlucken.

»Im Jahr 1958 immer wieder Fleisch zu kaufen war nicht so schlimm«, sagte Zack Lang. »Ach, das hat im weiteren Verlauf schon Schwierigkeiten verursacht, aber die waren beherrschbar. Danach fingen die großen Veränderungen an. Die Rettung Kennedys war die allergrößte.«

Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht.

»Verstehst du das allmählich?«

Nicht ganz, aber ich konnte die groben Umrisse erkennen, und die jagten mir eine Heidenangst ein. Die Zukunft an Strängen. Wie eine Marionette. Großer Gott.

»Das Erdbeben … daran war ich schuld. Als ich Kennedy gerettet habe, habe ich … was getan? Das Raum-Zeit-Kontinuum beschädigt?« Das hätte dümmlich klingen sollen, aber das tat es nicht. Es klang sehr ernst. Mein Kopf begann zu schmerzen.

»Du musst jetzt zurückgehen, Jake.« Er sprach sanft. »Du musst zurückgehen, um genau zu sehen, was du getan hast. Was deine harte und zweifellos gut gemeinte Arbeit bewirkt hat.«

Ich schwieg. Ich hatte mir Sorgen gemacht, ob ich würde zurückkehren können, aber jetzt fürchtete ich mich auch davor. Gab es einen Satz, der bedrohlicher als Du musst genau sehen, was du getan hast klang? Mir fiel auf die Schnelle keiner ein.

»Geh. Sieh dich um. Bleib ein bisschen dort. Aber nicht allzu lange. Wenn diese Sache nicht bald korrigiert wird, steht eine Katastrophe bevor.«

»Wie groß?«

Er klang gelassen. »Sie könnte alles zerstören.«

»Die Welt? Das Sonnensystem?« Ich musste mich mit einer Hand am Trockenschuppen abstützen. »Die Galaxie? Das Universum?«

»Größer als das.« Er hielt inne, um sicherzustellen, dass ich das alles verstand. Die Karte in seinem Hutband wurde gelb und wechselte dann wieder zu Grün. »Die Realität selbst.«

6

Ich ging weiter bis zur Absperrkette. Das Schild AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST quietschte im Wind. Ich sah mich nach Zack Lang um, diesem Reisenden aus wer weiß welcher Zeit. Er betrachtete mich ausdruckslos, während der Saum seines schwarzen Mantels um seine Schienbeine flatterte.

»Lang! Die Harmonien … die habe alle ich verursacht. Hab ich recht?«

Vielleicht hat er genickt. Ich bin mir da nicht sicher.

Die Vergangenheit kämpfte gegen Veränderungen, weil sie die Zukunft zerstörten. Veränderungen bewirkten …

Mir fiel eine alte Anzeige für Memorex-Tonbänder ein. Sie zeigte ein Kristallglas, das durch Schallwellen zersprang. Durch reine Harmonien.

»Und mit jeder Veränderung, die ich bewirken konnte, sind diese Harmonien stärker geworden. Sie sind die wirkliche Gefahr, hab ich recht? Diese gottverdammten Harmonien.«

Keine Antwort. Vielleicht hatte er es gewusst und vergessen; vielleicht hatte er es nie gewusst.

Nicht nervös werden, ermahnte ich mich … wie damals vor fünf Jahren, als ich noch keine grauen Strähnen in den Haaren gehabt hatte. Ganz ruhig.

Ich duckte mich unter der Kette hindurch, wobei mein linkes Knie aufjaulte, und blieb dann einen Augenblick lang stehen, die hohe, grüne Wand des Trockenschuppens zu meiner Linken. Diesmal gab es keinen kleinen Betonbrocken, der den Anfang der unsichtbaren Treppe markierte. Wie weit war sie von der Kette entfernt gewesen? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Ich ging langsam, ganz langsam, und hörte meine Schuhe auf dem rissigen Beton knirschen. Schat-USCH, schat-USCH, sagten die Webstühle … und als ich dann den sechsten Schritt und den siebten machte, glaubte ich zu-WEIT, zu-WEIT zu hören. Ich machte noch einen Schritt. Und noch einen. Bald würde ich das Ende des Trockenschuppens erreichen und auf den Fabrikhof hinaustreten. Die Treppe war fort. Die Blase war geplatzt.

Ich machte einen weiteren Schritt, und obwohl ich an keine Stufe stieß, sah ich meinen Schuh kurz wie in einer Doppelbelichtung. Er stand noch auf dem Beton, aber er stand auch auf schmutzig grünem Linoleum. Noch ein Schritt, dann glich ich einer Doppelbelichtung. Der größte Teil meines Körpers stand Ende November 1963 neben dem Trockenschuppen der Worumbo-Weberei, aber ein Teil von mir war anderswo – jedoch nicht im Vorratsraum von Al’s Diner.

Was war, wenn ich nicht in Maine, nicht mal auf der Erde, sondern in irgendeiner fremdartigen anderen Dimension herauskam? An einem Ort mit einem verrückt roten Himmel und einer Atmosphäre, die meine Lunge vergiften und mein Herz lähmen würde?

Ich sah mich abermals um. Lang stand mit im Wind wehendem Mantel unbeweglich da. Sein Gesicht blieb weiter ausdruckslos. Du bist auf dich selbst angewiesen, schien dieses leere Gesicht zu sagen. Ich kann dich zu nichts zwingen.

Wohl wahr, aber wenn ich nicht durch den Kaninchenbau ins Land des Voraus gelangte, würde ich nicht ins Land des Einst zurückkehren können. Und Sadie würde für immer tot bleiben.

Ich schloss die Augen und schaffte noch einen weiteren Schritt. Plötzlich nahm ich einen schwachen Ammoniakgeruch und einen weiteren, noch unangenehmeren Geruch wahr. Wenn man Amerika im Heck vieler Greyhound-Busse durchquert hatte, war dieser zweite Geruch unverkennbar. Er war der üble Gestank einer WC-Kabine, die weit mehr als ein Raumspray Marke Glade an der Wand brauchte, um wieder frisch zu riechen.

Als ich mit geschlossenen Augen einen weiteren Schritt machte, hörte ich einen unheimlichen kleinen Knall in meinem Kopf. Ich öffnete die Augen. Ich stand in einer verdreckten kleinen Toilette. Eine Kloschüssel gab es hier nicht mehr; sie war abmontiert worden und hatte nichts als den schmutzigen Umriss ihres Standfußes hinterlassen. In einer Ecke lag ein alter Urinalstein, dessen hellblaue Originalfarbe zu einem matten Grau verblasst war. Ameisen marschierten kreuz und quer über ihn hinweg. Die Ecke, in der ich herausgekommen war, war von Kartons voller leerer Dosen und Flaschen blockiert. Sie erinnerte mich an Lees Scharfschützennest.

Ich schob einige Kartons beiseite und zwängte mich zwischen ihnen hindurch in den kleinen Raum. Es wäre widersinnig gewesen, es jemand leicht zu machen, versehentlich in den Kaninchenbau zu stolpern. Dann trat ich ins Freie und damit wieder ins Jahr 2011.

7

Als ich das letzte Mal in den Kaninchenbau hinabgestiegen war, war es dunkel gewesen, deshalb war es jetzt natürlich auch dunkel, weil es nur zwei Minuten später war. In diesen zwei Minuten hatte sich jedoch viel verändert. Das konnte ich sogar im Düsteren sehen. Irgendwann in den vergangenen achtundvierzig Jahren war die Weberei abgebrannt. Zurückgeblieben waren einige vom Feuer schwarze Außenmauern, ein umgestürzter Fabrikkamin (der mich unweigerlich an den Kamin auf dem Gelände des Eisenwerks Kitchener in Derry erinnerte) und mehrere Trümmerhaufen. Nirgends eine Spur von Your Maine Snuggery, L. L. Bean Express oder sonstigen teuren Geschäften. Am Ufer des Androscoggin stand hier eine ausgebrannte Fabrikruine. Sonst nichts.

Die Juninacht, in der ich zu meinem Fünfjahresunternehmen zu Kennedys Rettung aufgebrochen war, war angenehm mild gewesen. Diese hier war stickig heiß. Ich zog meine in Auburn gekaufte Lammfelljacke aus und warf sie in die übel riechende Toilette hinter mir. Als ich die Tür wieder schloss, sah ich das außen daran befestigte Schild: TOILETTE AUSSER BETRIEB!!! KANALROHR IST GEBROCHEN!!!

Blendend aussehende junge Präsidenten waren gestorben, und blendend aussehende junge Präsidenten hatten überlebt, schöne junge Frauen hatten gelebt und waren dann gestorben, aber dem gebrochenen Kanalrohr unter dem Fabrikhof der alten Worumbo-Weberei schien das ewige Leben vergönnt zu sein.

Auch die Kette hing noch da. Mein Weg zu ihr hin führte mich die Flanke eines schmutzigen alten Betongebäudes entlang, das den Trockenschuppen ersetzt hatte. Als ich mich unter der Kette hindurchduckte und zur Fassade des Gebäudes weiterging, sah ich, dass es sich um einen aufgegebenen kleinen Supermarkt namens Quik-Flash handelte. Alle Schaufenster waren zertrümmert, alle Waren mitsamt den Regalen fortgeschleppt worden. Das Gebäude war nur noch eine leere Hülse, in der eine nur noch flackernde Notleuchte, deren Batterie offenbar bald erschöpft sein würde, wie eine an einem Fenster verendende Winterfliege summte. Auf die Überreste des Fußbodens hatte jemand eine Botschaft gesprüht, und das Licht reichte gerade aus, dass ich sie lesen konnte: RAUS AUS DER STADT PAKI BASTARD.

Ich ging über die rissigen Betonplatten des Fabrikhofs. Der ehemalige Firmenparkplatz war verschwunden. Er war nicht etwa bebaut worden, sondern nur ein leeres Rechteck voller zersplitterter Flaschen, Haufen aus Asphaltstücken, die wie Puzzleteile aussahen, und lustlosen, dürren Grasbüscheln. An einigen davon hingen wie uralte Partyfähnchen gebrauchte Kondome. Ich hob den Kopf, sah aber keine Sterne. Der Himmel war mit tief hängenden Wolken bedeckt, die so dünn waren, dass der Mondschein verschwommen hindurchsickerte. Das über der Kreuzung zwischen Main Street und Route 196 (einst als Old Lewiston Road bekannt) hängende Blinklicht war irgendwann durch Verkehrsampeln ersetzt worden, die jedoch außer Betrieb waren. Aber das war in Ordnung; auf keiner der beiden Straßen herrschte Verkehr.

Die Fruit stand nicht mehr. Wo sie gestanden hatte, gähnte ein Kellerloch. Schräg gegenüber, wo im Jahr 1958 das Greenfront gestanden hatte und 2011 eine Bank hätte stehen sollen, stand etwas, was sich Lebensmittel-Kooperative der Provinz Maine nannte. Nur waren auch hier die Schaufenster eingeworfen worden, und was in dem Geschäft auf Lager gewesen sein mochte, war längst verschwunden. Es war ebenso ausgeplündert worden wie das Quik-Flash.

Auf halbem Weg über die menschenleere Kreuzung ließ mich ein lautes, wässriges Reißen erstarren. Das einzige Ding, von dem ich mir vorstellen konnte, dass es ein Geräusch dieser Art machte, wäre irgendein exotisches Flugzeug aus Eis gewesen, das zerschmolz, während es die Schallmauer durchbrach. Der Boden unter mir bebte kurz. Die Alarmanlage eines Autos heulte los, dann verstummte sie wieder.

Erdbeben in Las Angel-ies, dachte ich. Siebentausend Tote.

Auf der Route 196 näherten sich Scheinwerfer, und ich sah zu, dass ich den gegenüberliegenden Gehsteig erreichte. Das Fahrzeug erwies sich als kastenförmiger kleiner Bus, in dessen beleuchteter Fahrzielanzeige RINGLINIE stand. Das weckte eine schwache Erinnerung, aber ich wusste nicht, woran. Vermutlich irgendeine Harmonie. Auf dem Dach des Busses sah ich mehrere große Rotoren, die an Lüfter erinnerten. Vielleicht Windturbinen? War das möglich? Ich hörte keinen Verbrennungsmotor, lediglich ein schwaches elektrisches Summen. Ich wartete, bis der liegende, breite Halbmond des einzelnen Schlusslichts außer Sicht war.

Okay, also wurden in dieser Version der Zukunft – in diesem Strang, um Zack Langs Ausdruck zu übernehmen – Verbrennungsmotoren allmählich ausgemustert. Das war doch eine gute Sache, oder nicht?

Schon möglich, aber die Luft fühlte sich schwer, irgendwie unbelebt an, wenn ich sie einatmete, und enthielt einen Nachgeruch, der mich daran erinnerte, wie der Transformator meiner Lionel-Modelleisenbahn gerochen hatte, wenn ich ihn als kleiner Junge überlastet hatte. Zeit, ihn abzustellen und ein bisschen ausruhen zu lassen, hatte mein Vater dann gesagt.

Entlang der Main Street gab es ein paar Geschäfte, die halbwegs zu florieren schienen, aber die meisten lagen in Trümmern. Der Gehsteig war von Rissen durchzogen und mit Abfällen übersät. Ich sah ein halbes Dutzend geparkter Autos, die alle entweder Hybridantrieb hatten oder mit diesen Dachrotoren ausgerüstet waren. Einer war ein Honda Zephyr, ein weiterer ein Takuro Spirit, ein dritter ein Ford Breeze. Sie sahen ziemlich alt aus, und von einigen fehlten bereits Teile. Alle hatten an der Frontscheibe einen rosa Aufkleber, dessen schwarzen Aufdruck ich auch im Düsteren lesen konnte: PROVINZ MAINE BERECHTIGUNG »A« ZUTEILUNGSKARTE UNAUFGEFORDERT VORWEISEN.

Auf der anderen Straßenseite standen Jugendliche lachend und schwatzend in einer Gruppe beisammen. »He!«, rief ich zu ihnen hinüber. »Hat die Bücherei noch geöffnet?«

Sie wandten sich mir zu. Ich sah das Glühwürmchenleuchten von Zigaretten … nur stammte der zu mir herüberwehende Duft unverkennbar von Gras. »Verpiss dich, Mann!«, rief einer von ihnen zurück.

Ein anderer drehte sich um, zog die Hose herunter und zeigte mir seinen blanken Hintern. »Wenn du hier hinten Bücher findest, gehören sie dir!«

Allgemeines Gelächter, dann gingen sie weiter, redeten leiser und sahen sich dabei mehrmals um.

Dass mir ein blanker Hintern hingestreckt wurde, machte mir nichts aus – es war nicht das erste Mal gewesen –, aber mir gefielen ihre Blicke nicht – und die gesenkten Stimmen noch weniger. Vielleicht enthielten sie etwas Verschwörerisches. Jake Epping glaubte das zwar nicht so recht, George Amberson dagegen schon; George hatte bereits viel durchgemacht, daher war es George, der sich bückte, zwei faustgroße Betonbrocken aufhob und sich für alle Fälle in die Jeanstaschen stopfte. Jake hielt das für albern, widersprach aber nicht.

Eine Straße weiter endete das Geschäftsviertel (so bescheiden es war) abrupt. Ich sah eine ältere Frau, die den Gehsteig entlanghastete und nervös zu den Jungen hinübersah, die jetzt auf der anderen Seite der Main Street einen kleinen Vorsprung vor mir hatten. Sie trug ein Kopftuch und etwas, was wie ein Beatmungsgerät aussah, das Menschen mit chronischer Bronchitis oder fortgeschrittenem Lungenemphysem trugen.

»Ma’am, wissen Sie, ob die Bücherei …«

»Lassen Sie mich in Ruhe!« Ihre Augen waren angstvoll geweitet. Weil der Mond gerade durch eine Wolkenlücke schien, sah ich, dass ihr Gesicht mit Geschwüren bedeckt war. Das unter dem rechten Auge schien sich bis zum Knochen durchgefressen zu haben. »Ich hab einen Schein, dass ich unterwegs sein darf, er ist vom Stadtrat abgestempelt, also lassen Sie mich in Ruhe! Ich will meine Schwester besuchen! Diese Jungs sind schlimm drauf und werden bald Randale machen. Wenn Sie mich anfassen, drücke ich meinen Rufknopf, und dann kommt ein Wachtmeister!«

Irgendwie bezweifelte ich das.

»Ma’am, ich möchte nur wissen, ob die Bücherei noch …«

»Die ist seit Jahren geschlossen, und die Bücher sind alle weg! Da finden jetzt Hassversammlungen statt. Lassen Sie mich bloß in Ruhe, sage ich, sonst rufe ich einen von den Ordnungshütern!«

Sie huschte weiter und sah sich alle paar Sekunden um, ob ich ihr auch wirklich nicht folgte. Ich ließ sie einen beruhigend großen Vorsprung gewinnen, dann ging ich weiter die Main Street entlang. Mein Knie hatte sich von der Jagd die Treppe im Schulbuchlager hinauf etwas erholt, aber ich hinkte noch und würde es wohl noch eine Weile tun. In einigen Häusern brannte hinter geschlossenen Vorhängen Licht, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht vom Elektrizitätswerk Central Maine Power kam. Das waren Coleman-Gaslampen, in einigen Fällen wohl auch Petroleumlampen. Die meisten Häuser waren dunkel. Manche waren brandgeschwärzte Ruinen. An einer dieser Ruinen prangte ein Hakenkreuz, an eine andere hatte jemand JUDENRATTE gesprüht.

Diese Jungs sind schlimm drauf und werden bald Randale machen.

Und … hatte sie wirklich Hassversammlungen gesagt?

Vor einem der wenigen Häuser, die nicht verfallen wirkten – eine Villa im Vergleich zu den meisten anderen –, sah ich eine lange Pferdestange wie aus einem Western. Und hier waren wirklich Pferde angebunden gewesen. Als der Mond wieder einmal hinter den Wolken hervorkam, sah ich Pferdeäpfel, manche davon frisch. Die Einfahrt war mit einem Tor gesichert. Weil der Mond sich wieder versteckt hatte, konnte ich das Schild an den schmiedeeisernen Stäben nicht lesen, aber ich wusste auch so, dass dort ZUTRITT VERBOTEN stand.

Dann hörte ich, wie jemand nicht allzu weit vor mir ein einziges Wort sagte: »Arschloch!«

Die Stimme klang nicht jung, nicht wie die eines der wilden Jungen, und sie kam eher von meiner als von ihrer Straßenseite. Der Kerl schien sauer zu sein. Und er redete anscheinend mit sich selbst. Ich ging auf den Klang seiner Stimme zu.

»Blöder Wichser!«, rief der Mann ärgerlich. »Feige Sau!«

Der Mann war ungefähr eine Straße weit entfernt. Bevor ich ihn erreichte, hörte ich ein laut hallendes, metallisches Dröhnen, und der Mann rief: »Haut bloß ab! Gottverdammte rotznäsige kleine Hundesöhne! Haut ab, bevor ich meine Pistole ziehe!«

Seine Drohung wurde mit höhnischem Gelächter quittiert. Es waren die kiffenden wilden Jungen, und der eine, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, antwortete spöttisch: »Deine einzige Pistole ist die in deiner Hose, und ich wette, dass der Lauf mächtig schlaff ist!«

Wieder Gelächter. Dann war ein metallischer, hoher Spannng-Laut zu hören.

»Ihr Scheißkerle, jetzt ist eine von meinen Speichen kaputt!« Während der Mann sie anbrüllte, schwang in seiner Stimme unterschwellige Angst mit. »Nee, nee, bleibt auf eurer gottverdammten Seite!«

Die Wolken rissen wieder auf. Der Mond blinzelte hervor. Sein ungewisses Licht zeigte mir einen alten Mann in einem Rollstuhl. Er hatte eine der Querstraßen der Main Street – die Goddard Street, wenn sie nicht umgetauft worden war – halb überquert. Dabei war er mit einem Rad in ein ziemlich tiefes Schlagloch geraten, sodass der Rollstuhl wie besoffen nach links kippte. Die Jungen kamen auf ihn zu. Der eine, der mir »Verpiss dich!« zugerufen hatte, trug eine Steinschleuder mit einem ziemlich großen Kiesel darin. Das erklärte die metallischen Geräusche, die ich gehört hatte.

»Hast du ’n paar alte Dollarscheinchen für uns, Opa? Oder vielleicht neue oder Konserven?«

»Nein! Haut wenigstens ab, und lasst mich in Ruhe, wenn ihr schon nicht den gottverdammten Anstand habt, mich aus dem Loch hier rauszuschieben!«

Aber sie wollten Randale und würden nichts tun, um ihm zu helfen. Sie würden ihm rauben, was er an Kleinzeug bei sich hatte, ihn vielleicht zusammenschlagen und ihn ganz sicher umwerfen.

Jake und George kamen zusammen, und beide sahen rot.

Die wilden Jungen hatten nur Augen für den alten Knacker im Rollstuhl und sahen nicht, dass ich schräg auf sie zukam – genau wie ich den fünften Stock des Buchlagers durchquert hatte. Mein linker Arm taugte noch immer nicht viel, aber der rechte war völlig in Ordnung, nach dreimonatigem Training durch die Krankengymnastik erst im Parkland, dann im Eden Fallows. Und ich hatte mir einiges von der Treffsicherheit bewahrt, mit der ich in der Highschool dritter Baseman der Schulmannschaft gewesen war. Ich warf den ersten Betonbrocken aus zehn Metern Entfernung und traf den Jungen, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, an der Brust. Er schrie vor Schmerz und Überraschung auf. Alle Jungen – es waren insgesamt fünf – wandten sich nun mir zu. Dabei sah ich, dass sie im Gesicht so entstellt wie die verängstigte Frau waren. Der mit der Steinschleuder, der junge Meister Verpiss-dich, sah am schlimmsten aus. Wo seine Nase hätte sein sollten, gähnte nur ein Loch.

Ich flippte den zweiten Betonbrocken von der linken in die rechte Hand und warf ihn auf den größten Jungen. Er trug eine ungeheuer weite, übergroße Hose, deren Bund bis fast zum Brustbein hochgezogen war. Er hob abwehrend einen Arm. Der Betonbrocken traf mit voller Gewalt und schlug ihm seinen Joint aus den Fingern. Nach einem Blick auf mein Gesicht machte der Junge kehrt und ergriff die Flucht. Der eine, der mir den blanken Hintern gezeigt hatte, folgte ihm. Nun waren noch drei übrig.

»Machen Sie sie fertig, mein Sohn!«, rief der Alte im Rollstuhl schrill. »Sie haben’s bei Gott verdient!«

Das hatten sie bestimmt, aber sie waren mir auch zahlenmäßig überlegen. Wenn man es mit Teenagern zu tun hatte, konnte man in solchen Situationen nur die Oberhand behalten, wenn man keine Angst, sondern nur echten Erwachsenenzorn erkennen ließ. Man griff einfach weiter an, und genau das tat ich. Ich packte den jungen Meister Verpiss-dich mit der Rechten an seinem zerlumpten T-Shirt und entriss ihm mit der Linken die Steinschleuder. Er starrte mich mit vor Angst aufgerissenen Augen an, ohne Widerstand zu leisten.

»Du miese Memme«, sagte ich und brachte mein Gesicht dicht an seines heran, ohne auf die fehlende Nase zu achten. Er roch verschwitzt und nach Marihuana und völlig verdreckt. »Was für ein Arschloch muss man sein, um einen alten Mann im Rollstuhl zu überfallen?«

»Wer sind Sie über…«

»Charlie Fucking Chaplin. Ich war in Frankreich, nur um die Ladys tanzen zu sehen. Jetzt sieh zu, dass du verschwindest.«

»Geben Sie mir meine …«

Ich wusste, was er wollte, und knallte ihm die Schleuder auf die Stirnmitte. Der Schlag ließ aus einem der Geschwüre Eiter tropfen und musste verdammt wehgetan haben, denn in seinen Augen standen plötzlich Tränen. Das Ganze erfüllte mich mit Widerwillen und Mitleid zugleich, aber ich bemühte mich, mir nichts davon anmerken zu lassen. »Alles, was du kriegst, Arschloch, ist eine Chance, schleunigst abzuhauen, bevor ich dir deine wertlosen Eier abreiße und in das Loch stopfe, wo früher deine Nase war. Eine Chance. Nutze sie.« Ich holte tief Luft und schrie ihm dann in einem Nebel aus Lärm und Speichel ins Gesicht: »Lauf!«

Ich beobachtete, wie sie flüchteten, und empfand dabei zu etwa gleichen Teilen Scham und Jubel. Der alte Jake hatte es großartig verstanden, in den Schulstunden am Freitagnachmittag vor Ferienbeginn für Ruhe zu sorgen, aber zu sehr viel mehr hatten seine Fähigkeiten nicht gereicht. Der neue Jake bestand jedoch zum Teil aus George. Und George hatte verdammt viel durchgemacht.

Hinter mir war ein heftig bellender Hustenanfall zu hören, der mich an Al Templeton denken ließ. Als er vorüber war, sagte der Alte: »Junger Mann, ich hätte freiwillig fünf Jahre lang Nierensteine gepisst, bloß um zu sehen, wie diese bösartigen Idioten die Beine unter den Arm nehmen. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich hab noch etwas Glenfiddich in meiner Anrichte stehen – das gottverdammte echte Zeug –, und wenn Sie mir aus diesem beschissenen Schlagloch helfen und mich nach Hause schieben, teile ich ihn mir mit Ihnen.«

Der Mond hatte sich wieder versteckt, aber als er durch die nächste in der Wolkendecke aufreißende Lücke schien, sah ich das Gesicht des Alten. Er trug einen langen, weißen Bart, und in seiner Nase steckte eine Kanüle, aber selbst nach fünf Jahren hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, den Mann zu erkennen, der mich in diese missliche Lage gebracht hatte.

»Hallo, Harry«, sagte ich.

Kapitel 31

1

Er wohnte immer noch in der Goddard Street. Ich schob ihn die Rampe zur Veranda hinauf, wo er einen schrecklich großen Schlüsselbund aus der Tasche zog. Den brauchte er auch. Die Haustür besaß nicht weniger als vier Schlösser.

»Ist das Haus gemietet, oder gehört es Ihnen?«

»Oh, es gehört ganz mir«, sagte er. »Klein, aber mein.«

»Schön für Sie.« Früher hatte er zur Miete gewohnt.

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, woher Sie meinen Namen wissen.«

»Gönnen wir uns erst den Drink. Ich kann einen brauchen.«

Gleich hinter der Haustür lag ein Wohnzimmer, das die vordere Hälfte des Hauses einnahm. Er sagte »Brrr!«, als wäre ich ein Pferd, und zündete eine Coleman-Gaslampe an. Ihr Licht zeigte mir Möbel von der Art, die man als alt, aber noch brauchbar bezeichnete. Auf dem Fußboden lag ein schöner Webteppich. An keiner der Wände hing ein GED-Diplom – und natürlich kein eingerahmter Aufsatz zum Thema »Der Tag, der mein Leben veränderte« –, aber es gab massenhaft religiöse Symbole und viele Fotos. Für mich kam es nicht überraschend, dass ich einige der Abgebildeten erkannte. Schließlich hatte ich sie früher gekannt.

»Schließen Sie hinter sich ab, ja?«

Ich sperrte das düstere, beunruhigende Lisbon Falls aus und schob die beiden Riegel vor.

»Den Schlossriegel auch, wenn’s recht ist.«

Ich drehte den Knopf und hörte den Riegel laut klackend einrasten. Harry rollte inzwischen durch sein Wohnzimmer und zündete die gleichen Petroleumlampen mit hohen Glaszylindern an, an die ich mich noch vage aus Grandma Saries Haus erinnerte. Sie gaben schöneres Licht als die Gaslampe, und als ich deren grelles, weißes Leuchten abdrehte, nickte Harry Dunning zustimmend.

»Wie heißen Sie, Sir? Meinen Namen kennen Sie ja schon.«

»Jake Epping. Der Name kommt Ihnen nicht bekannt vor, hab ich recht?«

Harry überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Sollte er das?«

»Vermutlich nicht.«

Er streckte die Hand aus. Sie zitterte leicht wie von irgendeiner beginnenden Lähmung. »Ich möchte Ihnen trotzdem die Hand schütteln. Das hätte schlimm ausgehen können.«

Ich schüttelte ihm bereitwillig die Hand. Hallo, neuer Freund. Hallo, alter Freund.

»Okay, nachdem das erledigt ist, können wir guten Gewissens trinken. Ich hole uns den Single Malt.« Er rollte in Richtung Küche und drehte die Räder mit Armen, die leicht zittrig, aber immer noch kräftig waren. Der Rollstuhl hatte einen kleinen Elektromotor, aber der war anscheinend kaputt – oder Harry wollte die Batterie schonen. Unterwegs sah er sich nach mir um. »Sie sind nicht gefährlich, stimmt’s? Für mich, meine ich.«

»Nicht für Sie, Harry«, sagte ich lächelnd. »Ich bin Ihr Schutzengel.«

»Das ist verdammt seltsam«, sagte er. »Aber was ist das heutzutage nicht.«

Er rollte in die Küche. Bald brannte auch dort Licht. Behagliches, gelblich warmes Licht. Hier drinnen wirkte alles behaglich. Aber dort draußen … in der Welt …

Was zum Teufel hatte ich getan?

2

»Worauf trinken wir?«, fragte ich, als wir unsere Gläser in der Hand hatten.

»Auf bessere Zeiten als die jetzigen. Ist das für Sie in Ordnung, Mr. Epping?«

»Oh, durchaus. Und nennen Sie mich Jake.«

Wir stießen an. Tranken. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt etwas Stärkeres als Lone-Star-Bier getrunken hatte. Der Whisky glitt durch meine Kehle wie heißer Honig.

»Kein Strom?«, fragte ich und betrachtete die Lampen um mich herum. Er hatte sie alle heruntergedreht, vermutlich um das Petroleum zu sparen.

Er machte ein verdrießliches Gesicht. »Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«

Eine Frage, die ich schon einmal von Frank Anicetti in der Kennebec Fruit Company gehört hatte. Bei meinem ersten Trip in die Vergangenheit. Damals hatte ich mit einer Lüge geantwortet. Das wollte ich diesmal nicht tun.

»Ich weiß nicht recht, was ich darauf antworten soll, Harry.«

Er tat das mit einem Achselzucken ab. »Wir sollen drei Tage die Woche Saft kriegen, und heute wäre einer dieser drei Tage, aber der Strom ist schon gegen sechs abgestellt worden. An die Province Electric glaube ich, wie ich an den Weihnachtsmann glaube.«

Während ich darüber nachdachte, fielen mir die Aufkleber auf den Autos ein. »Seit wann gehört Maine zu Kanada?«

Der Alte warf mir einen Wie-blöd-kann-man-sein-Blick zu, aber ich merkte, dass ihm das Spaß machte. Das Fremdartige, aber auch das Lebendige daran. Ich fragte mich, wann er das letzte wirkliche Gespräch mit irgendjemand geführt hatte. »Seit 2005. Haben Sie ’nen Schlag über den Schädel gekriegt oder so?«

»Das stimmt sogar.« Ich trat an den Rollstuhl, ließ mich auf das Knie sinken, das sich noch bereitwillig und ohne Schmerzen beugen ließ, und zeigte ihm die für immer kahle Stelle an meinem Hinterkopf. »Ich bin vor ein paar Monaten übel zusammengeschlagen worden …«

»Jau, hab gesehen, dass Sie hinken, als Sie auf die Jungen zugerannt sind.«

»… und es gibt noch vieles, woran ich mich nicht erinnere.«

Plötzlich bebte der Boden unter uns. Die Flammen der Petroleumlampen zitterten. Die Bilder an den Wänden klapperten leise, und auf dem Kaminsims bewegte ein gut einen halben Meter großer Jesus aus Gips sich mit ausgebreiteten Armen schreckhaft in Richtung Abgrund. Er sah wie jemand aus, der an Selbstmord dachte, und angesichts der gegenwärtigen Zustände, wie ich sie kennengelernt hatte, konnte ich ihm das nicht verdenken.

»Knaller«, sagte Harry nüchtern, als das Beben aufhörte. »An die erinnern Sie sich doch, oder?«

»Nein.« Ich stand auf, trat an den Kaminsims und schob Jesus zu seiner Muttergottes zurück.

»Danke. Mir sind schon die Hälfte der verdammten Apostel vom Regal im Schlafzimmer gefallen, und ich trauere um jeden von denen. Sie haben meiner Mutter gehört. Knaller sind leichte Erdstöße. Bei uns sind die recht häufig, die großen Dinger finden eher im Mittleren Westen oder draußen in Kalifornien statt. Und natürlich in Europa und China.«

»Die Leute in Idaho halten sich bereit, in die Boote zu gehen, was?« Ich stand weiter am Kamin und betrachtete jetzt die gerahmten Fotos.

»Ganz so schlimm ist’s noch nicht, aber … Sie wissen doch, dass vier von den japanischen Inseln versunken sind, oder?«

Ich starrte ihn erschrocken an. »Nein.«

»Drei davon waren kleine Inseln, aber Hokkaido ist auch weg. Vor vier Jahren wie mit ’nem Fahrstuhl im gottverdammten Meer versunken. Die Wissenschaftler sagen, dass das irgendwas mit der Erdrinde zu tun hat.« Nüchtern fügte er hinzu: »Sie sagen, dass es den Planeten bis ungefähr 2080 zerreißen wird, wenn das nicht aufhört. Dann hat das Sonnensystem zwei Asteroidengürtel.«

Ich kippte den Rest meines Whiskys auf einmal hinunter, und die durch sein Brennen ausgelösten, falschen Tränen ließen mich vorübergehend alles doppelt sehen. Als das Zimmer wieder klare Konturen hatte, deutete ich auf ein Foto, das Harry mit ungefähr fünfzig zeigte. Er saß bereits im Rollstuhl, aber er sah heil und gesund aus, zumindest von der Taille an aufwärts; die Hosenbeine seines Anzugs bauschten sich über jammervoll dünnen Beinen. Neben ihm stand eine Frau in einem rosa Kleid, das mich an Jackie Kennedys Kostüm am 22. November 1963 erinnerte. Ich dachte daran, wie meine Mutter mich ermahnt hatte, Frauen, die nicht schön waren, niemals »unscheinbar« zu nennen; sie hätten, sagte sie, ein »gutes Gesicht«. Diese Frau hatte eines.

»Ihre Frau?«

»Und ob. Diese Aufnahme ist bei unserer Silberhochzeit gemacht worden. Zwei Jahre später ist sie gestorben. Solche Fälle passieren immer häufiger. Die Politiker erzählen einem, dass daran die Atombomben schuld sind – seit Hanoi Hell im Jahr 1969 sind weltweit acht- oder neunundzwanzig eingesetzt worden. Das schwören sie, bis sie blau anlaufen, aber dabei weiß jeder, dass die Geschwüre und der Krebs hier oben im Norden erst seit der Kernschmelze im Vermont Yankee wirklich schlimm geworden sind. Zu der kam’s, nachdem es schon jahrelang Proteste gegen das Atomkraftwerk gegeben hatte. ›Oh‹, haben sie gesagt, ›in Vermont gibt’s keine starken Erdbeben, nicht hier oben in Gottes Königreich, nur gewöhnliche kleine Erdstöße und -beben.‹ O ja, selbstverständlich, sehen Sie sich bloß an, was passiert ist.«

»Soll das heißen, dass in Vermont ein Reaktor hochgegangen ist?«

»Hat ganz Neuengland und den Süden von Quebec radioaktiv verseucht.«

»Wann?«

»Jake, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Durchaus nicht.«

»Am 19. Juni 1999.«

»Das mit Ihrer Frau tut mir leid.«

»Danke, mein Sohn. Sie war eine gute Frau. Eine wundervolle Frau. Sie hatte nicht verdient, was sie gekriegt hat.« Er fuhr sich mit dem Arm langsam übers Gesicht. »Lange her, dass ich über sie geredet hab, andererseits ist’s auch lange her, dass ich überhaupt mit jemand reden konnte. Darf ich Ihnen noch etwas von diesem Freudensaft einschenken?«

Ich hielt zwei Finger einen winzigen Spalt weit auseinander. Ich erwartete nicht, lange hier zu sein; ich musste diese ganze unechte Historie, diese Dunkelheit, möglichst schnell in mich aufnehmen. Ich hatte viel zu tun, nicht zuletzt wollte ich auch meine eigene wundervolle Frau wieder zum Leben erwecken. Das würde einen weiteren Plausch mit dem Grüne-Karte-Mann erfordern. Ich wollte nicht beschwipst sein, wenn es dazu kam, aber ein weiterer kleiner Schluck konnte nicht schaden. Ich brauchte den Drink. Meine Gefühle schienen erstarrt zu sein, was vermutlich nur gut war, weil sich in meinem Kopf alles drehte.

»Sind Sie bei der Tet-Offensive verwundet worden?«, fragte ich und dachte dabei: Klar bist du seither gelähmt, aber es hätte schlimmer sein können; in der vorigen Runde bist du gefallen.

Für einen Moment blickte er verständnislos drein, dann hellte seine Miene sich auf. »Ich glaube, es war die Tet, wenn ich’s mir recht überlege. Wir haben sie nur den Großen Saigon-Beschiss von siebenundsechzig genannt. Der Hubschrauber, in dem ich war, ist abgestürzt. Ich hatte noch Glück. Die meisten Leute an Bord sind umgekommen. Manche von ihnen waren Diplomaten, aber es waren auch Kinder darunter.«

»Die Tet-Offensive von achtundsechzig«, sagte ich. »Nicht siebenundsechzig.«

»Richtig! Sie waren damals noch nicht auf der Welt, aber Sie haben’s bestimmt in den Geschichtsbüchern gelesen.«

»Nein.« Ich ließ mir noch etwas Scotch einschenken – nur so viel, dass der Boden meines Glases bedeckt war – und sagte: »Ich weiß, dass President Kennedy im November 1963 beinahe ermordet worden wäre. Danach weiß ich nichts mehr.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist der komischste Fall von Gedächtnisverlust, von dem ich je gehört habe.«

»Ist Kennedy wiedergewählt worden?«

»Gegen Goldwater? Da können Sie Ihren Arsch drauf verwetten!«

»Hat er Johnson als Mitkandidaten behalten?«

»Klar. Kennedy brauchte Texas. Hat dort auch gewonnen. Gouverneur Connally hat wie ein Sklave für ihn geschuftet, obwohl er Kennedys New Frontier gehasst hat. Aber er hatte eben ein schlechtes Gewissen. Wegen dem, was damals in Dallas beinahe passiert wäre. Wissen Sie das wirklich nicht? Sie haben nichts davon in der Schule gelernt?«

»Sie haben es miterlebt, Harry. Also erzählen Sie’s mir.«

»Nichts dagegen«, sagte er. »Ziehen Sie sich einen Sessel heran, mein Sohn. Hören Sie auf, sich die Fotos anzusehen. Wenn Sie nicht wissen, dass Kennedy vierundsechzig wiedergewählt wurde, kennen Sie todsicher auch niemand aus meiner Familie.«

Ach, Harry, dachte ich.

3

Als ich noch ein kleiner Junge war – vier, vielleicht erst drei Jahre alt –, erzählte mir ein beschwipster Onkel die Geschichte von Rotkäppchen. Nicht die Standardfassung aller Märchenbücher, sondern die nicht jugendfreie Version voller Schreie, Blut und dem dumpfen Schlag der Holzfälleraxt. Obwohl ich seine Erzählung noch heute lebhaft in Erinnerung habe, sind mir nur wenige Details im Gedächtnis geblieben: zum Beispiel die grinsend gefletschten, von Speichel glänzenden Reißzähne des Wolfs und die von Blut und Schleim triefende Großmutter, die aus dem aufgeschnittenen Wolfsbauch wiedergeboren wird. Damit will ich sagen: Falls jemand Eine kurze alternative Geschichte der Welt, wie Harry Dunning sie Jake Epping erzählte erwartet, kann er das vergessen. Nicht nur wegen meines Entsetzens darüber, wie schlimm alles schiefgegangen war. Ich hatte vor allem das Bedürfnis, zurückzugehen und die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Trotzdem haben sich einige Dinge stärker eingeprägt. Zum Beispiel die weltweite Suche nach George Amberson. Leider erfolglos – George blieb ebenso verschwunden wie Richter Crater –, aber in den achtundvierzig Jahren seit dem Attentatsversuch in Dallas war Amberson zu einer fast mythischen Gestalt geworden. Retter oder Mitverschwörer? Es gab sogar Symposien, auf denen diese Frage diskutiert wurde, und als ich Harry davon erzählen hörte, musste ich unweigerlich an all die Verschwörungstheorien denken, die sich um Lee Oswald in seiner erfolgreichen Version gerankt hatten. Wie wir wissen, liebe Schülerinnen und Schüler, sorgt die Vergangenheit für Harmonie.

Kennedy hatte erwartet, 1964 mit einem Erdrutschsieg über Barry Goldwater zu triumphieren; stattdessen gewann er mit weniger als vierzig Wählerstimmen – ein Vorsprung, den nur die getreuesten Anhänger der Demokraten achtbar fanden. In seiner zweiten Amtszeit brachte er das rechte Lager und das militärische Establishment schon bald gegen sich auf, indem er erklärte, Nordvietnam sei weniger gefährlich für unsere Demokratie als die Rassendiskriminierung in unseren Schulen und Städten. Er zog die US-Truppen nicht völlig ab, aber sie hielten nur noch Saigon und einen Ring um die Stadt besetzt, der – welche Überraschung! – als Grüne Zone bezeichnet wurde. Statt mehr Soldaten nach Vietnam zu entsenden, setzte die zweite Regierung Kennedy auf höhere Geldspritzen. Der American Way halt.

Zu den großen Bürgerrechtsreformen der Sechzigerjahre kam es nie. Kennedy war kein LBJ, und als Vizepräsident war Johnson einzigartig machtlos, ihm zu helfen. Republikaner und Dixiecrats führten eine hundertzehntägige Dauerdebatte; ein Abgeordneter starb sogar im Plenum und wurde zu einem Helden der Rechten. Als Kennedy endlich aufgab, machte er eine flapsige Bemerkung, die ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1983 verfolgen würde: »Das weiße Amerika hat sein Haus mit Zunder gefüllt; nun wird es brennen.«

Als Nächstes kamen die Rassenunruhen. Während Kennedy durch sie abgelenkt war, eroberte die nordvietnamesische Armee Saigon – und der Mann, der mich in diese Sache hineingeritten hatte, blieb nach einem Hubschrauberabsturz auf das Deck eines amerikanischen Flugzeugträgers querschnittsgelähmt. Die öffentliche Meinung Amerikas wendete sich massiv gegen Kennedy.

Einen Monat nach dem Fall Saigons wurde Martin Luther King in Chicago ermordet. Der Attentäter erwies sich als ein skrupelloser FBI-Agent namens Dwight Holly. Bevor er Selbstmord verübte, behauptete er, den Anschlag auf Befehl Hoovers verübt zu haben. Chicago ging ebenso in Flammen auf wie ein Dutzend weiterer amerikanischer Großstädte.

George Wallace wurde zum Präsidenten gewählt. Unterdessen hatten die Erdbeben angefangen, Ernst zu machen. Gegen die war Wallace machtlos, deshalb begnügte er sich damit, Chicago mit militärischen Mitteln zu unterwerfen. Das sei im Juni 1969 gewesen, sagte Harry. Im Jahr darauf stellte President Wallace Ho Chi Minh ein Ultimatum: Er solle Saigon zu einer freien Stadt wie Berlin machen, sonst würde Hanoi in eine tote wie Hiroshima verwandelt. Onkel Ho weigerte sich. Wenn er glaubte, dass Wallace nur bluffte, hatte er sich getäuscht. Am 9. August 1969, genau vierundzwanzig Jahre nach dem Tag, an dem Harry S. Truman die Bombe mit dem Decknamen Fat Man auf Nagasaki hatte abwerfen lassen, verwandelte sich Hanoi in eine radioaktive Wolke. Der Vizepräsident Curtis LeMay leitete das Unternehmen persönlich. In einer Rede an die Nation bezeichnete President Wallace es als gottgewollt. Dem stimmten die meisten Amerikaner zu. Wallace’ Zustimmungswerte waren hoch, aber mindestens ein Mann war mit seiner Politik nicht einverstanden. Am 15. Mai 1972 erschoss dieser Arthur Bremer den Präsidenten, als dieser in einem kleinen Einkaufszentrum in Laurel, Maryland, für seine Wiederwahl warb.

»Mit was für einer Waffe?«

»Ich glaube, es war ein .38er-Revolver.«

Was denn sonst. Vermutlich ein Police Special, aber wahrscheinlich das Modell Victory – die gleiche Waffe, mit der in einem anderen Zeitstrang Officer Tippit erschossen worden war.

Etwa an diesem Punkt begann ich den Faden zu verlieren. Ab hier begann der Gedanke Ich muss das in Ordnung bringen, muss das in Ordnung bringen wie ein Gong in meinem Kopf zu dröhnen.

Hubert Humphrey wurde 1972 Präsident. Die Erdbeben wurden stärker. Weltweit erreichten die Selbstmordraten schwindelnde Höhen. Der Fundamentalismus jeglicher Couleur blühte. Parallel dazu wuchs der Terrorismus durch religiöse Extremisten. Indien und Pakistan führten Krieg gegeneinander; weitere Atompilze stiegen auf. Bombay wurde nie zu Mumbai. Stattdessen wurde es zu radioaktiver Asche in einem karzinogenen Wind.

Ebenso Karatschi. Erst als Russland, China und die Vereinigten Staaten damit drohten, beide Länder in die Steinzeit zurückzubomben, wurden die Kampfhandlungen eingestellt.

Im Jahr 1976 verlor Humphrey gegen Ronald Reagan, der von Küste zu Küste einen Erdrutschsieg erzielte. The Hump konnte nicht mal seinen Heimatstaat Minnesota verteidigen.

In Jonestown, Guyana, kam es zu einem Massensuizid von Hunderten von Menschen.

Im November 1979 stürmten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen nicht etwa sechsundsechzig, sondern über zweihundert Geiseln. Im iranischen Staatsfernsehen rollten Köpfe. Reagan hatte aus Hanoi Hell genug gelernt, um die Kernwaffen in ihren Bombenkammern und Raketensilos zu lassen, aber er entsandte beaucoup Truppen. Die noch lebenden Geiseln wurden natürlich abgeschlachtet, und eine entstehende Terrororganisation, die sich Die Basis – im Arabischen El Kaida – nannte, begann mal hier, mal dort Sprengfallen an den Straßenrändern zu bauen.

»Beim Redenhalten machte dem Mann keiner was vor, aber er hat den militanten Islam nie begriffen«, sagte Harry.

Die Beatles rauften sich wieder zusammen und gaben ein Friedenskonzert. Ein Selbstmordattentäter in der Menge zündete seinen Sprengstoffgürtel und riss dreihundert Zuhörer mit sich in den Tod. Paul McCartney erblindete.

Wenig später ging der Nahe Osten in Flammen auf.

Russland kollabierte.

Irgendeine Gruppierung – vermutlich im Exil lebende fanatische russische Hardliner – begann, Kernwaffen an Terrororganisationen, auch an die El Kaida, zu verkaufen.

»Im Jahr 1994 waren die Ölfelder dort drüben mit schwarzem Glas bedeckt«, sagte Harry mit seiner trockenen Stimme. »Von der Art, die im Dunkeln leuchtet. Seit damals ist der Terrorismus jedoch gewissermaßen ausgebrannt. Vor zwei Jahren hat jemand in Miami eine Kofferatombombe gezündet, aber das war kein großer Erfolg. Ich meine, es wird sechzig oder siebzig Jahre dauern, bevor es am South Beach wieder Strandpartys geben kann, und der Golf von Mexiko ist praktisch ein totes Gewässer – aber durch die Detonation sind nur zehntausend Menschen umgekommen. Allerdings war das schon nicht mehr unser Problem. Maine hat dafür gestimmt, sich Kanada anzuschließen, und President Clinton war gern bereit, uns ziehen zu lassen.«

»Bill Clinton ist Präsident?«

»Gott, nein. Er hätte die Nominierung für 2004 haushoch gewonnen, aber er ist auf dem Parteitag an Herzversagen gestorben. Seine Frau ist ihm nachgefolgt. Sie ist jetzt die Präsidentin.«

»Macht sie ihren Job gut?«

Harry zuckte die Achseln. »Nicht schlecht … aber Erdbeben ist mit Gesetzen nicht beizukommen. Und die werden uns letztlich erledigen.«

Über uns war wieder dieses wässrige Reißen zu hören. Ich sah auf. Harry nicht.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Mein Sohn, das weiß anscheinend niemand«, sagte er. »Die Wissenschaftler streiten darüber, aber ich glaube, dass diesmal eher die Prediger eine Erklärung haben. Sie sagen, dass ist Gott, der sich bereit macht, seiner Hände Arbeit einzureißen, wie Samson den Tempel der Philister niedergerissen hat.« Harry trank seinen Whisky aus. Ein rosiger Schimmer überzog seine Wangen, die bemerkenswert frei von Strahlengeschwüren waren. »Und ich glaube, dass sie in diesem Punkt recht haben.«

»Allmächtiger!«, sagte ich.

Er betrachtete mich gelassen. »Haben Sie genug Geschichte gehört, mein Sohn?«

Genug für ein ganzes Leben.

4

»Ich muss gehen«, sagte ich. »Kommen Sie allein zurecht?«

»Bis ich’s nicht mehr tue. Genau wie jeder andere auch.« Er musterte mich prüfend. »Jake, von woher sind Sie reingeschneit? Und warum zum Teufel habe ich irgendwie das Gefühl, Sie zu kennen?«

»Vielleicht weil wir unsere Schutzengel immer kennen?«

»Schwachsinn.«

Ich wollte endlich weiter. Alles in allem glaubte ich, dass mein Leben nach dem nächsten Neustart viel einfacher sein würde. Aber weil dies ein guter Mann war, der in jeder seiner drei Inkarnationen viel durchlitten hatte, trat ich noch einmal an den Kaminsims und nahm eines der gerahmten Fotos herunter.

»Vorsichtig damit!«, sagte Harry leicht gereizt. »Das ist meine Familie.«

»Ja, ich weiß.« Ich legte es in seine knorrigen, altersfleckigen Hände, ein leicht unscharfes Schwarz-Weiß-Foto, das vielleicht von einem Kodak-Schnappschuss vergrößert worden war. »Hat Ihr Vater es aufgenommen? Das frage ich, weil er als Einziger nicht auf dem Bild ist.«

Er sah neugierig zu mir auf, dann betrachtete er wieder das Bild. »Nein«, sagte er. »Das Foto hat eine Nachbarin im Sommer 1958 gemacht. Meine Eltern hatten sich damals schon getrennt.«

Ich fragte mich, ob die Nachbarin die Frau gewesen war, die mit einer Zigarette im Mundwinkel abwechselnd die Familienkutsche gewaschen und den Familienhund nass gespritzt hatte. Irgendwie war ich mir sicher, dass sie es gewesen sein musste. Wie ein aus einem tiefen Brunnen kommendes Geräusch stiegen aus den Tiefen meiner Erinnerung die skandierenden Stimmen der Springseilmädchen auf: My old man drives a sub-ma-rine.

»Mein Vater hatte ein Alkoholproblem. Das war damals keine große Sache, viele Männer haben getrunken und sind trotzdem mit ihrer Frau unter einem Dach geblieben, aber er war bösartig, wenn er getrunken hatte.«

»Jede Wette war er das«, sagte ich.

Er betrachtete mich wieder, noch genauer, dann lächelte er. Seine Zähne fehlten größtenteils, aber sein Lächeln war durchaus freundlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie wissen, wovon Sie reden. Wie alt sind Sie, Jake?«

»Vierzig.« Obwohl ich in dieser Nacht bestimmt weit älter aussah.

»Also sind Sie 1971 geboren.«

Eigentlich war das 1976 gewesen, aber darauf konnte ich unmöglich beharren, ohne über die fünf fehlenden Jahre zu sprechen, die in den Kaninchenbau gefallen waren wie Alice ins Wunderland. »Stimmt ungefähr«, sagte ich. »Dieses Foto ist hinter dem Haus in der Kossuth Street gemacht worden.« Wie in Derry üblich ausgesprochen: Cossut.

Ich tippte auf Ellen, die links neben ihrer Mutter stand, und dachte dabei an die erwachsene Version, mit der ich telefoniert hatte – nennen wir sie Ellen 2.0. Und ich dachte – das war unvermeidlich – an Ellen Dockerty, die harmonische Version, die ich in Jodie gekannt hatte.

»Hier sieht man es nicht, aber sie war ein kleiner Rotschopf, oder nicht? Lucille Ball in klein.«

Harry sagte nichts, glotzte mich nur an.

»Ist sie Komikerin geworden? Oder hat sie was anderes gemacht? Rundfunk oder Fernsehen?«

»Sie hat als DJ eine eigene Sendung im Regionalsender der CBC«, sagte er mit schwacher Stimme. »Aber woher …«

»Hier ist Troy … und Arthur, auch als Tugga bekannt … und das sind Sie mit dem Arm Ihrer Mutter um die Schultern.« Ich lächelte. »Genau wie Gott es geplant hat.« Wenn’s nur so bleiben könnte. Wenn.

»Ich … Sie …«

»Ihr Vater ist ermordet worden, nicht wahr?«

»Ja.« Seine Nasenkanüle war verrutscht, und er korrigierte ihren Sitz mit den langsamen Bewegungen eines Menschen, der mit offenen Augen träumte. »Er ist auf dem Longview-Friedhof erschossen worden, als er Blumen aufs Grab seiner Eltern gelegt hat. Nur ein paar Monate nachdem dieses Foto gemacht worden ist. Die Polizei hat einen Mann namens Bill Turcotte verhaftet …«

Aua, das hatte ich nicht vorausgesehen.

»… aber er hatte ein unwiderlegbares Alibi, deshalb mussten sie ihn schließlich wieder laufen lassen. Der Täter ist nie gefasst worden.« Er ergriff meine Hand. »Mister … mein Sohn … Jake … das ist verrückt, aber … haben Sie meinen Vater erschossen?«

»Nein, natürlich nicht.« Ich nahm das Foto und hängte es wieder an die Wand. »Ich bin erst 1971 auf die Welt gekommen, schon vergessen?«

5

Ich ging langsam die Main Street entlang, zurück zu der abgebrannten Weberei und dem aufgegebenen Quik-Flash-Supermarkt vor ihr. Ich ging mit gesenktem Kopf, ohne nach Keine Nase und Blanker Hintern und den Rest dieser fröhlichen Schar Ausschau zu halten. Falls sie noch irgendwo in der Nähe waren, würden sie einen weiten Bogen um mich machen, davon war ich überzeugt. Sie hielten mich für verrückt. Vielleicht war ich das ja auch.

Wir sind hier alle verrückt, hatte die Grinsekatze zu Alice gesagt. Dann war sie verschwunden. Das heißt, bis auf ihr Grinsen. Soweit ich mich erinnere, blieb es noch eine Weile zurück.

Ich verstand jetzt mehr. Natürlich nicht alles. Ich bezweifle sogar, dass die Kartenmänner alles verstehen (und sobald sie einige Zeit Dienst getan haben, verstehen sie fast nichts mehr), aber auch das half mir nicht bei der Entscheidung, die ich zu treffen hatte.

Als ich mich unter der Kette hindurchbückte, detonierte in weiter Ferne etwas. Ich zuckte nicht einmal zusammen. Vermutlich gab es jetzt viele Detonationen. Wenn die Menschen erst einmal anfingen, die Hoffnung zu verlieren, kam es schon fast zwangsläufig zu Detonationen.

Ich betrat die Toilette hinter dem kleinen Supermarkt und wäre beinahe über meine Lammfelljacke gestolpert. Ich beförderte sie mit einem Tritt zur Seite – an meinem Zielort würde ich sie nicht brauchen – und ging langsam zu den aufgestapelten Kartons hinüber, die Lees Scharfschützennest so ähnlich sahen.

Gottverdammte Harmonien.

Ich schob so viele Kartons beiseite, dass ich in die Ecke gelangen konnte, und stapelte sie sorgfältig wieder hinter mir auf. Dann bewegte ich mich mit kleinen Schritten vorwärts und stellte mir dabei wieder einmal vor, wie man bei völliger Dunkelheit nach der obersten Stufe einer Treppe tastete. Aber es gab keine Stufe, nur diese eigenartige Verdopplung. Ich ging langsam weiter, sah meine untere Körperhälfte schimmern und schloss dann die Augen.

Noch ein Schritt. Und noch einer. Jetzt spürte ich Wärme an den Beinen. Nach zwei weiteren Schritten färbte Sonnenlicht die Schwärze hinter meinen Lidern rot. Ich machte einen weiteren Schritt und hörte den vertrauten leisen Knall in meinem Kopf. Als er verklungen war, hörte ich das schat-USCH-schat-USCH der gewaltigen Webstühle.

Ich öffnete die Augen. Der Gestank der schmutzigen ehemaligen Toilette war durch den Gestank einer Weberei ersetzt worden, die in einem Jahr, in dem es die Umweltschutzbehörde noch nicht gab, auf Hochtouren arbeitete. Unter den Füßen hatte ich rissigen Beton statt sich ablösendes, graues Linoleum. Zu meiner Linken standen die mit Planen aus Sackleinen abgedeckten riesigen Stahlbehälter mit Produktionsabfällen. Zur Rechten hatte ich den Trockenschuppen. Es war 11.58 Uhr am 9. September 1958. Harry Dunning war wieder ein kleiner Junge. Carolyn Poulin saß in der Lisbon High School in der fünften Stunde, hörte vielleicht der Lehrerin zu oder träumte vielleicht von einem Jungen oder davon, wie sie in ein paar Monaten mit ihrem Vater auf die Jagd gehen würde. Sadie Dunhill, die noch nicht mit Mr. Besenstiel verheiratet war, lebte in Georgia. Lee Harvey Oswald war mit seiner Einheit vom Marine Corps im Südchinesischen Meer. Und John F. Kennedy war der Juniorsenator aus Massachusetts, der davon träumte, Präsident zu werden.

Ich war zurück.

6

Ich ging zur Kette und duckte mich unter ihr hindurch. Auf der anderen Seite blieb ich einen Augenblick lang unbeweglich stehen, während ich mir vorstellte, wie ich mich verhalten würde. Dann ging ich weiter bis zum Ende des Trockenschuppens. Gleich hinter der Ecke lehnte der Grüne-Karte-Mann an der Außenwand. Nur war Zack Langs Karte nicht länger grün. Sie hatte eine schlammige Ockerfärbung irgendwo zwischen Grün und Gelb angenommen. Sein nicht zur Jahreszeit passender Mantel war staubig, sein ehemals flotter Filzhut wirkte zerbeult, irgendwie besiegt. Seine zuvor glatt rasierten Wangen waren jetzt stoppelbärtig … und manche dieser Bartstoppeln waren weiß. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte noch nicht zu trinken angefangen – zumindest roch ich keine Fahne –, aber ich vermutete, dass er es bald tun würde. Schließlich stand das Greenfront innerhalb seines kleinen Wirkungskreises, und alle diese Zeitstränge im Kopf zusammenzuhalten musste wehtun. Mehrfache Vergangenheiten waren schlimm genug, aber wenn man mehrfache Zukünfte hinzufügte? Da würde jeder zum Trinker werden, wenn es Alkohol gab.

Ich hatte eine Stunde im Jahr 2011 verbracht. Vielleicht etwas länger. Wie lange war das für ihn gewesen? Ich wusste es nicht. Ich wollte es nicht wissen.

»Gott sei Dank«, sagte er … genau wie zuvor. Aber als er wieder meine Hand mit beiden Händen umfassen wollte, wich ich zurück. Seine Fingernägel waren jetzt lang und hatten schwarze Trauerränder. Die Finger zitterten. Das waren die Hände – und der Mantel und der Filzhut und die im Hutband steckende Karte – eines zukünftigen Trinkers.

»Du weißt, was du tun musst«, sagte er.

»Ich weiß, was du willst, dass ich es tue.«

»Hier geht’s nicht ums Wollen. Du musst noch mal zurückgehen. Wenn alles gut geht, kommst du in dem Diner heraus. Er wird bald fortgeschafft, und wenn das geschieht, platzt die Blase, die all diesen Wahnsinn verursacht hat. Dass sie überhaupt so lange existiert hat, ist ein Wunder. Du musst den Kreis schließen.«

Er griff wieder nach mir. Diesmal tat ich mehr, als nur zurückzuweichen; ich warf mich herum und rannte in Richtung Parkplatz davon. Er spurtete hinter mir her. Wegen meines schlimmen Knies schmolz mein Vorsprung mehr zusammen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Ich hörte ihn dicht hinter mir, als ich an dem Plymouth Fury vorbeilief, dem Double des Wagens, den ich eines Nachts auf dem Innenhof der Candlewood Bungalows gesehen, aber nicht weiter beachtet hatte. Dann erreichte ich die Kreuzung von Main Street und Old Lewiston Road. Auf der anderen Straßenseite stand der ewige Rockabilly-Rebell, der einen schwarzen Stiefel halb hochgehoben hinter sich gegen die Bretterverschalung der Kennebec Fruit stemmte.

Ich rannte über die Gleise und fürchtete, mein schlimmes Bein könnte auf dem Schotter nachgeben, aber Lang war derjenige, der stolperte und hinschlug. Ich hörte ihn aufschreien – ein verzweifeltes, einsames Krächzen – und hatte flüchtig Mitleid mit ihm. Eine schwere Pflicht, die dieser Mann hatte. Aber Mitleid konnte mich nicht aufhalten. Die Erfordernisse der Liebe waren grausam.

Der Lewiston Express kam herangebrummt. Der Fahrer hupte mich an, als ich dicht vor dem Bus über die Kreuzung hinkte. Ich musste an jenen anderen Bus voller Leute denken, die den Präsidenten sehen wollten. Und natürlich die First Lady, die in dem rosa Kostüm. Zwischen ihnen ein Strauß Rosen auf dem Sitz. Nicht gelb, sondern rot.

»Jimla, komm zurück!«

Das stimmte. Ich war letzten Endes doch Jimla, das Ungeheuer aus Rosette Templetons Albtraum. Ich hinkte eilig an der Kennebec Fruit vorbei, jetzt mit weitem Vorsprung vor dem Mann mit der ockerfarbenen Karte. Dieses Wettrennen würde ich gewinnen. Ich war Jake Epping, Highschool-Lehrer; ich war George Amberson, aufstrebender Schriftsteller; ich war der Jimla, der bei jedem Schritt, den er machte, die ganze Welt gefährdete.

Trotzdem eilte ich weiter.

Ich dachte an Sadie, groß und kühl und schön, und rannte weiter. Sadie, die zu Unfällen neigte und über einen schlimmen Mann namens John Clayton stolpern würde. An ihm würde sie sich nicht nur das Schienbein anschlagen. Die Welt um der Liebe willen ganz verloren – war das von Dryden oder von Pope?

An der Chevron-Tankstelle machte ich keuchend halt. Auf der anderen Straßenseite rauchte der Beatnik, dem der Jolly White Elephant gehörte, seine Pfeife und beobachtete mich. Der Mann mit der ockerfarbenen Karte stand an der Einmündung der Gasse hinter der Kennebec Fruit. Weiter konnte er in dieser Richtung anscheinend nicht.

Er streckte die Hände nach mir aus, was schlimm war. Dann fiel er auf die Knie und faltete die erhobenen Hände, was noch viel schlimmer war. »Bitte tu das nicht! Du musst doch wissen, wie hoch der Preis ist!«

Ich wusste es und hastete trotzdem weiter. An der Kreuzung gleich jenseits der St.-Joseph-Kirche stand eine Telefonzelle. Ich schloss die Tür hinter mir, schlug im Telefonbuch nach und warf eine Münze ein.

Als das Taxi kam, rauchte der Fahrer Luckies und hatte sein Radio auf WJAB eingestellt.

Die Geschichte wiederholte sich.

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