Teil 3 IN DER VERGANGENHEIT LEBEN

Kapitel 9

1

Ich hätte eigentlich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen, aber was ich gleich links neben Al sah, ließ mir den Mund offen stehen: eine brennende Zigarette in einem Aschenbecher. Ich griff an ihm vorbei und drückte sie aus. »Willst du den letzten Rest gesundes Lungengewebe unbedingt raushusten?«

Er antwortete nicht darauf. Ich wusste nicht, ob er mich überhaupt gehört hatte. Er starrte mich mit großen Augen an. »Herrgott, Jake – wer hat dich skalpiert?«

»Niemand. Komm, ich muss hier raus, bevor ich an deinem Rauch ersticke.« Diese Schelte war allerdings nicht ganz berechtigt. In den Wochen, die ich in Derry zugebracht hatte, hatte ich reichlich Gelegenheit gehabt, mich an Zigarettenrauch zu gewöhnen. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich bald selbst zum Raucher werden.

»Du bist skalpiert«, sagte er. »Du weißt es nur nicht. Hinter deinem Ohr hängt ein behaarter Hautlappen runter, und … Wie viel Blut hast du überhaupt verloren? Einen Liter? Und wer hat dir das angetan?«

»A: weniger als einen Liter. B: Frank Dunning. Wenn deine Fragen damit beantwortet sind, darf ich jetzt eine stellen. Du hast gesagt, du würdest beten. Wieso hast du stattdessen geraucht?«

»Weil ich nervös war. Und weil das jetzt keine Rolle mehr spielt. Ich hab schon Lungenkrebs.«

Da konnte ich ihm kaum widersprechen.

2

Al schlurfte langsam hinter die Theke, wo er einen Schrank öffnete, dem er eine Kunststoffbox mit einem roten Kreuz auf dem Deckel entnahm. Ich setzte mich auf einen der Hocker und sah auf die Wanduhr. Es war Viertel vor acht gewesen, als Al die Tür aufgesperrt und in den Diner vorausgegangen war. Vermutlich fünf vor acht, als ich die Treppe hinunterstieg und ins Wunderland circa 1958 hinaustrat. Al hatte behauptet, dass jeder Trip genau zwei Minuten dauern würde, und die Wanduhr schien das zu bestätigen. Ich hatte zweiundfünfzig Tage im Jahr 1958 verbracht, aber hier war es 7.59 Uhr.

Al legte Verbandmull, Heftpflaster und Desinfektionsmittel bereit. »Beug dich nach vorn, damit ich die Wunde sehen kann«, sagte er. »Stütz das Kinn auf die Theke.«

»Die Desinfektion kannst du dir sparen. Das ist vor vier Stunden passiert, das Blut ist längst geronnen. Siehst du?«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte er, dann setzte er meinen Scheitel in Brand.

»Ahhh!«

»Tut weh, was? Weil die Wunde noch offen ist. Du willst dich 1958 von irgendeinem Medizinmann wegen einer entzündeten Kopfwunde behandeln lassen, bevor du nach Big D fährst? Glaub mir, Kumpel, das willst du nicht. Halt still! Ich muss ein paar Haare wegschneiden, sonst hält das Pflaster nicht. Zum Glück hast du sie dir ziemlich kurz schneiden lassen.«

Schnipp-schnipp-schnipp. Dann verstärkte er das Brennen noch mit Druck, indem er ein Mullpolster auf die Platzwunde presste und mit Heftpflaster befestigte.

»Den Mullverband kannst du in zwei, drei Tagen abnehmen, aber ich rate dir, in den ersten Wochen eine Mütze zu tragen. Dort oben wird’s noch eine Zeit lang räudig aussehen, und falls die Haare gar nicht nachwachsen, kannst du ja einfach andere drüberkämmen. Willst du zwei Aspirin?«

»Ja. Und eine Tasse Kaffee. Kannst du einen machen?« Obwohl Kaffee nur vorübergehend helfen würde. Was ich brauchte, war Schlaf.

»Klar kann ich das.« Er schaltete den Bunn-o-Matic ein, dann wühlte er wieder in dem Erste-Hilfe-Kasten. »Du scheinst etwas abgenommen zu haben.«

Das sagst ausgerechnet du, dachte ich. »Ich bin krank gewesen. Hab ein Vierundzwanzigstunden …« An dieser Stelle verstummte ich plötzlich.

»Jake, was ist los?«

Mein Blick war auf Als Fotowand gefallen. Bevor ich die Treppe hinabgestiegen war, hatte dort ein gerahmtes Foto von Harry und mir gehangen. Wir hatten beide gelächelt und Harrys GED-Diplom in die Kamera gehalten.

Es war fort.

3

»Jake? Kumpel? Was gibt’s?«

Ich nahm die Aspirin, die er auf die Theke gelegt hatte, steckte sie in den Mund und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Dann stand ich auf und trat langsam an die Wand mit der Lokalprominenz. Ich kam mir wie aus Glas vor. Wo seit zwei Jahren das Foto von Harry und mir gehangen hatte, hing jetzt eines, auf dem Mike Michaud, der Maines zweiten Bezirk als Abgeordneter in Washington vertrat, Al die Hand schüttelte. Das musste im Wahlkampf gewesen sein, denn Al trug gleich zwei Buttons an seiner Kochschürze. Auf einem stand: MICHAUD IN DEN KONGRESS. Und auf dem anderen: LISBON LIEBT MIKE. Der ehrenwerte Abgeordnete trug ein Moxie-T-Shirt in Hellorange und hielt einen triefenden Fatburger für die Kamera hoch.

Ich nahm das Foto von seinem Haken. »Wie lange hängt das schon hier?«

Al betrachtete es stirnrunzelnd. »Ich habe dieses Bild noch nie im Leben gesehen. In den beiden letzten Wahlkämpfen habe ich Michaud weiß Gott unterstützt – Teufel, ich unterstütze jeden Demokraten, der nicht dabei erwischt wird, dass er seine Wahlkampfhelferinnen vögelt. Vor drei Jahren habe ich ihn auf einer Veranstaltung kennengelernt, aber die war in Castle Rock. Hier bei mir ist er nie gewesen.«

»Anscheinend doch. Das ist deine Theke, stimmt’s?«

Er griff mit Händen, die jetzt so abgezehrt waren, dass sie kaum mehr als Krallen waren, nach dem Foto und hielt es sich dicht vors Gesicht. »Jau«, sagte er. »Das ist sie allerdings.«

»Also gibt es einen Schmetterlingseffekt. Dieses Foto ist der Beweis dafür.«

Er starrte das Foto an und lächelte dabei schwach. Aus Verwunderung wohl. Oder sogar vor lauter Ehrfurcht. Er gab es mir zurück und ging hinter die Theke, um uns Kaffee einzugießen.

»Al? Du erinnerst dich doch an Harry, oder? Harry Dunning?«

»Natürlich tue ich das. Warst du nicht seinetwegen in Derry und hast dir fast den Schädel einschlagen lassen?«

»Seinetwegen und wegen seiner Mutter und seinen Geschwistern, ja.«

»Und hast du sie gerettet?«

»Alle bis auf einen. Tugga wurde von seinem Vater erschlagen, bevor wir ihn aufhalten konnten.«

»Wer ist wir?«

»Das erzähle ich dir alles noch, aber erst fahre ich nach Hause und gehe ins Bett.«

»Kumpel, uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit.«

»Das weiß ich«, sagte ich und dachte dabei: Ich brauche dich nur anzusehen, Al. »Aber ich bin todmüde. Für mich ist es halb zwei Uhr morgens, und ich habe …« Ich musste gewaltig gähnen. »… eine anstrengende Nacht hinter mir.«

»Also gut.« Er brachte den Kaffee mit – eine volle Tasse für mich, eine halbe für ihn, beide mit reichlich Sahne. »Erzähl mir, so viel du schaffst, während du den Kaffee trinkst.«

»Erstens musst du mir erklären, wie du dich an Harry erinnern kannst, wenn er nie Hausmeister an der LHS war und sein Leben lang nie einen Fatburger bei dir gekauft hat. Zweitens möchte ich wissen, weshalb du dich nicht an Mike Michauds Besuch erinnern kannst, obwohl dieses Foto beweist, dass er bei dir gewesen ist.«

»Du weißt nicht mit Sicherheit, dass Harry Dunning nicht mehr hier lebt«, sagte Al. »Du weißt nicht mal, ob er nicht doch Hausmeister an der Lisbon High ist.«

»Das wäre ein verdammt großer Zufall. Ich habe die Vergangenheit kräftig geändert, Al – mit Unterstützung eines Kerls namens Bill Turcotte. Harry ist nicht zu seinem Onkel und seiner Tante in Haven gezogen, weil seine Mutter nicht gestorben ist. Auch sein Bruder Troy und seine Schwester Ellen haben überlebt. Und Dunning ist mit seinem Hammer nie an Harry rangekommen. Sollte Harry nach all diesen Veränderungen noch in The Falls leben, wäre niemand mehr darüber überrascht als ich.«

»Das lässt sich nachprüfen«, sagte Al. »Ich habe in meinem Büro einen Laptop stehen. Komm mit nach hinten.« Er ging hustend voraus, wobei er sich an den Möbeln entlanghangelte. Ich nahm meine Kaffeetasse mit; er ließ seine stehen.

Büro war ein viel zu hochtrabender Name für das schrankgroße Kämmerchen neben der Küche. Es bot kaum Platz genug für uns beide. Die Wände waren mit Rundschreiben, Genehmigungen und Gesundheitsverordnungen aus Augusta und Washington tapeziert. Hätten die Leute, die Klatsch und Gerüchte über den Famous Catburger verbreiteten, den ganzen Papierkram gesehen – zu dem ein Zertifikat der Klasse A für Sauberkeit gehörte, das die Restaurantkommission des Staates Maine nach der letzten Inspektion ausgestellt hatte –, hätten sie ihren Standpunkt wohl überdenken müssen.

Sein MacBook stand auf einem Pult von der Art, an die ich mich aus der dritten Klasse erinnerte. Al ließ sich mit einem Seufzer, aus dem Schmerzen und Erleichterung sprachen, auf den dazugehörigen kleinen Stuhl sinken. »Die Highschool hat eine Homepage, stimmt’s?«

»Klar.«

Während wir darauf warteten, dass der Computer hochfuhr, fragte ich mich, wie viele E-Mails sich während meiner gut siebenwöchigen Abwesenheit angesammelt haben mochten. Dann fiel mir ein, dass ich in Wirklichkeit nur zwei Minuten weg gewesen war. Ich Dummkopf! »Ich blicke langsam nicht mehr durch, Al«, sagte ich.

»Dieses Gefühl kenne ich. Aber du musst durchhalten, Kumpel, dann … warte, es geht los. Mal sehen. Unterrichtsfächer … Sommerlehrplan … Lehrkörper … Verwaltung … Reinigungspersonal.«

»Versuch’s damit«, sagte ich.

Er fuhr mit dem Zeigefinger übers Touchpad, murmelte etwas, nickte, klickte etwas an und starrte dann wie ein Swami, der seine Kristallkugel zurate zog, auf den Bildschirm.

»Und? Lass mich nicht so lange schmoren.«

Er drehte den Laptop etwas zu mir herüber. UNSER REINIGUNGSPERSONAL stand auf dem Bildschirm. DAS BESTE IN MAINE! Das Foto darunter zeigte zwei Männer und eine Frau, die in der Sporthalle im Mittelkreis standen. Alle drei lächelten. Alle drei trugen Sweatshirts der Lisbon Greyhounds. Keiner von ihnen war Harry Dunning.

4

»Du erinnerst dich an sein Leben als Schulhausmeister und als dein Schüler, weil du derjenige bist, der in den Kaninchenbau runtergestiegen ist«, sagte Al. Wir waren in den Gastraum zurückgekehrt, wo wir in einer der Nischen saßen. »Ich erinnere mich an ihn, weil ich den Kaninchenbau selbst benutzt habe – oder weil ich in seiner Nähe bin.« Er überlegte. »Das dürfte es sein. Eine Art Strahlung. Der Gelbe-Karte-Mann ist auch in seiner Nähe, bloß auf der anderen Seite, und er spürt es ebenfalls. Du bist ihm begegnet, also weißt du das.«

»Er ist jetzt der Orange-Karte-Mann.«

»Was soll das heißen?«

Ich gähnte wieder. »Wenn ich dir das jetzt erklären wollte, würde ich alles durcheinanderbringen. Ich will dich heimbringen und dann selbst nach Hause fahren. Ich brauch was zu essen, weil ich hungrig wie ein Wolf bin …«

»Ich mache dir ein Rührei«, sagte Al. Er wollte aufstehen, aber dann plumpste er auf den Stuhl zurück und begann zu husten. Jedes Einatmen war ein röchelndes Keuchen, das seinen ganzen Körper erschütterte. In seiner Kehle ratterte etwas wie eine in Fahrradspeichen geklemmte Spielkarte.

Ich legte eine Hand auf seinen Arm. »Nein, du lässt dich jetzt nach Hause bringen, nimmst dein Medikament und ruhst dich aus. Vielleicht kannst du ja ein bisschen schlafen. Ich kann es ganz sicher. Acht Stunden. Ich stelle den Wecker.«

Er hörte auf zu husten, aber die Spielkarte in seiner Kehle ratterte weiter. »Schlaf. Feine Sache, das. Kann mich dran erinnern. Ich beneide dich, Kumpel.«

»Ich bin heute Abend um sieben bei dir. Nein, sagen wir acht Uhr. Dann habe ich etwas länger Zeit, ein paar Dinge im Internet zu recherchieren.«

»Und wenn alles in Ordnung zu sein scheint?«, fragte er.

»Dann gehe ich morgen zurück und mache mich bereit, die Tat zu vollbringen.«

»Nein«, sagte Al. »Du wirst sie ungeschehen machen.« Er drückte meine Hand. Seine Finger waren zwar dünn, aber noch ziemlich kräftig. »Nur darum geht es hier. Oswald aufzuspüren, seine Schandtat ungeschehen zu machen und dieses selbstzufriedene Grinsen von seinem Gesicht zu wischen.«

5

Als ich den Motor meines Wagens anlassen wollte, griff ich nach dem kurzen Ford-Schalthebel an der Lenksäule und trat mit dem linken Fuß nach dem federnden Ford-Kupplungspedal. Als meine Finger ins Leere griffen und mein Schuh auf der Fußmatte landete, musste ich unwillkürlich lachen.

»Was ist los?«, fragte Al vom Beifahrersitz aus.

Mir fehlte mein flotter Ford Sunliner, das war los, aber damit konnte ich mich abfinden; ich würde ihn bald wieder kaufen. Dann würde ich allerdings weniger Bargeld zur Verfügung haben, zumindest anfangs (selbst meine beim Hometown Trust eingezahlten tausend Dollar würden beim Neustart verschwinden), und deshalb etwas zäher mit Bill Titus feilschen müssen.

Das traute ich mir zu.

Ich wusste, dass ich jetzt anders war.

»Jake? Was ist so komisch?«

»Ach, nichts.«

Unterwegs hielt ich Ausschau nach Veränderungen auf der Main Street, aber die gewohnten Gebäude schienen vollzählig vorhanden zu sein – auch die Kennebec Fruit, die wie üblich nur zwei unbezahlte Rechnungen vom Bankrott entfernt zu sein schien. Im Stadtpark stand weiter die Statue von Häuptling Worumbo, und das Spruchband im Schaufenster des Möbelgeschäfts Cabell verkündete der Welt weiter: WIR UNTERBIETEN JEDEN PREIS.

»Al, du erinnerst dich doch an die Kette, unter der man hindurchschlüpfen muss, um wieder zum Kaninchenbau zu kommen.«

»Klar.«

»Und auch an das Schild, das daran hängte?«

»Das mit dem Kanalrohr.« Er saß wie ein Soldat, der befürchtete, die vor ihm liegende Straße könnte vermint sein, neben mir und fuhr bei jeder kleinen Bodenwelle zusammen.

»War das Schild noch da, als du aus Dallas zurückgekommen bist – als du einsehen musstest, dass du zu krank warst, um die Sache durchziehen zu können?«

»O ja«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Es war noch da. Das ist irgendwie seltsam, stimmt’s? Wer braucht schon vier Jahre, um ein defektes Kanalrohr zu reparieren.«

»Niemand. Nicht auf einem Fabrikhof, über den Tag und Nacht Lastwagen fahren. Wieso fällt die Absperrung offenbar nicht auf?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Anscheinend soll sie verhindern, dass Leute versehentlich in die Nähe vom Kaninchenbau geraten. Aber wer hat sie dort angebracht?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob es stimmt, was du sagst.«

Ich bog in seine Straße ein und hoffte, ihn sicher ins Haus bringen zu können und dann noch die sieben oder acht Meilen hinaus nach Sabbatus zu schaffen, ohne am Steuer einzuschlafen. Mir lag allerdings noch etwas auf dem Herzen, was ich unbedingt aussprechen musste. Und wenn ich es nur tat, damit er sich keine allzu großen Hoffnungen machte.

»Die Vergangenheit ist unerbittlich, Al. Sie will nicht geändert werden.«

»Ja, ich weiß. Das hab ich dir erzählt.«

»Stimmt. Aber ich glaube inzwischen, dass ihr Widerstand gegenüber Veränderungen direkt proportional dazu ist, wie sehr die Zukunft durch irgendeine Handlung verändert werden könnte.«

Er sah mich an. Seine Augenringe waren dunkler als je zuvor, und die Augen selbst glänzten fiebrig. »Kannst du mir das in verständlichen Worten erklären?«

»Die Zukunft der Familie Dunning war schwieriger zu ändern als Carolyn Poulins Zukunft, teils weil mehr Leute davon betroffen waren, aber vor allem weil Carolyn auf jeden Fall weitergelebt hätte. Doris Dunning und drei ihrer Kinder wären ermordet worden … und eines ist tatsächlich umgekommen, obwohl ich das verhindern wollte.«

Der Anflug eines Lächelns zog über sein Gesicht. »Trotzdem gut gemacht. Aber sieh zu, dass du dich beim nächsten Mal etwas tiefer bückst. Dann ersparst du dir eine hässliche Narbe, wo möglicherweise keine Haare nachwachsen.«

Was das betraf, hatte ich andere Überlegungen, über die ich aber jetzt nicht sprechen wollte. Ich ließ meinen Wagen langsam in seine Einfahrt rollen. »Damit will ich sagen, dass ich es vielleicht nicht schaffen werde, Oswald aufzuhalten. Zumindest nicht beim ersten Mal.« Ich lachte. »Hol’s der Teufel, bei der Fahrprüfung bin ich auch beim ersten Mal durchgefallen.«

»Ich auch, aber ich musste nicht fünf Jahre lang auf den zweiten Versuch warten.«

Da hatte er natürlich recht.

»Wie alt bist du, Jake, dreißig? Zweiunddreißig?«

»Fünfunddreißig.« Und zwei Monate näher an sechsunddreißig, als ich heute am frühen Morgen gewesen war, aber was waren unter Freunden schon ein paar Monate?

»Falls es nicht gleich beim ersten Mal klappt und du neu anfangen musst, bist du fünfundvierzig, wenn du die zweite Chance bekommst. In zehn Jahren kann viel passieren, vor allem wenn die Vergangenheit gegen einen arbeitet.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Sieh dir nur an, wie’s dir ergangen ist.«

»Ich hab Lungenkrebs vom Rauchen, das ist alles.« Er hustete, wie um das zu beweisen, aber ich sah nicht nur Schmerzen, sondern auch Zweifel in seinem Blick.

»Wahrscheinlich war es nur das. Ich hoffe, dass es nichts anderes war. Aber das ist wieder etwas, was wir nicht …«

Die Haustür flog mit einem Knall auf. Eine groß gewachsene junge Frau, die einen hellgrünen Kittel und weiße Nancy-Nurse-Schuhe trug, hastete fast rennend die Einfahrt herunter. Sie sah Al zusammengesunken auf dem Beifahrersitz meines Toyotas sitzen und riss die Autotür auf. »Mr. Templeton, wo haben Sie gesteckt? Ich bin gekommen, um Ihnen Ihre Infusion zu legen und Ihre Spritzen zu geben, und als ich das Haus leer vorgefunden habe, dachte ich schon …«

Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß, was Sie gedacht haben, aber ich fühle mich okay. Nicht gut, aber okay.«

Sie funkelte mich an. »Und Sie! Wie können Sie mit ihm herumfahren? Sehen Sie nicht, wie angegriffen er ist?«

Natürlich sah ich das. Aber da ich ihr schlecht erzählen konnte, was wir getan hatten, hielt ich den Mund und machte mich bereit, ihre Schelte wie ein Mann zu ertragen.

»Wir hatten etwas Wichtiges zu besprechen«, sagte Al. »Okay? Kapiert?«

»Trotzdem …«

Er stellte einen Fuß auf den Boden. »Helfen Sie mir ins Haus, Doris. Jake muss heimfahren.«

Doris.

Wie in Dunning.

Al schien den Zufall nicht zu bemerken – und es war bestimmt einer, schließlich war Doris ein nicht seltener Name –, aber in meinem Kopf hallte er dröhnend nach.

6

Ich schaffte es nach Hause, und diesmal war es die Handbremse des Sunliners, nach der meine Hand unwillkürlich griff. Als ich den Motor abstellte, überlegte ich mir, was für eine enge, armselige, im Prinzip unerfreuliche Scheißkiste aus Kunststoff und Glasfaser mein Toyota im Vergleich zu dem Wagen war, an den ich mich in Derry gewöhnt hatte. Ich ging ins Haus, wollte automatisch meinen Kater füttern und sah, dass das Futter in seinem Fressnapf noch frisch und feucht war. Kein Wunder! Im Jahr 2011 lag es erst seit eineinhalb Stunden im Fressnapf.

»Friss das, Elmore«, sagte ich. »In China gibt’s hungernde Katzen, die sich die Pfoten nach Feiner Pastete von Friskies abschlecken würden.«

Elmore bedachte mich mit dem Blick, den dieser Spruch verdiente, und schlängelte sich durch die Katzenklappe hinaus. Ich machte mir zwei Stouffer-Tiefkühlmahlzeiten heiß (und dachte dabei wie Frankensteins Monster beim Sprechenlernen: Mikrowelle gut, moderne Autos schlecht). Ich aß alles auf, entsorgte den Abfall und ging ins Schlafzimmer. Ich zog mein einfaches weißes Hemd aus dem Jahr 1958 aus (und dankte Gott, dass Doris zu wütend gewesen war, um die Blutflecken darauf zu bemerken), setzte mich auf die Bettkante, um meine vernünftigen Schuhe aus dem Jahr 1958 auszuziehen, und ließ mich dann zurückfallen. Ich weiß ziemlich sicher, dass ich noch im Fallen einschlief.

7

Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und hätte vielleicht bis lange nach fünf geschlafen, aber um Viertel nach vier sprang Elmore auf meine Brust und begann an meinem Gesicht zu schnüffeln. Das bedeutete, dass er seinen Fressnapf geleert hatte und ihn nachgefüllt haben wollte. Nachdem ich den Kater gefüttert hatte, wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und aß eine Schale Special K, wobei ich mir vorstellte, dass es Tage dauern würde, bis ich die Mahlzeiten wieder zur gewohnten Zeit einnahm.

Als ich satt war, ging ich ins Arbeitszimmer und schaltete meinen Computer ein. Die Stadtbibliothek war mein erster Cyber-Halt. Al hatte recht – sie hatte sämtliche Ausgaben der Zeitung Lisbon Weekly Enterprise in ihrer Datenbank. Um darauf zugreifen zu können, musste ich ein Freund der Bibliothek werden, was zehn Dollar kostete, aber angesichts der Umstände erschien mir das als geringer Preis.

Die Ausgabe der Enterprise, die ich suchte, trug das Datum 7. November 1958. Auf Seite zwei stand zwischen einer Meldung über einen tödlichen Verkehrsunfall und einer über vermutete Brandstiftung eine Story mit dem Titel POLIZEI FAHNDET NACH GEHEIMNISVOLLEM UNBEKANNTEN. Der geheimnisvolle Unbekannte war ich … oder vielmehr mein Alter Ego aus der Eisenhowerzeit. Sie hatten den Sunliner gefunden und prompt die Blutflecken bemerkt. Bill Titus hatte den Ford als den Wagen identifiziert, den er einem Mr. George Amberson verkauft hatte. Der Ton dieser Meldung rührte mich aufrichtig: schlichte Besorgnis wegen des Verbleibs eines verschwundenen (und möglicherweise verletzten) Mannes. Gregory Dusen, mein Hometown-Trust-Bankier, beschrieb mich als »höflichen, gebildeten Zeitgenossen«. Eddie Baumer, Inhaber von Baumer’s Barber Shop, sagte im Prinzip das Gleiche. Mit dem Namen Amberson verband sich nicht der Hauch eines Verdachts. Das hätte anders ausgesehen, wenn ich mit dem sensationellen Fall in Derry in Verbindung gebracht worden wäre, aber das hatte niemand getan.

Das passierte auch in der folgenden Woche nicht, in der ich im Polizeibericht nur noch am Rande erwähnt wurde: FAHNDUNG NACH VERMISSTEM AUS WISCONSIN GEHT WEITER. Die darauffolgende Wochenendausgabe der Lisbon Weekly Enterprise war dann ganz auf Weihnachten eingestellt, und George Amberson verschwand endgültig. Aber ich war dort gewesen. Al hatte seinen Namen in die Rinde eines Baumes geritzt. Ich meinen in die Seiten einer alten Zeitung. Das hatte ich zwar erwartet, aber der Anblick des tatsächlichen Beweises war trotzdem beeindruckend.

Als Nächstes rief ich die Homepage der Derry Daily News auf. Der Zugang zu ihrem Archiv kostete mich erheblich mehr – 34,50 Dollar –, aber binnen Minuten hatte ich die Titelseite der Ausgabe vom 1. November 1958 auf dem Bildschirm.

Man würde erwarten, dass ein sensationelles lokales Verbrechen eine Schlagzeile auf der Titelseite des Lokalblatts wert wäre, aber in Derry, diesem komischen Kaff, wurden solche Gräuel möglichst heruntergespielt. Die große Story dieses Tages handelte davon, dass Vertreter Russlands, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in Genf über einen möglichen Atomteststopp sprachen. Darunter stand eine Geschichte über ein vierzehnjähriges Schachgenie namens Bobby Fischer. Ganz links unten auf der Titelseite (also dort, wohin nach Auffassung von Medienexperten der Leserblick zuletzt fiel – falls überhaupt) stand ein Bericht mit der Überschrift MÖRDERISCHER AMOKLAUF ENDET MIT ZWEI TOTEN. Frank Dunning, »ein prominentes Mitglied der hiesigen Geschäftswelt und Förderer vieler Wohltätigkeitsprojekte«, berichtete die Daily News, sei am Freitagabend kurz nach acht Uhr »in angetrunkenem Zustand« im Haus seiner von ihm entfremdeten Ehefrau aufgekreuzt. Nach einem Streit mit ihr (von dem ich nichts mitbekommen hatte, obwohl ich dabei gewesen war) habe er mit einem Hammer auf sie eingeschlagen, ihr den Arm gebrochen und danach seinen zwölfjährigen Sohn Arthur erschlagen, als der Junge versucht habe, seine Mutter zu verteidigen.

Die Fortsetzung der wenigen Zeilen vorn stand auf Seite zwölf. Als ich sie aufschlug, begrüßte mich ein Schnappschuss von meinem alten Freund/Feind Bill Turcotte. Dem Bericht nach war »Mr. Turcotte zu Fuß auf der Kossuth Street unterwegs, als er Schreie und Kreischen aus dem Haus der Dunnings hörte«. Er lief zur offenen Haustür, sah erschrocken, was drinnen vorging, und forderte Mr. Frank Dunning auf, »nicht weiter mit diesem Hammer um sich zu schlagen«. Dunning weigerte sich; Mr. Turcotte entdeckte an Dunnings Gürtel ein Jagdmesser und zog es aus der Scheide; Dunning wandte sich daraufhin gegen Mr. Turcotte; aus dieser Rangelei entstand eine tätliche Auseinandersetzung, bei der Dunning erstochen wurde. Nur wenige Augenblicke später erlitt der heldenhafte Mr. Turcotte einen Herzanfall.

Ich saß da, betrachtete den alten Schnappschuss – Turcotte mit einer Zigarette im Mundwinkel ein Bein stolz auf der Stoßstange einer Limousine aus den späten Vierzigerjahren aufgestützt – und trommelte mit den Fingern auf meinen Oberschenkel. Dunning war nicht von vorn, sondern von hinten erstochen worden – und zwar mit einem Bajonett, nicht mit einem Jagdmesser. Dunning hatte gar kein Messer gehabt. Der Vorschlaghammer, der nicht als solcher identifiziert wurde, war seine einzige Waffe gewesen. Konnte die Polizei solche ins Auge fallenden Details übersehen haben? Eigentlich unmöglich, außer sie war so blind wie Ray Charles. Aber für Derry, wie ich es kennengelernt hatte, passte das alles prima ins Bild.

Ich glaube, ich habe gelächelt. Der Bericht war so verrückt, dass es bewundernswert war. Es gab keine offenen Probleme mehr. Man hatte den tobenden, betrunkenen Ehemann, die verängstigte Familie und den heldenhaften Passanten (von dem nicht gesagt wurde, wohin er unterwegs gewesen war). Was wollte man mehr? Und dass ein bestimmter geheimnisvoller Unbekannter am Tatort gewesen war (und sogar geschossen hatte), wurde mit keiner Silbe erwähnt. Das alles war so typisch Derry.

Ich sah im Kühlschrank nach, fand einen Rest Schokoladenpudding und verschlang ihn, während ich an der Küchentheke stehend in den Garten hinter meinem Haus hinaussah. Ich nahm Elmore auf den Arm und streichelte ihn, bis er sich dagegen sträubte und abgesetzt werden wollte. Ich ging an meinen Computer zurück, drückte eine Taste, um den Bildschirmschoner wie durch Zauberhand verschwinden zu lassen, und sah mir noch einmal das kleine Foto von Bill Turcotte an. Das Bild des Helden, der durch sein Eingreifen die Familie gerettet und dabei einen Herzanfall erlitten hatte.

Schließlich ging ich ans Telefon und rief die Auskunft an.

8

In Derry gab es keinen Eintrag für Doris, Troy oder Harry Dunning. Als letzten Ausweg versuchte ich es mit Ellen, obwohl ich mir davon nichts versprach; selbst wenn sie noch in der Stadt lebte, würde sie vermutlich den Namen ihres Ehemanns angenommen haben. Aber Weitschüsse konnten Glückstreffer werden (wofür Lee Harvey Oswald ein besonders bösartiges Beispiel lieferte). Als der Auskunftsroboter tatsächlich eine Nummer ansagte, war ich so überrascht, dass ich keinen Bleistift zur Hand hatte. Statt noch einmal die Auskunft zu wählen, drückte ich die 1, um mit der gefundenen Nummer verbunden zu werden. Hätte ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte ich das vermutlich nicht getan. Manchmal wollten wir etwas nicht unbedingt wissen, stimmt’s? Manchmal fürchteten wir uns davor, es zu wissen. Wir wagten uns bis zu einem bestimmten Punkt vor, dann machten wir kehrt. Aber ich behielt tapfer den Hörer in der Hand, während das Telefon in Derry einmal, zweimal, dreimal klingelte. Nach dem nächsten Klingeln würde sich wahrscheinlich der Anrufbeantworter melden, und ich beschloss, keine Nachricht zu hinterlassen. Was hätte ich auch sagen sollen?

Aber mitten im vierten Klingeln sagte eine Frauenstimme: »Hallo?«

»Sind Sie Ellen Dunning?«

»Na, das hängt davon ab, wer anruft, finde ich.« Das klang vorsichtig amüsiert. Ihre Stimme war rauchig und ein bisschen einschmeichelnd. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich mir statt einer Frau, die jetzt sechzig sein musste oder sehr kurz davor, eine Mittdreißigerin vorgestellt. Das ist die Stimme einer Frau, dachte ich, die sie professionell nutzt. Eine Sängerin? Eine Schauspielerin? Vielleicht auch Comedian (oder eher eine Comédienne)? Nichts davon erschien mir in Derry sehr wahrscheinlich.

»Mein Name ist George Amberson. Ich habe vor langer Zeit Ihren Bruder Harry gekannt. Jetzt bin ich mal wieder in Maine und wollte versuchen, wieder Verbindung mit ihm aufzunehmen.«

»Harry?« Sie klang überrascht. »O Gott! War das in der Army?«

War es dort gewesen? Ich überlegte kurz und entschied mich dagegen. Zu viele potenzielle Fallstricke.

»Nein, nein, in Derry. Als wir noch Kinder waren.« Ich hatte eine Inspiration. »Wir haben immer bei der Rec gespielt. Oft in derselben Mannschaft. Wir waren viel zusammen.«

»Tja, tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss, Mr. Amberson, aber Harry ist tot.«

Im ersten Augenblick war ich sprachlos. Was am Telefon natürlich nicht förderlich war. Schließlich schaffte ich es, zu sagen: »Gott, das tut mir aber leid.«

»Das ist schon lange her. In Vietnam. Bei der Tet-Offensive.«

Mir war plötzlich so schlecht, dass ich mich hinsetzen musste. Ich hatte ihn davor bewahrt, sein Leben lang zu hinken und etwas zurückgeblieben zu sein, nur um sein Leben um ungefähr vierzig Jahre zu verkürzen? Großartig. Operation gelungen, Patient tot.

Indessen musste die Show weitergehen.

»Was ist mit Troy? Und Sie, wie geht es Ihnen? Sie waren damals ein kleines Mädchen, das auf einem Fahrrad mit Stützrädern herumgefahren ist. Und Sie haben gesungen, immer gesungen.« Ich versuchte mich an einem schwachen Lachen. »Gott, Sie haben uns echt genervt!«

»Singen tue ich heutzutage nur noch, wenn im Bennigan’s Pub Karaoke-Nacht ist, aber quasseln kann ich immer noch ohne Ende. Ich arbeite als DJ bei dem Sender WKIT in Bangor. Sie wissen schon, als Discjockey.«

»Mhm. Und Troy?«

»Der führt la vida loca in Palm Springs. Er ist der reiche Kerl in unserer Familie. Hat im EDV-Geschäft Millionen verdient. War damals in den Siebzigern von Anfang an dabei. Geht mit Steve Jobs zum Lunch und solches Zeug.« Sie lachte. Es war ein wundervolles Lachen. Ich hätte wetten können, dass es überall im Osten von Maine Leute gab, die WKIT einschalteten, nur um dieses Lachen zu hören. Als sie weitersprach, war sie leiser und klang nicht mehr im Geringsten humorvoll. »Wer sind Sie wirklich, Mr. Amberson?«

»Wie meinen Sie das?«

»Am Wochenende mache ich Sendungen, bei denen die Hörer anrufen können. Samstags einen Flohmarkt – ›Ich hab eine Gartenfräse, Ellen, fast fabrikneu, aber ich kann die Raten nicht mehr zahlen und nehme das beste Angebot über fünfzig Dollar‹. So was in der Art. Sonntags geht’s um Politik. Die Leute rufen an, um Rush Limbaugh zu geißeln oder Glenn Beck als Präsidenten vorzuschlagen. Ich bin gut im Stimmenerkennen. Wenn Sie in alten Rec-Zeiten mit Harry befreundet gewesen wären, wären Sie jetzt über sechzig, aber das sind Sie nicht. Ihre Stimme klingt, als wären Sie nicht älter als fünfunddreißig.«

Himmel, Volltreffer. »Die Leute sagen immer, dass meine Stimme für mein Alter sehr jugendlich klingt. Das hören Sie bestimmt auch oft.«

»Netter Versuch«, sagte sie ausdruckslos, und ihre Stimme klang plötzlich tatsächlich älter. »Den Sonnenschein in meiner Stimme habe ich mir in jahrelanger Arbeit antrainiert. Sie vielleicht auch?«

Mir fiel keine Antwort ein, deshalb schwieg ich.

»Außerdem ruft niemand an, um sich nach jemand zu erkundigen, mit dem er in der Grundschule befreundet war. Nicht fünfzig Jahre später.«

Am besten legst du auf, dachte ich. Du hast bekommen, was du wolltest – sogar mehr als erwartet. Leg einfach auf. Aber der Hörer schien an meinem Ohr zu kleben. Ich weiß nicht, ob ich ihn fallen lassen hätte, wenn die Wohnzimmervorhänge in Flammen aufgegangen wären.

Als sie weitersprach, klang ihre Stimme stockend. »Sind Sie er?«

»Ich weiß nicht, was Sie …?«

»In jener Nacht war noch jemand im Haus. Harry hat ihn gesehen, und ich auch. Sind Sie das?«

»Welche Nacht?« Nur klang das wie Wech Nach, weil meine Lippen plötzlich gefühllos waren. Als hätte mir jemand eine Gesichtsmaske aufgesetzt. Eine mit Schnee gefüllte Maske.

»Harry hat gesagt, das wär sein Schutzengel gewesen. Ich glaube, Sie waren das. Wo sind Sie also gewesen?«

Jetzt klang ihre Stimme undeutlich, weil sie angefangen hatte zu weinen.

»Ma’am … Ellen … ich verstehe nicht, was …«

»Ich habe ihn zum Flughafen gebracht, als er den Marschbefehl bekommen hatte und sein Urlaub zu Ende war. Er musste nach Vietnam, und ich habe ihn gewarnt, er soll gut auf sich aufpassen. Er hat gesagt: ›Mach dir keine Sorgen, du weißt doch, dass ich einen Schutzengel habe.‹ Wo waren Sie also am 6. Februar 1968, Mr. Engel? Wo waren Sie, als mein Bruder bei Khe Sanh gefallen ist? Wo waren Sie damals, Sie blöder Mistkerl?«

Sie sagte noch etwas, aber das verstand ich nicht mehr. Inzwischen weinte sie zu heftig. Ich wollte ohnehin nicht weiter zuhören. Ich legte den Hörer auf. Ich ging ins Bad, setzte mich in die Wanne, zog den Duschvorhang zu und ließ den Kopf so zwischen den Knien hängen, dass ich die Gummimatte mit den gelben Gänseblümchen anstarrte. Dann schrie ich laut. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und nun das Schlimmste: Ich wünschte mir nicht nur, Al hätte mir niemals von seinem gottverdammten Kaninchenbau erzählt. Ich wünschte mir, er wäre tot.

9

Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als ich in seine Einfahrt einbog und sah, dass im ganzen Haus kein Licht brannte. Es wurde schlimmer, als ich feststellte, dass die Haustür nicht abgesperrt war.

»Al?«

Nichts.

Ich fand den Lichtschalter und machte Licht. Im Wohnbereich herrschte die sterile Ordnung von Räumen, die regelmäßig geputzt, aber nicht mehr viel benutzt wurden. Die Wände waren mit gerahmten Fotos bedeckt. Fast alle von Leuten, die ich nicht kannte – vermutlich Als Verwandtschaft –, aber das Paar über der Couch erkannte ich: John und Jacqueline Kennedy. Sie standen am Strand – wahrscheinlich in Hyannis Port – und hatten die Arme umeinandergelegt. Der Duft von Glade-Raumspray hing in der Luft, konnte aber den Krankenzimmergeruch aus einem anderen Teil des Hauses nicht ganz überdecken. Irgendwo sangen die Temptations sehr leise »My Girl«. Sonnenschein an einem bewölkten Tag und so weiter.

»Al? Bist du da?«

Wo sollte er sonst sein? Im Studio Nine in Portland beim Discotanzen und Collegeweiberabschleppen? Ich wusste es besser. Ich hatte mir etwas gewünscht, und manchmal gingen Wünsche in Erfüllung.

Ich tastete nach den Lichtschaltern in der Küche, fand sie und überflutete den Raum mit genügend Neonlicht für eine Blinddarmoperation. Auf dem Tisch stand eine Medikamentenbox mit Fächern für jeden Wochentag. Die meisten dieser Boxen waren so klein, dass sie in eine Tasche oder Handtasche passten, aber diese hatte Lexikongröße. Vor ihr lag eine auf einen Ziggy-Notizzettel gekritzelte Mitteilung: Wenn Sie Ihre 8-Uhr-Ration vergessen, BRING ICH SIE UM!!!! Doris.

»My Girl« war zu Ende, und »Just My Imagination« begann. Ich folgte der Musik in den Krankenzimmergestank. Al lag im Bett. Er sah relativ friedlich aus. Am Ende war aus den äußeren Ecken der beiden geschlossenen Augen je eine einzelne Träne ausgetreten. Ihre Spuren waren noch so feucht, dass sie glänzten. Der CD-Wechsler stand links neben ihm auf dem Nachttisch. Dort lag auch eine Mitteilung, die mit einem Pillenfläschchen beschwert war. Das Fläschchen hätte selbst bei leichtem Wind nicht viel Wirkung gehabt, denn es war leer. Ich las, was auf dem Etikett stand: Oxycontin, 20 Milligramm. Dann griff ich nach der Mitteilung.

Sorry, Kumpel, konnte nicht länger warten. Zu starke Schmerzen. Du hast den Schlüssel zum Diner und weißt, was du zu tun hast. Red dir nicht ein, dass du es ja noch mal versuchen kannst, denn bis dahin kann zu viel passieren. Mach’s gleich beim ersten Mal richtig. Vielleicht bist du wütend auf mich, weil ich dich in diese Sache verwickelt habe. Ich an deiner Stelle wäre stinksauer. Aber du darfst keinen Rückzieher machen. Bitte nicht! Unter dem Bett steht eine Kassette. Sie enthält noch etwa 500 Dollar, die ich von drüben mitgebracht habe.

Jetzt hängt alles von dir ab, Kumpel. Ungefähr zwei Stunden nachdem Doris mich morgens aufgefunden haben wird, dürfte der Grundstücksbesitzer den Diner mit einem Vorhängeschloss sichern – also muss es heute Nacht sein. Rette ihn, okay? Rette Kennedy, und alles ändert sich.

Bitte.

Al

Du Mistkerl, dachte ich. Du hast gewusst, dass ich mir die Sache vielleicht anders überlegen würde, und dem einen Riegel vorgeschoben, hab ich recht?

Klar hatte ich Bedenken gehabt. Aber Gedanken waren keine Entscheidungen. Falls er gefürchtet hatte, ich könnte einen Rückzieher machen, hatte er sich getäuscht. Oswald aufhalten? Klar. Aber Oswald war zu diesem Zeitpunkt absolut zweitrangig, noch Teil einer ungewissen Zukunft. Eine seltsame Ausdrucksweise, wenn man an 1963 dachte, aber völlig zutreffend. Mich beschäftigte vor allem die Familie Dunning.

Arthur, auch als Tugga bekannt: Ich konnte ihn noch retten. Harry ebenfalls.

Kennedy hätte sich die Sache vielleicht anders überlegt, hatte Al gesagt. Damit hatte er den Vietnamkrieg gemeint.

Würde Harry am 6. Februar 1968 zur selben Zeit am selben Ort sein, selbst wenn Kennedy keinen Rückzug aus Vietnam befahl? Das bezweifelte ich.

»Okay«, sagte ich. »Okay.« Ich beugte mich über Al und küsste ihn auf die Wange. Ich konnte die schwache Salzigkeit seiner letzten Träne schmecken. »Schlaf gut, Kumpel.«

10

Nach der Rückkehr in mein Haus inventarisierte ich den Inhalt der Lord-Buxton-Aktentasche und den meiner geckenhaften Geldbörse aus Straußenleder. Ich hatte Als umfangreiche Aufzeichnungen über Oswalds Bewegungen nach seiner Entlassung aus dem Marine Corps am 11. September 1959. Meine Ausweise waren noch vollzählig vorhanden. Meine finanzielle Lage war weitaus besser als erwartet: Mit dem zusätzlichen Geld, das Al zurückgelegt hatte, besaß ich noch über fünftausend Dollar.

Im Fleischfach meines Kühlschranks lag Hackfleisch für Hamburger. Ich briet einen Teil davon und kippte ihn in Elmores Fressnapf. Ich streichelte ihn, während er fraß. »Sollte ich nicht zurückkommen, gehst du nach nebenan zu den Ritters«, sagte ich. »Die kümmern sich um dich.«

Elmore beachtete mich natürlich nicht, aber er würde trotzdem genau das tun, wenn ich nicht da war, um ihn zu füttern. Katzen waren Überlebenskünstler. Ich nahm die Aktentasche mit, ging zur Haustür und widerstand dem kurzen, aber heftigen Drang, ins Schlafzimmer zu laufen und mich unter der Bettdecke zu verkriechen. Würden meine Katze und mein Haus überhaupt noch da sein, wenn ich zurückkam, falls mir das gelang, was ich mir vorgenommen hatte? Und würden sie dann weiterhin mir gehören? Keinen blassen Schimmer. Soll ich etwas Komisches sagen? Selbst Menschen, die in der Vergangenheit leben konnten, wussten eigentlich nicht, was die Zukunft bringen würde.

»He, Ozzie«, sagte ich halblaut. »Nimm dich in Acht, ich komme, du Wichser.«

Dann schloss ich die Tür und ging hinaus.

11

Ohne Al war es in dem Diner richtig unheimlich, weil es sich so anfühlte, als wäre Al noch da – sein Geist, meine ich. Die Gesichter an seiner Lokalprominenzwand schienen auf mich herabzustarren, mich zu fragen, was ich hier zu suchen hätte, mir zu erklären, dass ich nicht hierhergehörte, und mich zu ermahnen, mich gefälligst rauszuhalten, bevor ich noch die Haupttriebfeder des Universums zerbräche. Besonders beunruhigend fand ich das Foto von Al mit Mike Michaud, das dort hing, wo eigentlich Harry und ich hingehörten.

Ich ging in den Vorratsraum und machte dort kleine, schlurfende Schritte vorwärts. Stell dir vor, du wolltest bei völliger Dunkelheit die oberste Stufe einer Treppe finden, hatte Al gesagt. Mach die Augen zu, Kumpel, dann ist es leichter.

Ich machte sie zu. Zwei Stufen tiefer spürte ich das Knacken des Druckausgleichs tief im Innenohr. Wärme traf meine Haut; Sonnenlicht schien durch meine geschlossenen Lider; ich hörte das schat-USCH-schat-USCH der Webstühle. Es war 11.58 Uhr am 9. September 1958. Tugga Dunning lebte wieder, und Mrs. Dunnings Arm war noch nicht gebrochen. Nicht weit von hier, bei Titus’ Chevron-Tankstelle, wartete ein Ford Sunliner, ein flottes, rotes Cabrio, auf mich.

Aber als Erstes musste ich die Begegnung mit dem ehemaligen Gelbe-Karte-Mann hinter mich bringen. Diesmal würde er den Dollar bekommen, den er verlangte, weil ich vergessen hatte, ein Fünfzigcentstück einzustecken. Ich schlüpfte unter der Kette hindurch und blieb so lange stehen, dass ich einen Dollarschein in meine rechte Hosentasche stecken konnte.

Dort blieb er auch, denn als ich um die Ecke des Trockenschuppens kam, entdeckte ich den Gelbe-Karte-Mann, der mit offenen Augen und einer Blutlache um den Kopf herum auf dem Beton lag. Seine Kehle war von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt. In der einen Hand hielt er die scharf gezackte Scherbe einer grünen Weinflasche, die er dazu benutzt hatte. In der anderen steckte seine Karte, die angeblich etwas damit zu tun hatte, dass heute im Greenfront jeder Dollar doppelt zählte. Die Karte, die früher gelb und dann orangerot gewesen war, war jetzt tiefschwarz.

Kapitel 10

1

Ich überquerte den Firmenparkplatz nun also zum dritten Mal, halb im Laufschritt, und klopfte unterwegs wieder auf den Kofferraumdeckel des weiß-roten Plymouth Fury. Das sollte mir irgendwie Glück bringen. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren würde ich alles Glück brauchen, das ich bekommen konnte.

Diesmal ging ich nicht in die Kennebec Fruit und hatte auch nicht vor, Kleidung oder ein Auto zu kaufen. Das konnte ich morgen oder übermorgen tun, denn heute könnte in The Falls ein schlechter Tag für Fremde sein. Vielleicht schon sehr bald würde jemand die Leiche auf dem Fabrikhof entdecken, und als Fremder konnte man in diesem Zusammenhang befragt werden. George Ambersons Papiere würden keiner gründlichen Überprüfung standhalten – immerhin war in seinem Führerschein eine Adresse in der Bluebird Lane angegeben, die noch gar nicht existierte.

Die Bushaltestelle vor der Fabrik erreichte ich, als gerade der Bus herangeschnaubt kam, auf dem LEWISTON EXPRESS stand. Ich stieg ein und gab dem Fahrer den Dollarschein, den ich dem Gelbe-Karte-Mann hatte geben wollen. Er klickte eine Handvoll Silber aus dem verchromten Münzbehälter, den er an seinem Gürtel vor dem Bauch trug. Ich warf einen Dime in die Fahrgeldbox und schwankte dann durch den Bus zu einem Platz hinter zwei pickeligen Matrosen – wahrscheinlich von der Brunswick Naval Air Station –, die von den Mädchen sprachen, die sie in einem Striplokal namens Holly zu sehen hofften. Ihre Unterhaltung wurde durch wiederholtes kräftiges Schulterklopfen und laut schnaubendes Lachen untermalt.

Ich beobachtete, wie die Route 196 vorbeizog, ohne sie richtig wahrzunehmen. Ich musste ständig an den Toten denken. Und an die Karte, die jetzt schwarz war. Obwohl ich es eilig gehabt hatte, mich von der verstörenden Leiche zu entfernen, hatte ich mir die Zeit genommen, die Karte zu berühren. Sie war nicht aus Pappe, wie ich anfangs vermutet hatte. Auch nicht aus Kunststoff. Vielleicht aus Zelluloid … obwohl sie sich auch danach nicht so richtig angefühlt hatte. Eher wie abgestorbene Haut, die man von einer Schwiele abziehen könnte. Beschriftet war sie offensichtlich nicht gewesen.

Al hatte den Gelbe-Karte-Mann für einen Geistesgestörten gehalten, der durch eine unglückliche Kombination aus Alkohol und Nähe zum Kaninchenbau verrückt geworden sei. Diese Einschätzung hatte ich erst angezweifelt, als die Karte orangerot geworden war. Jetzt zweifelte ich sie nicht nur an; inzwischen hielt ich sie schlicht und einfach für falsch. Wer war der Kerl überhaupt?

Tot, das ist er. Und das ist alles, was er ist. Kümmere dich nicht mehr um ihn. Du hast viel zu tun.

Als wir am Autokino von Lisbon vorbeifuhren, ruckte ich an der Stoppleine. Der Fahrer hielt am nächsten Telefonmast, der mit einem weißen Streifen gekennzeichnet war.

»Schönen Tag noch«, wünschte ich dem Fahrer, als er den Hebel zum Türöffnen betätigte.

»An dieser Strecke gibt’s nichts Schönes außer einem kalten Bier nach Dienstschluss«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an.

Einige Sekunden später stand ich mit meiner Aktentasche in der linken Hand auf dem Kiesbankett am Straßenrand und sah dem Bus nach, der in Richtung Lewiston weiterrumpelte und dabei Auspuffqualm hinter sich her zog. An seinem Heck war eine Werbetafel angebracht, auf der eine Hausfrau einen blitzblanken Kochtopf in der einen und einen Magischen Topfreiniger der Marke S.O.S. in der anderen Hand hielt. Ihre riesigen, blauen Augen und das zähnefletschende Lippenstiftgrinsen ließen an eine Frau denken, die nur Minuten von einem katastrophalen Nervenzusammenbruch entfernt war.

Der Himmel war wolkenlos. Im hohen Gras zirpten Grillen. Irgendwo muhte eine Kuh, und als die leichte Brise den Dieselgestank weggeweht hatte, roch die Luft süß und frisch und unverbraucht. Ich machte mich auf den ungefähr eine Viertelmeile langen Weg zum Tamarack-Autohof. Nur ein kurzer Spaziergang, aber bevor ich mein Ziel erreichte, hielten zwei Autofahrer neben mir und boten mir an, mich mitzunehmen. Ich bedankte mich und sagte, das sei nicht nötig. Als ich den Autohof erreichte, pfiff ich vor mich hin.

September 1958, Vereinigte Staaten von Amerika.

Gelbe-Karte-Mann hin oder her, es war schön, wieder hier zu sein.

2

Ich verbrachte den Rest dieses Tages in meinem Motelzimmer, arbeitete Als Notizen über Oswald zum x-ten Mal durch und konzentrierte mich diesmal besonders auf die beiden letzten Seiten unter der Überschrift SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜRS WEITERE VORGEHEN. Fernsehen zu wollen, wenn es im Prinzip nur ein Programm gab, wäre absurd gewesen, also schlenderte ich in der Abenddämmerung zum Autokino hinüber und zahlte den ermäßigten Eintritt von 30 Cent für Fußgänger. Vor der Snackbar waren Klappstühle aufgestellt. Ich kaufte mir eine Tüte Popcorn und eine wohlschmeckende Limonade mit Zimtgeschmack, die Pepsol hieß, und sah mir Der lange heiße Sommer an, gemeinsam mit mehreren weiteren Fußgängern – meist ältere Leute, die sich kannten und sich munter unterhielten. Als Vertigo – Aus dem Reich der Toten begann, war es kühl geworden. Weil ich keine Jacke anhatte, ging ich zum Autohof zurück, wo ich traumlos einschlief.

Am folgenden Morgen nahm ich den Bus nach Lisbon Falls (diesmal kein Taxi; ich musste sparen, zumindest vorläufig) und besuchte als Erstes den Jolly White Elephant. Zu dieser frühen Zeit war es noch kühl, weshalb der Beatnik drinnen war. Er saß auf einem mottenzerfressenen Sofa und las das Groschenheft Argosy.

»Hallo, Nachbar«, sagte er.

»Selber hallo. Sie verkaufen wohl auch Koffer?«

»Oh, ich hab ein paar auf Lager. Knapp zwei-, dreihundert, würd ich sagen. Ganz hinten rechts. Ganz hinten …«

»Rechts«, ergänzte ich.

»Genau. Waren Sie schon mal hier?«

»Wir waren alle schon mal hier«, sagte ich. »Diese Sache ist bedeutender als Profifootball.«

Er lachte. »Groovy, Jackson. Suchen Sie sich ’nen Sieger aus.«

Ich nahm denselben Lederkoffer. Dann ging ich über die Straße und kaufte wieder den Sunliner. Diesmal feilschte ich hartnäckiger und bekam ihn für dreihundert. Als wir uns einig geworden waren, schickte Bill Titus mich zu seiner Tochter hinüber.

»Sie reden nicht so, als wären Sie von hier«, sagte sie.

»Ursprünglich aus Wisconsin, aber ich bin schon längere Zeit in Maine. Geschäftlich.«

»Sie waren gestern wohl nicht in The Falls, was?« Als ich verneinte, ließ sie ihren Bubblegum platzen und sagte: »Da haben Sie einiges an Aufregung verpasst. Neben dem Trockenschuppen drüben in der Fabrik ist ein alter Kerl tot aufgefunden worden.« Sie senkte die Stimme. »Selbstmord. Hat sich die Kehle mit einer Glasscheibe durchgeschnitten. Können Sie sich das vorstellen?«

»Wie schrecklich«, sagte ich und steckte die Quittung für den Sunliner in meine Geldbörse. Ich warf die Autoschlüssel hoch und fing sie wieder auf. »Von hier?«

»Nein, und er hatte auch keinen Ausweis. Wahrscheinlich ist er mit ’nem Güterwagen aus der County gekommen, das sagt jedenfalls mein Dad. Vielleicht zum Apfelpflücken in Castle Rock. Mr. Cady – das ist der Verkäufer im Greenfront – hat meinem Dad erzählt, dass der Kerl gestern Morgen reingekommen ist und eine Flasche Schnaps kaufen wollte, aber er war betrunken und hat so gestunken, dass Mr. Cady ihn rausgeworfen hat. Dann muss er zur Fabrik rübergegangen sein, um seinen restlichen Vorrat auszutrinken, und als der weg war, hat er die Flasche zerschlagen und sich mit einer Scherbe die Kehle durchgeschnitten.« Sie wiederholte: »Können Sie sich das vorstellen?«

Ich sparte mir den Haarschnitt und auch den Weg zur Bank, aber ich kaufte wieder Klamotten bei Mason’s Menswear.

»Dieser Blauton gefällt Ihnen offenbar«, bemerkte der Verkäufer und deutete auf das Hemd oben auf meinem Stapel. »Dieselbe Farbe wie das Hemd, das Sie tragen.«

Ich trug sogar dasselbe Hemd, aber das sagte ich nicht. Es hätte uns nur beide verwirrt.

3

An diesem Mittwochnachmittag fuhr ich auf dem Mile-A-Minute Highway nach Norden. Diesmal brauchte ich keinen Strohhut zu kaufen, als ich nach Derry kam, weil ich daran gedacht hatte, meine Einkäufe bei Mason’s um einen flotten Strohhut zu ergänzen. Ich nahm mir ein Zimmer im Derry Town House, aß im Hotelrestaurant zu Abend, ging danach in die Bar und bestellte bei Fred Toomey ein Bier. Bei diesem Durchgang versuchte ich nicht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

Am folgenden Tag mietete ich mein altes Apartment in der Harris Avenue, und statt mich wachzuhalten, wiegte der Lärm der landenden Flugzeuge mich sogar in den Schlaf. Einen Tag später ging ich zu Machen’s Sporting Goods und erklärte dem Verkäufer, dass ich eine Handfeuerwaffe kaufen wolle, weil ich in der Immobilienbranche sei und bla-bla-bla. Der Mann zeigte mir einen .38er Police Special und versicherte mir erneut, dass dies eine gute Selbstschutzwaffe sei. Ich kaufte den Revolver und verstaute ihn in meiner Aktentasche. Ich spielte mit dem Gedanken, einen Spaziergang zu dem kleinen Picknickplatz an der Kansas Street zu machen und zuzusehen, wie Richie-from-the-ditchie und Bevvie-from-the-levee ihre Jump-Street-Moves übten, aber dann wurde mir klar, dass ich sie um einen Tag verpasst hatte. Ich wünschte mir, ich hätte daran gedacht, bei meiner kurzen Rückkehr ins Jahr 2011 die Ausgaben der Daily News von Ende November 1958 einzusehen, um zu erfahren, ob sie die Talentshow ihrer Schule gewonnen hatten.

Ich gewöhnte mir an, jeweils am frühen Abend, bevor das Lokal sich füllte, auf ein Bier in den Lamplighter zu gehen. Manchmal bestellte ich Hummerklein. Frank Dunning sah ich dort nie, wollte ihn auch gar nicht sehen. Ich hatte einen anderen Grund dafür, regelmäßig in den Lamplighter zu gehen. Falls alles klappte wie geplant, würde ich bald nach Texas weiterziehen, wollte aber meine Kasse aufbessern, bevor ich Derry verließ. Ich freundete mich mit dem Barkeeper Jeff an, der eines Abends Ende September schließlich von sich aus ein Thema ansprach, das ich selbst hatte anschneiden wollen.

»Wer ist Ihr Favorit für die World Series, George?«

»Natürlich die Yankees«, sagte ich.

»Das sagen Sie? Jemand aus Wisconsin?«

»Lokalpatriotismus hat nichts damit zu schaffen. Die Yankees sind das Team der Stunde.«

»Ausgeschlossen! Ihre Pitcher sind alt. Ihre Verteidigung ist löchrig. Mantle ist schlecht zu Fuß. Die Zeit der Bronx Bombers ist vorbei. Milwaukee wird die womöglich überrollen.«

Ich lachte. »Sie haben gute Argumente, Jeff. Ich sehe schon, dass Sie sich für das Spiel interessieren, aber geben Sie’s ruhig zu – Sie hassen die Yankees wie jedermann in Neuengland, und das verzerrt Ihre Perspektive.«

»Möchten Sie vielleicht darauf wetten?«

»Klar, einen Fünfer. Lohnabhängigen nehme ich grundsätzlich nie mehr als einen Fünfer ab. Gilt die Wette?«

»Abgemacht.« Wir gaben uns die Hand darauf.

»Okay«, sagte ich, »nachdem das erledigt ist und wir bei den Themen Baseball und Wetten sind – den beiden großen amerikanischen Zeitvertreiben –, frage ich mich, ob Sie mir nicht sagen können, wo man hier in Derry höhere Wetten anbietet. Ich möchte eine ernsthafte Wette abschließen. Bringen Sie mir noch ein Bier, und zapfen Sie sich selbst eins.«

Jeff lachte, weil ich das mit breitem Maine-Slang gesagt hatte, und zapfte zwei Narragansetts (die ich Nasty Gansetts nennen gelernt hatte, weil ich es für angebracht hielt, mit den Wölfen zu heulen).

Wir stießen miteinander an, und Jeff fragte mich, was ich unter einer ernsthaften Wette verstünde. Ich tat so, als dächte ich darüber nach, dann sagte ich es ihm.

»Fünfhundert Dollar? Auf die Yankees? Obwohl die Braves Spahn und Burdette haben? Ganz zu schweigen von Hank Aaron und Steady Eddie Mathews? Sind Sie übergeschnappt?«

»Vielleicht ja, vielleicht nein. Das sehen wir ab dem 1. Oktober, nicht wahr? Gibt’s in Derry überhaupt jemand, der eine Wette in dieser Höhe annehmen würde?«

Wusste ich, welchen Namen er nennen würde? Nein. Ich bin schließlich kein Hellseher. War ich überrascht? Wieder nein. Weil die Vergangenheit nicht nur unerbittlich, sondern auch in Harmonie mit sich selbst und der Zukunft war. Diese Harmonie erlebte ich immer wieder.

»Chaz Frati. Sie haben ihn bestimmt schon hier drinnen gesehen. Ihm gehören eine Menge Leihhäuser. Ich würde ihn nicht gerade als Buchmacher bezeichnen, aber wenn die World Series laufen oder an den Highschools die Football- und Basketballsaison im Gang ist, hat er reichlich zu tun.«

»Und Sie glauben, dass er meine Wette annehmen würde?«

»Klar. Er nennt Ihnen eine Quote und alles. Aber …« Er sah sich um, stellte fest, dass wir die Bar noch für uns allein hatten, senkte seine Stimme aber trotzdem zu einem Flüstern. »Bescheißen Sie ihn bloß nicht, George. Er kennt Leute. Kräftige Leute.«

»Verstanden«, sagte ich. »Danke für den Tipp. Ich werde Ihnen sogar einen Gefallen tun und nicht auf dem Fünfer bestehen, wenn die Yankees die World Series gewinnen.«

4

Am folgenden Tag betrat ich das Mermaid Pawn & Loan, Chaz Fratis Leihhaus, und sah mich dort einer großen, humorlos wirkenden Dame gegenüber, die schätzungsweise drei Zentner wog. Zu einem purpurroten Gewand trug sie Indianerschmuck, an den geschwollenen Füßen hatte sie Mokassins. Ich bekundete ihr mein Interesse daran, mit Mr. Frati über ein größeres sportlich orientiertes Geschäft zu sprechen.

»Ist das in normalen Worten eine Wette?«, fragte sie.

»Sind Sie ein Cop?«, fragte ich zurück.

»Ja«, sagte sie, zog eine Tiparillo aus einer Tasche ihres Gewands und zündete sie sich mit einem Zippo an. »Ich bin J. Edgar Hoover, mein Sohn.«

»Nun, Mr. Hoover, Sie haben mich erwischt. Ich rede von einer Wette.«

»World Series oder Tigers Football?«

»Ich bin nicht von hier und könnte keinen Derry Tiger von einem Bangor Pavian unterscheiden. Es geht um Baseball.«

Die Frau steckte den Kopf durch den Vorhang, der im rückwärtigen Teil des Raums einen Gang abtrennte, und präsentierte mir dabei einen Hintern, der zu den größten von Mittelmaine gehören musste. »He, Chazzy, komm hier raus!«, schrie sie. »Kundschaft für dich!«

Frati kam heraus und küsste die beleibte Dame auf die Wange. »Danke, mein Schatz.« Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass ich die Meerjungfrau sehen konnte. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Das hoffe ich sehr. Mein Name ist George Amberson.« Ich streckte ihm die Hand hin. »Ich stamme aus Wisconsin, und obwohl mein Herz für die Jungs aus der Heimat schlägt, bin ich im Fall der World Series mit dem Kopf – und der Geldbörse – für die Yankees.«

Er drehte sich nach dem Regal hinter ihm um, aber die umfangreiche Dame hatte bereits das, was er wollte: eine abgegriffene grüne Kladde, die mit PERSÖNLICHE DARLEHEN beschriftet war. Er schlug sie auf und blätterte bis zu einer leeren Seite vor, wobei er seine Fingerspitze zwischendurch mehrmals anfeuchtete. »Wie viel aus Ihrer Geldbörse würden Sie setzen wollen, junger Freund?«

»Welche Quote würden Sie mir bieten, wenn ich fünfhundert auf Sieg setze?«

Die beleibte Dame blies lachend Rauch in die Luft.

»Auf die Bombers? Eins zu eins, mein Freund. Nicht mehr als eins zu eins.«

»Welche Quote bekäme ich, wenn ich fünfhundert darauf setzen würde, dass die Yankees nach sieben Spielen vorn sind?«

Frati überlegte, dann wandte er sich an die vollschlanke Frau. Sie schüttelte den Kopf, wirkte jedoch weiterhin amüsiert. »Geht nicht«, sagte sie. »Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ein Telegramm schicken und sich die New Yorker Konditionen bestätigen lassen.«

Ich seufzte und trommelte mit den Fingern auf eine Vitrine mit Uhren und Ringen. »Okay, wie wär’s damit – fünfhundert, und die Yankees gewinnen nach einem Rückstand von drei zu eins Spielen.«

Er lachte. »Das nenne ich Humor, junger Freund. Augenblick, ich will mich nur kurz mit dem Boss beraten.«

Die dicke Lady (neben der Frati wie ein Tolkien-Zwerg aussah) und er berieten sich flüsternd, dann kam er an den Ladentisch zurück. »Wenn Sie meinen, was ich vermute, dass Sie’s meinen, nehme ich Ihre Wette mit vier zu eins an. Aber wenn die Yankees nicht mit eins zu drei im Rückstand sind, bevor sie die Series gewinnen, verlieren Sie Ihr Geld. Diese Bedingung möchte ich von vornherein klarstellen.«

»Völlig klar«, sagte ich. »Aber – nichts gegen Sie oder Ihre Freundin …«

»Wir sind verheiratet«, sagte die dicke Frau. »Nennen Sie uns also nicht Freunde.« Worauf sie noch lauter lachte.

»Nichts gegen Sie oder Ihre Gattin, aber vier zu eins genügt nicht. Acht zu eins dagegen … das wäre eine für beide Seiten befriedigende Wette.«

»Ich gebe Ihnen fünf zu eins, aber damit ist Schluss«, sagte Frati. »Für mich sind Wetten nur ein Nebengeschäft. Wenn Sie Vegas wollen, müssen Sie nach Vegas gehen.«

»Sieben«, sagte ich. »Kommen Sie, Mr. Frati, bewegen Sie sich ein bisschen.«

Die untersetzte Gattin und er berieten sich erneut. Dann kam er zurück und bot sechs zu eins, was ich akzeptierte. Für eine so verrückte Wette war das eine viel zu niedrige Quote, aber ich wollte Frati nicht allzu sehr bluten lassen. Gewiss, er hatte sich von Bill Turcotte auf mich ansetzen lassen, aber er hatte seine Gründe dafür gehabt.

Außerdem war das in einem anderen Leben gewesen.

5

Damals wurde Baseball gespielt, wie es gespielt werden sollte – in heller Nachmittagssonne und an Tagen im Frühherbst, die sich noch nach Sommer anfühlten. In der Unterstadt versammelten sich die Menschen vor Benton’s Appliance Store, um die Spiele auf Fernsehern der Marke Zenith mit 21-Zoll-Bildschirmen zu verfolgen, die im Schaufenster auf Sockeln standen. Über ihnen hieß es auf einem Schild: WOZU AUF DER STRASSE FERNSEHEN, WENN SIE ZU HAUSE FERNSEHEN KÖNNEN? GÜNSTIGE TEILZAHLUNG!

Ah, richtig. Günstige Teilzahlung. Das war schon mehr das Amerika, in dem ich aufgewachsen war.

Am 1. Oktober schlug Milwaukee mit Warren Spahn die Yankees eins zu null. Am 2. Oktober fegte Milwaukee die Bombers dreizehn zu fünf vom Feld. Am 4. Oktober, als die World Series in die Bronx zurückkehrten, schlug Don Larsen Milwaukee vier zu null – mit Unterstützung von Reserve-Pitcher Ryne Duren, der selbst nicht wusste, wohin der Ball nach Verlassen seiner linken Hand gehen würde, und so die gegnerischen Batter in Angst und Schrecken versetzte. Mit anderen Worten: der perfekte Abschlusswerfer.

Nachdem ich mir den ersten Teil dieses Spiels in meinem Apartment am Radio angehört hatte, verfolgte ich die letzten Innings in der vor Benton’s versammelten Zuschauermenge. Nach Spielende ging ich in den Drugstore und kaufte mir Pepto-Bismol (vielleicht dieselbe große Sparpackung wie bei meinem letzten Trip). Mr. Keene fragte mich wieder, ob ich mir eine kleine Infektion geholt hätte. Als ich ihm versicherte, dass mir nichts fehle, wirkte der alte Hundesohn enttäuscht. Ich fühle mich wirklich ganz gut und erwartete nicht, dass die Vergangenheit mich mit schnellen Bällen à la Ryne Duren konfrontieren würde, aber ich hielt es für besser, vorbereitet zu sein.

Als ich den Drugstore verließ, fiel mein Blick auf eine Schaufensterauslage, in der mich ein Schild aufforderte: NEHMEN SIE EIN KLEINES STÜCK VON MAINE MIT NACH HAUSE! Hier gab es Postkarten, aufblasbare Spielhummer, kleine Säckchen mit duftendem Tannenmulch, Nachbildungen des hiesigen Paul-Bunyan-Denkmals und kleine Zierkissen mit dem Bild des Derry Standpipe, wie der runde Wasserturm der Stadt hieß. Ich kaufte eines davon.

»Für meinen Neffen in Oklahoma City«, erklärte ich Mr. Keene.

Die Yankees hatten das dritte Spiel der World Series bereits gewonnen, als ich zur Texaco-Tankstelle auf der Harris Avenue Extension abbog. Vor den Zapfsäulen verkündete ein großes Schild: MECHANIKER AN 7 TAGEN DIE WOCHE IM DIENST – VERTRAUEN SIE IHREN WAGEN DEM MANN MIT DEM STERN AN!

Während der Tankwart den Tank des Sunliners füllte und die Windschutzscheibe putzte, ging ich in die Werkstatt, wo ich einen Mechaniker namens Randy Baker antraf, mit dem ich kurz verhandelte. Baker reagierte leicht verständnislos, war aber mit meinem Vorschlag einverstanden. Zwanzig Dollar wechselten den Besitzer. Er gab mir die Telefonnummer der Tankstelle und seine Privatnummer zu Hause. Ich fuhr mit vollem Tank, sauberer Windschutzscheibe und zufrieden davon. Nun … relativ zufrieden. Es war unmöglich, für alle Eventualitäten vorauszuplanen.

Wegen der Vorbereitungen für den Folgetag kam ich diesmal später als sonst in den Lamplighter, um mein abendliches Bier zu trinken, aber ich riskierte damit nicht, dort Frank Dunning zu begegnen. Es war der Tag, an dem er mit seinen Kindern zum Footballspiel nach Orono fahren würde, und auf der Rückfahrt würden sie im Ninety-Fiver einkehren, wo es dann gebratene Muscheln und Milchshakes gab.

Chaz Frati war an der Bar und trank Rye mit Wasser. »Hoffen Sie lieber, dass morgen die Braves gewinnen, sonst sind Sie fünfhundert ärmer.«

Sie würden gewinnen, aber mich beschäftigten wichtigere Dinge. Ich würde so lange in Derry bleiben, bis ich meine drei Riesen bei Mr. Frati abkassiert hatte, doch um den eigentlichen Zweck meines Besuchs würde ich mich bereits morgen kümmern. Falls alles klappte wie erhofft, wäre ich in Derry fertig, bevor Milwaukee im sechsten Inning den einen Run erzielte, der ihm den Sieg sichern würde.

»Nun«, sagte ich und bestellte mir ein Bier und etwas gegrilltes Hummerklein. »Das werden wir einfach abwarten müssen, stimmt’s?«

»Genau, mein Freund. Das macht den Spaß beim Wetten aus. Darf ich Sie etwas fragen?«

»Klar. Sie dürfen nur nicht beleidigt sein, wenn ich die Antwort verweigere.«

»Das gefällt mir so an Ihnen, junger Freund – dieser Sinn für Humor. Muss eine Spezialität von Leuten aus Wisconsin sein. Mich würde interessieren, was Sie in unsere schöne Stadt geführt hat.«

»Immobilien. Ich dachte, das hätte ich Ihnen erzählt.«

Er beugte sich weiter zu mir herüber. Ich konnte Vitalis in seinem zurückgekämmten Haar und Sen-Sen in seinem Atem riechen. »Und wenn ich Grundstück für ein Einkaufszentrum sagen würde – wäre das ein Treffer?«

Darüber kamen wir ins Reden, aber dieser Teil ist ja bereits bekannt.

6

Ich habe gesagt, dass ich den Lamplighter zu Zeiten mied, zu denen ich dort Frank Dunning hätte begegnen können, weil ich schon alles über ihn wusste, was ich wissen musste. Das ist die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Das muss ich klar zum Ausdruck bringen. Täte ich das nicht, würde man mein späteres Verhalten in Texas nie verstehen.

Man stelle sich vor, man beträte einen Raum, in dem auf einem Tisch ein komplexes, mehrstöckiges Kartenhaus aufgebaut ist. Man hätte den Auftrag, es zum Einsturz zu bringen. Wäre das alles, wäre die Sache einfach, nicht wahr? Ein kräftiges Aufstampfen mit dem Fuß oder ein kräftiges Pusten – als wollte man alle Kerzen einer Geburtstagstorte auf einmal ausblasen – würde schon ausreichen. Aber das ist noch nicht alles. Der Haken dabei ist, dass man das Kartenhaus in einem bestimmten Augenblick zum Einsturz bringen muss. Bis dahin muss es stehen bleiben.

Ich wusste, wo Dunning am Nachmittag des 5. Oktober 1958 sein würde, und wollte nicht riskieren, ihn auch nur im Geringsten vom Kurs abzubringen. Selbst eine zufällige Begegnung mit ihm im Lamplighter hätte eine Kursänderung bewirken können. Man könnte jetzt schnauben und mich übervorsichtig nennen; man könnte sagen, es sei doch sehr unwahrscheinlich, dass solche Kleinigkeiten große Veränderungen zur Folge hätten. Aber die Vergangenheit ist zerbrechlich wie ein Schmetterlingsflügel. Beziehungsweise wie ein Kartenhaus.

Ich war nach Derry gekommen, um Frank Dunnings Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Aber bis dahin musste ich es vor dem Einsturz bewahren.

7

Ich wünschte Chaz Frati eine gute Nacht und ging in meine Wohnung zurück. Meine Flasche Pepto-Bismol stand im Medizinschränkchen im Bad, und das neue Souvenirkissen mit dem in Gold gestickten Wasserturm lag auf dem Küchentisch. Ich holte ein Messer aus der Besteckschublade und schnitt das Kissen vorsichtig diagonal auf. Dann steckte ich meinen Revolver hinein und schob ihn tief in die Füllung.

Ich war mir nicht sicher, ob ich würde schlafen können, aber ich schlief tief und fest. Tu dein Bestes und überlass Gott den Rest war nur eine der vielen Redensarten, die Christy aus den AA-Meetings heimgebracht hatte. Ob es einen Gott gibt, weiß ich nicht – aus Jake Eppings Sicht steht der Urteilsspruch der Geschworenen in dieser Sache noch aus –, aber als ich an jenem Abend zu Bett ging, war ich mir ziemlich sicher, mein Bestes getan zu haben. Nun konnte ich nur noch etwas schlafen und hoffen, dass mein Bestes auch gut genug war.

8

Diesmal gab es keine Darmgrippe. Diesmal wachte ich bei Tagesanbruch mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens auf. Ich tippte auf eine Migräne. Genau sagen konnte ich das nicht, weil ich noch nie eine gehabt hatte. Schon ein Blick in schwaches Tageslicht erzeugte ein übelkeiterregendes dumpfes Pochen, das vom Genick bis zu den Nebenhöhlen reichte. Aus meinen Augen strömten nutzlose Tränen.

Ich stand auf (schon das tat weh), setzte die billige Sonnenbrille auf, die ich mir für die Fahrt nach Derry gekauft hatte, und schluckte fünf Aspirin. Sie halfen immerhin so weit, dass ich mich anziehen und in meinen Mantel schlüpfen konnte. Den würde ich brauchen, denn der Morgen war kalt, grau und regnerisch. In gewisser Beziehung war das ein Plus. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in hellem Sonnenschein hätte überleben können.

Ich hätte mich rasieren sollen, aber das ließ ich heute aus: Ich hatte Angst, unter hellem Licht – das durch den Spiegel im Bad verdoppelt wurde – könnte mein Gehirn sich einfach auflösen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich durch diesen Tag kommen sollte, also versuchte ich es gar nicht erst. Einen Schritt nach dem anderen, ermahnte ich mich, als ich langsam die Treppe hinunterging. Mit einer Hand klammerte ich mich ans Geländer, mit der anderen hielt ich mein Souvenirkissen an mich gedrückt. Ich muss wie ein überaltertes Kind mit seinem Teddybären ausgesehen haben. Einen Schritt nach dem an…

Das Geländer gab nach.

Einen Augenblick lang kippte ich mit dröhnendem Schädel und wild in der Luft fuchtelnden Händen nach vorn. Ich ließ das Kissen fallen (der Revolver darin schepperte) und krallte nach der Wand über mir. Bevor meine Schräglage zu einem Treppensturz wurde, der mir den Hals brechen konnte, bekam ich im letzten Augenblick einen der altmodischen Wandleuchter zu fassen. Ich riss ihn aus der Wand, aber das Elektrokabel hielt noch, sodass ich das Gleichgewicht zurückgewann.

Ich setzte mich auf die Treppe und ließ meinen pochenden Kopf auf den Knien ruhen. Die Kopfschmerzen waren mit meinem rasenden Herzschlag synchronisiert. Meine tränenden Augen schienen zu groß für ihre Höhlen zu sein. Ich könnte jetzt erzählen, dass ich am liebsten in meine Wohnung zurückgekrochen wäre und mein Vorhaben aufgegeben hätte, aber das wäre nicht die Wahrheit. In Wirklichkeit wollte ich gleich hier auf der Treppe sterben, damit alles ein Ende hatte. Gab es wirklich Leute, die solche Kopfschmerzen nicht nur manchmal, sondern regelmäßig hatten? Dann stehe Gott ihnen bei.

Es gab nur eines, was mich wieder auf die Beine bringen konnte, und ich zwang mein schmerzendes Hirn dazu, nicht nur daran zu denken, sondern es auch zu sehen: Tugga Dunnings Gesicht, das sich jäh auflöste, während er auf mich zukroch. Haare und Gehirnmasse, die förmlich in die Luft sprangen.

»Okay«, sagte ich. »Okay, ja, okay.«

Ich drückte das Zierkissen an mich und wankte die restlichen Stufen hinunter. Dann trat ich in einen wolkenverhangenen Tag hinaus, der mir so gleißend hell erschien wie ein Nachmittag in der Sahara. Ich tastete nach meinen Autoschlüsseln. Sie waren nicht da. Wo sie hätten sein sollen, ertastete ich ein großes Loch in der rechten Hosentasche. Am Vorabend war es noch nicht da gewesen, das wusste ich ziemlich sicher. Mit kleinen, ruckartigen Schritten kehrte ich um. Meine Schlüssel lagen zwischen verstreutem Kleingeld auf dem Podest vor der Haustür. Ich bückte mich nach ihnen und zuckte zusammen, weil sich dabei ein Bleigewicht in meinem Schädel nach vorn verlagerte. Mit den Schlüsseln in der Hand taperte ich zum Sunliner. Und als ich den Motor anzulassen versuchte, wollte mein bisher stets zuverlässiger Ford nicht anspringen. Der Anlassermagnet klickte ein einziges Mal. Das war’s dann auch schon.

Für diese Eventualität hatte ich vorgesorgt; nicht vorbereitet war ich jedoch darauf, mit zum Zerspringen schmerzendem Kopf ein weiteres Mal die Treppe erklimmen zu müssen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so verzweifelt nach meinem Nokia gesehnt. Mit ihm hätte ich am Steuer sitzend telefonieren und dann mit geschlossenen Augen still abwarten können, bis Randy Baker kam.

Irgendwie schaffte ich es, die Treppe hinaufzukommen – vorbei an dem abgebrochenen Geländer und dem heruntergerissenen Wandleuchter, der wie der Kopf eines Toten mit Genickbruch an seinem Kabel baumelte. In der Tankstelle meldete sich niemand – nicht so früh an einem Sonntagmorgen –, weshalb ich es mit Bakers Privatnummer versuchte.

Wahrscheinlich ist er tot, dachte ich. Hat mitten in der Nacht einen Herzinfarkt gehabt. Von der unerbittlichen Vergangenheit gekillt, mit Jake Epping als heimlichem Mitverschwörer.

Mein Mechaniker war nicht tot. Nach dem zweiten Klingeln meldete er sich mit verschlafener Stimme, und als ich ihm mitteilte, dass mein Wagen nicht anspringen wolle, stellte er die logische Frage: »Wie konnten Sie das schon gestern wissen?«

»Ich kann gut raten«, sagte ich. »Kommen Sie so schnell wie möglich her, okay? Wenn Sie ihn wieder in Gang bringen, kriegen Sie noch einen Zwanziger.«

9

Auch nachdem Baker das Batteriekabel festgeschraubt hatte, das sich letzte Nacht auf rätselhafte Weise gelockert hatte (vielleicht in dem Augenblick, in dem das Loch in meiner Hosentasche entstanden war), wollte der Motor nicht anspringen. Also prüfte er die Zündkerzen und fand prompt zwei, die stark korrodiert waren. Er hatte in seinem großen, grünen Werkzeugkasten Ersatzkerzen, und als sie eingeschraubt waren, sprang der Motor sofort an.

»Das geht mich wahrscheinlich nichts an, aber Sie sollten nirgendwo anders hin als wieder ins Bett. Oder zu einem Arzt. Sie sind bleich wie ein Gespenst.«

»Das ist nur eine Migräne. Ich komme schon zurecht. Werfen wir noch einen Blick in den Kofferraum. Ich möchte nach dem Reservereifen sehen.«

Wir prüften den Reservereifen. Platt.

Ich folgte ihm durch den stetigen Nieselregen, der inzwischen eingesetzt hatte, zur Texaco-Tankstelle. Die entgegenkommenden Autos fuhren mit Licht, und obwohl ich eine Sonnenbrille trug, schien jedes Scheinwerferpaar Löcher in mein Gehirn zu bohren. Baker sperrte die Werkstatt auf und versuchte, meinen Reservereifen aufzupumpen. Aussichtslos. Die Luft entwich zischend durch ein halbes Dutzend winziger Löcher.

»Hä?«, machte er. »So was hab ich noch nie gesehen. Der Reifen muss defekt sein.«

»Ziehen Sie einen anderen auf«, sagte ich.

Während er das tat, ging ich hinter die Werkstatt. Ich konnte das Arbeitsgeräusch des Kompressors nicht ertragen. Ich lehnte mich an die Betonwand, hob den Kopf und ließ kalten Nieselregen auf meine heiße Haut fallen. Ein Schritt nach dem anderen, ermahnte ich mich. Ein Schritt nach dem anderen.

Als ich Randy Baker den Reifen bezahlen wollte, schüttelte er den Kopf. »Sie haben mir schon einen halben Wochenlohn gegeben. Es wäre schäbig, noch mehr zu nehmen. Ich mache mir nur Sorgen, dass Sie von der Straße abkommen oder sonst wie verunglücken könnten. Ist die Sache wirklich so wichtig?«

»Kranker Verwandter.«

»Sie sind selbst krank, Mann.«

Das konnte ich nicht abstreiten.

10

Ich verließ Derry auf der Route 7 und fuhr an jeder Kreuzung langsamer, um nach links und rechts zu sehen, unabhängig davon, ob ich Vorfahrt hatte oder nicht. Das erwies sich als ausgezeichnet, denn an der Kreuzung mit der Old Derry Road überfuhr ein voll beladener Kieslaster die rote Ampel. Hätte ich nicht fast angehalten, obwohl ich Grün hatte, wäre mein Ford völlig demoliert worden. Und ich hätte als Hackfleisch darin gelegen. Trotz meiner Kopfschmerzen hupte ich wütend, aber der Fahrer reagierte nicht darauf. Er sah hinter dem Steuer wie ein Zombie aus.

Das schaffe ich nie, dachte ich. Aber wenn ich Frank Dunning nicht aufhalten konnte, wie konnte ich dann auch nur hoffen, Oswald aufzuhalten? Wozu sollte ich dann überhaupt nach Texas fahren?

Allerdings hielt mich nicht dieser Gedanke in Gang. Dafür sorgte der Gedanke an Tugga. Von den drei anderen Kindern ganz zu schweigen. Ich hatte sie bereits ein Mal gerettet. Wenn ich sie nicht wieder rettete, wie könnte ich mich da vor der sicheren Erkenntnis drücken, an ihrer Ermordung beteiligt gewesen zu sein, schlicht indem ich einen Neustart verursacht hatte?

Vor mir lag das Autokino von Derry. Ich bog in die mit Kies bestreute Zufahrt ein, die zu dem verschlossenen Kassenhäuschen führte. Die Zufahrt war von Zierkiefern gesäumt. Ich parkte hinter ihnen, stellte den Motor ab und wollte aussteigen. Ich konnte nicht. Die Fahrertür ließ sich nicht öffnen. Ich warf mich mehrmals mit der Schulter dagegen, und als sie immer noch nicht aufging, sah ich, dass der Verriegelungsstift hinuntergedrückt war, obwohl ich ihn nicht berührt hatte. Ich zog daran. Er ließ sich nicht hochziehen. Ich wackelte kräftig daran. Er blieb unten. Ich kurbelte mein Fenster herunter, beugte mich hinaus und schaffte es, das Schloss in dem verchromten Druckknopf unter dem äußeren Türgriff mit meinem Schlüssel aufzuschließen. Diesmal sprang das Schloss auf. Ich stieg aus und beugte mich dann in den Wagen, um mein Souvenirkissen herauszuholen.

Der Widerstand gegenüber Veränderungen ist direkt proportional dazu, wie sehr die Zukunft durch irgendeine Handlung verändert werden könnte, hatte ich Al in bester Lehrermanier erklärt, und das stimmte wirklich. Aber ich hatte keine Ahnung gehabt, was einen das persönlich kosten konnte. Jetzt wusste ich Bescheid.

Ich ging mit gegen den Regen hochgeklapptem Mantelkragen und tief in die Stirn gezogenem Hut langsam die Route 7 entlang. Wenn Autos kamen – zum Glück nur selten –, verschwand ich unter den Bäumen auf meiner Straßenseite. Ich glaube, dass ich mehrmals die Hände seitlich an den Kopf legte, um mich zu vergewissern, dass er nicht anschwoll. Er fühlte sich geschwollen an.

Endlich wichen die Bäume zurück. Sie wurden von einer Natursteinmauer abgelöst, hinter der gepflegte sanfte Hügel mit Grabsteinen und -denkmälern lagen. Ich hatte den Friedhof Longview erreicht. Auf dem nächsten Hügelkamm hatte ich den Blumenstand auf der anderen Straßenseite vor mir. Die Fensterläden waren dicht, und es brannte kein Licht. An Sonntagen würde hier im Allgemeinen reger Betrieb mit vielen Friedhofsbesuchern herrschen, aber bei Nieselwetter würde das Geschäft flau sein, und ich vermutete, dass die alte Frau, die den Stand betrieb, heute ein bisschen länger schlief. Allerdings würde sie später da sein. Ich hatte sie selbst gesehen.

Ich kletterte über die Mauer und war darauf gefasst, dass sie unter mir nachgeben würde, aber das tat sie nicht. Und sobald ich dann tatsächlich auf dem Friedhof war, ereignete sich etwas Wunderbares: Die Kopfschmerzen ließen nach. Ich setzte mich auf einen Grabstein unter einer überhängenden Ulme, schloss die Augen und kontrollierte den Schmerzpegel. Was zuvor eine gellende Stufe zehn gewesen war – vielleicht sogar wie bei einer Rückenmarkspunktion bis elf aufgedreht –, war auf acht abgesunken.

»Ich glaube, ich bin durch, Al«, sagte ich. »Ich bin auf der anderen Seite, denke ich.«

Trotzdem bewegte ich mich vorsichtig und war auf weitere Tricks gefasst: umstürzende Bäume, gewalttätige Grabräuber, vielleicht war sogar ein flammender Meteor darunter. Aber es gab nichts dergleichen. Als ich die nebeneinanderliegenden Gräber von ALTHEA PIERCE DUNNING und JAMES ALLEN DUNNING erreichte, waren die Kopfschmerzen auf Stufe fünf zurückgegangen.

Nicht allzu weit entfernt stand ein Mausoleum, in dessen rosa Granit ein bekannter Name eingemeißelt war: TRACKER. Ich ging hin und probierte, ob die schmiedeeiserne Tür sich öffnen ließ. Im Jahr 2011 wäre sie abgesperrt gewesen, aber hier schrieb man das Jahr 1958, und sie ließ sich ohne große Mühe öffnen … allerdings kreischten dabei ihre Angeln wie in einem Horrorfilm.

Ich trat ein und watete durch das raschelnde alte Laub. In der Längsachse der Gruft lud eine Steinbank zum Meditieren ein; in beiden Längswänden gab es steinerne Fächer für Trackers, die bis ins Jahr 1831 zurückreichten. Wie auf der Messingtafel vor dem ältesten Fach stand, ruhten darin die sterblichen Überreste von Monsieur Jean-Paul Traiche.

Ich schloss die Augen.

Streckte mich auf der Meditationsbank aus und döste.

Schlief.

Als ich aufwachte, war es kurz vor Mittag. Ich ging zur Tür des Mausoleums der Familie Tracker, um auf Dunning zu warten … genau wie Oswald in fünf Jahren zweifellos in seinem Schützenstand im Texas School Book Depository auf Kennedys Wagenkolonne warten würde.

Meine Kopfschmerzen waren verschwunden.

11

Dunnings Pontiac erschien etwa um die Zeit, als Red Schoendienst den einen Run erzielte, der den Milwaukee Braves den Sieg brachte. Dunning parkte auf der nächsten Zufahrt, stieg aus, klappte seinen Kragen hoch und beugte sich in den Wagen, um die Blumenkörbe herauszuholen. Dann kam er mit je einem Korb in der Hand den sanft abfallenden Weg herunter.

Jetzt, da meine Zeit gekommen war, ging es mir einigermaßen gut. Ich war auf die andere Seite dessen gelangt, was immer mich aufzuhalten versucht hatte. Das Souvenirkissen steckte unter meinem Mantel. Meine rechte Hand steckte im Kissen. Das nasse Gras dämpfte meine Schritte. Es gab keine Sonne, in der ich einen Schatten hätte werfen können. Dunning wusste nicht, dass ich hinter ihm war, bis ich seinen Namen aussprach. Dann drehte er sich um.

»Ich mag keine Gesellschaft, wenn ich meine Angehörigen besuche«, sagte er. »Wer zum Teufel sind Sie überhaupt? Und was haben Sie da?« Damit meinte er das Zierkissen, das ich unter dem Mantel hervorgezogen hatte. Ich trug es wie einen Handschuh.

Ich zog es vor, nur die erste Frage zu beantworten: »Ich heiße Jake Epping. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Frage zu stellen.«

»Dann stellen Sie sie, und lassen Sie mich dann in Ruhe.« Von seiner Hutkrempe tropfte Regenwasser. Von meiner auch.

»Was ist das Wichtigste im Leben, Dunning?«

»Was?«

»Für einen Mann, meine ich.«

»Was sind Sie – plemplem? Und was soll das Kissen?«

»Tun Sie mir den Gefallen. Beantworten Sie die Frage.«

Er zuckte die Achseln. »Seine Familie, nehme ich an.«

»Das glaube ich auch«, sagte ich und drückte zweimal ab. Der erste Knall war ein dumpfer Schlag wie von einem Teppichklopfer auf einem schweren Teppich. Der zweite war etwas lauter. Ich fürchtete, das Kissen könnte Feuer fangen – das hatte ich in Der Pate 2 gesehen –, aber es schwelte nur ein bisschen. Dunning klappte zusammen und zerquetschte dabei den Blumenkorb, den er aufs väterliche Grab gestellt hatte. Ich ließ mich neben ihm auf ein Knie nieder, das sofort die Nässe vom Boden aufnahm, hielt die zerfetzte Seite des Kissens an seine Schläfe und drückte noch einmal ab. Nur um sicherzugehen.

12

Ich schleifte ihn ins Tracker-Mausoleum und ließ das angesengte Kissen auf sein Gesicht fallen. Als ich wieder ging, fuhren einige Autos langsam durch den Friedhof, und an mehreren Gräbern standen Leute unter Regenschirmen, aber niemand achtete auf mich. Ich schlenderte ohne Hast zur Friedhofsmauer und blieb zwischendurch mehrmals stehen, um Grabsteine oder -denkmäler zu betrachten. Sobald ich die Mauer überwunden hatte, trabte ich im Schutz der Bäume zu meinem Ford zurück. Wenn ich ein Auto kommen sah oder hörte, wich ich einfach tiefer in den Wald zurück. Bei einem dieser Rückzüge verscharrte ich den Revolver knöcheltief unter Erde und Laub. Der Sunliner stand unbeschädigt dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und der Motor sprang auch sofort an. Ich fuhr zu meinem Apartment zurück und hörte mir dort noch die Schlussphase des Baseballspiels an. Ich weinte ein bisschen, glaube ich. Es waren Tränen der Erleichterung, nicht der Reue. Unabhängig davon, was mit mir geschah, war die Familie Dunning in Sicherheit.

In dieser Nacht schlief ich wie ein Baby.

13

Die Montagsausgabe der Derry Daily News war voll mit Artikeln über die World Series – dabei auch ein nettes Foto von Schoendienst, der nach einem Fehler von Tony Kubek mit dem spielentscheidenden Run auf die Home Plate rutschte. Wie Red Barber in seiner Kolumne schrieb, waren die Bronx Bombers erledigt. »Spießt sie mit ’ner Mistgabel auf«, meinte er. »Die Yanks sind tot, es leben die Yanks.«

Zu Beginn der Arbeitswoche in Derry erschien nichts über Frank Dunning, aber in der Dienstagsausgabe schaffte er es auf die Titelseite – sogar mit einem Foto, auf dem er sein Die-Ladys-lieben-mich-Grinsen zur Schau trug. Auch sein verschmitztes George-Clooney-Zwinkern war gut getroffen.

GESCHÄFTSMANN ERMORDET AUF FRIEDHOF AUFGEFUNDEN


Dunning war Förderer vieler Wohltätigkeitsprojekte

Nach Aussage des hiesigen Polizeichefs verfolgten seine Ermittler alle möglichen Erfolg versprechenden Spuren, sodass eine baldige Verhaftung zu erwarten sei. In einem kurzen Telefoninterview erklärte Doris Dunning, sie sei schockiert und am Boden zerstört. Dass der Ermordete und sie zuletzt getrennt gelebt hatten, wurde nicht erwähnt. Verschiedene Freunde und Mitarbeiter aus dem Center Street Market zeigten sich ähnlich schockiert. Alle schienen sich darüber einig zu sein, dass Frank Dunning ein absolut toller Kerl gewesen war, und niemand konnte auch nur Vermutungen darüber anstellen, weshalb jemand ihn hätte erschießen wollen.

Tony Tracker zeigte sich besonders empört (vielleicht weil der Ermordete im Mausoleum seiner Familie aufgefunden worden war). »Für diesen Kerl sollten sie die Todesstrafe wieder einführen«, sagte er.

Am Mittwoch, dem 8. Oktober 1958, siegten die Yankees im County Stadium mühsam zwei zu eins gegen die Braves; am Donnerstag erzielten sie beim Stand von zwei zu zwei im achten Inning vier Runs und hatten damit die World Series gewonnen. Am Freitag kam ich ins Mermaid Pawn & Loan und erwartete, von Mrs. Grantig und Mr. Trübselig empfangen zu werden. Die beleibte Dame übertraf meine Erwartungen sogar. Sie verzog das Gesicht, als sie mich sah, und rief: »Chazzy! Mr. Geldsack ist da!« Dann verschwand sie durch den Vorhang zum Korridor und aus meinem Leben.

Frati kam heraus und trug dasselbe Streifenhörnchengrinsen zur Schau, das ich von meinem ersten Trip in Derrys bewegte Vergangenheit aus dem Lamplighter kannte. Er hielt einen prall gefüllten Briefumschlag in der Hand, auf dem in Druckschrift G. AMBERSON stand.

»Da sind Sie ja, junger Freund«, sagte er, »lebensgroß und doppelt so stattlich wie sonst. Und hier ist Ihre Beute. Sie können sie ruhig nachzählen.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte ich und steckte den Umschlag ein. »Für einen Kerl, der eben drei Mille geblecht hat, sind Sie mächtig gut gelaunt.«

»Ich will nicht bestreiten, dass Sie den Reingewinn des diesjährigen Herbstklassikers vermindern«, sagte er. »Erheblich vermindern, obwohl ich trotzdem ein paar Dollar verdiene. Das tue ich immer. Aber ich mache das hauptsächlich als, wiesagtmangleichwieder, als Dienst an der Öffentlichkeit. Die Leute wollen wetten, die Leute werden immer wetten, und ich zahle jeden Gewinn prompt aus, wenn einer fällig ist. Außerdem gefällt es mir, Wetten anzunehmen. Für mich ist das eine Art Hobby. Und wissen Sie, was mir am besten gefällt?«

»Nein.«

»Wenn jemand wie Sie aufkreuzt: ein richtiger Draufgänger, der eine aussichtslose Wette abschließt und sie gewinnt. Das stellt meinen Glauben an die zufällige Natur des Universums wieder her.«

Ich fragte mich, für wie zufällig er sie halten würde, wenn er Al Templetons Spickzettel sehen könnte.

»Ihre Frau scheint das nicht ganz so gelassen zu sehen.«

Er lachte, und seine kleinen, schwarzen Augen funkelten. Sieg, Niederlage oder Unentschieden, der kleine Mann mit der Meerjungfrau auf dem Unterarm genoss das Leben in vollen Zügen. Ich bewunderte das. »Oh, Marjorie. Wenn hier irgendein Jammerlappen mit dem Verlobungsring seiner Frau und einer traurigen Geschichte aufkreuzt, zerfließt sie vor lauter Sentimentalität. Aber wenn es um Sportwetten geht, ist sie eine andere Frau. Die nimmt sie persönlich.«

»Sie lieben sie sehr, nicht wahr, Mr. Frati?«

»Wie den Mond und die Sterne, junger Freund. Wie den Mond und die Sterne.«

Marjorie hatte die heutige Zeitung gelesen, die noch auf der Vitrine mit den Ringen und dem anderen Schmuck lag. Die Schlagzeile verkündete:

FAHNDUNG NACH GEHEIMNISVOLLEM MÖRDER GEHT WEITER, WÄHREND FRANK DUNNING BEIGESETZT WIRD.

»Welches Motiv vermuten Sie denn dahinter?«, fragte ich.

»Keine Ahnung, aber eins kann ich Ihnen sagen.« Als er sich nach vorn beugte, war sein Lächeln verschwunden. »Er war nicht der Heilige, als den das Lokalblatt ihn jetzt hinstellt. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, junger Freund.«

»Schießen Sie los. Ich hab den ganzen Tag Zeit.«

Das Lächeln erschien wieder. »Ach was. Wir in Derry bleiben gern unter uns.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte ich.

14

Ich wollte in die Kossuth Street zurückgehen. Ich wusste, dass die Cops möglicherweise das Haus der Dunnings beobachteten, um zu sehen, ob sich jemand in ungewöhnlichem Maß für die Familie interessierte, aber mein Wunsch war trotzdem sehr stark. Es war nicht Harry, den ich sehen wollte, sondern seine kleine Schwester. Es gab einiges, was ich ihr erzählen wollte.

Dass sie an Halloween wie alle Kinder losziehen solle, um Süßes oder Saures zu fordern, egal, wie sehr sie um ihren Daddy trauere.

Dass sie als die hübscheste, geheimnisvollste Indianerprinzessin, die man jemals gesehen habe, mit einem Berg von Süßigkeiten heimkommen werde.

Dass mindestens dreiundfünfzig lange, arbeitsreiche Jahre vor ihr lägen – und vermutlich noch viele mehr.

Und vor allem, dass sie wirklich ihr Allerbestes tun müsse, um ihren Bruder Harry umzustimmen, wenn er eines Tages den Wunsch äußere, eine Uniform anzuziehen und Soldat zu werden.

Nur vergaßen Kinder allzu leicht. Wie jeder Lehrer sehr wohl wusste.

Und sie dachten, dass sie ewig leben würden.

15

Es wurde Zeit, Derry zu verlassen, aber bevor ich wegfuhr, hatte ich noch eine letzte kleine Aufgabe zu erledigen. Damit wartete ich bis Montag. Am 13. Oktober nachmittags warf ich meinen Koffer in den Kofferraum des Sunliners und blieb dann erst einmal hinter dem Steuer sitzen, um eine kurze Mitteilung zu verfassen. Ich steckte sie in einen Briefumschlag, klebte ihn zu und schrieb den Namen des Adressaten in Druckbuchstaben auf die Vorderseite.

Anschließend fuhr ich in die Unterstadt hinunter, parkte und ging in den Sleepy Silver Dollar. Wie erwartet, war das Lokal bis auf Pete den Barkeeper leer. Er spülte Gläser und verfolgte dabei eine Folge der Serie Love of Life in der Glotze. Er wandte sich mir widerstrebend zu, behielt dabei aber John und Marsha, oder wie immer sie hießen, seitlich im Auge.

»Was darf’s sein?«

»Nichts, aber Sie können mir einen Gefallen tun. Für den ich Sie mit fünf amerikanischen Dollars entschädigen werde.«

Er wirkte unbeeindruckt. »Wirklich. Was für einen Gefallen?«

Ich legte den Umschlag auf die Theke. »Den übergeben Sie, wenn der Betreffende reinkommt.«

Er las den Namen auf dem Briefumschlag. »Was wollen Sie von Billy Turcotte? Und warum geben Sie ihm das hier nicht selbst?«

»Das ist ein ganz einfacher Auftrag, Pete. Wollen Sie den Fünfer oder nicht?«

»Klar. Wenn es niemand schadet. Billy ist ein anständiger Kerl.«

»Es schadet ihm garantiert nicht. Vielleicht nützt es ihm sogar.«

Ich legte einen Fünfer auf den Umschlag. Pete ließ ihn verschwinden und wandte sich wieder der Seifenoper zu. Ich verließ das Lokal. Turcotte würde den Briefumschlag vermutlich bekommen. Ob er etwas unternahm, nachdem er meine Mitteilung gelesen hatte, war eine andere Frage – eine der vielen, auf die ich niemals eine Antwort bekommen würde. Geschrieben hatte ich Folgendes:

Lieber Bill,

mit Ihrem Herzen ist etwas nicht in Ordnung. Sie müssen bald zum Arzt gehen, sonst ist es zu spät. Sie halten dies vielleicht für einen Scherz, aber es ist keiner. Sie werden denken, das kann keiner wissen, aber ich weiß es. Ich weiß es so sicher, wie Sie wissen, dass Frank Dunning Ihre Schwester Clara und Ihren Neffen Mikey ermordet hat. BITTE GLAUBEN SIE MIR UND GEHEN SIE ZUM ARZT!

Ein Freund

16

Ich stieg in meinen Sunliner, und als ich rückwärts aus der schrägen Parklücke stieß, sah ich Mr. Keenes schmales, misstrauisches Gesicht, mit dem er mich durchs Schaufenster des Drugstores beobachtete. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter, streckte den Arm ins Freie und zeigte ihm den Stinkefinger. Dann fuhr ich den Up-Mile Hill hinauf und verließ Derry zum letzten Mal.

Kapitel 11

Als ich auf dem Mile-A-Minute Highway, wie der Maine Turnpike genannt wurde, nach Süden fuhr, versuchte ich mir einzureden, mit Carolyn Poulin brauchte ich mich nicht abzugeben. Ich redete mir ein, dass sie Al Templetons Experiment war, nicht meines, und dass sein Experiment jetzt wie sein Leben zu Ende war. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, dass der Fall der kleinen Poulin sich sehr von dem von Doris, Troy, Tugga und Ellen unterschied. Ja, Carolyn würde von der Taille abwärts gelähmt bleiben, und ja, das war ein schreckliches Schicksal. Aber durch einen Schuss gelähmt zu werden war nicht das Gleiche, wie mit einem Vorschlaghammer erschlagen zu werden. Auch im Rollstuhl hatte Carolyn Poulin ein erfülltes, fruchtbares Leben vor sich. Ich sagte mir, dass es verrückt wäre, meinen wirklichen Auftrag dadurch zu gefährden, dass ich die unerbittliche Vergangenheit ein weiteres Mal herausforderte.

Nichts davon war überzeugend.

Ich hatte die erste Nacht meiner Reise in Boston verbringen wollen, aber das Bild von Dunning auf dem Grab seines Vaters mit dem zerdrückten Blumenkorb unter sich stand mir immer wieder vor Augen. Er hatte es verdient, zu sterben – Teufel, das musste er –, aber am 5. Oktober hatte er seiner Familie noch nichts angetan. Jedenfalls nicht seiner zweiten. Ich konnte mir sagen (und machte mehrfach davon Gebrauch!), dass er seiner ersten Familie genug angetan habe und schon vor dem 13. Oktober 1958 ein Doppelmörder gewesen sei, wobei zu seinen Opfern auch ein Beinahe-noch-Säugling gehört habe, was ich allerdings nur aus Bill Turcottes Erzählung wusste.

Ich schätze, letztlich wollte ich wohl etwas, was sich schlecht anfühlte, so notwendig es auch gewesen sein mochte, durch etwas ausgleichen, was sich gut anfühlte. Statt nach Boston weiterzufahren, verließ ich den Turnpike in Auburn und fuhr nach Westen in das Seengebiet von Maine. In der Abenddämmerung mietete ich mich in eines der Blockhäuser ein, in denen Al häufig gewesen war. Die größte der vier Unterkünfte am See bekam ich zu einem lachhaft niedrigen Nachsaisonpreis.

Die kommenden fünf Wochen waren vielleicht die besten meines Lebens. Ich sah keinen Menschen außer dem alten Ehepaar, bei dem ich zweimal in der Woche ein paar Lebensmittel einkaufte, und dem Besitzer der kleinen Ferienanlage, Mr. Winchell. Er kam jeweils sonntags vorbei, um sich zu vergewissern, dass mir nichts fehlte und ich einen angenehmen Aufenthalt hatte. Das versicherte ich ihm jedes Mal, wenn er fragte, und es war nicht gelogen. Er gab mir einen Schlüssel für den Geräteschuppen, und ich holte mir dort ein Kanu, mit dem ich jeden Morgen und Abend unterwegs war, wenn das Wasser sich ruhig verhielt. Ich erinnere mich daran, wie ich an einem dieser Abende den Vollmond lautlos über den Bäumen aufsteigen sah und wie er eine silberne Spur übers Wasser zog, während das Spiegelbild meines Kanus wie ein ertrunkener Zwilling unter mir hing. Irgendwo rief ein Seetaucher, dem ein anderer antwortete, worauf weitere in die Konversation einfielen. Ich legte mein Stechpaddel neben mich, saß dreihundert Meter vom Ufer entfernt einfach da, beobachtete den Mond und hörte der Unterhaltung der Seetaucher zu. Ich weiß noch, wie ich dachte, falls es irgendwo ein Paradies gäbe und es nicht wie dies hier aussähe, würde ich nicht hinwollen.

Die Herbstfarben begannen zu erblühen – erst schüchtern gelb, dann orange, zuletzt feurig rot, als der Herbst einen weiteren Sommer in Maine beendete. In dem Lebensmittelgeschäft standen Kartons mit Taschenbüchern ohne Umschläge, und ich las mindestens drei Dutzend davon: Krimis von Ed McBain, John D. MacDonald, Chester Himes und Richard S. Prather; schwülstige Melodramen wie Die Leute von Peyton Place und Die Gnadenlosen; Dutzende von Westernromanen und einen SF-Roman mit dem Titel Die Lincoln-Jäger, in dem Zeitreisende versuchten, eine »verloren gegangene« Rede Abraham Lincolns aufzuzeichnen.

Wenn ich nicht las oder mit dem Kanu unterwegs war, wanderte ich durch die Wälder. Die langen Herbstnachmittage waren überwiegend dunstig und warm. Nachts war die Stille so tief, dass sie widerzuhallen schien. Auf der Route 114 fuhren nur wenige Autos vorbei, und gegen zehn Uhr abends kam der Verkehr ganz zum Erliegen. Nach zehn gehörte dieser Teil der Welt, in dem ich mich erholte, nur den Seetauchern und dem Nachtwind in den Baumwipfeln. Ganz allmählich begann das Bild von Frank Dunning auf dem Grab seines Vaters zu verblassen, und ich merkte, dass ich mich immer seltener wie aus heiterem Himmel daran erinnerte, wie ich das noch schwelende Souvenirkissen im Mausoleum der Familie Tracker auf seine starrenden Augen fallen ließ.

Ende Oktober, als die letzten Blätter von den Bäumen segelten und die Nachttemperaturen um den Gefrierpunkt pendelten, begann ich mit meinen Fahrten nach Durham hinein, um das Gebiet um den Bowie Hill – wo in zwei Wochen jemand angeschossen werden würde – zu erkunden. Das Meetinghaus der Quäker, das Al erwähnt hatte, bildete einen guten Ausgangspunkt. Nicht weit davon entfernt ragte ein abgestorbener Baum halb über die Straße – vermutlich genau der, mit dem Al gekämpft hatte, als Andrew Cullum, der bereits seine orangerote Jägerweste trug, vorbeigekommen war. Ich legte auch Wert darauf, das Haus des Unglücksschützen ausfindig zu machen und nachzuvollziehen, auf welcher Route er wahrscheinlich zum Bowie Hill gelangen würde.

Mein Plan war eigentlich gar kein Plan; ich würde nur dem Pfad folgen, den Al schon gebahnt hatte. Ich würde frühmorgens nach Durham fahren, in der Nähe des umgestürzten Baums parken, mich damit abmühen, ihn von der Straße zu wälzen, und angeblich einen Herzanfall erleiden, wenn Cullum vorbeikam und mir beim Wegräumen helfen wollte. Aber als ich das Haus der Cullums ausfindig gemacht hatte, hielt ich eine halbe Meile weiter bei Brownie’s Store, um etwas Kaltes zu trinken, und sah im Schaufenster ein Plakat, das mich auf eine Idee brachte. Sie war verrückt, aber irgendwie interessant.

Oben auf dem Plakat stand: CRIBBAGE-TURNIER IN DER ANDROSCOGGIN COUNTY – ERGEBNISLISTE. Darunter folgten ungefähr fünfzig Namen. Der Turniersieger aus West Minot hatte zehntausend »Stifte« erzielt, was immer das bedeutete. Der Zweite war auf neuneinhalbtausend gekommen. Den dritten Platz hatte mit 8722 Stiften – sein Name war rot umringelt, deshalb war er mir überhaupt aufgefallen – Andy Cullum belegt.

Natürlich gibt es Zufälle, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie ziemlich selten sind. Irgendwas ist am Werk, okay? Irgendwo im Universum (oder dahinter) tickt eine Maschine und lässt ihre fabelhaften Zahnräder schnurren. Ab und zu wird ein Joker aus dem Kartenstapel gezogen, aber die meisten Ereignisse laufen planmäßig ab.

Am folgenden Tag fuhr ich kurz vor fünf am Nachmittag wieder zum Haus der Cullums. Ich parkte hinter seinem Ford-Kombi mit Holzdekor an den Seiten und ging zur Haustür.

Eine aparte junge Frau, die eine Rüschenschürze trug und ein Baby auf dem Arm hatte, machte mir auf. Mir genügte ein Blick in ihr Gesicht, um zu wissen, dass ich das Richtige tat. Denn Carolyn Poulin würde nicht das einzige Opfer am 15. November sein – nur das einzige, das im Rollstuhl endete.

»Ja?«

»Mein Name ist George Amberson, Ma’am.« Ich lüftete kurz den Hut. »Könnte ich wohl Ihren Mann sprechen?«

Natürlich konnte ich das. Er war schon hinter ihr aufgetaucht und legte ihr einen Arm um die Schultern. Ein junger Kerl, noch keine dreißig, dessen Gesicht freundlich neugierig wirkte. Sein Baby griff nach seinem Gesicht, und als Cullum seine Finger küsste, lachte die Kleine. Dann streckte er mir die Hand hin, und ich schüttelte sie.

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Amberson?«

Ich hielt das mitgebrachte Cribbage-Brett hoch. »Ich habe bei Brownie’s gesehen, dass Sie ein ausgezeichneter Spieler sind. Daher möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen.«

Mrs. Cullum machte ein besorgtes Gesicht. »Mein Mann und ich sind Methodisten, Mr. Amberson. Bei den Turnieren geht’s nur um Spaß. Er hat einen Pokal gewonnen, den ich gern für ihn poliere, damit er auf dem Kaminsims gut aussieht, aber wenn Sie um Geld Karten spielen wollen, sind Sie hier falsch.« Sie lächelte. Ich konnte sehen, wie viel Mühe sie das kostete, aber es war trotzdem ein freundliches Lächeln. Sie gefiel mir. Ich mochte beide.

»Meine Frau hat recht«, sagte Cullum. Das klang bedauernd, aber nachdrücklich. »Als ich noch im Wald gearbeitet habe, habe ich um einen Cent pro Stift gespielt, aber das war, bevor ich Marnie kennengelernt habe.«

»Ich wäre verrückt, wenn ich gegen Sie um Geld spielen würde, weil ich von Cribbage nämlich überhaupt nichts verstehe«, sagte ich. »Aber ich möchte es lernen.«

»Schön, dann kommen Sie rein«, sagte er. »Ich bringe es Ihnen gern bei. Das dauert nur eine Viertelstunde, und wir essen erst in einer Stunde zu Abend. Verflixt, wenn Sie bis fünfzehn addieren und bis einunddreißig zählen können, können Sie Cribbage spielen.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mit Zählen und Addieren allein nicht getan ist, sonst wären Sie beim Androscoggin-Turnier nicht Dritter geworden«, sagte ich. »Und ich möchte in Wirklichkeit etwas mehr lernen als nur die Regeln. Ich möchte Sie für einen ganzen Tag engagieren. Genauer gesagt am 15. November. Sagen wir von zehn Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags.«

Jetzt sah seine Frau ängstlich drein. Sie hielt das Baby eng an sich gedrückt.

»Für die sechs Stunden Unterricht zahle ich Ihnen zweihundert Dollar.«

Cullum runzelte die Stirn. »Welches Spiel genau spielen Sie da, Mister?«

»In Zukunft hoffentlich Cribbage.« Aber diese Erklärung würde nicht genügen, das merkte ich ihnen beiden an. »Hören Sie, ich will Ihnen nicht vormachen, dass an der Sache nicht mehr dran ist, aber wenn ich versuchen wollte, es Ihnen zu erklären, würden Sie mich für verrückt halten.«

»Das tue ich bereits«, sagte Marnie Cullum. »Schick ihn weg, Andy.«

Ich wandte mich an sie. »Es ist nichts Schlimmes, nichts Illegales, kein Schwindel und nicht gefährlich. Das kann ich beschwören.« Ich befürchtete allmählich, dass es nicht funktionieren würde, Eid hin oder her. Das Ganze war eine schlechte Idee gewesen. Cullum würde doppelt misstrauisch sein, wenn er mir am Nachmittag des Fünfzehnten in der Nähe des Meetinghauses der Quäker begegnete.

Aber ich ließ nicht locker. Das war etwas, was ich in Derry gelernt hatte.

»Es geht nur um Cribbage«, sagte ich. »Sie bringen mir das Spiel bei, wir spielen ein paar Stunden lang, ich gebe Ihnen zweihundert Dollar, und wir alle trennen uns als Freunde. Na, was sagen Sie dazu?«

»Woher sind Sie, Mr. Amberson?«

»In letzter Zeit war ich oben in Derry. Ich bin Makler für Gewerbeimmobilien. Im Augenblick mache ich hier Urlaub am Sebago Lake, bevor ich dann wieder nach Süden fahre. Möchten Sie ein paar Namen hören? Sozusagen als Referenzen?« Ich lächelte. »Leute, die Ihnen bestätigen können, dass ich nicht übergeschnappt bin?«

»In der Jagdsaison geht er samstags immer in den Wald«, sagte Mrs. Cullum. »Für ihn ist das die einzige Gelegenheit, weil er die ganze Woche arbeitet und abends erst heimkommt, wenn es schon so dunkel ist, dass es sich nicht mehr lohnt, ein Gewehr zu laden.«

Sie wirkte weiterhin misstrauisch, aber auf ihrem Gesicht sah ich etwas anderes, was mich hoffnungsvoll stimmte. Wenn man jung war und ein kleines Kind und einen Mann hatte, der körperlich arbeitete – was seine aufgesprungenen, schwieligen Hände zeigten –, konnten zweihundert Dollar eine Menge Lebensmittel bedeuten. Oder, im Jahr 1958, zweieinhalb Hypothekenzahlungen für ihr Haus.

»Mir würd’s nichts ausmachen, einen Nachmittag im Wald zu verpassen«, sagte Cullum. »In Stadtnähe ist sowieso alles leer geschossen. Der einzige Ort, an dem man noch ’nen verdammten Hirsch schießen kann, ist das Gebiet am Bowie Hill.«

»Hüte deine Zunge, wenn das Baby dabei ist, Mr. Cullum«, sagte sie. Ihre Stimme klang scharf, aber sie lächelte, als er sie auf die Wange küsste.

»Mr. Amberson, ich muss mit meiner Frau reden«, sagte Cullum. »Macht es Ihnen was aus, ein, zwei Minuten vor der Tür zu warten?«

»Ich weiß was Besseres«, sagte ich. »Ich fahre zu Brownie’s und hole mir ein Dope.« So nannten die meisten Leute in Derry eine Limonade. »Soll ich einem von Ihnen ein kaltes Getränk mitbringen?«

Sie lehnten dankend ab, und dann machte Marnie Cullum mir die Tür vor der Nase zu. Ich fuhr zu Brownie’s, wo ich einen frisch gepressten Orangensaft trank und eine Lakritzstange kaufte, die das Baby vielleicht mögen würde, wenn es schon groß genug war, um solche Dinge haben zu dürfen. Die Cullums würden mich abweisen, glaubte ich. Mit bestem Dank, aber nachdrücklich. Ich war ein Unbekannter mit einem verrückten Vorschlag. Ich hatte gehofft, dass sich die Vergangenheit dieses Mal leichter ändern lassen würde, weil Al sie schon zweimal geändert hatte. Offenbar war das nicht der Fall.

Mich erwartete jedoch eine Überraschung. Cullum sagte ja, und seine Frau erlaubte mir, die Lakritzstange dem kleinen Mädchen zu geben, das fröhlich glucksend danach griff, daran lutschte und sie dann als Kamm benutzte. Sie luden mich sogar zum Abendessen ein, was ich höflich ausschlug. Ich bot Andy Cullum fünfzig Dollar als Anzahlung an, die er ablehnte … bis seine Frau darauf bestand, dass er sie nahm.

Ich fuhr in bester Laune zum Sebago Lake zurück, aber als ich am Morgen des Fünfzehnten wieder nach Durham fuhr (auf den Feldern lag so dicker Raureif, dass die orangerot gekleideten Jäger, die en masse unterwegs waren, Spuren hinterließen), war meine Stimmung umgeschlagen. Er wird die State Police oder den hiesigen Wachtmeister angerufen haben, dachte ich. Und während sie dich auf dem nächsten Polizeirevier befragen, um rauszukriegen, was für eine Art Verrückter du bist, ist Cullum unterwegs, um in den Wäldern am Bowie Hill zu jagen.

Aber in der Einfahrt stand kein Streifenwagen, nur Andy Cullums Ford-Kombi mit dem Holzdekor. Ich nahm mein neues Spielbrett mit und ging zur Haustür. Er machte mir auf und fragte: »Sind Sie bereit für Ihren Kurs, Mr. Amberson?«

Ich lächelte. »Ja, Sir, das bin ich.«

Er nahm mich mit auf die Veranda hinter dem Haus; vermutlich weil seine Frau mich nicht bei sich und dem Baby im Haus haben wollte. Die Spielregeln waren einfach. Mit den Stiften steckte man die gewonnenen Punkte ab, und ein Spiel bestand aus zwei Runden um das Spielbrett. Ich lernte, was der richtige Bube war, was »zwei für die Hacken« bedeutete, wann man im Schlammloch steckte und was Andy die »mystische Neunzehn« nannte – die sogenannte unmögliche Punktzahl. Dann spielten wir. Anfangs zählte ich noch mit, aber damit hörte ich auf, sobald Cullum vierhundert Punkte Vorsprung hatte. Ab und zu gab irgendein Jäger in der Ferne einen Schuss ab, der Cullum dazu brachte, zum Wald hinter seinem kleinen Garten hinüberzusehen.

»Nächsten Samstag«, sagte ich bei einem dieser Male. »Nächsten Samstag sind Sie bestimmt wieder draußen.«

»Wahrscheinlich bei Regen«, sagte er. Und lachte dann. »Aber ich kann mich nicht beschweren, was? Ich hab Spaß und verdiene dabei Geld. Und Sie werden besser, George.«

Marnie rief uns mittags zum Essen: selbst gekochte Tomatensuppe und große Thunfischsandwichs. Wir aßen in der Küche, und als wir fertig waren, schlug sie vor, wir sollten mit unserem Spiel ins Haus kommen. Sie hatte entschieden, dass ich doch nicht gefährlich war. Das machte mich glücklich. Sie waren ein nettes Paar, die Cullums. Ein nettes Paar mit einem netten Baby. Ich musste manchmal an sie denken, wenn ich hörte, wie Lee und Marina Oswald sich in ihren schäbigen Wohnungen anschrien … oder sah, was mindestens einmal der Fall war, wie sie sich auf offener Straße stritten. Die Vergangenheit harmonisierte; sie versuchte auch die Balance herzustellen, was ihr meistens gelang. Die Cullums saßen an einem Ende der Wippe, die Oswalds am anderen.

Und Jake Epping, auch als George Amberson bekannt? Er war der Dreh- und Angelpunkt.

Gegen Ende unserer Marathonsitzung gewann ich mein erstes Spiel. Drei Partien später, wenige Minuten nach vier Uhr, gewann ich sogar mit großen Vorsprung und lachte entzückt. Die kleine Jenna lachte mit, dann beugte sie sich in ihrem Hochstuhl nach vorn und zog mich freundschaftlich an den Haaren.

»Das war’s!«, rief ich lachend. Die drei Cullums stimmten in mein Lachen ein. »Damit höre ich auf!« Ich zog die Geldbörse heraus und legte drei Fünfziger auf die rot-weiß karierte Plastikdecke auf dem Küchentisch. »Und es war jeden Cent wert!«

Andy schob die Scheine wieder zu mir herüber. »Stecken Sie die wieder ein, George. Mir hat’s zu viel Spaß gemacht, als dass ich Ihr Geld nehmen könnte.«

Ich nickte scheinbar zustimmend, dann schob ich die Fünfziger zu Marnie hinüber, die sie rasch an sich nahm. »Danke, Mr. Amberson.« Nach einem vorwurfsvollen Blick zu ihrem Mann wandte sie sich wieder an mich. »Das Geld können wir wirklich brauchen.«

»Gut.« Ich stand auf und streckte mich, dass meine Gelenke knackten. Irgendwo – fünf Meilen von hier, vielleicht sieben – stiegen Carolyn Poulin und ihr Vater wieder in einen Pick-up, auf dessen Türen Poulin Maurer- & Holzarbeiten stand. Vielleicht hatten sie einen Weißwedelhirsch geschossen, vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatten sie bestimmt einen netten Nachmittag im Wald verbracht und darüber geredet, worüber Väter und Töchter eben so sprachen, und das freute mich für sie.

»Bleiben Sie zum Abendessen, George«, sagte Marnie. »Ich habe Bohnen und Hotdogs.«

Also blieb ich, und anschließend sahen wir uns die Nachrichten auf Cullums kleinem Tischfernseher an. In New Hampshire hatte es einen tödlichen Jagdunfall gegeben, aber keinen in Maine. Obwohl ich pappsatt war, ließ ich mich zu einer zweiten Portion von Marnies Fruchtpastete überreden, dann stand ich auf und dankte den beiden sehr für ihre Gastfreundschaft.

Andy Cullum streckte mir die Rechte hin. »Nächstes Mal spielen wir umsonst, okay?«

»Klar doch.« Aber es würde kein nächstes Mal geben, und ich vermutete, dass er das wusste.

Wie sich zeigte, wusste das auch seine Frau. Sie holte mich ein, als ich eben ins Auto steigen wollte. Marnie hatte ihre Kleine in eine Decke gehüllt und ihr eine Mütze aufgesetzt, aber sie selbst trug keinen Mantel. Ich konnte ihren Atem sehen, und sie fröstelte sichtbar.

»Mrs. Cullum, Sie sollten reingehen, bevor Sie sich eine Erkältung oder Schlim…«

»Wovor haben Sie ihn gerettet?«

»Wie bitte?«

»Ich weiß, dass Sie deswegen gekommen sind. Ich habe gebetet, während Sie mit Andy auf der Veranda gespielt haben. Gott hat mir eine Antwort geschickt, aber nicht die ganze Antwort. Wovor haben Sie ihn gerettet?«

Ich legte die Hände auf ihre zitternden Schultern und sah ihr in die Augen. »Marnie … wenn Gott wollte, dass Sie das erfahren, hätte er es Ihnen erzählt.«

Sie umarmte mich plötzlich und drückte mich an sich. Ich war überrascht, aber ich erwiderte ihre Umarmung. Die zwischen uns eingeklemmte kleine Jenna starrte mit großen Augen zu uns herauf.

»Was immer es war, danke dafür«, flüsterte Marnie mir ins Ohr. Von ihrem warmen Atem bekam ich eine Gänsehaut.

»Gehen Sie wieder rein, Schätzchen. Bevor Sie erfrieren.«

Die Haustür ging auf. Auf der Schwelle erschien Andy mit einer Bierdose in der Hand. »Marnie? Marn?«

Sie trat einen Schritt von mir weg. Die dunklen Augen hatte sie weit aufgerissen. »Gott hat uns einen Schutzengel geschickt«, sagte sie. »Ich werde nicht davon sprechen, aber oft daran denken. Und es im Herzen bewegen.« Dann hastete sie zur Haustür zurück, an der ihr Mann wartete.

Engel. Das war jetzt das zweite Mal, dass ich das gehört hatte, und ich bewegte ihre Worte in meinem Herzen – am selben Abend, als ich in dem Blockhaus in meinem Bett lag und auf Schlaf wartete, und am nächsten Tag, als ich in meinem Kanu unter einem kalten, blauen Himmel, der den Winter ankündigte, durch sonntagsstilles Wasser trieb.

Schutzengel.

Am Montag, dem 17. November, sah ich die ersten wirbelnden Schneeflocken und nahm sie als Zeichen. Ich packte und fuhr nach Sebago Village hinunter, wo ich Mr. Winchell im Lakeside Restaurant antraf, in dem er Kaffee trank und Doughnuts aß (im Jahr 1958 aßen die Leute massenhaft Doughnuts). Ich gab ihm die Schlüssel zurück und versicherte ihm, dass mein Aufenthalt wundervoll erholsam gewesen sei. Er strahlte übers ganze Gesicht.

»Das ist gut, Mr. Amberson. Genau so soll’s sein. Sie haben bis Ende des Monats vorausgezahlt. Geben Sie mir eine Adresse, an die ich die Rückzahlung für die übrigen beiden Wochen schicken kann, und ich gebe einen Scheck in die Post.«

»Ich weiß noch nicht genau, wo ich sein werde, bis die hohen Tiere in der Zentrale sich zu einer Entscheidung durchringen«, sagte ich, »aber ich werde Ihnen schreiben.« Zeitreisende logen viel.

Er streckte mir die Hand hin. »War ein Vergnügen, Sie bei uns zu haben.«

Ich schüttelte sie. »Das Vergnügen war ganz meinerseits.«

Dann setzte ich mich ans Steuer und fuhr gen Süden. An diesem Abend nahm ich mir ein Zimmer im Parker House in Boston und machte einen Abstecher in die berühmt-berüchtigte Combat Zone. Nach friedvollen Wochen am Sebago ließ das grelle Neonlicht meine Augen schmerzen, und die quirligen Massen von Nachtschwärmern – meistens jung, überwiegend männlich, viele in Uniform – bewirkten, dass ich leichte Platzangst bekam und mich nach den ruhigen Nächten im Westen von Maine zurücksehnte, wo die wenigen Geschäfte um sechs Uhr schlossen und der Verkehr um zehn Uhr zum Erliegen kam.

Die folgende Nacht verbrachte ich im Hotel Harrington in Washington. Drei Tage später war ich an der Westküste von Florida.

Kapitel 12

1

Ich nahm die US 1 in Richtung Süden. Ich aß in vielen Restaurants an der Straße, die Mom’s Home Cooking anpriesen – Lokale, in denen das Blue Plate Special mit einem Früchtebecher als Vorspeise und Pie mit Eis zum Nachttisch achtzig Cent kostete. Unterwegs sah ich kein einziges Schnellrestaurant, außer man wollte Howard Johnson’s mit seinen 28 Geschmacksrichtungen und dem Simple-Simon-Logo als solches bezeichnen. Ich sah einen Pfadfindertrupp, der mit seinem Führer ein Feuer aus Herbstlaub beaufsichtigte; an einem grauen Nachmittag, an dem Regen drohte, sah ich Frauen, die in Regenmänteln und Galoschen Wäsche abhängten; ich sah lange Schnellzüge mit Namen wie The Southern Flyer und Star of Tampa auf der Fahrt in die Gefilde Amerikas, wo der Winter verboten war. Ich sah auf städtischen Plätzen alte Männer Pfeife rauchend auf Bänken sitzen. Ich sah eine Million Kirchen und einen Friedhof, auf dem eine mindestens hundert Köpfe zählende Trauergemeinde um ein offenes Grab stand und »The Old Rugged Cross« sang. Ich sah Männer, die Scheunen bauten. Ich sah Menschen, die anderen Menschen halfen. Zwei solche, die einen Pick-up fuhren, hielten an, um mir zu helfen, als der Kühlerschlauch des Sunliners geplatzt war und ich nach dieser Panne am Straßenrand stand. Das war in Virginia, gegen vier Uhr nachmittags, und einer der beiden bot mir an, bei ihm zu übernachten. Gut, ich kann mir vorstellen, dass es das auch im Jahr 2011 gäbe, aber dazu muss ich meiner Einbildungskraft schon einiges abverlangen.

Und noch etwas. In North Carolina tankte ich an einer Tankstelle von Humble Oil und ging dann um die Ecke, um die Toilette zu benutzen. Dort gab es zwei Türen und drei Schilder. An der einen Tür stand in sauberer Schablonenschrift MÄNNER, an der anderen DAMEN. Das dritte Schild bestand aus einem Pfeil an einem Holzpflock. Der zeigte auf den mit Gestrüpp bewachsenen Hang hinter der Tankstelle und war mit Farbige beschriftet. Ich ging neugierig den Pfad entlang und machte einen Bogen um einige Stellen, an denen die öligen, bräunlich grünen Giftefeublätter unverkennbar waren. Ich hoffte, dass die Väter und Mütter, die hier ihre Kinder zur Toilette hinunterführten, diese giftigen Pflanzen als solche erkannten, denn Ende der Fünfzigerjahre trugen die meisten Kinder kurze Röcke oder Hosen.

Unten gab es gar keine Toilette. Am Ende des Pfades fand ich einen schmalen Bach, über den auf zwei zerbröselnden Betonstützen ein Brett lag. Ein Mann, der urinieren musste, konnte sich einfach draufstellen, den Reißverschluss öffnen und loslegen. Eine Frau konnte sich an einem Busch festhalten (wenn es sich nicht um Giftefeu oder -eiche handelte) und sich hinhocken. Auf das Brett setzte sich, wer Größeres vorhatte. Vielleicht in strömendem Regen.

Sollte ich jemals die Vorstellung vermittelt haben, 1958 wäre alles heile Welt, dann denke man an diesen Pfad, okay? Den mit Giftefeu gesäumten. Und an das Brett über dem Bach.

2

Ich quartierte mich sechzig Meilen südlich von Tampa in der Kleinstadt Sunset Point ein. Für achtzig Dollar im Monat mietete ich eine Fischerhütte am schönsten (und weitgehend menschenleeren) Strand, den ich je gesehen hatte. In meinem Strandabschnitt gab es vier weitere ähnliche Hütten, alle so bescheiden wie meine. Von den neu-hässlichen McMansions, die später in diesem Teil Floridas wie Pilze aus dem Boden schießen sollten, war noch nichts zu sehen. In Nokomis, zehn Meilen weiter südlich, gab es einen Supermarkt, und in Venice gab es ein verschlafenes Geschäftsviertel. Die Route 41, der Tamiami Trail, war kaum mehr als eine Landstraße. Man konnte sie nur langsam befahren, vor allem in der Abenddämmerung, in der sie gern von Alligatoren und Gürteltieren überquert wurde. Zwischen Sarasota und Venice gab es Obststände, kleine Läden am Straßenrand, ein paar Bars und ein Tanzlokal, das Blackie’s hieß. Hinter Venice, Bruder, war man dann mehr oder minder auf sich allein gestellt, zumindest bis man Fort Myers erreichte.

Ich ließ George Ambersons Rolle als Immobilienmakler hinter mir zurück. Im Frühjahr 1958 war Amerika von einer Rezession erfasst worden. An der Golfküste Floridas verkauften alle, aber niemand wollte kaufen, also wurde George Amberson genau das, was Al vorgeschwebt hatte: ein Möchtegern-Schriftsteller, dessen mäßig reicher Onkel ihm so viel hinterlassen hatte, dass er davon leben konnte, zumindest für einige Zeit.

Ich schrieb tatsächlich – und nicht nur an einem Projekt, sondern an zweien. Morgens, wenn ich am frischesten war, begann ich an dem Manuskript zu arbeiten, das Sie jetzt lesen (falls es Sie jemals gibt). Abends schrieb ich an einem Roman, dem ich den Arbeitstitel The Murder Place gegeben hatte. Der fragliche Ort war natürlich Derry, auch wenn er in meinem Buch Dawson hieß. Mein Roman diente nur als Requisite für den Fall, dass neue Freunde sehen wollten, woran ich arbeitete (mein »Morgenmanuskript« bewahrte ich in einer abgeschlossenen Stahlkassette unter meinem Bett auf). Im Lauf der Zeit wurde The Murder Place mehr als nur eine Tarnung. Ich fing an zu glauben, dass der Roman gut war, und zu hoffen, dass er eines Tages wirklich erscheinen würde.

Eine Stunde Memoiren am Morgen und eine Stunde Roman am Abend ließen mir viel Zeit, die ich sinnvoll ausfüllen musste. Ich versuchte es mit angeln, aber obwohl es reichlich Fische zu fangen gab, gefiel mir dieser Sport nicht und wurde aufgegeben. Spaziergänge am Strand waren frühmorgens und bei Sonnenuntergang gut, aber nicht in der größten Tageshitze. Ich wurde Stammkunde der einzigen Buchhandlung in Sarasota und verbrachte lange (und überwiegend glückliche) Stunden in den kleinen Bibliotheken in Nokomis und Osprey.

Ich las auch immer wieder Als Notizen über Lee Harvey Oswald. Schließlich wurde mir das Zwanghafte an diesem Verhalten bewusst, und ich legte das Notizheft in die Stahlkassette mit meinem »Morgenmanuskript«. Ich habe diese Notizen als ausführlich bezeichnet, und so kamen sie mir auch vor, aber als die Zeit – das Förderband, auf dem wir alle unterwegs waren – mich näher und näher an den Punkt heranbrachte, an dem meine Lebenslinie und die des jungen zukünftigen Attentäters sich schneiden würden, veränderte sich meine Einschätzung. Sie wiesen Lücken auf.

Manchmal verfluchte ich Al dafür, dass er mir diesen Auftrag überstürzt aufgezwungen hatte, aber bei nüchterner Überlegung wurde mir klar, dass mehr Zeit zu haben keine Rolle gespielt hätte. Sie hätte sogar alles verschlimmern können, etwas, was Al vermutlich gewusst hatte. Auch wenn er nicht Selbstmord verübt hätte, wären mir höchstens noch ein bis zwei Wochen geblieben. Und wie viele Bücher waren über die Ereignisse, die zu jenem Tag in Dallas führten, geschrieben worden? Hundert? Dreihundert? Wohl eher tausend. Manche stimmten Al darin zu, dass Oswald tatsächlich ein Einzeltäter gewesen sei; andere schilderten ihn als Mitwirkenden einer weitverzweigten Verschwörung; wieder andere behaupteten mit völliger Gewissheit, er habe überhaupt nicht geschossen und sei genau das gewesen, als was er sich nach seiner Verhaftung bezeichnet habe: ein Sündenbock. Durch seinen Selbstmord hatte Al die größte Schwäche eines Gelehrten überwunden: Unentschlossenheit als Forschungsarbeit auszugeben.

3

Ich fuhr gelegentlich nach Tampa, wo diskrete Nachforschungen mich zu einem Buchmacher namens Eduardo Gutierrez führten. Sobald er sich vergewissert hatte, dass ich nicht von der Polizei war, nahm er meine Einsätze freudig an. Als Erstes wettete ich darauf, dass die Minneapolis Lakers die Celtics in der Meisterschaftsrunde 1959 schlagen würden, womit ich als Trottel etabliert war, weil die Lakers kein einziges Spiel gewannen. Ich setzte auch vierhundert darauf, dass die Canadians im Stanley Cup die Maple Leafs schlagen würden, und gewann … aber dafür gab es nur den doppelten Einsatz. Nicht der Rede wert, junger Freund, hätte mein Kumpel Chaz Frati gesagt.

Den größten Einzelgewinn erzielte ich im Frühjahr 1960, als ich darauf wettete, dass Venetian Way den hohen Favoriten Bally Ache im Kentucky Derby besiegen würde. Gutierrez sagte mir eine Quote von vier zu eins zu, wenn ich tausend setzte, und fünf zu eins bei einem doppelten Einsatz. Nachdem ich zum Schein lange gezögert hatte, entschied ich mich für den doppelten Einsatz und war nach dem Rennen zehntausend Dollar reicher. Er zahlte mir den Gewinn ähnlich gut gelaunt wie Frati aus, aber in seinem Blick lag ein stählernes Glitzern, das mir nicht gefiel.

Gutierrez, der selbst tropfnass vermutlich keine fünfundsechzig Kilo wog, war Kubaner, hatte jedoch früher der Mafia in New Orleans angehört, deren Boss damals ein schwerer Junge namens Carlos Marcello gewesen war. Diese Information bekam ich in dem Billardsalon neben dem Herrensalon, in dem Gutierrez sein Wettbüro hatte (und wo unter einem Foto der spärlich bekleideten Diana Dors eine anscheinend endlose Pokerpartie lief). Der Mann, mit dem ich 9-Ball gespielt hatte, beugte sich nach vorn, sah sich um, ob wir den Ecktisch wirklich für uns allein hatten, und murmelte dann: »Sie wissen ja, was man über die Mafia sagt, George – einmal drin, immer drin.«

Ich hätte gern mit Gutierrez über seine Jahre in New Orleans gesprochen, aber ich hielt es für unklug, allzu neugierig zu sein, vor allem nach meinem großen Derby-Zahltag. Hätte ich mich getraut – und wäre mir ein plausibler Grund eingefallen, dieses Thema anzuschneiden –, hätte ich Gutierrez gern gefragt, ob er ein weiteres angebliches Mitglied von Marcellos Organisation kenne: den Exboxer Charles »Dutz« Murret. Ich vermute, dass die Antwort ja gelautet hätte, weil die Vergangenheit nun einmal mit sich selbst harmonierte. Dutz Murrets Frau war Marguerite Oswalds Schwester. Folglich war er Lee Harvey Oswalds Onkel.

4

An einem Tag im Frühling des Jahres 1959 (in Florida gab es einen Frühling; von den Einheimischen wusste ich, dass er bis zu einer Woche dauern konnte), fand ich im Briefkasten eine Benachrichtigung von der Nokomis Public Library. Ich hatte mir ein Exemplar von Der Entzauberte, dem neuen Roman von Budd Schulberg, reservieren lassen, das jetzt da war. Ich sprang in meinen Sunliner – es gab keinen besseren Wagen für diesen Küstenstreifen, der damals als Sun Coast bekannt wurde – und fuhr hin, um es mir zu holen.

Beim Hinausgehen fiel mir ein neues Plakat an dem übervollen Schwarzen Brett in der Eingangshalle auf. Es wäre schwer zu übersehen gewesen; es war leuchtend blau und zeigte eine zitternde Comicfigur vor einem übergroßen Thermometer, dessen Quecksilber minus zwölf Grad anzeigte. HABEN SIE EIN GRAD-PROBLEM? fragte das Plakat. EIN ZERTIFIKAT DES UNITED COLLEGE OF OKLAHOMA KANN IHREN AKADEMISCHEN GRAD ERHÖHEN! FORDERN SIE UNSERE UNTERLAGEN AN!

United College of Oklahoma klang mindestens so windig wie Chicago im Herbst, aber es brachte mich auf eine Idee. Vor allem deshalb, weil ich mich langweilte. Oswald war noch bei den Marines und würde erst im September entlassen werden und sich dann nach Russland absetzen. Dort würde er als Erstes versuchen, die amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen. Das würde ihm nicht gelingen, aber nach einem spektakulären – und vermutlich getürkten – Selbstmordversuch in einem Moskauer Hotel würden die Russen ihm gestatten, in ihrem Land zu bleiben. Gewissermaßen »zur Probe«. Er würde sich ungefähr dreißig Monate dort aufhalten und in einer Radiofabrik in Minsk arbeiten. Und auf einer Party würde er eine junge Frau namens Marina Prusakowa kennenlernen. Rotes Kleid, weiße Slipper, hatte Al in seinen Notizen festgehalten. Hübsch. Fürs Tanzen gekleidet.

Schön für ihn, aber was sollte ich bis dahin tun? Das United College eröffnete mir eine Möglichkeit. Ich forderte die Unterlagen an und erhielt sie umgehend. Der Katalog lockte mit einem Füllhorn von Abschlüssen. Ich stellte fasziniert fest, dass ich für dreihundert Dollar (bar oder Postanweisung) den Bachelor in Englisch erwerben konnte. Dazu brauchte ich nur einen Test mit fünfzig Multiple-Choice-Fragen zu bestehen.

Ich schickte eine Postanweisung, verabschiedete mich in Gedanken von meinen drei Hundertern und forderte den Test an. Zwei Wochen später erhielt ich vom United College einen dünnen Umschlag mit zwei undeutlich hektografierten Blättern. Die Fragen waren wundervoll. Hier sind zwei meiner Favoriten:

22. Was war »Mobys« Nachname?


A. Tom


B. Dick


C. Harry


D. John

37. Wer hat »The House of Tables« geschrieben?


A. Charles Dickens


B. Henry James


C. Ann Bradstreet


D. Nathaniel Hawthorne


E. keiner davon

Nachdem ich diesen herrlichen Test genossen hatte, kreuzte ich die Antworten an (mit dem gelegentlichen Ausruf: »Ihr wollt mich wohl verscheißern?«) und schickte die Bogen nach Enid, Oklahoma, zurück. Die Antwort bestand aus einer postwendend eintreffenden Postkarte, die mir zu dem bestandenen Examen gratulierte. Sobald ich weitere fünfzig Dollar »Verwaltungskosten« entrichtet hätte, erfuhr ich, würde ich mein Diplom zugeschickt bekommen. So geschah es dann auch. Die Urkunde sah weit besser aus, als der Test ausgesehen hatte, und trug ein eindrucksvolles goldenes Siegel. Als ich sie einem Vertreter der Schulbehörde in der Sarasota County vorlegte, akzeptierte der gute Mann sie ohne weitere Fragen und setzte mich auf die Ersatzliste.

So kam es, dass ich im Schuljahr 1959/60 schließlich wieder ein bis zwei Tage in der Woche unterrichtete. Es war schön, wieder in der Schule zu sein. Auch meine Schüler – die Jungen mit oben flachem Bürstenhaarschnitt, die Mädchen mit Pferdeschwanz und in wadenlangem Tellerrock – machten mir Spaß, obwohl mir peinlich bewusst war, dass alle Gesichter, die ich in verschiedenen Klassenzimmern sah, recht durchschnittlich waren. Diese Tage als »Springer« brachten mir eine neuerliche Selbsterkenntnis: Zwar gefiel mir das Schreiben, und ich hatte entdeckt, dass ich gut darin war, aber meine wahre Liebe war das Unterrichten. Es füllte mich auf eine Weise aus, die ich nicht erklären konnte. Oder erklären wollte. Erklärungen waren oft billige Poesie.

Mein bester Tag als Aushilfslehrer kam in der West Sarasota High, nachdem ich für eine Klasse, die ich in Amerikanischer Literatur unterrichtete, die Handlung von Der Fänger im Roggen zusammengefasst hatte (ein Buch, das natürlich nicht in der Schulbücherei stehen durfte und konfisziert worden wäre, wenn ein Schüler es in diese heiligen Hallen mitgebracht hätte). Im Anschluss hatte ich sie aufgefordert, über Holden Caulfields Hauptklage zu diskutieren: dass die Schule, die Erwachsenen und das amerikanische Leben insgesamt verlogen seien. Die Kids kamen erst nur langsam in Schwung, aber als die Glocke schrillte, redeten alle durcheinander, und ein halbes Dutzend Schüler riskierte es, zu spät in den nächsten Unterricht zu kommen, nur um abschließend äußern zu können, was sie an der Gesellschaft, die sie um sich herum sahen, und dem Leben, das ihre Eltern für sie geplant hatten, als falsch empfanden. Ihre Augen glänzten, ihre Gesichter waren vor Aufregung gerötet. Zweifellos würde es in den hiesigen Buchhandlungen einen Ansturm auf ein bestimmtes dunkelrotes Taschenbuch geben. Als Letzter ging ein muskulöser Junge, der einen Footballpullover trug. Er erinnerte mich an Moose Mason aus den Archie-Comics.

»Ich wollte, Sie wärn für immer hier, Mr. Amberson«, sagte er in seinem weichen Südstaatendialekt. »Sie find ich nämlich am allertollsten.«

Er fand mich nicht nur toll; er fand mich am allertollsten. Nichts war damit vergleichbar, ein solches Kompliment von einem Siebzehnjährigen zu hören, der aussah, als wäre er zum ersten Mal in seiner Schullaufbahn ganz und gar wach.

Im selben Monat noch rief mich der Direktor in sein Büro, bot mir zu ein paar Freundlichkeiten eine Co’-Cola an und fragte dann: »Junger Mann, sind Sie ein Subversiver?« Ich versicherte ihm, dass dem nicht so sei. Ich erzählte ihm, ich hätte für Ike gestimmt. Damit schien er zufrieden zu sein, schlug aber vor, dass ich mich in Zukunft mehr an den »allgemein akzeptierten Lesestoff« hielte. Haarmoden änderten sich, Rocklängen und Alltagssprache ebenso, aber Schulverwaltungen? Niemals.

5

In einer Vorlesung (an der University of Maine, einer echten Uni, an der ich meinen echten Bachelor of Science gemacht hatte) hatte ein Psychologieprofessor einmal behauptet, Menschen besäßen wirklich einen sechsten Sinn. Er nannte ihn Ahnungsdenken und sagte, dieser sechste Sinn sei in Mystikern und Geächteten am besten ausgebildet. Ich war kein Mystiker, aber ich war aus meiner Zeit ins Exil gegangen und zum Mörder geworden (ich mochte der Überzeugung sein, dass Frank Dunning den Tod verdient hatte, aber die Polizei würde das bestimmt nicht so sehen). Wenn diese beiden Dinge mich nicht zu einem Geächteten machten, reichte nichts dafür aus.

»Für Situationen, in denen Gefahr zu drohen scheint, lautet mein Rat an Sie …«, sagte der Professor an jenem Tag im Jahr 1995. »Folgen Sie Ihrem inneren Gefühl.«

Im Juli 1960 beschloss ich, genau das zu tun. Der Gedanke an Eduardo Gutierrez machte mir zunehmend Sorgen. Er war nur ein kleiner Kerl, aber seine angeblichen Verbindungen zur Mafia gaben mir zu denken … und das Glitzern in seinen Augen, als er mir meinen Derbygewinn ausgezahlt hatte, den ich jetzt für töricht hoch hielt. Weshalb hatte ich diese Wette abgeschlossen, obwohl ich noch weit davon entfernt war, pleite zu sein? Geldgier war es nicht gewesen; es hatte wohl mehr damit zu tun gehabt, wie sich ein guter Hitter fühlte, wenn ein langsamer Curveball auf ihn zukam. Manchmal kann man einfach nicht anders, als zu versuchen, den Ball über den Zaun zu schlagen. Ich hatte einfach draufgehauen, wie Leo »The Lip« Durocher in seinen lebhaften Rundfunkreportagen zu sagen pflegte, aber das bedauerte ich jetzt.

Die beiden letzten Wetten, die ich bei Gutierrez abschloss, verlor ich absichtlich, und ich tat mein Bestes, dämlich zu wirken – nur ein gewöhnlicher Abenteurer, der einmal Glück gehabt hatte und im Lauf der Zeit alles wieder verlieren würde –, aber mein Ahnungsdenken sagte mir, dass ich nicht sehr überzeugend wirkte. Meiner Ahnung gefiel es nicht, dass Gutierrez anfing, mich mit »Sieh mal an, da kommt mein Yanqui aus Yankeeland« zu begrüßen. Nicht der Yanqui; mein Yanqui.

Was war, wenn er einen seiner Pokerfreunde beauftragte, mir aus Tampa nach Sunset Point zu folgen? War es denkbar, dass er einige seiner anderen Pokerfreunde – oder ein paar Muskelmänner, die sich von den Wucherzinsen, die ein Kredithai wie Gutierrez gegenwärtig verlangte, befreien wollten – zu einer kleinen Bergungsaktion losschickte, um den noch vorhandenen Rest dieser zehntausend Dollar zurückzuholen? Mein nüchterner Verstand fand, dass dies ein lahmer Plot von der Art war, wie sie in Krimiserien vom Kaliber 77 Sunset Strip vorkamen, aber mein Ahnungsdenken war anderer Meinung. Es warnte mich, dass der kleine Mann mit dem schütter werdenden Haar ohne Weiteres imstande war, einen Überfall auf mein Heim zu organisieren und seine Ganoven anzuweisen, mich zusammenzuschlagen, falls ich Widerstand leistete. Ich wollte keine Schläge beziehen, und ich wollte nicht ausgeraubt werden. Vor allem wollte ich nicht riskieren, dass meine Aufzeichnungen in die Hände eines Buchmachers mit Verbindungen zur Mafia fielen. Die Vorstellung, mit eingezogenem Schwanz zu flüchten, gefiel mir nicht, aber hol’s der Teufel, ich musste früher oder später ohnehin nach Texas – warum also nicht früher? Außerdem war Vorsicht besser als Nachsicht. Das hatte ich auf dem Schoß meiner Mutter gelernt.

Nach einer fast schlaflosen Julinacht, in der die Sonar-Pings meiner Ahnung besonders stark gewesen waren, packte ich also meine weltlichen Besitztümer ein (die Stahlkassette mit den Aufzeichnungen und meinem Geld versteckte ich unter dem Reserverad des Sunliners), hinterließ eine kurze Mitteilung und einen letzten Mietscheck für den Hausbesitzer und fuhr auf der US 19 nach Norden. Die erste Nacht unterwegs verbrachte ich in einem verfallenden Autohof in DeFuniak Springs. Die Fliegengitter waren löchrig, und bis ich die einzige Lichtquelle in meinem Zimmer (eine nackte Glühbirne an einer gefährlich ausgefransten Elektroschnur) ausknipste, setzten mir Moskitos von der Größe von Abfangjägern zu.

Trotzdem schlief ich wie ein Baby. Ich hatte keine Albträume, und die Pings meines inneren Sonars waren verstummt. Das genügte mir.

Die erste Augustnacht verbrachte ich in Gulfport, obwohl das erste Gästehaus am Stadtrand mich abwies. Der Angestellte im Red Top Inn erklärte mir, hier würden nur Neger aufgenommen, und verwies mich ans Southern Hospitality, das er als »Gaff-pots bestes Haus« bezeichnete. Das mochte stimmen, aber insgesamt wäre mir das Red Top irgendwie lieber gewesen. Die Slide-Guitar-Klänge, die aus dem Bar & Barbecue nebenan herübergekommen waren, hatten sagenhaft geklungen.

6

New Orleans lag nicht genau auf meiner Route nach Dallas, aber seit die Pings meines Ahnungssonars verstummt waren, war ich in Touristenlaune … obwohl ich weder das French Quarter noch die Dampferanlegestelle Bienville noch das Vieux Carrée besuchen wollte.

Ich kaufte mir bei einem Straßenhändler einen Stadtplan und fand dann problemlos den Weg zu dem einzigen Ziel, das mich interessierte. Ich parkte und stand nach fünfminütigem Fußmarsch vor dem Haus Magazine Street 4905, in dem Lee und Marina Oswald mit ihrer Tochter June im letzten Frühjahr und Sommer von John Kennedys Leben wohnen würden. Es war ein weitläufiges, ziemlich verfallenes Gebäude, vor dem ein hüfthoher Zaun den verunkrauteten Vorgarten umgab. Das ehemals weiß gestrichene Erdgeschoss, von dem der Putz abbröckelte, war uringelb verfärbt. Das Obergeschoss war mit ungestrichenen, grau verwitterten Brettern verschalt. Auf der großen Pappe, die dort oben eine zerbrochene Fensterscheibe ersetzte, stand ZU VERMIETEN – MU3-4192. Rostige Fliegengitter umschlossen die Veranda, auf der Oswald im September 1963 nach Einbruch der Dunkelheit in der Unterwäsche sitzen, »Peng! Peng! Peng!« flüstern und so tun würde, als knallte er mit der Waffe, die das berühmteste Gewehr der amerikanischen Geschichte werden sollte, ahnungslose Passanten ab.

Daran dachte ich gerade, als mir jemand auf die Schulter tippte, sodass ich beinahe aufgeschrien hätte. Ich zuckte vermutlich tatsächlich zusammen, denn der junge Schwarze, der mich ansprechen wollte, wich respektvoll einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

»Sorry, Sah. Sorry, wollt Sie echt nich erschreckn.«

»Schon gut«, sagte ich. »Komplett meine Schuld.«

Diese Erklärung schien ihn nervös zu machen, aber er hatte ein Geschäft im Sinn und trieb es voran … obwohl er dazu wieder näher an mich herantreten musste, weil sein Anliegen einen Ton erforderte, der leiser als der übliche Gesprächston war. Er wollte wissen, ob ich daran interessiert sei, ein paar Joysticks zu kaufen. Ich glaubte zu wissen, was er meinte, war mir meiner Sache aber nicht ganz sicher, bis er hinzufügte: »Bestes Sumpfweed, Sah.«

Ich lehnte dankend ab, fügte aber hinzu, wenn er mir den Weg zu einem guten Hotel im Paris des Südens beschreiben könne, sei mir das einen halben Dollar wert. Als er wieder sprach, klang er deutlich lebhafter. »Da gehn die Meinungen auseinander, aber ich würd das Hotel Monteleone empfehlen.« Er gab mir eine gute Wegbeschreibung.

»Danke«, sagte ich und drückte ihm das Geldstück in die Hand. Es verschwand in einer seiner vielen Taschen.

»Sagen Sie, warum sehen Sie sich dieses Haus überhaupt an?« Dazu nickte er zu dem baufälligen Mietshaus hinüber. »Denken Sie daran, es zu kaufen?«

Irgendwie flammte der alte George Amberson in mir auf. »Sie wohnen bestimmt hier in der Nähe. Glauben Sie, dass es ein guter Kauf wäre?«

»Manche Häuser in dieser Straße wären’s vielleicht schon, aber nicht das hier. Sieht für mich aus, wie wenn’s da spukt.«

»Das wird es«, sagte ich und ging zu meinem Wagen davon, während er mir perplex nachsah.

7

Ich holte die Stahlkassette aus dem Kofferraum und stellte sie auf den Beifahrersitz des Sunliners, weil ich sie selbst in mein Zimmer im Monteleone hinauftragen wollte, was ich dann auch tat. Aber während der Portier mein restliches Gepäck aus dem Wagen holte, sah ich auf dem Boden vor dem Rücksitz etwas liegen, was mich erröten ließ, auch wenn mein Schuldbewusstsein deutlich überproportional war. Aber was wir in der Kindheit gelernt hatten, prägte uns am meisten, und eine weitere Sache, die ich auf dem Schoß meiner Mutter gelernt hatte, betraf die pünktliche Rückgabe von Bibliotheksbüchern.

»Mister, geben Sie mir bitte das Buch da?«, bat ich den Portier.

»Ja, Sah! Sehr gern!«

Bei dem Buch handelte es sich um den Chapman-Report, den ich mir ungefähr eine Woche vor meinem plötzlichen Reiseentschluss aus der Nokomis Public Library geholt hatte. Der Aufkleber auf der durchsichtigen Schutzhülle – NUR 7 TAGE, DENKEN SIE AN DEN NÄCHSTEN LESER – schien mich zu tadeln.

Oben im Zimmer sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es erst sechs war. Im Sommer öffnete die Bibliothek erst mittags, blieb aber bis acht Uhr abends geöffnet. Ferngespräche gehörten zu den wenigen Dingen, die 1960 teurer als 2011 waren, aber dieses kindische Schuldgefühl ließ mich nicht los. Ich rief die Vermittlung des Hotels an und gab der Telefonistin die Nummer der Stadtbücherei, die ich von der hinten ins Buch geklebten Kartentasche ablas. Der kleine Hinweis darunter – Bitte rufen Sie uns an, wenn die Buchrückgabe sich um mehr als drei Tage verspätet – bewirkte, dass ich mir noch schäbiger vorkam.

Meine Telefonistin sprach mit einer anderen Telefonistin. Hinter ihnen plapperten leise Stimmen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass die meisten der hier Redenden in der Zeit, aus der ich kam, tot sein würden. Dann begann das Telefon am anderen Ende zu klingeln.

»Hallo, Nokomis Public Library.« Es war Hattie Wilkersons Stimme, aber die nette alte Dame klang, als würde sie in einem riesigen Stahlfass stecken.

»Hallo, Mrs. Wilkerson …«

»Hallo? Hallo? Hören Sie mich? Verflixtes Ferngespräch!«

»Hattie?« Ich brüllte jetzt. »Hier ist George Amberson!«

»George Amberson? Großer Gott! Von wo aus rufen Sie an, George?«

Ich hätte beinah die Wahrheit gesagt, aber mein Ahnungssonar ließ ein einzelnes überlautes Ping hören, und ich brüllte: »Baton Rouge!«

»In Louisiana?«

»Ja! Ich habe eines Ihrer Bücher! Das habe ich eben erst gemerkt! Ich schicke es Ihnen zur…«

»Sie brauchen nicht zu schreien, George, die Verbindung ist jetzt viel besser. Die Telefonistin hatte bestimmt den kleinen Stecker nicht ganz reingeschoben. Ich freue mich ja so, von Ihnen zu hören. Es war Gottes Vorhersehung, dass Sie nicht da waren. Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht, obwohl der Feuerwehrkommandant gesagt hat, das Haus hätte leer gestanden.«

»Wovon reden Sie eigentlich, Hattie? Von meinem Häuschen am Strand?«

Wovon denn sonst?

»Ja! Jemand hat eine mit Benzin gefüllte Brandflasche durchs Fenster geworfen. Das Haus ist binnen Minuten in Flammen aufgegangen. Feuerwehrchef Durand glaubt, dass es Jugendliche waren, die dort draußen getrunken und gefeiert haben. Es gibt heutzutage so viele schwarze Schafe. Das kommt daher, dass sie Angst vor der Bombe haben, sagt mein Mann.«

Aha.

»George? Sind Sie noch da?«

»Ja«, sagte ich.

»Welches Buch haben Sie?«

»Was?«

»Welches Buch haben Sie? Ich will nicht erst in der Kartei nachsehen müssen.«

»Oh. Den Chapman-Report

»Nun, schicken Sie es bitte zurück, sobald Sie können, ja? Hier warten ziemlich viele Leute darauf. Irving Wallace ist äußerst beliebt.«

»Ja«, sagte ich. »Das tue ich natürlich.«

»Und das mit Ihrem Haus tut mir leid. Haben Sie Ihre Sachen verloren?«

»Ich habe alles Wichtige bei mir.«

»Gott sei Dank! Kommen Sie bald zur…«

Ich hörte ein schmerzhaft lautes Klicken, dann das leise Schnarren einer freien Leitung. Ich legte langsam den Hörer auf. Würde ich bald zurückkommen? Ich hielt es für unnötig, noch einmal anzurufen, um diese Frage zu beantworten. Aber ich würde mich vor der Vergangenheit in Acht nehmen müssen, denn sie spürte, wer Änderungen bewirken konnte, und hatte scharfe Zähne.

Am folgenden Morgen schickte ich als Erstes den Chapman-Report an die Stadtbücherei in Nokomis zurück.

Dann fuhr ich weiter nach Dallas.

8

Drei Tage später saß ich auf der Dealey Plaza auf einer Bank und betrachtete den Klinkerwürfel des Texas School Book Depository, eines Auslieferungslagers für Schulbücher. Der Spätnachmittag war glühend heiß. Ich hatte meine Krawatte gelockert (wenn man 1960 keine Krawatte trug, erregte man, selbst an heißen Tagen, leicht unerwünschte Aufmerksamkeit) und den obersten Knopf meines weißen Oberhemds geöffnet, aber selbst das nutzte nicht viel. Das galt auch für den kümmerlichen Schatten der Ulme neben meiner Bank.

Als ich ins Hotel Adolphus in der Commerce Street eincheckte, wurde ich vor eine Wahl gestellt, die es im Jahr 2011 nicht mehr gab: Klimaanlage oder keine Klimaanlage. Ich leistete mir die zusätzlichen fünf Dollar für ein Zimmer, in dem ein Klimagerät am Fenster die Temperatur tatsächlich auf 25 Grad herunterkühlte, und wenn ich einen Funken Verstand gehabt hätte, wäre ich jetzt dorthin zurückgegangen, bevor mich ein Hitzschlag aus den Latschen kippen ließ. Nachts würde es hoffentlich etwas kühler werden. Wenigstens ein bisschen.

Aber dieser Klinkerwürfel zog meinen Blick auf sich, und die Fenster – vor allem das in der rechten Ecke des fünften Stocks – schienen mich forschend zu betrachten. Das Gebäude hatte etwas greifbar Unrichtiges an sich. Das könnten Sie – falls es jemals ein Sie gibt – spöttisch abtun, indem Sie es auf mein einzigartiges Vorauswissen zurückführen, aber das wäre keine Erklärung für das, was mich tatsächlich trotz der Bruthitze auf dieser Bank hielt. Schuld daran war mein Gefühl, dieses Gebäude schon einmal gesehen zu haben.

Es erinnerte mich ans Eisenwerk Kitchener in Derry.

Das Büchermagazin war zwar keine Ruine, aber es vermittelte denselben Eindruck von vernunftbegabter Bösartigkeit. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf den umgestürzten und rußgeschwärzten Fabrikschornstein gestoßen war, der wie eine in der Sonne dösende, riesige Urweltschlange im Unkraut lag. Ich erinnerte mich, wie ich in diese dunkle Röhre geblickt hatte, in die ich hätte aufrecht hineingehen können. Und ich erinnerte mich an das Gefühl, dass dort drinnen irgendetwas hauste. Etwas Lebendiges. Etwas, das wollte, dass ich hineinging. Damit ich es besuchte. Vielleicht für lange, lange Zeit.

Komm doch rein, flüsterte das Fenster im fünften Stock. Sieh dich um. Das Gebäude ist leer; das wenige Stammpersonal, das im Sommer hier arbeitet, ist nach Hause gegangen, aber wenn du nach hinten zur Laderampe am Gleisanschluss gehst, findest du eine offene Tür, da bin ich mir ganz sicher. Was gibt es hier drinnen schließlich vor Diebstahl zu schützen? Nichts als Schulbücher, und selbst die Schüler, für die sie bestimmt sind, wollen sie eigentlich nicht. Das weißt du selbst am besten, Jake. Komm also rein. Komm in den fünften Stock rauf. In deiner Zeit gibt es hier oben ein Museum; Menschen aus aller Welt besuchen es, und manche weinen immer noch um den Mann, der von hier aus erschossen wurde – und um alles, was er hätte tun können –, aber wir schreiben das Jahr 1960, Kennedy ist noch Senator, und Jake Epping existiert nicht. Das tut nur George Amberson: ein Mann mit kurzem Haarschnitt, durchgeschwitztem Hemd und gelockerter Krawatte. Sozusagen ein Mann seiner Zeit. Also komm rauf! Oder hast du Angst vor Gespenstern? Wie könnte es welche geben, wenn das Verbrechen noch gar nicht begangen worden ist?

Aber dort oben gab es Gespenster. Vielleicht nicht auf der Magazine Street in New Orleans, aber hier? O ja! Nur würde ich ihnen nie entgegentreten müssen, weil ich das Büchermagazin so wenig betreten würde wie den umgestürzten Fabrikschornstein in Derry. Oswald würde seinen Job als Lagerarbeiter erst ungefähr einen Monat vor dem Attentat bekommen, und bis dahin zu warten wäre bei Weitem zu knapp gewesen. Nein, ich wollte mich an den Plan halten, den Al im letzten Teil seiner Notizen unter der Überschrift SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜRS WEITERE VORGEHEN skizziert hatte.

Obwohl das Attentat nach Als Überzeugung von einem Einzeltäter verübt worden war, hatte er an der kleinen, aber statistisch bedeutsamen Möglichkeit festgehalten, dass er sich irren könnte. In seinen Notizen bezeichnete er sie als Fenster der Ungewissheit.

Wie in Fenster im fünften Stock.

Er hatte vorgehabt, dieses Fenster endgültig am 10. April 1963 zu schließen – über ein halbes Jahr vor Kennedys Reise nach Dallas –, und ich fand die Idee vernünftig. Vielleicht später im April 1963, vielleicht auch schon am Abend des 10. Aprils – wozu noch warten –, würde ich Marinas Ehemann und Junes Vater ermorden, genau wie ich Frank Dunning erschossen hatte. Und zwar ohne Gewissensbisse. Wenn man ein Baby hatte und eine Spinne über den Fußboden auf dessen Bettchen zukrabbeln sah, zögerte man vielleicht. Man könnte sogar daran denken, sie mit einem Staubtuch zu fangen und im Garten auszusetzen, damit sie ihr kleines Leben weiterleben konnte. Aber wenn man wusste, dass die Spinne giftig war? Eine Schwarze Witwe? In diesem Fall würde man nicht zögern. Nicht, wenn man bei Verstand war.

Man würde einen Fuß auf sie setzen und sie zertreten.

9

Für die Zeit zwischen August 1960 und April 1963 hatte ich einen eigenen Plan. Ich würde Oswald im Auge behalten, wenn er aus Russland heimkehrte, allerdings ohne mich einzumischen. Das durfte ich mir wegen des Schmetterlingseffekts nicht leisten. Sollte es im Englischen eine dämlichere Metapher als eine Kette von Ereignissen geben, kenne ich sie nicht. Ketten (außer natürlich die, die wir im Kindergarten aus farbigem Papier zu machen gelernt hatten) waren stark. Wir benutzten sie dazu, Lastwagenmotoren herauszuheben und Schwerverbrecher an Armen und Beinen zu fesseln. Das galt nicht mehr für die Realität, wie ich sie verstand. Ereignisse sind ganz schön labil, sie sind Kartenhäuser, und hätte ich mich Oswald genähert oder gar versucht, ihn von einem Verbrechen abzubringen, das er noch nicht einmal geplant hatte, hätte ich meinen einzigen Vorteil verspielt. Der Schmetterling würde die Flügel ausbreiten, und Oswalds Kurs würde sich ändern.

Die Veränderungen würden anfangs vielleicht nur klein sein, aber »from small things, baby, big things one day come«, wie es in einem Song von Bruce Springsteen hieß. Sie mochten gute Änderungen sein, die den Mann, der gegenwärtig noch der Junior Senator aus Massachusetts war, retten würden. Aber das glaubte ich nicht. Weil die Vergangenheit unerbittlich war. Im Jahr 1962, das hatte Al in einer hingekritzelten Randnotiz festgehalten, würde Kennedy an der Rice University in Houston eine Rede über den Mond halten. Freiluftauditorium, kein Panzerglas vor dem Rednerpult, hatte Al geschrieben. Houston lag weniger als dreihundert Meilen von Dallas entfernt. Was war, wenn Oswald beschloss, den Präsidenten dort zu erschießen?

Oder wenn Oswald genau das war, was er zu sein behauptete: ein Sündenbock? Was war, wenn ich ihn aus Dallas verscheuchte, sodass er nach New Orleans zurückkehrte, und Kennedy trotzdem als Opfer irgendeiner verrückten CIA- oder Mafiaverschwörung starb? Würde ich den Mut haben, ein weiteres Mal durch den Kaninchenbau zurückzukehren und alles noch mal von vorn zu beginnen? Die Familie Dunning noch mal retten? Carolyn Poulin noch mal retten? Ich hatte schon fast zwei Jahre für diese Aufgabe geopfert. Würde ich bereit sein, weitere fünf zu investieren, auch wenn das Ergebnis so unsicher war wie je zuvor?

Das wollte ich lieber nicht herausbekommen müssen.

Ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen.

Auf der Fahrt von New Orleans nach Texas hatte ich mir überlegt, dass die beste Möglichkeit, Oswald zu überwachen, ohne ihm in die Quere zu kommen, vermutlich darin bestünde, in Dallas zu leben, während er in der Schwesterstadt Fort Worth war, und dann nach Fort Worth umzuziehen, sobald Oswald mit seiner Familie nach Dallas kam. Die Idee hatte den Vorzug, einfach zu sein, aber sie würde nicht funktionieren. Das erkannte ich in den Wochen, nachdem ich zum ersten Mal das Schulbuchlager von Texas betrachtet und dabei das starke Gefühl gehabt hatte, dass es – wie Nietzsches Abgrund – meinen Blick erwiderte.

Ich verbrachte den August und September dieses Präsidentschaftswahljahres damit, mit meinem Sunliner auf Wohnungssuche durch Dallas zu fahren (wobei ich mein Navi selbst nach so langer Zeit schmerzlich vermisste und oft halten musste, um nach dem Weg zu fragen). Nichts gefiel mir. Anfangs dachte ich, das läge an den Wohnungen selbst. Doch als ich die Stadt besser zu verstehen begann, merkte ich, dass es an mir lag.

Die schlichte Wahrheit war, dass ich Dallas nicht mochte, und acht Wochen intensiven Studiums genügten, um mich davon zu überzeugen, dass es hier vieles gab, was man nicht mögen konnte. Die Zeitung Times Herald (von vielen Einheimischen gewohnheitsmäßig Slimes Herald genannt) war ein langweiliger Moloch, der billigsten Lobbyismus betrieb. Die Morning News geriet ins Schwärmen und schrieb darüber, wie Dallas und Houston sich »in einem Wettrennen zum Himmel« befänden, aber die Wolkenkratzer, von denen der Leitartikel sprach, waren eine Insel architektonischer Belanglosigkeit, ringförmig umgeben von etwas, was ich für mich den Großen Amerikanischen Flachkult nannte. Die Zeitungen ignorierten die Slums, in denen die Segregation entlang der Rassengrenzen erst ein wenig aufzuweichen begann. Weiter außerhalb gab es endlose Mittelstandswohnsiedlungen, deren Häuser überwiegend Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg gehörten. Die Veteranen hatten Frauen, die ihre Tage damit verbrachten, die Möbel mit Pledge zu pflegen und ihre Wäsche in Maytags zu waschen. Die meisten hatten zweieinhalb Kinder. Teenager mähten den Rasen, stellten den Slimes Herald auf Fahrrädern zu, pflegten die Familienkutsche mit Turtle Wax und hörten mit Transistorradios (heimlich) Chuck Berry.

Jenseits der Vorortsiedlungen mit ihren kreisenden Rasensprengern lagen weite Flächen Ödland. Hier und da versorgten fahrbare Bewässerungsanlagen noch Baumwollfelder, aber im Prinzip war King Cotton tot, ersetzt durch endlose Felder mit Mais und Sojabohnen. Was in der Dallas County wirklich produziert wurde, waren elektronische Geräte, Textilien, Kuhscheiße und schmutzige Petrodollars. In der näheren Umgebung gab es nicht viele Bohrtürme, aber wenn der Wind aus Westen – vom Permian-Becken her – wehte, stank es in den Zwillingsstädten nach Öl und Erdgas.

Das Geschäftsviertel in der Innenstadt war voller Zocker, die in einem Aufzug herumliefen, der mir wie die Quintessenz von Dallas vorkam: karierte Sportsakkos, schmale Krawatten, die von übergroßen Klammern festgehalten wurden (mitten in diesen Krawattenklammern, der 1960er-Version von protzigem Schmuck, glitzerten meist Brillanten oder zumindest gute Imitationen), weiße Sansabelt-Hosen und mit komplizierten Mustern bestickte Cowboystiefel. Sie arbeiteten bei Banken und Investmentgesellschaften. Sie verkauften Sojabohnen-Termingeschäfte und Ölbohrlizenzen und Grundstücke westlich der Stadt, auf denen außer Stechapfel und Steppenläufern nichts wuchs. Sie klopften einander mit beringten Händen auf die Schultern und nannten ihr Gegenüber mein Sohn. Am Gürtel, also dort, wo Geschäftsleute im Jahr 2011 ihr Handy trugen, trugen damals viele Pistolen oder Revolver in handgefertigten Holstern.

Es gab Werbetafeln, auf denen die Amtsenthebung Earl Warrens, des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, gefordert wurde; Werbetafeln mit dem polternden Nikita Chruschtschow (NJET, GENOSSE CHRUSCHTSCHOW lautete der dazugehörige Text, WIR WERDEN EUCH BEGRABEN!); an der West Commerce Street gab es eine, auf der stand: DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI AMERIKAS TRITT FÜR INTEGRATION EIN. DENKEN SIE DARÜBER NACH! Sponsor dieser Botschaft war irgendeine Tea Party Society. An die Schaufenster zweier Geschäfte, die dem Namen nach Juden gehörten, waren Hakenkreuze geschmiert.

Ich konnte Dallas nicht leiden. Nein, Sir; nein, Ma’am; ganz und gar nicht. Es gefiel mir nicht, seit ich am Empfang im Hotel Adolphus beobachtet hatte, wie der Restaurantchef einen sich windenden jungen Kellner am Arm packte und laut anbrüllte. Trotzdem hatte ich hier zu tun und würde folglich hierbleiben. Zumindest glaubte ich das damals.

10

Am 22. September 1960 fand ich endlich eine Wohnung, in der es sich leben ließ. Sie lag in der Blackwell Street in North Dallas – eine Einzelgarage, die in eine recht hübsche Maisonette umgebaut worden war. Ihr größter Vorzug: eine Klimaanlage. Ihr größter Nachteil: Ray Mack Johnson, der Besitzer/Vermieter, war ein Rassist, der mir anvertraute, falls ich die Wohnung nähme, sei ich gut beraten, mich von der benachbarten Greenville Avenue fernzuhalten, weil es dort jede Menge gemischtrassiger Bumslokale und Nigger mit Messern gebe, die er als Schnapper bezeichnete.

»Hab aber nix gegen Nigger«, erklärte er mir. »Nein, Sir. Es war Gott, der sie zu ihrer Lage verdammt hat, nicht ich. Das wissen Sie doch, nicht wahr?«

»Diesen Teil der Bibel muss ich wohl überlesen haben.«

Er kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Was sind Sie, Methodist?«

»Ja«, sagte ich. Das erschien mir sicherer, als ihm zu sagen, dass ich, konfessionell genommen, gar nichts war.

»Sie müssen sich den Baptisten anschließen, mein Sohn. Unsere Kirche heißt Neue willkommen. Wenn Sie die Wohnung mieten, dann können Sie vielleicht mal am Sonntag mit mir und meiner Frau in die Kirche gehen.«

»Vielleicht«, stimmte ich zu und nahm mir vor, an besagtem Sonntag im Koma zu liegen. Oder sogar tot zu sein.

Mr. Johnson war unterdessen zu seinem ursprünglichen Bibeltext zurückgekehrt.

»In der Arche hat Noah sich nämlich einmal betrunken und splitternackt auf seinem Bett gelegen. Zwei seiner Söhne wollten ihn nicht ansehen; sie haben sich bloß abgewandt und eine Decke über ihn geworfen. Na ja, vielleicht war’s auch ein Bettlaken. Aber Ham – er war der Nigger der Familie – hat seinen Vater in seiner Nacktheit betrachtet, und Gott hat ihn und seine ganze Rasse dazu verdammt, Holzhacker und Wasserträger zu sein. Da haben Sie’s! Das steckt dahinter. Schöpfungsgeschichte, Kapitel neun. Das müssen Sie mal nachlesen, Mr. Amberson.«

»Mhm«, machte ich und sagte mir, dass ich irgendeine Wohnung finden musste, weil ich nicht ewig im Adolphus bleiben konnte. Ich sagte mir, dass ich mit ein wenig Rassismus leben konnte, schließlich war ich ja nicht aus Zucker. Ich sagte mir, dass dies eben der Zeitgeist war und ich vermutlich überall auf ihn treffen würde. Nur glaubte ich das nicht ganz. »Ich werd’s mir überlegen und Ihnen in ein, zwei Tagen Bescheid geben, Mr. Johnson.«

»Aber warten Sie nicht zu lange, mein Sohn. Diese Wohnung geht bestimmt schnell weg. Gesegneten Tag noch.«

11

Der gesegnete Tag war wieder glutheiß, und die Wohnungssuche machte durstig. Nachdem ich mich vom bibelfesten Ray Mack Johnson verabschiedet hatte, verspürte ich Durst auf ein Bier. Ich beschloss, mir eins in der Greenville Avenue zu genehmigen. Wenn Mr. Johnson einem von dieser Gegend abriet, musste ich sie mir unbedingt ansehen.

In zwei Punkten hatte er recht: Die Straße war integriert (mehr oder weniger) und etwas zwielichtig. Zudem ging es dort lebhaft zu. Ich parkte, schlenderte die Avenue entlang und genoss die Rummelplatzatmosphäre. Ich kam an zwei Dutzend Bars vorbei, dazu an einigen schäbigen Kinos (COME IN IT’S »KOOL« INSIDE) mit Werbebannern, die in dem heißen, nach Öl riechenden texanischen Wind knatterten, und einem Striplokal mit einem Marktschreier vor der Tür, der die Ware anpries: »Girls, Girls, Girls, die besten Revuegirls der ganzen verdammten Welt! Die besten Stripperinnen, die Sie je gesehen haben! Diese Ladys rasieren sich, wenn Sie wissen, was ich meine!« Ich kam auch an drei oder vier Geldhäusern vorbei, die sich erboten, Schecks einzulösen, und Schnellkredite versprachen. Vor einem, das mit dem Slogan FAITH FINANCIAL, WO VERTRAUEN UNSERE PAROLE IST warb, stand auf einer Staffelei eine Tafel, auf der oben FAVORITEN DES TAGES und im unteren Drittel NUR ZUM VERGNÜGEN stand. Männer mit Strohhut und Hosenträgern (ein Look, den nur eingefleischte Zocker sich leisten können) umstanden die Tafel und diskutierten über die angeschlagenen Quoten. Manche hielten Wettformulare in der Hand, andere den Sportteil der Morning News.

Nur zum Vergnügen, dachte ich. O ja, natürlich. Ich musste wieder an mein brennendes Häuschen am Strand denken, wie die Flammen, vom Golfwind angefacht, hoch in den nächtlichen Sternenhimmel schlugen. Vergnügen hatte seine Nachteile, vor allem wenn es um Wetten ging.

Aus offenen Eingangstüren drangen Musik und Bierdunst. Ich hörte Jerry Lee Lewis aus einer Jukebox »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On« singen, während nebenan Ferlin Husky »Wings of a Dove« schnulzte. Ich wurde von vier Nutten und einem Straßenhändler angesprochen, der Radkappen, mit Strass besetzte Rasiermesser und Lone-Star-Fähnchen verkaufte, auf denen DON’T MESS WITH TEXAS stand. Ob der Spruch auch auf spanisch gut ankam?

Das beunruhigende Déjà-vu-Gefühl war sehr stark: die Empfindung, dass hier Dinge nicht in Ordnung waren, die schon früher nicht in Ordnung gewesen waren. Was leicht verrückt – ich war noch nie im Leben in der Greenville Avenue gewesen –, aber auch unbestreitbar war, eine Angelegenheit des Herzens statt des Kopfes. Ich merkte plötzlich, dass ich kein Bier mehr wollte. Und ich wollte Mr. Johnsons umgebaute Garage nicht mieten, ganz gleich wie gut die Klimaanlage arbeitete.

Ich war gerade an einer Kneipe vorbeigekommen, die sich Desert Rose nannte und deren Rock-Ola brüllend laut etwas von Muddy Waters spielte. Als ich kehrtmachte, um zu meinem Wagen zurückzugehen, kam ein Mann durch die Tür geflogen. Er taumelte und schlug auf dem Gehsteig hin. Aus dem dunklen Inneren der Bar folgte ihm Gelächter ins Freie. Eine Frau kreischte: »Und lass dich hier nie wieder blicken, du Schlappschwanz!« Das wurde mit weiterem (und herzhafterem) Lachen quittiert.

Der rausgeworfene Gast blutete aus der Nase – die stark nach einer Seite gebogen war – und aus einer Schürfwunde, die in der linken Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Unterkiefer reichte. Die schockstarren Augen waren weit aufgerissen. Sein aus der Hose hängendes Hemd reichte ihm bis fast zu den Knien, als er sich jetzt an einem Laternenpfahl hochzog. Als er sich aufgerappelt hatte, blieb er schwankend stehen, starrte seine Umgebung an und nahm doch nichts wahr.

Ich machte ein, zwei Schritte auf ihn zu, aber bevor ich ihn erreichte, kam eine der Frauen, die mich zuvor angesprochen hatte, hüftwiegend angestöckelt. Nur war sie keine Frau, nicht so richtig. Sie konnte nicht älter als sechzehn sein, hatte große, dunkle Augen und einen glatten Milchkaffeeteint. Sie lächelte, aber nicht bösartig, und als der Mann mit dem blutigen Gesicht stolperte, fasste sie ihn am Arm. »Vorsicht, Schätzchen«, sagte sie. »Beruhig dich erst mal, bevor du …«

Er raffte sein weit herunterhängendes Hemd hoch. Der mit Perlmutt eingelegte Griff einer Pistole – viel kleiner als der Revolver, den ich bei Machen’s Sporting Goods gekauft hatte, eigentlich nur ein Spielzeug – lag an dem blassen Fett, das über den Bund seiner gürtellosen Gabardinehose quoll. Der Reißverschluss stand halb offen, und ich konnte Boxershorts mit aufgedruckten roten Rennautos sehen. Das weiß ich noch. Er zog die Waffe, setzte sie der Nutte an den Bauch und drückte ab. Es gab einen dämlichen kleinen Knall, als detonierte ein kleiner Feuerwerkskracher in einer Blechdose, mehr nicht. Die Frau schrie auf, dann sank sie auf den Gehsteig und hielt sich mit verschränkten Händen den Bauch.

»Du hast mich angeschossen!« Sie wirkte eher empört als verletzt, aber zwischen ihren Fingern quoll bereits Blut hervor. »Du hast mich angeschossen, du blöder kleiner Scheißer, warum hast du mich angeschossen?«

Ohne sie weiter zu beachten, riss der Kerl die Tür vom Desert Rose auf. Ich stand weiter dort, wo ich gestanden hatte, als er auf die hübsche junge Nutte geschossen hatte – teils weil ich vor Schock wie gelähmt war, aber vor allem weil das alles nur Sekunden gedauert hatte. Vielleicht länger, als Oswald brauchen würde, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden, aber nicht viel.

»Ist es das, was du willst, Linda?«, schrie er. »Wenn du das willst, sollst du’s kriegen!«

Er setzte sich die Pistolenmündung ans Ohr und drückte ab.

12

Ich legte mein Taschentuch zusammen und presste es vorsichtig auf das Loch in dem roten Kleid des jungen Mädchens. Ich wusste nicht, wie schwer sie verletzt war, aber sie war munter genug, um einen gleichmäßigen Strom farbenprächtiger Ausdrücke von sich zu geben, die sie vermutlich nicht von ihrer Mutter gelernt hatte (andererseits, wer weiß?). Und wenn ein Mann in der wachsenden Schar von Neugierigen ihr etwas zu nahe kam, fauchte sie: »Hör auf, mir unter den Rock zu schielen, neugieriger Dreckskerl. Dafür zahlst du.«

»Der arme alte Scheißer ist mausetot«, bemerkte irgendjemand. Er kniete neben dem Mann, der aus dem Desert Rose geflogen war. Eine Frau begann zu kreischen.

Näher kommende Sirenen – auch sie kreischten. Mein Blick fiel auf eine der anderen Damen, die mich bei meinem Spaziergang auf der Greenville Avenue angesprochen hatten: eine Rothaarige in Caprihosen. Ich winkte sie heran. Sie berührte mit einer fragenden Geste ihre Brust, und ich nickte. Ja, Sie. »Drücken Sie das Taschentuch hier auf die Wunde«, wies ich sie an. »Versuchen Sie, die Blutung zu stoppen. Ich muss weiter.«

Sie bedachte mich mit einem verständnisvollen kleinen Lächeln. »Sie wollen nicht auf die Polizei warten?«

»Lieber nicht. Ich kenne keinen der Leute hier. Ich bin nur zufällig vorbeigekommen.«

Die Rothaarige kniete sich neben das blutende, schimpfende Mädchen auf dem Gehsteig und drückte das blutgetränkte Taschentuch auf die Einschusswunde. »Schätzchen«, sagte sie zu mir. »Sind wir das nicht alle?«

13

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich nickte ein und sah Ray Mack Johnsons ölig verschwitztes, selbstzufriedenes Gesicht vor mir, wie er zweitausend Jahre Sklaverei, Mord und Ausbeutung darauf zurückführte, dass irgendein Teenager sich angesehen hatte, was sein Alter zwischen den Beinen hatte. Ich schreckte hoch, sank wieder zurück, dämmerte weg … und sah den kleinen Mann mit der halb offenen Hose vor mir, der sich die Mündung seiner verdeckt getragenen Pistole ans Ohr setzte. Ist es das, was du willst, Linda? Ein letzter Ausbruch von Bockigkeit vor dem großen Schlaf. Und wieder schreckte ich hoch. Beim nächsten Mal waren es Männer in einer schwarzen Limousine, die einen Molotowcocktail durchs Wohnzimmerfenster meines Häuschens in Sunset Point warfen: Eduardo Gutierrez, der seinen Yanqui aus Yankeeland beseitigen wollte. Weshalb? Weil er nicht gern verlor, das war alles. Ihm genügte das als Grund.

Schließlich gab ich auf und setzte mich ans Fenster, an dem das Klimagerät tapfer vor sich hin ratterte. In Maine würde die Nacht so kalt sein, dass sich das Laub verfärbte, aber hier in Dallas hatten wir um halb drei Uhr morgens noch 22 Grad. Und hohe Luftfeuchtigkeit.

»Dallas, Derry«, sagte ich, während ich in den stillen Graben der Commerce Street hinabsah. Der Klinkerwürfel des Schulbuchlagers war nicht zu sehen, aber er stand ganz in der Nähe. Zu Fuß erreichbar.

»Derry, Dallas.«

Beide Namen bestanden aus zwei Silben, die sich an dem Doppelkonsonanten auseinanderbrechen ließen, wie man Feuerholz übers Knie brach. Hier konnte ich nicht bleiben. Weitere dreißig Monate in Big D würden mich überschnappen lassen. Wie lange würde es dauern, bis ich die ersten Graffiti wie ICH WERDE MEINE MUTTER BALD UMBRINGEN zu sehen bekam? Oder einen Voodoo-Jesus, der den Trinity River hinabtrieb? Fort Worth wäre vielleicht besser, aber auch Fort Worth war noch zu nahe.

Wieso musste ich überhaupt in einer der beiden Städte bleiben?

Dieser Gedanke kam mir kurz nach drei Uhr morgens mit der Wucht einer Erleuchtung. Ich hatte ein gutes Auto – einen Wagen, in den ich mich ehrlich gesagt verliebt hatte –, und in Mitteltexas gab es keinen Mangel an Schnellstraßen, von denen viele erst in letzter Zeit gebaut worden waren. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts würden sie durch eine Vielzahl von Überführungen und zusätzlichen Fahrspuren verwirrend kompliziert werden, aber im Jahr 1960 waren sie fast unheimlich leer und warteten auf Verkehr, der noch nicht existierte. Es gab Geschwindigkeitsbegrenzungen, die aber nicht durchgesetzt wurden. In Texas war sogar die Verkehrspolizei überzeugte Anhängerin des Evangeliums »Gaspedal durchtreten und die Karre röhren lassen«.

Ich konnte unter dem erdrückenden Schatten hervorkommen, den ich auf dieser Stadt lasten fühlte. Ich konnte einen Wohnort finden, der kleiner und weniger beängstigend war – einen anderen Ort, der sich nicht so nach Hass und Gewalt anfühlte. Am helllichten Tag konnte ich mir einreden, dass dies alles nur meiner Fantasie entsprang, aber im ersten Morgengrauen funktionierte das nicht. In Dallas gab es zweifellos gute Menschen, Tausende und Abertausende davon, aber diese unterschwellige Gewaltbereitschaft war da, und manchmal brach sie aus. Wie auf dem Gehsteig vor dem Desert Rose.

In Derry sind die schlimmen Zeiten vorbei, hatte Bevvie-from-the-levee gesagt. Bei Derry war ich da nicht so überzeugt, und bei Dallas hatte ich das gleiche Gefühl, auch wenn der schlimmste Tag dort noch über drei Jahre entfernt lag.

»Ich werde pendeln«, sagte ich. »George möchte hübsch und ruhig wohnen, um an seinem Buch zu arbeiten, aber weil es von einer Großstadt handelt – von einer, in der es spukt –, muss er eben pendeln, oder? Um Material zu sammeln.«

Kein Wunder, dass ich fast zwei Monate gebraucht hatte, um darauf zu kommen; die einfachsten Antworten des Lebens waren oft am leichtesten zu übersehen. Ich ging wieder ins Bett und schlief fast augenblicklich ein.

14

Am folgenden Tag fuhr ich von Dallas aus auf dem Highway 77 nach Süden. Nach eineinhalb Stunden war ich in der Denholm County. Auf die State Road 109 nach Westen bog ich hauptsächlich deshalb ab, weil mir die Werbetafel an der Kreuzung gefiel. Sie zeigte einen heroischen jungen Footballspieler, der einen goldenen Helm, ein schwarzes Trikot und goldene Leggings trug. DENHOLM LIONS, verkündete die Werbetafel. 3-MALIGE BEZIRKSSIEGER! 1960 AUF DEM WEG ZUR LANDESMEISTERSCHAFT! »WIR HABEN JIM-POWER!«

Was immer das war, dachte ich. Natürlich hatte jede Highschool ihre geheimen Signale und Zeichen; die sollen dafür sorgen, dass die Kids sich als Insider fühlen.

Nach fünf Meilen auf der 109 erreichte ich die Kleinstadt Jodie. 1280 EINW., stand auf der Tafel am Ortseingang. WILLKOMMEN, FREMDER! Auf halber Strecke der von Bäumen gesäumten Main Street sah ich ein kleines Restaurant mit einem Schild im Fenster: BESTE SHAKES, FRITTEN UND BURGER IN GANZ TEXAS! Es hieß Al’s Diner.

Natürlich hieß es so.

Ich parkte auf einem der schräg angeordneten Stellplätze vor dem Lokal, ging hinein und bestellte das Pronghorn Special, das sich als doppelter Cheeseburger mit Barbecuesauce erwies. Dazu gab es Mesquite-Fritten und einen Rodeo Thickshake nach Wahl, mit Vanille-, Schoko- oder Erdbeergeschmack. Ein Pronghorn war nicht ganz so gut wie ein Fatburger, aber er war nicht schlecht, und die Fritten waren so, wie ich sie am liebsten mochte: knackig, salzig und fast etwas zu lange in der Fritteuse.

Al entpuppte sich als Al Stevens, ein hagerer Kerl mittleren Alters, der keinerlei Ähnlichkeit mit Al Templeton hatte. Er trug eine Rockabilly-Frisur und einen grau melierten Bandido-Schnurrbart, sprach wie viele Texaner auffällig gedehnt und hatte ein schräg aufgesetztes, lustiges Papierhütchen auf dem Kopf. Als ich ihn fragte, ob es in Jodie viel zu mieten gebe, sagte er lachend: »Suchen Sie sich irgendwas aus. Was Jobs angeht, sind wir nicht gerade ein Handelszentrum. Fast nur Ranchland, und Sie werden entschuldigen, wenn ich das sage, aber Sie sehen nicht wie ein Cowboytyp aus.«

»Stimmt«, sagte ich. »Tatsächlich bin ich mehr der Buchschreibertyp.«

»Was Sie nicht sagen! Irgendwas, was ich gelesen haben könnte?«

»Noch nicht«, sagte ich. »Ich bin noch im Anfangsstadium. Mein Roman ist ungefähr zur Hälfte fertig, und mehrere Verlage haben sich schon für ihn interessiert. Ich suche einen ruhigen Ort, an dem ich ihn zu Ende schreiben kann.«

»Nun, Jodie ist ruhig, das stimmt.« Al verdrehte die Augen. »Unsere Ruhe könnten wir uns patentieren lassen, schätze ich. Laut wird’s nur an Freitagabenden.«

»Football?«

»Yessir, die ganze Stadt geht hin. Bei Halbzeit brüllen sie alle wie die Löwen, dann lassen sie den Jim-Schrei hören. Den kann man mindestens zwei Meilen weit hören. Klingt ziemlich ulkig.«

»Wer ist Jim?«

»LaDue, der Quarterback. Wir haben schon oft gute Teams gehabt, aber nie einen Quarterback im Denholm-Team wie LaDue. Und er ist erst im vorletzten Schuljahr. Die Leute reden schon von der Landesmeisterschaft. Das scheint mir übertrieben optimistisch, weil die großen Schulen in Dallas auf uns warten, aber etwas Hoffnung hat noch keinem geschadet, schätz ich.«

»Wie ist die hiesige Schule sonst so, wenn man den Football weglässt?«

»Oh, die ist wirklich gut. Anfangs waren viele Leute wegen der Zusammenlegung ziemlich skeptisch – ich übrigens auch –, aber die hat sich als gut rausgestellt. Dieses Jahr haben sie über siebenhundert. Manche müssen über eine Stunde mit dem Bus fahren, aber das macht denen anscheinend nichts aus. Bestimmt müssen sie so zu Hause weniger arbeiten. Handelt Ihr Buch von Highschool-Schülern? Wie Saat der Gewalt? Hier draußen gibt’s nämlich keine Banden und dergleichen. Unsere Jungs und Mädchen benehmen sich noch anständig.«

»Nein, nichts dergleichen. Ich habe Ersparnisse, aber ich würde sie gern etwas strecken, indem ich aushilfsweise unterrichte. Ich kann nicht Vollzeitlehrer sein und gleichzeitig schreiben.«

»Natürlich nicht«, sagte er respektvoll.

»Mein Examen habe ich in Oklahoma gemacht, aber …« Ich zuckte die Achseln, um anzudeuten, dass Oklahoma natürlich nicht in einer Liga mit Texas sei, aber man die Hoffnung ja nie aufgeben solle.

»Nun, darüber sollten Sie mit Deke Simmons reden. Er ist der Direktor. Kommt fast jeden Abend zum Dinner rein. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich.

»Uns hat’s auch leidgetan. Deke ist ein netter Kerl. Das sind hier die meisten Leute, Mr. …?«

»Amberson, George Amberson.«

»Nun, George, wir sind – außer an Freitagabenden – ziemlich verschlafen, aber Sie könnten’s schlechter treffen. Vielleicht könnten Sie sogar lernen, zur Halbzeit wie ein Löwe zu brüllen.«

»Vielleicht könnte ich das«, sagte ich.

»Kommen Sie einfach gegen sechs Uhr wieder her. Um diese Zeit kommt Deke meistens rein.« Er stützte die Ellbogen auf die Theke. »Wolln Sie ’nen Tipp?«

»Klar.«

»Meistens hat er seine Freundin dabei: Miss Corcoran, die Schulbibliothekarin. Ungefähr seit Weihnachten macht er ihr auffällig den Hof. Ich hab gehört, dass Mimi Corcoran diejenige ist, die in der Denholm Consolidated wirklich das Sagen hat, weil sie ihn unter ihrer Fuchtel hat. Wenn Sie ihr imponieren können, haben Sie das Spiel gewonnen, schätz ich.«

»Ich werde daran denken«, sagte ich.

15

Eine wochenlange Wohnungssuche in Dallas hatte mich zu genau einem Apartment geführt, das zudem einem Mann gehörte, von dem ich nichts mieten wollte. In Jodie brauchte ich nur drei Stunden, um etwas zu finden, was mir ausnehmend gut gefiel. Keine Mietwohnung, sondern ein sauberes Häuschen, dessen fünf Räume hintereinander angeordnet waren. Es stehe eigentlich zum Verkauf, erklärte mir der Immobilienmakler, aber das Besitzerpaar sei auch bereit, es dem Richtigen zu vermieten. Das Haus hatte einen von Ulmen beschatteten Garten, eine Garage für den Sunliner … und eine zentrale Klimaanlage. Für diese Ausstattung war die Miete angemessen.

Freddy Quinlan, der beauftragte Makler, war neugierig, was mich betraf – das Kennzeichen aus Maine an meinem Wagen kam ihm wohl exotisch vor –, wenn auch nicht übermäßig. Das Beste war, dass ich das Gefühl hatte, aus dem Schatten heraus zu sein, der in Dallas und Derry auf mir gelastet hatte, und in Sunset Point, wo meine letzte langfristig gemietete Unterkunft jetzt in Schutt und Asche lag.

»Und?«, sagte Quinlan. »Was denken Sie?«

»Ich möchte es, aber ich kann Ihnen nicht heute Nachmittag zu- oder absagen. Ich muss erst noch mit jemand reden. Morgen haben Sie wohl nicht geöffnet, oder?«

»Doch, ich bin da. Samstags habe ich bis Mittag geöffnet. Dann fahre ich heim und sehe mir das Spiel der Woche im Fernsehen an. Dieses Jahr scheinen die Series ein echter Hammer zu werden.«

»Ja«, sagte ich. »Danach sieht’s wirklich aus.«

Quinlan streckte mir die Hand hin. »Freut mich, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Amberson. Ich wette, dass es Ihnen in Jodie gefallen würde. Wir sind hier gute Menschen. Hoffentlich klappt alles so, wie Sie es sich vorstellen.«

Ich schüttelte ihm die Hand. »Das hoffe ich auch.«

Wie der Mann gesagt hatte: Etwas Hoffnung hatte noch keinem geschadet.

16

Am selben Abend kehrte ich in Al’s Diner zurück und stellte mich dem Direktor der Denholm Consolidated High School und seiner Freundin aus der Schulbibliothek vor. Sie luden mich an ihren Tisch ein.

Deke Simmons, Anfang sechzig, war groß und kahlköpfig. Mimi Corcoran war sonnengebräunt und trug eine Brille. Mit ihren blauen Augen hinter den Bifokalgläsern musterte sie mich scharf von oben bis unten. Sie ging mithilfe eines Stocks, den sie mit einer unbekümmerten (fast verächtlichen) Geschicklichkeit handhabte, die wohl durch langen Gebrauch erworben war. Wie ich amüsiert feststellte, trugen beide Denholm-Schals und goldene Buttons mit der Aufschrift WIR HABEN JIM-POWER!. Es war eben Freitagabend in Texas.

Simmons fragte mich, wie mir Jodie zusage (sehr), wie lange ich schon in Dallas sei (seit August) und ob mir Highschool-Football gefalle (ja, unbedingt). Annähernd konkret wurde er nur ein Mal, als er sich nämlich erkundigte, ob ich mir meiner Fähigkeit gewiss sei, Kinder dazu zu bringen »aufzupassen«. Weil, so sagte er, viele Aushilfslehrkräfte damit ein Problem hätten.

»Diese jungen Lehrer schicken sie uns ins Sekretariat, als hätten wir nichts Besseres zu tun«, sagte er und mampfte dann seinen Prongburger.

»Soße, Deke«, sagte Mimi, worauf er sich gehorsam mit einer Serviette aus dem Spender den Mund abwischte.

Sie machte unterdessen weiter Inventur bei mir: Sportsakko, Krawatte, Haarschnitt. Meine Schuhe hatte sie schon begutachtet, als ich an ihren Tisch gekommen war. »Haben Sie Referenzen, Mr. Amberson?«

»Ja, Ma’am, ich habe in der Sarasota County ziemlich viele Aushilfsstunden gegeben.«

»Und in Maine?«

»Dort nicht so viele, aber ich habe drei Jahre als Vollzeitkraft in Wisconsin gearbeitet, bevor ich gekündigt habe, um mich ganz auf mein Buch zu konzentrieren. Zumindest soweit meine Finanzen das erlauben.« Ich hatte ein Empfehlungsschreiben der St.-Vincent’s-Highschool in Madison. Eine erstklassige Beurteilung; ich hatte sie selbst geschrieben. Falls jemand dort nachfragte, war ich natürlich erledigt. Deke Simmons würde das nicht tun, aber Mimi mit dem scharfen Blick und der lederartigen Cowboyhaut traute ich das zu.

»Und wovon handelt Ihr Roman?«

Auch das konnte mir das Genick brechen, aber ich entschied mich dafür, ehrlich zu sein. Zumindest so ehrlich, wie meine besonderen Umstände es zuließen. »Von einer Mordserie und ihren Auswirkungen auf die Gemeinschaft, in der sie passiert.«

»Du meine Güte«, sagte Deke.

Sie klopfte ihm aufs Handgelenk. »Still. Bitte weiter, Mr. Amberson.«

»Ort der Handlung sollte ursprünglich eine fiktive Stadt in Maine sein – ich hatte sie Dawson genannt –, aber dann habe ich mir überlegt, dass alles realistischer wäre, wenn die Handlung in einer echten Stadt spielen würde. In einer Großstadt. Ich habe erst an Tampa gedacht, aber das war irgendwie nicht das richtige Umfeld …«

Sie tat Tampa mit einer Handbewegung ab. »Zu bonbonfarben. Zu viele Touristen. Sie waren auf der Suche nach etwas, was isolierter, abgeschlossener ist, vermute ich.«

Eine sehr scharfsinnige Lady. Sie wusste mehr über mein Buch als ich.

»Ganz recht. Also habe ich beschlossen, es mit Dallas zu versuchen. Die Stadt kommt mir richtig vor, aber …«

»Aber Sie würden dort nicht leben wollen?«

»Genau.«

»Ja, ich verstehe.« Sie stocherte in ihrem frittierten Fischfilet herum. Deke hing mit leicht benommenem Blick an ihren Lippen. Sie schien alles zu haben, was er sich auf der Schlussetappe seines Lebens wünschte. Was nicht verwunderlich war: Everybody loves somebody sometime, wie Dean Martin so lebensklug feststellen würde. Allerdings erst in ein paar Jahren. »Und was lesen Sie gern, wenn Sie nicht schreiben, Mr. Amberson?«

»Oh, so ziemlich alles.«

»Haben Sie Der Fänger im Roggen gelesen?«

Oh-oh, dachte ich.

»Ja, Ma’am.«

Darauf reagierte sie etwas ungehalten. »Ach, nennen Sie mich Mimi. Sogar die Schüler nennen mich Mimi, obwohl ich darauf bestehe, dass sie ein Miz davorsetzen, damit der Anstand gewahrt bleibt. Also, was halten Sie von Mr. Salingers verzweifeltem Aufschrei?«

Lügen oder die Wahrheit sagen? Aber das war keine wirkliche Frage. Diese Frau konnte eine Lüge erkennen, wie ich … nun … eine Werbetafel mit JAGT EARL WARREN AUS DEM AMT lesen konnte.

»Ich denke, dass sein Roman viel darüber sagt, wie lausig die Fünfzigerjahre waren – und wie gut die Sechzigerjahre werden können. Das heißt, wenn Amerikas Holden Caulfields sich ihren Zorn bewahren. Und ihren Mut.«

»Mhh. Hmm.« Sie stocherte viel in ihrem Fischfilet herum, schien aber nichts davon zu essen. Kein Wunder, dass sie aussah, als könnte man eine Schnur hinten an ihr Kleid tackern, um sie daran wie einen Drachen steigen zu lassen. »Finden Sie, dass er in eine Schulbibliothek gehört?«

Ich seufzte, weil ich daran dachte, wie sehr es mir gefallen hätte, in Jodie, Texas, zu leben und in Teilzeit Englisch zu unterrichten. »Das tue ich tatsächlich, Ma’am … Mimi. Aber ich glaube, er sollte nur an bestimmte Schüler ausgeliehen werden – und das sollte im Ermessen der Bibliothekarin stehen.«

»Der Bibliothekarin? Nicht der Eltern?«

»Nein, Ma’am. Das wäre zu heikel.«

Mimi Corcoran lächelte strahlend und wandte sich an ihren Beau. »Deke, dieser Bursche gehört nicht auf die Ersatzliste. Er sollte in Vollzeit unterrichten.«

»Mimi …«

»Ich weiß, im Fachbereich Englisch gibt’s keine freie Stelle. Aber wenn er in Jodie bleibt, kann er vielleicht einsteigen, sobald dieser Idiot Phil Bateman in den Ruhestand geht.«

»Mims, das ist sehr indiskret.«

»Ja«, sagte sie und blinzelte mir dabei zu. »Und auch sehr wahr. Schicken Sie Deke Ihre Empfehlungen aus Florida, Mr. Amberson. Die müssten genügen. Oder noch besser: Bringen Sie sie nächste Woche selbst vorbei. Das Schuljahr hat begonnen. Wir wollen keine Zeit verlieren.«

»Nennen Sie mich George«, sagte ich.

»Aber sicher«, sagte Mimi. Sie schob ihren Teller weg. »Deke, dieses Zeug ist grässlich. Wieso essen wir hier?«

»Weil ich die Burger mag und du Al’s Erdbeerkuchen.«

»O ja«, sagte sie. »Der Erdbeerkuchen. Her damit! Mr. Amberson, können Sie zum Footballspiel dableiben?«

»Heute geht das nicht«, sagte ich. »Ich muss nach Dallas zurück. Vielleicht zum nächsten Spiel. Wenn Sie glauben, dass Sie mich brauchen können.«

»Wenn Mimi Sie mag, mag ich Sie auch«, sagte Deke Simmons. »Ich kann Ihnen nicht für jede Woche einen Tag garantieren, aber in manchen Wochen werden es zwei oder sogar drei sein. Im Durchschnitt gleicht sich das aus.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Die Bezahlung für Aushilfen ist leider nicht sehr gut …«

»Das weiß ich, Sir. Ich suche nur eine Möglichkeit, mein Einkommen aufzubessern.«

»Dieses Fänger-Buch kommt nie in unsere Bibliothek«, sagte Deke mit einem bedauernden Blick zu seiner Geliebten hinüber, die prompt einen Flunsch zog. »Die Schulbehörde würde das nicht zulassen. Das weiß Mimi auch.« Noch ein Biss von seinem Prongburger.

»Die Zeiten ändern sich«, sagte Mimi Corcoran. Sie deutete erst auf den Serviettenspender, dann auf seinen Mundwinkel. »Deke. Soße.«

17

In der folgenden Woche machte ich einen Fehler. Ich hätte es besser wissen müssen; nach allem, was mir schon zugestoßen war, hätte ich nicht mal auf die Idee kommen sollen, eine weitere große Wette abzuschließen. Jeder würde sagen, ich hätte mich mehr in Acht nehmen müssen.

Ich war mir des Risikos bewusst, aber ich hatte Geldsorgen. Nach Texas war ich mit etwas weniger als sechzehntausend Dollar gekommen. Ein Teil davon war der Rest des Geldes, das Al mir mitgegeben hatte, aber der größte Teil war das Ergebnis zweier sehr hoher Wetten, die ich in Derry und Tampa abgeschlossen hatte. Aber die ungefähr sieben Wochen im Hotel Adolphus hatten mich über tausend Dollar gekostet, und das Sesshaftwerden in einer neuen Stadt konnte leicht weitere vierhundert bis fünfhundert Dollar kosten. Ich musste nicht nur an Essen und Miete, Strom, Gas und Wasser denken, sondern würde auch viel mehr Kleidung – und vor allem bessere – brauchen, wenn ich im Klassenzimmer anständig aussehen wollte. Bevor ich den Fall Lee Harvey Oswald abschließen konnte, würde ich ungefähr zweieinhalb Jahre in Jodie leben wollen. Mit etwas über vierzehntausend Dollar war das nicht zu schaffen. Mein Gehalt als Aushilfslehrer? Fünfzehneinhalb Dollar pro Tag. Juhu.

Okay, vielleicht hätte ich zur Not mit vierzehn Riesen und dreißig, manchmal sogar fünfzig Dollar pro Woche auskommen können. Aber dann musste ich gesund bleiben und durfte keinen Unfall haben, worauf ich mich nicht verlassen konnte. Weil die Vergangenheit nicht nur unerbittlich, sondern auch gerissen war. Sie setzte sich zur Wehr. Und ja, vielleicht spielte auch eine gewisse Gier mit hinein. Falls dem so war, steckte dahinter weniger die Liebe zu Geld als die betörende Gewissheit, dass ich die normalerweise unschlagbare Bank sprengen konnte, wann immer ich wollte.

Jetzt denke ich: Hätte Al den Aktienmarkt ebenso gewissenhaft recherchiert wie die Sieger all dieser Baseballspiele, Footballspiele und Pferderennen …

Hat er aber nicht.

Jetzt denke ich: Hätte Freddy Quinlan nicht davon gesprochen, dass die World Series ein Hammer werden würden …

Aber das hatte er getan.

Als besuchte ich noch einmal die Greenville Avenue.

Ich redete mir ein, dass alle diese Strohhut tragenden Zocker, die ich vor dem Wettbüro Faith Financial (wo Vertrauen unsere Parole ist) hatte stehen sehen, auf die Series wetteten – manche sogar große Beträge. Ich redete mir ein, ich würde nur einer von vielen sein, und eine mittelhohe Wette von Mr. George Amberson – der behauptete, in einer aus einer Garage entstandenen hübschen Maisonette in der Blackwell Street gleich hier in Dallas zu wohnen, falls jemand danach fragte – würde kein größeres Aufsehen erregen. Teufel, sagte ich zu mir, die Kerle hinter Faith Financial hatten bestimmt noch nie von Señor Eduardo Gutierrez aus Tampa gehört. Bestimmt so wenig wie von Noahs Sohn Ham.

Oh, ich redete mir alles Mögliche ein, was aber letzten Endes alles zu den gleichen Schlussfolgerungen führte: Wetten war ganz ungefährlich, und es war völlig vernünftig, mehr Geld zu wollen, obwohl ich im Augenblick mehr hatte, als ich zum Leben brauchte. Dämlich. Aber Dummheit gehörte nun mal zu den beiden Dingen, die wir im Nachhinein am klarsten sahen. Das andere waren verpasste Chancen.

18

Am 28. September, eine Woche vor dem festgesetzten Start der World Series, betrat ich das Wettbüro Faith Financial und setzte – nach einigem Hin und Her – sechshundert Dollar darauf, dass die Pittsburgh Pirates die Yankees in sieben Spielen schlagen würden. Ich gab mich mit einer Quote von zwei zu eins zufrieden, was empörend wenig war, wenn man bedachte, dass die Yankees haushohe Favoriten waren. Einen Tag nachdem Bill Mazeroski im neunten Inning seinen unglaublichen Homerun geschlagen hatte, der den Buckos den Sieg brachte, fuhr ich nach Dallas in die Greenville Avenue zurück. Wäre das Wettbüro menschenleer gewesen, wäre ich vermutlich umgekehrt und sofort nach Jodie zurückgefahren … vielleicht rede ich mir das jetzt aber auch nur ein. Keine Ahnung.

Dagegen weiß ich, dass es eine Schlange von Wettern gab, die ihren Gewinn abholen wollten, und dass ich mich in sie einreihte. Diese Gruppe war die Verwirklichung von Martin Luther Kings Traum: fünfzig Prozent schwarz, fünfzig Prozent weiß, hundert Prozent glücklich. Die meisten Kerle kamen nur mit ein paar Fünfern oder vielleicht zwei, drei Zwanzigern heraus, aber ich sah mehrere, die Hunderter zählten. Ein bewaffneter Räuber, der sich diesen Tag ausgesucht hätte, um Faith Financial zu überfallen, hätte reichlich Beute machen können.

Der Geldmann war ein untersetzter Kerl, der einen grünen Augenschirm trug. Als Erstes stellte er mir die Standardfrage (Sind Sie ein Cop? Falls ja, müssen Sie mir Ihren Dienstausweis zeigen), und als ich verneinte, verlangte er meinen Namen und wollte meinen Führerschein sehen. Ich wies einen ganz neuen vor, den ich erst eine Woche zuvor per Einschreiben erhalten hatte: endlich ein Ausweispapier aus Texas, das ich in meine Sammlung aufnehmen konnte. Ich achtete allerdings sorgfältig darauf, meine Adresse in Jodie mit dem Daumen zu verdecken.

Er zahlte mir die zwölfhundert aus. Ich stopfte sie in die Tasche und hastete zurück zu meinem Wagen. Erst als ich wieder auf dem Highway 77 war und Dallas mit jeder Umdrehung der Räder weiter zurückblieb, während Jodie in gleichem Maß näher rückte, löste sich meine Anspannung.

Schön dämlich.

19

Wir werden bald einen weiteren Zeitsprung vorwärts machen (auch Erzählungen enthalten Kaninchenbaue, wenn man sich’s recht überlegt), aber zuvor muss ich noch eine Szene aus dem Jahr 1960 schildern.

Fort Worth, 16. November 1960. Kennedy war vor etwas über einer Woche gewählt, aber noch nicht in sein Amt als Präsident eingeführt worden. Ecke Ballinger und West Seventh Street. Der Tag war bedeckt und kalt. Aus den Autoauspuffen kamen weiße Qualmwolken. Der Wetterfrosch von KLIF (»Tag und Nacht alle Hits«) sagte Regen voraus, der bis Mitternacht zu Schneeregen werden könne. Seid also vorsichtig auf den Highways, all ihr Rocker und Roller.

Ich war in eine Rancherjacke mit Lammfellfutter gehüllt und hatte meine Mütze mit Ohrenklappen tief in die Stirn gezogen. Ich saß auf einer Bank vor dem Gebäude des texanischen Viehzüchterverbands und sah die West Seventh Street entlang. Ich war seit fast einer Stunde hier und glaubte nicht, dass der junge Mann seine Mutter noch viel länger besuchen würde; nach Al Templetons Aufzeichnungen hatten sich ihre drei Söhne so früh wie nur möglich von ihr abgesetzt. Ich hoffte allerdings, dass sie mit ihm aus ihrem Mietshaus kommen würde. Nach mehreren Monaten in Waco, wo sie als Krankenpflegerin gearbeitet hatte, war sie erst seit Kurzem wieder hier.

Meine Geduld wurde belohnt. Die Eingangstür der Rotary Apartments ging auf, und ein hagerer Mann, der Lee Harvey Oswald fast unheimlich ähnlich sah, trat ins Freie. Er hielt die Tür für eine Frau auf, die einen Mantel mit Schottenkaros und klobige, weiße Schwesternschuhe trug. Sie reichte ihrem Sohn nur bis zur Schulter, war aber stämmig gebaut. Ihre grauen Haare waren aus einem vorzeitig faltigen Gesicht zurückgekämmt. Sie trug ein rotes Halstuch. Dazu passender Lippenstift betonte einen kleinen Mund, der unzufrieden und streitsüchtig wirkte – der Mund einer Frau, die der Überzeugung war, dass die Welt gegen sie war, und im Lauf der Jahre massenhaft Beweise dafür gesammelt hatte. Lee Oswalds älterer Bruder ging rasch den betonierten Fußweg entlang. Die Frau hastete hinter ihm her und packte ihn hinten am Mantel. Er drehte sich auf dem Gehsteig nach ihr um. Sie schienen zu streiten, aber die Frau redete viel mehr. Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. Weswegen sie ihn ausschimpfte, konnte ich unmöglich mitbekommen; ich war vorsichtigerweise eineinhalb Blocks weit entfernt. Dann machte er sich wie erwartet auf den Weg zur Ecke West Seventh Street und Summit Avenue. Er war mit dem Bus gekommen, und dort lag die nächste Haltstelle.

Die Frau blieb einen Augenblick lang sichtlich unschlüssig stehen. Komm schon, Mama, dachte ich. Du willst ihn doch nicht so leicht davonkommen lassen, oder? Er ist erst einen halben Block die Straße hinunter entfernt. Lee musste bis nach Russland flüchten, um diesem drohenden Zeigefinger zu entgehen.

Sie nahm die Verfolgung auf, und als sie sich der Ecke näherte, hob sie die Stimme, und ich konnte sie deutlich verstehen. »Halt, Robert, geh nicht so schnell, ich bin noch nicht mit dir fertig!«

Er sah sich nach ihr um, ging aber weiter. Sie holte ihn an der Haltestelle ein und zupfte ihn am Ärmel, bis er sie ansah. Der Finger bewegte sich wieder wie ein umgekehrtes Pendel. Ich bekam nur Satzfetzen mit: du hast es versprochen und ich habe alles für euch geopfert und auch – glaube ich – was bildest du dir ein, über mich zu urteilen. Ich konnte Oswalds Gesicht nicht sehen, weil er mir den Rücken zukehrte, aber seine hängenden Schultern sagten genug. Ich bezweifelte, dass dies das erste Mal war, dass Mama ihn auf der Straße verfolgte und die ganze Zeit mit Vorwürfen überhäufte, ohne sich um etwaige Augenzeugen zu kümmern. Jetzt legte sie eine Hand mit gespreizten Fingern auf ihren üppigen Busen – in jener zeitlosen Muttergeste, die Sieh mich gefälligst an, du undankbares Kind besagte.

Oswald griff in die Gesäßtasche, zog seine Geldbörse heraus und gab ihr einen Geldschein. Sie stopfte ihn in ihre Handtasche, ohne ihn anzusehen, und machte sich wieder auf den Weg zu den Rotary Apartments. Dann fiel ihr offenbar etwas ein, denn sie machte noch einmal kehrt. Ich hörte sie jetzt deutlich. Ihre schrille Stimme, die sie erhoben hatte, um die fünfzehn bis zwanzig Meter zwischen ihnen zu überbrücken, schmerzte in meinen Ohren wie das Quietschen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel.

»Und ruf mich an, wenn du wieder von Lee hörst, verstanden? Ich hab immer noch den Gemeinschaftsanschluss, mehr kann ich mir nicht leisten, bis ich einen besseren Job kriege, und diese Sykes im Erdgeschoss hängt dauernd am Telefon, das hab ich ihr auch schon gesagt, ich hab ihr tüchtig die Meinung gesagt. ›Mrs. Sykes‹, hab ich gesagt …«

Ein Mann ging an ihr vorbei. Er hielt sich mit theatralischer Geste die Ohren zu und grinste. Falls Mama ihn sah, ignorierte sie ihn. Sie achtete jedenfalls ganz sicher nicht auf die verlegene Grimasse ihres Sohns.

»›Mrs. Sykes‹, hab ich gesagt. »›Sie sind hier nicht die Einzige, die das Telefon braucht, daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich kurzfassen würden. Und wenn Sie’s nicht von selbst tun, muss ich vielleicht einen Vertreter der Telefongesellschaft anrufen, damit er Sie dazu zwingt.‹ Das hab ich gesagt. Ruf mich also an, Rob. Du weißt, wie sehr ich was von Lee hören will.«

Dann kam der Bus. Als er auf die Haltestelle zurollte, sprach Robert lauter, um das Zischen der Druckluftbremsen zu übertönen. »Er ist ein verdammter Roter, Ma, und er kommt nicht zurück. Find dich damit ab.«

»Ruf mich gefälligst an!«, verlangte sie schrill. Ihr grimmiges kleines Gesicht wirkte entschlossen. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen da, wie ein Boxer, der bereit war, einen Schlag wegzustecken. Jeden einzelnen Schlag. Die Augen hinter ihrer schwarz gefassten Harlekinbrille funkelten. Ihr Halstuch war unter dem Kinn doppelt verknotet. Inzwischen hatte Regen eingesetzt, aber sie achtete nicht darauf. Sie holte tief Luft und hob ihre Stimme fast auf Schreilautstärke. »Ich will was von meinem guten Jungen hören, verstanden?«

Robert Oswald flitzte die Stufen hinauf und verschwand in dem Bus, ohne zu antworten. Der fuhr mit einer Wolke bläulicher Abgase davon. Und während er das tat, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. Es bewirkte etwas, was ich einem Lächeln niemals zugetraut hätte: Es machte sie zugleich jünger und hässlicher.

Ein Arbeiter ging an ihr vorbei. Soviel ich sehen konnte, rempelte er sie nicht an, streifte sie nicht einmal, aber sie fauchte: »Passen Sie doch auf, wohin Sie gehen! Der Gehsteig gehört nicht Ihnen allein!«

Marguerite Oswald machte sich auf den Rückweg zu ihrer Wohnung. Als sie sich von mir abwandte, lächelte sie immer noch.

Nachmittags fuhr ich betroffen und nachdenklich nach Jodie zurück. Ich würde Lee Oswald erst in einem Jahr zu Gesicht bekommen und war weiterhin entschlossen, ihn zu aufzuhalten, aber ich empfand schon jetzt mehr Mitgefühl für ihn, als ich jemals für Frank Dunning empfunden hatte.

Kapitel 13

1

Es war Viertel vor acht am Abend des 18. Mai 1961. Mein Garten lag im Zwielicht einer langen texanischen Abenddämmerung. Das Fenster stand offen, und eine leichte Brise ließ die Vorhänge wehen. Im Radio sang Troy Shondell »This Time«. Ich saß im früheren zweiten Schlafzimmer des kleinen Hauses, das jetzt mein Arbeitszimmer war. Der Schreibtisch war ein ausrangiertes Möbelstück aus der Highschool. Eines der Beine war kürzer, was ich durch Unterlegen ausgeglichen hatte. Die Schreibmaschine war eine Kofferschreibmaschine von Webster. Ich sah die ersten rund hundertfünfzig Seiten meines Romans The Murder Place vor allem deshalb durch, weil Mimi Corcoran mir zusetzte, sie lesen zu wollen – und Mimi, das wusste ich inzwischen, gehörte zu den Menschen, die man nicht endlos lange mit Ausreden abspeisen konnte. Mit der Arbeit kam ich ziemlich gut voran. Es war kein Problem gewesen, Derry in der ersten Fassung in die fiktive Kleinstadt Dawson umzuwandeln, und die Umwandlung von Dawson in Dallas war noch einfacher. Ich hatte mit den Änderungen lediglich begonnen, damit das entstehende Werk meine gefälschte Biografie untermauerte, wenn Mimi es endlich lesen durfte, aber jetzt erschienen sie mir wichtig und unvermeidlich. Man hätte meinen können, der Roman hätte von Anfang an in Dallas spielen wollen.

Es klingelte an der Haustür. Ich legte einen Briefbeschwerer auf das Manuskript, damit der Wind die Blätter nicht wegwehen konnte, und ging nach vorn, um zu sehen, wer mein Besucher war. An das alles erinnere ich mich sehr genau: die wehenden Vorhänge, der große, glatte Flusskiesel als Briefbeschwerer, »This Time« aus dem Radio, dazu jenes Licht einer langen texanischen Abenddämmerung, das ich so lieben gelernt hatte. Daran sollte ich mich auch erinnern. Schließlich war es der Abend, an dem ich aufhörte, in der Vergangenheit zu leben, und einfach zu leben begann.

Ich öffnete die Haustür. Draußen stand Michael Coslaw. Er weinte. »Ich kann nicht, Mr. Amberson«, sagte er. »Ich kann einfach nicht.«

»Na, dann komm rein, Mike«, sagte ich. »Lass uns darüber reden.«

2

Ich war nicht überrascht, ihn zu sehen. Bevor ich in die Ära des allgemeinen Rauchens entwichen war, hatte ich fünf Jahre lang die Schulaufführungen der Lisbon High betreut und in dieser Zeit zahlreiche Fälle von Lampenfieber erlebt. Mit Schauspielern im Teenageralter zu arbeiten war, wie mit Nitroglyzerinbehältern zu jonglieren: aufregend und gefährlich. Ich habe Mädchen erlebt, die rasch lernten und bei Proben wunderbar natürlich wirkten, auf der Bühne dann aber völlig erstarrten; ich habe kleine Streber gesehen, die aufblühten und einen Kopf größer zu werden schienen, sobald sie einen Satz zu sagen hatten, der das Publikum lachen ließ. Ich habe engagierte Arbeitstiere erlebt und gelegentlich einen jungen Menschen, der einen Funken Talent bewies. Aber ich hatte noch nie mit einem Jungen wie Mike Coslaw gearbeitet. Ich vermute, dass es Highschool-Lehrer und College-Dozenten gibt, die ihr Leben lang Theatergruppen betreuen und noch nie einen Jungen wie ihn erlebt haben.

Mimi Corcoran, die eigentliche Direktorin der Denholm Consolidated High School, hatte mich dazu überredet, die Theateraufführung der Oberstufe zu betreuen, als der seit vielen Jahren dafür zuständige Mathelehrer Alfie Norton an Knochenmarksleukämie erkrankte und nach Houston zog, um sich dort behandeln zu lassen. Ich versuchte, mich mit der Begründung zu weigern, ich müsse noch in Dallas recherchieren, aber im Winter und zu Beginn des Frühjahrs 1961 fuhr ich nicht sehr oft dorthin. Das wusste auch Mimi, weil ich fast immer zur Verfügung stand, wenn Deke in dieser ersten Hälfte des Schuljahrs eine Aushilfe brauchte. Was Dallas anging, trat ich im Grunde genommen auf der Stelle. Lee war noch in Minsk und würde bald Marina Prusakowa heiraten, das Mädchen in dem roten Kleid und den weißen Schuhen.

»Sie haben reichlich freie Zeit«, sagte Mimi. Dazu stemmte sie die Fäuste in ihre nicht existierenden Hüften; an diesem Tag war sie in vollem Gefangene-werden-keine-gemacht-Modus. »Außerdem gibt es ein Honorar.«

»O ja«, sagte ich. »Ich habe mich bei Deke erkundigt. Fünfzig Dollar. Davon kann ich echt mächtig einen draufmachen.«

»Sie können was?«

»Egal, Mimi. Im Augenblick komme ich finanziell ganz gut zurecht. Können wir es nicht dabei belassen?«

Nein, das konnten wir nicht. Miz Mimi war eine menschliche Planierraupe, und wenn sie auf ein scheinbar unbewegliches Objekt stieß, senkte sie nur ihre Schaufel und gab Vollgas. Ohne mich, sagte sie, werde es erstmals seit Bestehen der Schule keine Theateraufführung der Oberstufe geben. Die Eltern wären enttäuscht. Die Schulbehörde wäre enttäuscht. »Und«, fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen hinzu, »mir würde etwas fehlen.«

»Gott bewahre, dass Ihnen etwas fehlt, Miz Mimi«, sagte ich. »Also gut. Wenn Sie mich das Stück aussuchen lassen – etwas nicht allzu Kontroverses, versprochen –, mache ich’s.«

Ihr Stirnrunzeln verschwand in dem strahlenden Mimi-Corcoran-Lächeln, das Deke Simmons immer in eine Schale mit köchelndem Haferbrei verwandelte (was temperamentmäßig keine allzu große Veränderung war). »Ausgezeichnet! Und wer weiß, vielleicht entdecken Sie einen brillanten Schauspieler, der sich in unseren Hallen herumtreibt.«

»Ja«, sagte ich. »Und Schweine können vielleicht pfeifen.«

Aber – das Leben war solch ein Witz – ich hatte einen brillanten Schauspieler gefunden. Ein Naturtalent. Und jetzt saß er am Abend vor der Premiere in meinem Wohnzimmer, füllte fast das ganze Sofa aus (das sich unter seinen hundertzwanzig Kilo demütig beugte) und flennte sich die Augen aus dem Kopf. Mike Coslaw. Auch bekannt als Lennie Small in George Ambersons Gut-genug-für-eine-Highschool-Adaption von John Steinbecks Von Mäusen und Menschen.

Aber nur, wenn ich ihn dazu überreden konnte, morgen aufzutreten.

3

Ich überlegte, ob ich ihm ein paar Kleenex geben sollte, sah jedoch ein, dass sie nicht ausreichen würden. Stattdessen holte ich ihm ein Geschirrtuch aus der Küchenschublade. Er rubbelte sich damit das Gesicht ab, gewann halbwegs die Fassung zurück und starrte mich dann verzweifelt an. Seine Augen waren stark gerötet. Er hatte nicht erst vor meiner Haustür zu heulen begonnen; seinem Zustand nach war das den ganzen Nachmittag über der Fall.

»Okay, Mike … worum geht’s? Ich möchte es gern verstehen.«

»Das ganze Team macht sich über mich lustig, Mr. Amberson. Der Coach hat angefangen, mich Clark Gable zu nennen – das war beim Frühjahrspicknick vom Löwenrudel –, und jetzt tun es alle. Sogar Jimmy macht mit.« Gemeint war Jim LaDue, der fabelhafte Quarterback des Teams und Mikes bester Freund.

Coach Bormans Verhalten überraschte mich nicht; er war ein Haudrauf, der Draufgängertum predigte und es nicht mochte, wenn jemand in seinem Revier wilderte, ob nun Saison war oder nicht. Und Mike war schon weit schlimmer bezeichnet worden; als Pausenaufsicht hatte ich Namen wie Polacken-Mike, Dschungel-George und Godzilla gehört. Über solche Spitznamen lachte er nur. Diese amüsierte, geradezu geistesabwesende Reaktion auf Spott und Bösartigkeiten war vielleicht die wertvollste Gabe, die Jungen wie er ihrer massiven Erscheinung verdankten, und mit gut zwei Metern und hundertzwanzig Kilo ließ Mike sogar mich fast wie Mickey Rooney aussehen.

Bei den Lions, dem Footballteam der Schule, gab es nur einen Star, und das war Jim LaDue – hatte er nicht sogar eine eigene Werbetafel an der Kreuzung von Highway 77 und Route 109? Aber wenn es einen Spieler gab, der es Jim ermöglichte, ein Star zu sein, dann war das Mike Coslaw, der bei Texas A&M unterschreiben wollte, sobald seine Highschool-Saison beendet war. LaDue würde an der University of Alabama mit der ’Bama Crimson Tide rollen (wie sein Vater und er gern erzählten), aber wenn ich hätte wetten sollen, welcher von den beiden es bis zum Profi bringen würde, hätte ich auf Mike gesetzt. Ich mochte Jim, aber ich hatte das Gefühl, dass er anfällig für eine Knieverletzung oder eine ausgerenkte Schulter war. Mike dagegen schien auf Beständigkeit ausgelegt zu sein.

»Was sagt Bobbi Jill dazu?« Mike und Bobbi Jill Allnut waren praktisch unzertrennlich. Bildhübsch? Versteht sich. Blondine? Versteht sich. Cheerleader? Wozu überhaupt noch fragen?

Er grinste plötzlich. »Bobbi Jill steht tausendprozentig hinter mir. Sie sagt, dass ich mich zusammenreißen und aufhören soll, mich von den anderen ärgern zu lassen.«

»Klingt nach einer vernünftigen jungen Dame.«

»Yeah, sie ist die absolut Beste.«

»Also, ich vermute, dass du mehr auf dem Herzen hast als deinen neuen Spitznamen.« Und als er nicht antwortete: »Mike? Red mit mir.«

»Ich werd dort draußen vor allen diesen Leuten stehen und mich zum Narren machen. Das hat Jimmy mir gesagt.«

»Jimmy ist als Quarterback spitze, und ich weiß, dass ihr dick befreundet seid, aber von Schauspielerei versteht er einen Scheiß.« Mike blinzelte ungläubig. Im Jahr 1961 hörte man von keinem Lehrer, selbst wenn er beschwipst war, Wörter wie Scheiß. Aber ich war natürlich nur eine Aushilfskraft, die etwas mehr Freiheit genoss. »Ich denke, dass du das weißt. Wie man hierzulande sagt: ›Du stolperst vielleicht, aber du bist nicht blöd.‹«

»Die Leute halten mich aber dafür«, sagte er mit leiser Stimme. »Und ich hab in allen Fächern nur Dreier. Vielleicht wissen Sie das nicht, vielleicht kriegen Aushilfen die Notenbögen nicht zu sehen, aber die hab ich.«

»Ich habe sie mir nach der zweiten Probenwoche, als ich wusste, was du auf der Bühne kannst, extra angesehen. Du hast lauter Dreier, weil von einem Footballspieler erwartet wird, dass er Dreier hat. Das gehört alles mit zum Profil.«

»Zum was?«

»Sieh zu, dass du das aus dem Kontext errätst, und spar dir die Dummen-Rolle für deine Freunde auf. Und für Coach Borman, der vermutlich eine Schnur an seine Trillerpfeife binden muss, damit er weiß, in welches Ende er blasen muss.«

Mike kicherte, gerötete Augen hin oder her.

»Hör mir jetzt mal zu. Jemand, der so groß ist wie du, halten die Leute automatisch für dumm. Widersprich mir, wenn du anderer Meinung bist, aber wie ich gehört habe, bist du seit dem zwölften Lebensjahr auffällig groß, und müsstest es also wissen.«

Er widersprach mir nicht. Stattdessen sagte er: »Jeder aus dem Team hat versucht, den Lennie spielen zu dürfen. Das war ein Witz. Bloß so aus Quatsch.« Er fügte hastig hinzu: »Nichts gegen Sie, Mr. A. Im Team mag Sie jeder. Sogar der Coach mag Sie.«

Tatsächlich war eine Horde von Footballspielern beim Vorsprechen aufgekreuzt, hatte die feinsinnigeren Aspiranten bis zur Wortlosigkeit eingeschüchtert und behauptet, sich um die Rolle von George Miltons großem, dummem Freund bewerben zu wollen. Das war natürlich als Scherz gedacht gewesen, aber wie Mike den Lennie vorgelesen hatte, war keineswegs komisch gewesen. Sondern eine gottverdammte Erleuchtung! Ich hätte notfalls einen elektrischen Viehtreiberstock benutzt, damit er im Raum blieb, aber solch extreme Mittel waren zum Glück nicht nötig. Was das Schönste am Lehrerberuf war? Den Augenblick zu erleben, in dem ein Junge oder Mädchen sein Talent entdeckte. Damit war nichts auf Erden zu vergleichen. Mike wusste, dass seine Mannschaftskameraden ihn verspotten würden, aber er übernahm die Rolle trotzdem.

Und Coach Borman passte das natürlich nicht. Den Coach Bormans der Welt gefiel so was nie. Diesmal konnte er jedoch nicht viel dagegen tun, vor allem nicht, weil ich Mimi Corcoran auf meiner Seite hatte. Natürlich konnte Borman nicht behaupten, Mike im April und Mai fürs Footballtraining zu brauchen. Also musste er sich damit begnügen, seinen besten Stürmer Clark Gable zu nennen. Es gab Kerle, die sich nicht von der Vorstellung befreien konnten, die Schauspielerei wäre nur etwas für Mädchen und für Schwule, die sich eigentlich wünschten, ein Mädchen zu sein. Gavin Borman war ein solcher Kerle. Auf Don Haggartys Fassbierparty zum 1. April hatte er sich bei mir beschwert, ich hätte dem großen Lümmel Flausen in den Kopf gesetzt.

Ich erklärte ihm, dass er selbstverständlich das Recht auf eine eigene Meinung habe – das sei wie mit Arschlöchern: Jeder habe eins. Dann ging ich davon und ließ ihn mit einem Pappbecher in der Hand und leicht verwirrtem Gesichtsausdruck stehen. Die Coach Bormans der Welt waren es gewohnt, sich mit einer Art scherzhafter Einschüchterung durchzusetzen, und er konnte einfach nicht verstehen, weshalb die Methode bei dem kleinen Aushilfslehrer, der in letzter Minute Alfie Nortons Nachfolge als Regisseur angetreten hatte, nicht verfing. Ich konnte Borman ja schlecht erklären, dass es einen Kerl erheblich verändern konnte, wenn er einen Mann erschoss, um diesen daran zu hindern, seine Familie umzubringen.

Im Prinzip hatte der Trainer keine Chance. Ich ließ einige der anderen Footballspieler als Stadtbewohner auftreten, aber ich wollte Mike von dem Augenblick an als Lennie, in dem er den Mund aufmachte und »Weiß aber von den Kaninchen, George!« sagte.

Weil er Lennie wurde. Er nahm nicht nur die Augen von einem in Beschlag – weil er so verdammt groß war –, sondern auch das Herz in der Brust. Man vergaß alles andere, so wie Leute ihre Alltagssorgen vergaßen, wenn Jim LaDue sich etwas zurückfallen ließ, um einen Pass zu werfen. Mike mochte dafür gebaut sein, die gegnerische Verteidigung zu durchbrechen, als wäre sie kaum der Rede wert, aber er war dafür geschaffen – von Gott, wenn es einen gab, oder von einem genetischen Zufall, wenn es keinen Gott gab –, auf der Bühne zu stehen und in jemand andres zu verschwinden.

»Für alle anderen war die Sache ein Witz«, sagte ich.

»Für mich auch. Anfangs.«

»Weil du’s anfangs nicht gewusst hast.«

»Nein, das hab ich nicht.« Heiser. Beinahe flüsternd. Er senkte den Kopf, weil ihm wieder Tränen kamen, die ich nicht sehen sollte. Der Trainer hatte ihn Clark Gable genannt, und wenn ich den Mann deshalb zur Rede gestellt hätte, hätte er die Bemerkung als kleinen Scherz hingestellt. Ein Gag am Rande. Eine harmlose Blödelei. Als hätte er nicht genau gewusst, dass die übrigen Spieler den Spitznamen aufgreifen und fleißig in Umlauf bringen würden. Als hätte er nicht gewusst, dass dieser Scheiß Mike viel mehr verletzen würde, als es jemals der Name Polacken-Mike getan hatte. Warum nur taten Menschen das talentierten Leuten an? Aus Neid? Aus Angst? Vielleicht steckte beides dahinter. Aber dieser Junge hatte den Vorteil, dass er wusste, wie gut er war. Und wir wussten beide, dass Coach Borman nicht das wahre Problem war. Der einzige Mensch, der Mike daran hindern konnte, morgen Abend aufzutreten, war Mike selbst.

»Football hast du schon vor Publikum gespielt, das acht- oder neunmal so groß war wie das in unserer Aula. Verdammt, als ihr Jungs im letzten November zur Regionalmeisterschaft in Dallas wart, habt ihr vor zehn- bis zwölftausend Leuten gespielt. Und die waren euch nicht freundlich gesinnt.«

»Football ist was anderes. Wenn wir auflaufen, tragen wir alle einen Helm und die gleiche Spielkleidung. Die Leute können uns nur an den Rückennummern erkennen. Alle sind auf derselben Seite …«

»Außer dir treten in diesem Stück neun Personen auf, Mike – ohne die Stadtbewohner, die ich für deine Footballkumpel reingeschrieben habe. Auch ihr seid ein Team.«

»Das ist nicht das Gleiche.«

»Vielleicht nicht ganz. Aber eines ist gleich: Wenn du sie im Stich lässt, zerfällt der ganze Scheiß, und alle sind die Verlierer. Die Schauspieler, das Bühnenpersonal, die Mädchen vom Förderverein, die unsere Werbung gemacht haben, und alle Leute, die zu den Vorstellungen kommen wollten – manche von fünfzig Meilen entfernten Ranchs. Von mir ganz zu schweigen. Ich verliere auch.«

»Das stimmt wohl«, sagte Mike. Er saß da und starrte seine Füße an, die mächtig groß waren.

»Auf Slim oder Curley könnte ich zur Not verzichten; ich würde einfach jemand mit dem Buch rausschicken und ihn die Rolle vorlesen lassen. Ich glaube, ich könnte sogar auf Curleys Frau verzichten …«

»Ich wollte, Sandy wäre ein bisschen besser«, sagte Mike. »Sie ist verdammt hübsch, aber wenn sie ihren Einsatz mal nicht verpasst, ist das Zufall.«

Ich gestattete mir ein vorsichtiges Lächeln, wenn auch nur nach innen. Ich schöpfte langsam Hoffnung, dass die Sache gut ausgehen würde. »Was ich nicht verschmerzen könnte – was die Vorstellung nicht verschmerzen könnte –, wäre, dich oder Vince Knowles zu verlieren.«

Vince spielte Lennies Erntehelferkumpel George, und seinen Ausfall hätten wir sehr wohl verkraften können, wenn er die Grippe bekommen oder sich bei einem Verkehrsunfall den Hals gebrochen hätte (immer eine Möglichkeit, wenn man bedachte, wie er den Pick-up seines Daddys fuhr). Notfalls wäre ich für Vince eingesprungen, obwohl ich für diese Rolle viel zu groß war, und ich hätte seinen Text auch nicht aus dem Buch vorlesen müssen. Nach sechs Wochen Proben konnte ich alle Texte so gut auswendig wie meine Schauspieler. Besser als manche. Aber Mike konnte ich nicht ersetzen. Niemand konnte ihn mit seiner einzigartigen Kombination aus Größe und schauspielerischem Talent ersetzen. Er war der Dreh- und Angelpunkt.

»Was ist, wenn ich Scheiße baue?«, fragte er. Dann hörte er, was er gesagt hatte, und schlug sich eine Hand vor den Mund.

Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa. Dort war zwar nicht viel Platz, aber es ging. Im Augenblick dachte ich nicht an John Kennedy, Al Templeton, Frank Dunning oder die Welt, aus der ich gekommen war. Ich dachte nur an diesen großen Jungen … und meine Aufführung. Weil sie irgendwann meine geworden war, genau wie diese frühere Zeit mit ihren Gemeinschaftsanschlüssen und dem billigen Benzin jetzt meine war. In diesem Augenblick war mir Von Mäusen und Menschen sehr viel wichtiger als Lee Harvey Oswald.

Aber noch mehr lag mir an Mike.

Ich zog die Hand von seinem Mund weg. Legte sie auf seinen muskulösen Oberschenkel. Fasste ihn an den Schultern. Sah ihm in die Augen. »Hör mir zu«, sagte ich. »Hörst du mir zu?«

»Yessir.«

»Du wirst keine Scheiße bauen. Sag es.«

»Ich …«

»Sag es!«

»Ich werde keine Scheiße bauen.«

»Du wirst etwas ganz anderes tun: dein Publikum verblüffen. Das verspreche ich dir, Mike.« Ich wollte fester zupacken, aber seine Schultern waren wie aus Stein. Er hätte mich trotz meiner Größe hochheben und über dem Knie zerbrechen können, aber er saß nur da und betrachtete mich mit Augen, die demütig, hoffnungsvoll und noch voller Tränen waren. »Hast du verstanden? Ich verspreche es dir.«

4

Die Bühne war eine Insel aus Licht, vor der als dunkler See der Zuschauerraum lag. George und Lennie standen am Ufer eines imaginären Flusses. Die anderen Männer waren fortgeschickt worden, aber sie würden nicht lange wegbleiben; sollte der große, zögerlich lächelnde Mann in der Latzhose einigermaßen würdevoll sterben, würde George selbst dafür sorgen müssen.

»George? Wohin gehen die anderen?«

Mimi Corcoran saß rechts neben mir. Irgendwann hatte sie meine Hand ergriffen und drückte sie. Fest, fest, fest. Wir saßen in der ersten Reihe. Auf der anderen Seite neben ihr saß Deke Simmons, der mit leicht geöffnetem Mund zur Bühne hinaufstarrte. Es war der Gesichtsausdruck eines Farmers, der ein großes Ufo über seinem Nordfeld schweben sah.

»Jagen. Sie gehen jagen. Setz dich, Lennie.«

Vince Knowles würde niemals Schauspieler werden – was er wahrscheinlich werden würde, war Verkäufer bei Jodie Chrysler-Dodge wie sein Vater –, aber eine großartige schauspielerische Leistung konnte alle übrigen Akteure mitreißen, und das war heute Abend passiert. Vince, der bei den Proben nur sehr selten glaubwürdig gewirkt hatte (hauptsächlich weil er mit seinem gewitzten Rattengesicht Steinbecks George Milton war), war ein bisschen von Mike angesteckt worden. Plötzlich, ungefähr in der Mitte des ersten Akts, hatte er begriffen, was es bedeutete, mit Lennie als einzigem Freund ziellos durchs Leben zu wandern, und füllte nun seine Rolle aus. Als ich jetzt beobachtete, wie er seinen alten Filzhut aus dem Fundus nach hinten schob, fand ich, dass Vince wie Henry Fonda in Die Früchte des Zorns aussah.

»George!«

»Was?«

»Machst du mir nicht die Hölle heiß?«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt schon George.« Ein Lächeln. Ein Lächeln, das Schon klar, ich weiß, dass ich ein Dummkopf bin, aber wir wissen beide, dass ich nichts dafür kann besagte. Jetzt setzte er sich neben George ans imaginäre Flussufer. Nahm den eigenen Hut ab, warf ihn zur Seite, rubbelte sich die kurzen, blonden Haare. Imitierte Georges Stimme. Die hatte Mike schon bei der ersten Probe mit unheimlicher Mühelosigkeit gemeistert. »›Ich könnt es so leicht und schön haben, wenn ich allein wär. Ich könnt einen Job kriegen und hätt keinen Ärger.‹« Dann wieder mit seiner eigenen Stimme … oder vielmehr mit Lennies Stimme … »Ich kann weggehen. Ich geh rauf in die Hügel und such mir ’ne Höhle, wenn du mich nicht willst.«

Vince Knowles senkte den Kopf, und als er ihn wieder hob und die nächste Zeile sprach, war seine Stimme heiser und stockend. Aus ihr sprach ein Kummer, den er selbst bei den besten Proben noch nie derart überzeugend rübergebracht hatte. »Nein, Lennie. Ich will, dass du hier bei mir bleibst.«

»Dann erzähl mir so wie früher! Über die anderen und über uns.«

An dieser Stelle hörte ich das erste Schluchzen aus dem Publikum. Gleich darauf noch eines. Dann ein drittes. Das hatte ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, und ich sah unauffällig zu Mimi hinüber. Sie weinte noch nicht, doch ihre feucht glänzenden Augen zeigten mir, dass sie es bald tun würde. Ja, sogar sie, obwohl sie echt hartgesotten war.

George zögerte, dann ergriff er Lennies Hand, was Vince bei den Proben niemals getan hätte. Das ist Schwulenkram, hätte er gesagt.

»Welche wie wir … Lennie, welche wie wir haben keine Familie. Sie legen ’n bisschen was auf die hohe Kante, und dann geben sie’s wieder aus. Sie haben niemand auf der Welt, der sich auch nur einen Deut um sie kümmert …« Mit der anderen Hand berührte er die Requisitenpistole unter seiner Jacke. Zog sie halb heraus. Schob sie wieder hinein. Gab sich dann einen Ruck und zog sie ganz heraus. Legte sie neben sein Bein.

»Aber uns kann das nicht passieren, George!«, rief Lennie glücklich. »Erzähl jetzt von uns.«

Mike war nicht mehr da. Die Bühne war nicht mehr da. Es gab nur noch die beiden, und als Lennie George bat, ihm von der kleinen Farm und den Kaninchen und dem schönen Landleben zu erzählen, weinte die Hälfte des Publikums hörbar. Vince weinte so heftig, dass er seinen Schlusstext kaum sprechen konnte, um den armen, dummen Lennie aufzufordern, nach dort drüben zu sehen, weil die Farm, auf der sie leben würden, dort drüben liege. Wenn er ganz genau hinsah, würde er sie erkennen.

Auf der Bühne wurde es langsam dunkel, als Cindy McComas die Beleuchtung ausnahmsweise perfekt steuerte. Birdie Jamieson, der Schulhausmeister, feuerte die Platzpatrone ab. Irgendeine Frau im Publikum stieß einen kleinen Schrei aus. Auf eine solche Reaktion folgte normalerweise nervöses Lachen, aber heute war nur zu hören, wie die Leute auf ihren Plätzen weinten. Sonst herrschte Schweigen. Es hielt zehn Sekunden lang an. Vielleicht waren es auch nur fünf. Dann brach der Beifall los. Das gewaltigste Tosen, das ich in meinem Leben je gehört hatte. Die Saalbeleuchtung ging an. Das Publikum applaudierte stehend. Die beiden ersten Reihen waren für Lehrkräfte reserviert, und mein Blick fiel zufällig auf Coach Borman. Teufel, sogar er weinte.

Zwei Reihen weiter hinten, wo alle Schulsportler saßen, sprang Jim LaDue auf. »Coslaw, du bist der Hammer!«, rief er laut. Es wurde mit Beifall und Lachen quittiert.

Das Ensemble kam heraus, um sich zu verbeugen: erst die Footballspieler als Städter, dann Curley und Curleys Frau, danach Candy und Slim und die übrigen Landarbeiter. Der Beifall wurde etwas dünner, aber dann kam Vince heraus: erhitzt und glücklich, mit noch nassen Wangen. Mike Coslaw erschien als Letzter; er kam sichtlich verlegen auf die Bühne geschlurft und schaute übertrieben überrascht, als Mimi »Bravo!« rief.

Andere griffen den Ruf auf, und bald hallte die Aula von bravo-bravo-bravo wider. Mike verbeugte sich und schwenkte dabei seinen Hut so tief, dass er den Bühnenboden streifte. Als er sich wieder aufrichtete, lächelte er. Aber es war mehr als ein Lächeln; sein Gesicht war durch die Glückseligkeit verwandelt, die für jene reserviert war, die es endlich ganz nach oben geschafft hatten.

Dann rief er: »Mr. Amberson! Kommen Sie auf die Bühne, Mr. Amberson!«

Das Ensemble griff den Ruf »Re-gis-seur! Re-gis-seur!« auf.

»Lassen Sie den Beifall nicht abflauen«, sagte Mimi neben mir. »Machen Sie, dass Sie da raufkommen, Dummkopf!«

Ich tat wie geheißen, und der Applaus schwoll nochmals an. Mike packte mich, umarmte mich, hob mich in die Luft, setzte mich wieder ab und gab mir einen herzhaften Schmatz auf die Wange. Alle lachten, ich auch. Wir fassten uns an den Händen, hoben sie dem Publikum entgegen und verbeugten uns. Während ich den Beifall genoss, schoss mir etwas durch den Kopf, was meine Stimmung verdüsterte. In Minsk gab es Neuvermählte. Lee und Marina waren seit genau neunzehn Tagen Mann und Frau.

5

Drei Wochen später, kurz vor Beginn der Sommerferien, fuhr ich nach Dallas, um ein paar Fotos von den drei Wohnungen zu machen, in denen Lee und Marina wohnen würden. Dazu benutzte ich eine kleine Minox, die ich so in der Hand hielt, dass das Objektiv zwischen zwei gespreizten Fingern hervorschauen konnte. Ich kam mir dabei lächerlich vor – mehr wie die Trenchcoat tragenden Karikaturen in der Serie »Spion & Spion« aus dem Mad-Heft als wie James Bond –, aber ich hatte gelernt, in solchen Dingen vorsichtig zu sein.

Als ich nach Hause kam, stand Mimi Corcorans himmelblauer Nash Rambler am Randstein. Mimi schwang sich gerade hinters Steuer. Als sie mich sah, stieg sie wieder aus. Sie verzog das Gesicht kurz zu einer Grimasse – Schmerzen oder Anstrengung –, aber als sie die Einfahrt heraufkam, trug sie wieder ihr gewohntes schmallippiges Lächeln zur Schau. Als amüsierte sie sich über mich, aber auf nette Weise. In der Hand trug sie einen dicken Umschlag, der die hundertfünfzig Seiten meines Romans The Murder Place enthielt. Ich hatte ihrem hartnäckigen Drängen endlich nachgegeben … aber das war erst am Vortag gewesen.

»Es muss Ihnen verdammt gut gefallen haben, oder Sie sind nie über Seite zehn hinausgekommen«, sagte ich, als ich den Umschlag entgegennahm. »Was davon war’s also?«

Ihr Lächeln wirkte jetzt nicht nur amüsiert, sondern auch geheimnisvoll. »Wie die meisten Bibliothekare lese ich ziemlich schnell. Können wir hineingehen und darüber reden? Wir haben noch nicht mal Mitte Juni, und es ist schon so heiß.«

Ja, und sie schwitzte, was ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Außerdem schien sie an Gewicht verloren zu haben. Keine gute Sache für eine Frau, die kein überflüssiges Pfund auf den Knochen hatte.

Als wir mit großen Gläsern Eiskaffee im Wohnzimmer saßen – ich im Sessel, sie auf dem Sofa –, gab Mimi ihr Urteil über meinen Roman ab. »Mir hat die Sache mit dem als Clown verkleideten Mörder gefallen. Vielleicht finden Sie mich verdreht, aber das fand ich köstlich gruselig.«

»Wenn Sie verdreht sind, bin ich es auch.«

Sie lächelte. »Sie finden bestimmt einen Verleger dafür. Insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen.«

Ich war leicht gekränkt. The Murder Place mochte als Mittel zur Tarnung begonnen haben, aber der Roman war mir wichtiger geworden, je länger ich daran arbeitete. Er glich geheimen Memoiren. Erinnerungen der Seele. »Dieses ›insgesamt‹ lässt mich an Alexander Pope denken – Sie wissen schon, durch schwaches Lob verdammen und so weiter.«

»Ganz so habe ich es nicht gemeint.« Eine nochmalige Einschränkung. »Ich finde nur … Verdammt noch mal, George, das hier ist nicht Ihre Berufung. Sie sollten Lehrer sein. Und wenn Sie ein Buch wie dieses veröffentlichen, stellt keine Schulbehörde in den Vereinigten Staaten Sie mehr ein.« Sie hielt kurz inne. »Außer vielleicht in Massachusetts.«

Ich gab keine Antwort. Ich war sprachlos.

»Was Sie mit Mike Coslaw gemacht haben – nein, was Sie für Mike Coslaw getan haben –, war das Erstaunlichste und Wundervollste, was ich je gesehen habe.«

»Mimi, das war nicht ich. Er ist einfach ein Naturta…«

»Ich weiß, dass er ein Naturtalent ist, das war vom ersten Augenblick an klar, als er auf die Bühne gekommen ist und den Mund aufgemacht hat, aber ich will Ihnen etwas sagen, mein Freund. Etwas, was vierzig Jahre an verschiedenen Highschools und sechzig Lebensjahre mich gelehrt haben, und zwar nachhaltig gelehrt. Künstlerisches Talent ist weit häufiger als das Talent, künstlerisches Talent zu fördern. Jede Mutter und jeder Vater mit harter Hand kann es unterdrücken, aber es zu fördern ist viel schwieriger. Das ist eine Gabe, die Sie besitzen – und in weit größerem Umfang als das Talent, das in dem hier steckt.« Sie tippte auf das Romanmanuskript auf dem Couchtisch vor ihr.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sagen Sie danke, und machen Sie mir ein Kompliment wegen meines treffenden Urteils.«

»Danke. Und Ihr Scharfsinn wird nur durch Ihr gutes Aussehen übertroffen.«

Das brachte das Lächeln zurück, trockener als je zuvor. »Überziehen Sie Ihr Mandat nicht, George.«

»Ja, Miz Mimi.«

Das Lächeln verschwand. Sie beugte sich vor. Die blauen Augen hinter ihrer Brille wirkten übergroß, sie schienen regelrecht in ihrem Gesicht zu schwimmen. Die Haut unter der Sonnenbräune war gelblich, ihre früher straffen Wangen waren eingesunken. Wann war das passiert? Hatte Deke es bemerkt? Aber das war unwahrscheinlich. Deke würde nicht merken, dass er verschiedene Socken anhatte, bis er sie abends auszog. Wahrscheinlich nicht einmal dann.

Sie sagte: »Phil Bateman droht nicht mehr nur damit, in den Ruhestand zu gehen, sondern hat den Sicherungsstift gezogen und die Handgranate geworfen, wie unser reizender Coach Borman sagen würde. Was bedeutet, dass eine Stelle für einen Englischlehrer frei wird. Kommen Sie als Vollzeitkraft zur DCHS, George. Die Schüler mögen Sie, und seit der Theateraufführung hält die ganze Schule Sie für Alfred Hitchcocks Wiedergänger. Deke wartet nur auf Ihre Bewerbung – das hat er mir erst gestern Abend erzählt. Bitte. Veröffentlichen Sie das hier unter einem Pseudonym, wenn’s sein muss, aber unterrichten Sie bei uns. Das ist Ihre wahre Berufung.«

Ich hätte liebend gern ja gesagt, weil Mimi recht hatte. Mein Job war es nicht, Bücher zu schreiben, und ganz sicher nicht, Leute umzubringen, auch wenn sie es verdient hatten. Und nicht zu vergessen Jodie. Ich war als Fremder hergekommen, als Flüchtling aus meiner Heimat und meiner Zeit, und die ersten Worte, die ich hier gehört hatte – in Al’s Diner –, waren freundliche Worte gewesen. Wer schon jemals unter Heimweh gelitten oder sich von allen Dingen und Menschen abgeschnitten gefühlt hat, die früher einmal sein Leben bestimmten, wird wissen, wie wichtig Willkommensworte und ein freundliches Lächeln sein können. Jodie war das Anti-Dallas, und nun forderte mich eine einflussreiche Bürgerin auf, meinen Status als Besucher gegen den eines Einwohners einzutauschen. Aber der entscheidende Augenblick rückte näher. Am Horizont zogen bereits dunkle Wolken auf, und die Sintflut würde bald losbrechen. Nur war sie noch nicht da. Vielleicht …

»George? Sie haben einen höchst eigenartigen Ausdruck auf Ihrem Gesicht.«

»Das nennt man nachdenken. Lassen Sie mich das bitte ungestört tun?«

Sie legte beide Hände an die Wangen und bildete mit den Lippen ein entschuldigend gemeintes komödiantisches O. »Tut mir leid, sorry, nichts für ungut.«

Ich achtete nicht auf sie, weil ich damit beschäftigt war, in Als Notizen zu blättern. Dazu brauchte ich sie nicht mehr wirklich vor mir zu haben. Wenn das neue Schuljahr im September begann, würde Oswald noch in Russland sein, obwohl er schon etwas angefangen hatte, was sich als langer Papierkrieg erweisen sollte, um mit seiner Frau und seiner Tochter June, mit der Marina jetzt täglich schwanger werden konnte, nach Amerika ausreisen zu dürfen. Es war ein Kampf, den Oswald letztlich gewinnen würde, indem er eine Supermacht mit instinktiver (wenn auch rudimentärer) Cleverness gegen die andere ausspielte, aber sie würden erst Mitte nächsten Jahres von Bord der SS Maasdam gehen und amerikanischen Boden betreten. Und was Texas betraf …

»Mims, das Schuljahr endet meist in der ersten Juniwoche, nicht wahr?«

»Immer. Die Schüler, die Sommerjobs brauchen, müssen sie sich rechtzeitig sichern.«

… was Texas betraf, würde Oswald dort erst am 14. Juni 1962 ankommen.

»Und jede Anstellung wäre zur Probe, stimmt’s? Erst einmal für ein Jahr?«

»Mit der Option auf Vertragsverlängerung, wenn alle Beteiligten zufrieden sind, ja.«

»Dann haben Sie jetzt einen Englischlehrer auf Probe.«

Sie lachte, klatschte in die Hände, stand auf und breitete die Arme aus. »Wunderbar! Küsschen für Miz Mimi!«

Ich umarmte sie, ließ sie aber sofort wieder los, als ich sie keuchen hörte. »Was zum Teufel fehlt Ihnen, Ma’am?«

Sie setzte sich wieder, griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck Eiskaffee. »Ich will Ihnen zwei Ratschläge geben, George. Erstens: Nennen Sie keine Texanerin Ma’am, wenn Sie aus dem Norden stammen. Das klingt immer sarkastisch. Und zweitens: Fragen Sie niemals irgendeine Frau, was zum Teufel mit ihr los ist. Versuchen Sie’s mit etwas Subtilerem wie: ›Fühlen Sie sich auch wohl?‹«

»Tun Sie das?«

»Wieso nicht? Ich werde schließlich heiraten.«

Anfangs konnte ich mir keinen Reim auf diese überraschende Mitteilung machen. Nur zeigte ihr Blick, dass sie damit eine bestimmte Absicht verfolgte. Sie strich um irgendwas herum wie eine Katze um den heißen Brei. Vermutlich um etwas nicht allzu Nettes.

»Sagen Sie ›Glückwunsch, Miz Mimi‹.«

»Glückwunsch, Miz Mimi.«

»Den ersten Antrag hat Deke mir schon vor fast einem Jahr gemacht. Ich habe abgelehnt und ihm erklärt, dass es zu nah am Tod seiner Frau war und die Leute sich nur das Maul über uns zerreißen würden. Im Lauf der Zeit ist das als Argument weniger effektiv geworden. Wegen unseres Alters bezweifle ich ohnehin, dass es viel Klatsch gegeben hätte. In Kleinstädten verstehen die Leute, dass Paare wie Deke und ich sich den Luxus von Schicklichkeit nicht mehr so gut leisten können, sobald sie einen gewissen, sagen wir mal, Reifegrad erreicht haben. Tatsächlich hat mir der Status quo recht gut gefallen. Der alte Bursche liebt mich viel mehr, als ich ihn liebe, aber ich mag ihn sehr, und – auf die Gefahr hin, Sie verlegen zu machen – sogar Damen, die einen gewissen Reifegrad erreicht haben, haben nichts gegen eine nette Bumsrunde am Samstagabend. Habe ich Sie verlegen gemacht?«

»Nein«, sagte ich. »Eigentlich entzücken Sie mich.«

Wieder das trockene Lächeln. »Wundervoll. Mein erster Gedanke morgens beim Aufstehen lautet nämlich: Gibt es eine Möglichkeit, heute George Amberson zu entzücken? Und falls ja, wie?«

»Überziehen Sie Ihr Mandat nicht, Miz Mimi.«

»Wie ein Mann gesprochen.« Sie trank einen Schluck Eiskaffee. »Als ich heute hergekommen bin, hatte ich zwei Ziele. Das erste habe ich erreicht. Jetzt will ich mit dem zweiten weitermachen, damit Sie den Rest des Tages für sich haben. Deke und ich werden am 21. Juni heiraten, das ist ein Freitag. Die Zeremonie findet in kleinstem Kreis in seinem Haus statt – nur wir, der Geistliche und ein paar Angehörige. Seine Eltern – für Dinosaurier sind sie noch erstaunlich fit – kommen aus Alabama, meine Schwester aus San Diego. Der Empfang findet am Tag darauf als Gartenparty in meinem Haus statt. Ab vierzehn Uhr, bis alle abgefüllt sind. Wir laden praktisch die ganze Stadt ein. Für die kleinen Racker gibt es eine piñata und Limonade, für die großen Racker Grillfleisch und Fassbier und sogar eine Band aus San Antone. Im Gegensatz zu den meisten Bands aus San Antone kann diese außer ›Louie Louie‹ auch ›La Paloma‹ spielen, glaube ich. Wenn Sie uns nicht die Ehre geben …«

»Dann würde Ihnen was fehlen?«

»In der Tat. Reservieren Sie den Samstag für uns?«

»Unbedingt.«

»Gut. Deke und ich reisen am Sonntag nach Mexiko ab, wenn sein Kater sich verflüchtigt hat. Für Flitterwochen sind wir ein bisschen zu alt, aber südlich der Grenze sind bestimmte Therapien verfügbar, die im Sixgun State nicht zu bekommen sind. Bestimmte experimentelle Behandlungen. Ich bezweifle, dass sie anschlagen werden, aber Deke ist hoffnungsvoll. Und zum Teufel, schließlich ist es einen Versuch wert. Das Leben …« Sie seufzte bedauernd. »Das Leben ist zu schön, als dass man es kampflos aufgeben sollte, finden Sie nicht auch?«

»Ja«, sagte ich.

»Ja. Also klammert man sich daran.« Sie betrachtete mich prüfend. »Werden Sie jetzt weinen, George?«

»Nein.«

»Gut. Das würde mich nämlich verlegen machen. Ich könnte selbst weinen, und darin bin ich nicht gut. Über meine Tränen würde niemand jemals ein Gedicht schreiben. Ich quake.«

»Wie schlimm ist es? Darf ich das fragen?«

»Ziemlich schlimm.« Sie sagte das ganz lässig. »Mir bleiben vielleicht noch acht Monate. Mit Glück ein Jahr. Immer vorausgesetzt, dass die Heilkräuter oder Pfirsichkerne oder was auch immer in Mexiko keine Wunderheilung bewirken.«

»Tut mir sehr leid, das zu hören.«

»Danke, George. Sehr subtil ausgedrückt. Mehr wäre rührselig.«

Ich lächelte.

»Ich habe einen weiteren Grund, Sie zu unserem Empfang einzuladen, auch wenn Ihre charmante Art und geistreiche Konversation natürlich genug wären. Phil Bateman ist nicht der Einzige, der in den Ruhestand geht.«

»Mimi, das dürfen Sie nicht! Nehmen Sie unbezahlten Urlaub, wenn es sein muss, aber …«

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Krank oder gesund, vierzig Jahre sind genug. Es wird Zeit für jüngere Hände, jüngere Augen und einen jüngeren Verstand. Auf meine Empfehlung hat Deke eine gut qualifizierte junge Frau aus Georgia eingestellt. Sie heißt Sadie Clayton. Sie wird zu dem Empfang kommen, sie wird absolut niemand dort kennen, und ich erwarte, dass Sie besonders nett zu ihr sind.«

»Mrs. Clayton?«

»Das würde ich nicht ganz sagen.« Mimi sah mich arglos an. »Ich glaube, sie will in naher Zukunft wieder ihren Mädchennamen annehmen. Sobald bestimmte rechtliche Formalitäten abgeschlossen sind.«

»Mimi, wollen Sie uns verkuppeln?«

»Durchaus nicht«, sagte sie … und kicherte dann. »Fast gar nicht. Aber Sie sind unser einziger Englischlehrer, der gegenwärtig nicht gebunden ist, und somit ist es ganz natürlich, dass Sie als ihr Mentor fungieren.«

Ich hielt das für einen gewaltigen Sprung ins Unlogische, vor allem für einen so methodisch arbeitenden Verstand, aber ich begleitete sie zur Tür, ohne es auszusprechen. Stattdessen sagte ich: »Wenn die Sache so ernst ist, wie Sie sagen, sollten Sie sich sofort behandeln lassen. Und auch nicht von irgendeinem Quacksalber in Juárez. Sie gehören in die Cleveland Clinic.« Ich wusste nicht einmal, ob die Cleveland Clinic schon existierte, aber das war mir in diesem Augenblick egal.

»Lieber nicht. Wenn man vor der Wahl steht, entweder in einem Krankenzimmer zu sterben, angeschlossen an tausend Kabel und Schläuche, oder den Tod auf einer mexikanischen Hacienda am Meer zu erwarten … das ist, wie Sie so gern sagen, ein Selbstläufer. Und es gibt einen weiteren Grund.« Sie sah mich offen an. »Die Schmerzen sind noch nicht allzu schlimm, aber sie sollen bald schlimmer werden. In Mexiko neigt man weit weniger zu moralischen Posen, wenn es um das Verabreichen von Morphium in hoher Dosierung geht. Oder von Nembutal, falls es dazu kommt. Ich weiß, was ich tue, verlassen Sie sich darauf.«

Aufgrund von Al Templetons Erfahrungen vermutete ich, dass sie recht hatte. Ich schloss sie in die Arme, drückte sie jedoch diesmal nur sehr zart an mich. Ich küsste eine lederartige Wange.

Sie ertrug es lächelnd, dann entwand sie sich mir. Ihre Augen musterten mich prüfend. »Ich wüsste gern Ihre wahre Geschichte, mein Freund.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich bin ein offenes Buch, Miz Mimi.«

Sie lachte. »Reden Sie keinen Mist! Sie wollen aus Wisconsin sein, aber Sie kreuzen in Jodie mit einem Neuengland-Akzent und einem Autokennzeichen aus Maine auf. Sie sagen, dass Sie zu Recherchen nach Dallas fahren, und Ihr Buch spielt angeblich in Dallas, aber die Romanfiguren reden wie die Leute in Neuengland. An einigen Stellen sagen sie sogar eiyuh. Die sollten Sie vielleicht ändern.«

Und ich hatte geglaubt, meine Überarbeitung wäre so clever.

»Eigentlich spricht man es in Neuengland a-yuh aus, nicht ei-yuh, Mimi.«

»Notiert.« Sie suchte weiter mein Gesicht ab. Ich musste kämpfen, um nicht den Blick zu senken, aber ich schaffte es. »Manchmal habe ich mich schon dabei ertappt, dass ich mich fragte, ob Sie ein Außerirdischer sein könnten – wie Michael Rennie in Der Tag, an dem die Erde stillstand. Hier zugegen, um die Erdbewohner zu analysieren und nach Alpha Centauri zu melden, ob es noch Hoffnung für die Spezies Mensch gibt oder wir durch Plasmastrahlen verdampft werden sollten, bevor wir die restliche Galaxie mit unseren Keimen anstecken können.«

»Sehr fantasievoll«, sagte ich lächelnd.

»Gut. Ich fände es schrecklich, wenn unser ganzer Planet am Beispiel Texas beurteilt würde.«

»Wenn Jodie als Beispiel benutzt würde, bekäme die Erde mindestens ein Befriedigend.«

»Ihnen gefällt es hier, habe ich recht?«

»Ja.«

»Ist George Amberson Ihr richtiger Name?«

»Nein. Ich habe ihn aus Gründen angenommen, die für mich wichtig sind, aber für niemand sonst von Bedeutung sind. Mir wäre es lieber, wenn Sie das für sich behalten würden. Aus offensichtlichen Gründen.«

Sie nickte. »Das lässt sich machen. Bis bald, George. Im Diner, in der Bibliothek … und natürlich auf der Party. Sie werden nett zu Sadie Clayton sein, versprochen?«

»Scheißfreundlich«, sagte ich möglichst texanisch, worüber sie lachen musste.

Als Mimi fort war, saß ich lange im Wohnzimmer, ohne zu lesen oder fernzusehen. Und daran, an einem meiner beiden Manuskripte zu arbeiten, dachte ich erst recht nicht. Ich dachte an den Job, den ich gerade angenommen hatte: ein Jahr als Vollzeitlehrer für Englisch an der Denholm Consolidated High School, der Heimat der Löwen. Ich kam zu dem Schluss, dass mir das nicht leidzutun brauchte. Zur Halbzeit konnte ich mit den Besten brüllen.

Nun, eines tat mir leid, aber das betraf nicht mich. Wenn ich an Mimi und ihre gegenwärtige Situation dachte, empfand ich großes Mitleid.

6

Was Liebe auf den ersten Blick betrifft, halte ich es mit den Beatles: Ich glaube, dass sie dauernd vorkommt. Aber so war es bei Sadie und mir nicht, obwohl sie mir bei der ersten Begegnung in die Arme fiel und meine rechte Hand ihre linke Brust umschloss. Daher halte ich es wohl auch mit Mickey und Silvia, die singend die Ansicht vertraten, dass Liebe seltsam sei.

Im südlichen Mitteltexas konnte es Mitte Juli verdammt heiß sein, aber der Samstag, an dem die Party nach der Hochzeit stattfand, war mit Temperaturen um 25 Grad und dicken weißen Kumuli, die über einen Himmel von der Farbe verblichener Latzhosen segelten, nahezu perfekt. Lange Streifen von Sonne und Schatten lagen über Mimis Garten, dessen Rasen sanft abfallend zu einem schlammigen Rinnsal hinunterführte, das sie Nameless Crick nannte.

An den Bäumen flatterten Wimpel in Gelb und Silber – den Farben der DCHS –, und es gab wirklich eine piñata, die verlockend tief an einem weit ausladenden Ast einer Kiefer hing. Kein Kind ging an ihr vorbei, ohne sie sehnsüchtig zu betrachten.

»Nach dem Abendessen kriegen die Kleinen Stöcke und dürfen sie runterschlagen«, sagte jemand zu meiner Linken. »Süßigkeiten und Spielsachen für alle niños.«

Als ich mich umdrehte, sah ich Mike Coslaw, der in engen schwarzen Jeans und weißem Hemd mit offenem Kragen strahlend (und etwas halluzinogen) dastand. Auf seinem Rücken hing an einer Zugschnur ein Sombrero, und er trug eine mehrfarbige Schärpe um die Taille. Ich sah einige weitere Footballspieler, darunter Jim LaDue, die in der gleichen halb lächerlichen Aufmachung mit Tabletts die Runde machten. Mike hielt mir seines mit leicht schiefem Lächeln hin. »Kanapee, Señor Amberson?«

Ich nahm mir einen an einem Zahnstocher aufgespießten Baby Shrimp und tunkte ihn in die Sauce. »Nette Aufmachung. Erinnert irgendwie an Speedy Gonzales.«

»Fangen Sie bloß nicht davon an. Wenn Sie eine richtige Aufmachung sehen wollen, sollten Sie sich mal Vince Knowles anschauen.« Er zeigte an dem Netz vorbei, an dem eine Gruppe von Lehrern unbeholfen, aber begeistert Volleyball spielte. Ich entdeckte Vincent, der Frack und Zylinder trug. Er war von faszinierten Kindern umgeben, die gespannt zusahen, wie er Seidenschals aus dem Nichts zauberte. Das funktionierte, solange die Kinder noch so klein waren, dass sie den Schal übersahen, der ein Stück weit aus einem der Ärmel ragte. Sein Schnurrbart aus Schuhcreme glänzte in der Sonne.

»Alles in allem ist mir der Cisco-Kid-Look lieber«, sagte Mike.

»Ihr seid bestimmt erstklassige Kellner, aber wer um Himmels willen hat euch dazu überredet, euch zu verkleiden? Und weiß der Coach davon?«

»Selbstverständlich, er ist hier.«

»Ach, ich habe ihn noch gar nicht gesehen.«

»Er ist drüben beim Grill und lässt sich mit dem Förderverein volllaufen. Was diese Klamotten betrifft … Miz Mimi ist eben eine richtige Überredungskünstlerin.«

Ich musste an den Vertrag denken, den ich unterschrieben hatte. »Ja, ich weiß.«

Mike senkte die Stimme. »Wir wissen alle, dass sie krank ist. Außerdem … sehe ich das einfach als Schauspielerei.« Er nahm eine Stierkämpferpose ein – was nicht leicht war, wenn man ein Tablett mit Kanapees trug. »¡Arriba!«

»Nicht schlecht, aber …«

»Ich weiß, ich hab die Rolle noch nicht verinnerlicht. Man muss in sie eintauchen, stimmt’s?«

»Brando hat jedenfalls Erfolg damit. Wie seid ihr Jungs in diesem Herbst drauf, Mike?«

»Im letzten Schuljahr? Jim als Quarterback? Ich, Hank Alvarez, Chip Wiggins und Carl Crockett auf der Linie? Wir spielen um die Landesmeisterschaft mit, und der goldene Ball kommt in unseren Trophäenschrank.«

»Gefällt mir, eure Einstellung.«

»Studieren Sie diesen Herbst wieder ein Stück ein, Mr. Amberson?«

»Das ist der Plan.«

»Gut. Heben Sie mir eine Rolle auf … Als Footballspieler kann ich natürlich nur eine kleine brauchen. Hören Sie sich die Band an, die ist nicht übel.«

Die Band war weit besser als nicht übel. Das Logo auf der Basstrommel identifizierte sie als The Knights. Der jugendliche Leadsänger gab den Einsatz, und die Band legte mit »Ooh, My Head« los, einer heißen Version des alten Songs von Ritchie Valens – im Sommer 1961 noch nicht sehr alt, obwohl Valens knapp zwei Jahre zuvor gestorben war.

Ich holte mir ein Bier in einem Pappbecher und trat näher ans Musikpodium heran. Die Stimme des Jungen kam mir bekannt vor. Ebenso das Klavier, das so klang, als wünschte es sich verzweifelt, ein Akkordeon zu sein. Und plötzlich klickte es bei mir. Der Junge war Doug Sahm, der in nicht allzu vielen Jahren eigene Hits haben würde: »She’s About a Mover« zum einen, »Mendocino« zum anderen. Das würde während der Invasion der Briten sein, weshalb die Band, die im Prinzip Tejano-Rock spielte, dann einen pseudobritischen Namen annahm: The Sir Douglas Quintet.

»George? Kommen Sie her, damit ich Sie mit jemandem bekannt machen kann, ja?«

Ich drehte mich um. Mimi kam den sanft abfallenden Rasen mit einer Frau im Schlepptau herunter. Mein erster Eindruck von Sadie – bestimmt jedermanns erster Eindruck – betraf ihre Größe. Wie die meisten Frauen hier trug sie Schuhe mit flachen Absätzen, weil sie wusste, dass sie nachmittags und abends auf Rasen stehen würde, aber hier stand eine Frau, die vermutlich letztmals bei ihrer Hochzeit hohe Absätze getragen hatte – und selbst bei dieser Gelegenheit konnte sie unter einem langen Brautkleid flache Absätze getragen haben, damit sie vor dem Altar nicht komisch wirkte, weil sie den Bräutigam überragte. Sie war bestimmt einen Meter fünfundachtzig groß, vielleicht sogar größer. Ich überragte sie um mindestens zehn Zentimeter, aber außer Coach Borman und Greg Underwood, einem Geschichtslehrer, war ich vermutlich der einzige Anwesende, auf den das zutraf. Und Greg war eine Bohnenstange. Sadie war, wie man damals sagte, ein steiler Zahn. Das wusste sie, und es machte sie eher verlegen als stolz. Das sah ich an der Art, wie sie sich bewegte.

Ich weiß, dass ich etwas zu groß bin, um als normal zu gelten, sagte ihr Gang. Wie sie ihre Schultern hielt, sagte noch mehr: Ich kann nichts dafür, ich bin einfach so gewachsen. Wie Topsy der Elefant. Sie trug ein mit Rosen bedrucktes, ärmelloses Kleid. Ihre Arme waren gebräunt. Sie hatte etwas rosa Lippenstift aufgelegt, trug aber sonst kein Make-up.

Keine Liebe auf den ersten Blick, das weiß ich ziemlich sicher, aber meine Erinnerung an diesen ersten Anblick ist überraschend klar. Würde ich behaupten, meine erste Begegnung mit der ehemaligen Christy Epping sei mir ebenso im Gedächtnis geblieben, wäre das gelogen. Das war natürlich in einem Tanzclub gewesen, und wir waren beide angeheitert, also ist das vielleicht entschuldbar.

Sadie sah gut aus; sie war ein natürliches amerikanisches Was-man-sieht-ist-was-man-kriegt-Girl. Und sie war noch etwas anderes. Am Tag der Party glaubte ich, dieses andere wäre einfach nur die Unbeholfenheit eines großen Menschen. Später merkte ich, dass sie keineswegs linkisch, sondern das genaue Gegenteil davon war.

Auch Mimi sah gut aus – oder wenigstens nicht schlechter als an dem Tag, an dem sie mich besucht und dazu überredet hatte, als Vollzeitkraft zu unterrichten –, aber sie trug Make-up, was ungewöhnlich war. Allerdings konnten es weder der Schatten unter ihren Augen, die vermutlich von Schmerzen und Schlaflosigkeit herrührten, noch die neuen Falten um die Mundwinkel verdecken. Aber sie lächelte – was kein Wunder war. Sie hatte ihren Verehrer geheiratet, sie gab eine Party, die ein rauschender Erfolg war, und sie war dabei, eine hübsche junge Frau in einem hübschen Sommerkleid mit dem einzigen ledigen Englischlehrer der Schule bekannt zu machen.

»He, Mimi«, sagte ich und ging ihr in sanft ansteigendem Gelände entgegen. Ich schlängelte mich zwischen den Klapptischen hindurch (aus der Veterans Hall geliehen), an denen die Leute später sitzen würden, um sich Gegrilltes einzuverleiben und den Sonnenuntergang zu beobachten. »Gratulation. Nun werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, Sie Miz Simmons zu nennen.«

Sie lächelte ihr trockenes Lächeln. »Bleiben Sie bitte bei Mimi, das bin ich gewohnt. Hier ist eine neue Kollegin, mit der ich Sie bekannt machen möchte. Dies ist …«

Irgendjemand hatte vergessen, einen der Klappstühle ganz unter den Tisch zu schieben, und die große Blondine, die mir schon die Hand hinstreckte und ihr Wie-nett-Sie-kennenzulernen-Lächeln aufsetzte, stolperte darüber und fiel nach vorn. Der Stuhl ging mit und kam dabei so zu liegen, dass ich das Potenzial für einen scheußlichen Unfall sah, wenn ein Stuhlbein sich in ihren Magen bohrte.

Ich ließ meinen Pappbecher fallen, machte einen Riesenschritt nach vorn und fing die Fallende auf. Mein linker Arm umschlang ihre Taille. Die rechte Hand landete etwas höher und umfasste etwas, was warm und rund und nachgiebig weich war. Zwischen meiner Hand und ihrer Brust glitt der Baumwollstoff ihres Kleides über glattes Nylon oder Seide oder was immer sie darunter trug. Es war zwar eine intime Art, sich kennenzulernen, aber wir hatten den umstürzenden Stuhl als Entschuldigung, und obwohl ich unter der Wucht ihrer ungefähr siebzig Kilogramm leicht taumelte, blieb ich auf den Beinen – und damit auch Sadie.

Ich nahm meine Hand von dem Teil ihres Körpers, der beim ersten Kennenlernen selten umfasst wurde, und sagte: »Hallo, ich bin …« Jake. Ich hätte um ein Haar meinen Namen aus dem 21. Jahrhundert genannt, fing mich aber im letzten Augenblick. »Ich bin George. Wie nett, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie war bis zu den Haarwurzeln hinauf errötet. Ich vermutlich auch. Aber sie hatte den Anstand zu lachen.

»Nett, Ihre zu machen. Ich glaube, Sie haben mich gerade vor einem hässlichen Unfall bewahrt.«

Das stimmte wahrscheinlich. Das steckte nämlich dahinter: Sadie war nicht etwa unbeholfen, sie war nur unfallanfällig. Das war amüsant, bis man erkannte, was es in Wirklichkeit war: eine Art Spuk, der sie verfolgte. Sie war das Mädchen, erzählte sie mir später, dessen Kleidersaum sich in der Autotür verfing, wenn ihr Partner und sie zum Abschlussball der Highschool kamen, sodass sie sich auf dem Weg zur Turnhalle den ganzen Rock abriss. Sie war die Frau, bei der Trinkwasserspender falsch funktionierten und ihr das Gesicht nass spritzten; die Frau, bei der ein ganzes Streichholzbriefchen in Flammen aufging, wenn sie sich eine Zigarette anzünden wollte, und ihr die Finger verbrannte und das Haar ansengte; die Frau, deren BH-Träger am Elternabend riss oder die vor Schulveranstaltungen, auf denen sie sprechen sollte, große Laufmaschen in ihren Strümpfen entdeckte.

Sie achtete auf ihren Kopf, wenn sie durch die Tür ging (das gewöhnten sich alle vernünftigen hochgewachsenen Menschen an), aber andere Menschen neigten dazu, die Tür unvorsichtig aufzustoßen, wenn Sadie sich ihr gerade näherte. Sie hatte schon dreimal in Aufzügen festgesteckt, einmal fast zwei Stunden lang, und im Jahr zuvor hatte die in einem Kaufhaus in Savannah neu eingebaute Rolltreppe einen ihrer Schuhe verschluckt. Natürlich wusste ich damals nichts von all diesen Dingen; an diesem Julinachmittag wusste ich nur, dass mir eine attraktive Frau mit blondem Haar und blauen Augen in die Arme gefallen war.

»Wie ich sehe, kommen Miss Dunhill und Sie schon glänzend miteinander aus«, sagte Mimi. »Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich kennenlernen können.«

Aha, dachte ich, der Wechsel von Mrs. Clayton zu Miss Dunhill war schon ohne Rücksicht auf legale Formalitäten vollzogen. Unterdessen steckte der Stuhl mit einem Bein in der feuchten Erde fest. Als Sadie ihn herauszuziehen versuchte, bewegte er sich nicht gleich. Als er es dann tat, scharrte die Stuhllehne ihren Oberschenkel entlang, schob den Rock hoch und gab den Blick auf ein bestrumpftes Bein bis hinauf zum Strumpfhalter frei. Der so rosa war wie die Rosen auf ihrem Kleid. Sie stieß einen ärgerlichen kleinen Schrei aus. Ihr schon rotes Gesicht lief beängstigend ziegelrot an.

Ich nahm ihr den Stuhl aus den Händen und stellte ihn beiseite. »Miss Dunhill … Sadie … wenn ich je eine Frau gesehen habe, die ein kaltes Bier braucht, dann sind Sie diese Frau. Kommen Sie mit.«

»Danke«, sagte sie. »Tut mir ehrlich leid. Meine Mutter hat mich ermahnt, mich Männern nicht an den Hals zu werfen, aber ich hab’s nie gelernt.«

Als ich sie zu den Bierfässern hinüberführte, wobei ich sie unterwegs auf verschiedene Lehrer aufmerksam machte (und sie einmal am Arm wegzog, als ein rückwärts laufender Volleyballspieler sie zu rammen drohte), erschien mir eines sicher: Wir konnten Kollegen sein, und wir konnten Freunde werden, vielleicht sogar gute Freunde, aber unabhängig davon, was Mimi vielleicht hoffte, würden wir nie mehr als das sein. In einer Komödie mit Rock Hudson und Doris Day in den Hauptrollen hätte unsere Begegnung zweifellos als »reizendes Treffen« gegolten, aber im richtigen Leben, vor einem Publikum, das immer noch grinste, war es nur unangenehm und peinlich gewesen. Ja, sie war hübsch. Ja, es war nett, neben einer so großen Frau herzugehen, wenn man noch größer war. Und klar, es war ein Vergnügen gewesen, die nachgiebige Festigkeit dieser Brust in ihrer dünnen Doppelhülle aus züchtiger Baumwolle und sexy Nylon zu spüren. Aber wenn man über die Fünfzehn hinaus war, zählte ein zufälliges Begrapschen auf einer Gartenparty nicht als Liebe auf den ersten Blick.

Ich holte der frischgebackenen (oder wieder ungebackenen) Miss Dunhill ein Bier, und dann standen wir in der Nähe der improvisierten Bar und machten angemessen lange Konversation. Wir lachten, als die Taube, die Vince Knowles für diesen Tag gemietet hatte, den Kopf aus seinem Zylinder steckte und ihn in den Finger pickte. Ich zeigte ihr weitere Lehrer (von denen viele bereits Nüchterncity mit dem Alkoholexpress verließen). Sie sagte, dass sie es niemals schaffen werde, sich alle Namen zu merken, worauf ich ihr das Gegenteil versicherte. Sie sprach nicht über ihr Leben als Mrs. Clayton in Georgia, und ich fragte nicht danach. Ich bot ihr an, mich jederzeit anzurufen, wenn sie Hilfe brauche. Die erforderliche Anzahl von Minuten, die erwarteten Gesprächsthemen. Dann bedankte sie sich nochmals dafür, dass ich sie vor einem üblen Unfall bewahrt hatte, und ging davon, um zu sehen, ob sie dabei helfen konnte, die Kinder zu dem nach der piñata schlagenden Mob zu organisieren, in den sie sich bald verwandeln würden. Ich sah ihr nach, als sie davonging – nicht verliebt, aber etwas wollüstig; ich gestehe, dass ich kurz an den mit Spitze besetzten Strumpfrand und den rosa Strumpfhalter dachte.

Meine Gedanken kehrten zu ihr zurück, als ich an diesem Abend zu Bett ging. Sie füllte einen ziemlich großen Raum auf sehr nette Art aus, und nicht nur meine Augen hatten wohlgefällig verfolgt, wie angenehm sie sich in ihrem bedruckten Kleid bewegte, aber das war’s dann auch schon. Was hätte es mehr geben können? Kurz bevor ich die verrückteste Reise der Welt angetreten hatte, hatte ich einen Roman mit dem Titel Eine verlässliche Frau gelesen, und als ich unter die Decke kroch, fiel mir eine Zeile daraus ein: »Er hatte sich romantische Ideen abgewöhnt.«

Das bin ich, dachte ich, als ich das Licht ausknipste. Total entwöhnt. Und dann, als die Grillen mich in den Schlaf zirpten: Aber es war nicht nur die Brust, die nett war. Es war ihr Gewicht. Ihr Gewicht in meinen Armen.

Wie sich zeigen sollte, hatte ich mir romantische Ideen keineswegs abgewöhnt.

7

Im August war Jodie ein Backofen, in dem die Temperaturen jeden Tag mindestens 35 Grad, oft auch 40 Grad erreichten. Die Klimaanlage meines gemieteten Hauses in der Mesa Lane war zwar gut, aber nicht so gut, dass sie den dauernden Hitzeattacken gewachsen war. Manchmal – wenn ein Schauer Abkühlung brachte – waren die Nächte etwas besser, aber nicht viel.

Am Morgen des 27. Augusts saß ich an meinem Schreibtisch und arbeitete nur mit Basketballshorts bekleidet an The Murder Place, als jemand an der Tür klingelte. Ich runzelte die Stirn. Es war Sonntag, ich hatte erst vor Kurzem das Läuten der miteinander wetteifernden Kirchenglocken gehört, und die meisten Menschen, die ich kannte, besuchten gerade eine der vier oder fünf Kirchen der Kleinstadt.

Ich streifte mir ein T-Shirt über und ging zur Tür. Draußen stand Coach Borman mit Ellen Dockerty, Leiterin des Fachbereichs Hauswirtschaftslehre und amtierende DCHS-Direktorin fürs kommende Schuljahr; Deke hatte seinen Rücktritt am selben Tag wie Mimi eingereicht, was niemand überrascht hatte. Der Trainer hatte sich in einen dunkelblauen Anzug mit greller Krawatte gezwängt, die seinen säulenförmigen Hals abzuwürgen schien. Ellen trug ein züchtiges, graues Kostüm, das nur durch eine Rüschenbluse aufgelockert wurde. Beide sahen ernst drein. Mein erster Gedanke, ebenso überzeugend wie wild: Sie wissen alles. Sie wissen, wer ich bin und woher ich komme. Sie sind hier, um es mir zu sagen.

Coach Bormans Lippen zitterten, und obwohl Ellen nicht schluchzte, hatte sie Tränen in den Augen. Plötzlich wusste ich Bescheid.

»Mimi?«

Der Trainer nickte. »Deke hat mich angerufen. Ich habe Ellie abgeholt – ich nehme sie meistens in die Kirche mit –, und wir gehen reihum, um es den Leuten zu sagen. Zuerst denen, die sie am meisten gemocht hat.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich. »Wie geht es Deke?«

»Er scheint sich tapfer zu halten«, antwortete Ellen, dann sah sie mit gewisser Strenge zu Borman hinüber. »Wenigstens sagt er das.«

»Ja, er ist okay«, sagte der Trainer. »’türlich am Boden zerstört.«

»Klar ist er das«, sagte ich.

»Er will sie einäschern lassen.« Ellen kniff missbilligend die Lippen zusammen. »Das hat sie so gewollt, sagt er.«

Ich dachte darüber nach. »Gleich nach Schulbeginn sollte es eine spezielle Versammlung geben. Können wir die einberufen? Auf der kann der eine oder andere ein paar Worte sagen. Vielleicht können wir Dias zeigen? Nicht wenige müssen Bilder von ihr haben.«

»Eine wundervolle Idee«, sagte Ellen. »Könnten Sie das organisieren, George?«

»Ich will’s gern versuchen.«

»Lassen Sie sich von Miss Dunhill helfen.« Und bevor ich auch nur den Verdacht haben könnte, ich sollte wieder verkuppelt werden, fügte sie hinzu: »Ich glaube, dass es die Jungen und Mädchen, die Mims geliebt haben, trösten wird, wenn ihre handverlesene Nachfolgerin bei der Gedenkfeier mithilft. Und das wird auch Sadie helfen.«

Natürlich würde es das. Als Neue konnte sie zu Beginn des Schuljahrs eine ordentliche Portion Wohlwollen brauchen.

»Okay, ich rede mit ihr. Ich danke Ihnen beiden. Sonst kommen Sie zurecht?«

»Klar«, sagte der Coach tapfer, aber seine Lippen zitterten immer noch. Dafür mochte ich ihn. Sie gingen langsam zu seinem am Randstein geparkten Wagen hinunter. Dabei hielt der Trainer Ellens Ellbogen leicht umfasst. Auch dafür mochte ich ihn.

Ich schloss die Haustür, setzte mich auf die Bank in der tristen kleinen Diele und dachte daran, wie Mimi gesagt hatte, dass sie traurig sein würde, wenn ich die Theateraufführung nicht übernähme. Und wenn ich nicht für mindestens ein Jahr als Englischlehrer in Vollzeit unterschreiben würde. Und wenn ich nicht zu ihrer Hochzeitsparty käme. Mimi, die fand, dass Der Fänger im Roggen in die Schulbibliothek gehöre, und die nichts gegen eine nette Bumsrunde am Samstagabend hatte. Sie hatte zu den Lehrkräften gehört, an die sich Jungen und Mädchen noch lange nach Schulabschluss erinnerten und die sie manchmal besuchten, wenn sie keine Jungen und Mädchen mehr waren. Eine von denen, die manchmal in einem kritischen Augenblick im Leben eines problembeladenen Schülers auftauchten und ihm einen entscheidenden Impuls gaben.

Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen, steht in den Sprüchen Salomos. Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gern mit ihren Händen. Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt.

Es gab mehr Kleidung als die, die man am Körper trug, das wusste jeder Lehrer, und Nahrung war nicht nur das, was man in den Mund steckte. Miz Mimi hatte viele ernährt und gekleidet. Auch mich. Ich saß mit gesenktem Kopf und dem Gesicht in den Händen auf meiner Bank, die ich in Fort Worth auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Ich dachte an sie und war sehr traurig, aber meine Augen blieben trocken.

Ich war nie das, was man eine Heulsuse nennen könnte.

8

Sadie erklärte sich sofort bereit, mir beim Organisieren der Gedenkversammlung zu helfen. Damit waren wir in den beiden letzten Wochen dieses heißen Augusts beschäftigt, in denen wir in der Stadt herumfuhren, um Redner zu finden. Ich gewann Mike Coslaw dafür, die Schilderung der tugendsamen Frau in Kapitel 31 der Sprüche Salomos vorzulesen, und Al Stevens erbot sich, die Geschichte zu erzählen – die ich nie von Mimi selbst gehört hatte –, wie sie den Prongburger, seine spécialité de la maison, benannt hatte. Wir sammelten auch über zweihundert Fotos. Mein Lieblingsbild zeigte Mimi und Deke, die auf einem Schulball Twist tanzten. Man sah ihr an, dass sie ihren Spaß hatte; er war steif wie jemand, der einen mittelgroßen Besenstiel verschluckt hatte. Die Fotos suchten wir in der Schulbibliothek aus, wo auf dem Namensschild jetzt MISS DUNHILL statt MIZ MIMI stand.

In dieser Zeit haben Sadie und ich uns nie geküsst, haben nie Händchen gehalten und nie mehr als flüchtige Blicke gewechselt. Sie sprach nicht über ihre gescheiterte Ehe oder die Gründe, aus denen sie aus Georgia nach Texas gekommen war. Ich sprach weder über meinen Roman noch erzählte ich aus meiner weitgehend erfundenen Vergangenheit. Wir sprachen über Bücher. Wir redeten über Kennedy, dessen Außenpolitik sie chauvinistisch fand. Wir diskutierten über die entstehende Bürgerrechtsbewegung. Ich erzählte ihr von dem Brett über den Bach am Ende des Pfades hinter der Humble-Oil-Tankstelle in North Carolina. Sie sagte, sie habe in Georgia ähnliche Toiletten für Farbige gesehen, aber sie glaube, dass deren Tage gezählt seien. Sie war sich sicher, dass die Schulintegration kommen werde, wenn auch vermutlich erst Mitte der Siebzigerjahre. Ich teilte ihr meine Überzeugung mit, dass der neue Präsident und sein jüngerer Bruder als Justizminister dafür sorgen würden, dass sie früher komme.

Sie schnaubte. »Du hältst offenbar mehr von diesem grinsenden Iren als ich. Sag mal, lässt er sich jemals die Haare schneiden?«

Wir wurden kein Liebespaar, aber wir wurden Freunde. Manchmal stolperte sie über Dinge (auch die eigenen Füße, die groß waren), und ich musste sie zweimal stützen, aber es gab kein denkwürdiges Auffangen mehr wie beim ersten Mal. Manchmal verkündete sie, dass sie jetzt einfach eine Zigarette brauche, und ich begleitete sie zum Raucherbereich für Schüler hinter der Metallwerkstatt hinaus.

»Ich werd’s bedauern, nicht mehr hier rauskommen und in alten Jeans auf dieser Bank hocken zu können«, sagte sie eines Tages. Das war weniger als eine Woche vor Schulbeginn. »Lehrerzimmer sind immer so verqualmt.«

»Das wird sich irgendwann alles ändern. Dann ist Rauchen auf dem Schulgelände verboten. Für Lehrer wie für Schüler.«

Sie lächelte. Ein schönes Lächeln, weil ihre Lippen kräftig und voll waren. Und Jeans standen ihr gut, muss ich sagen. Sie hatte lange, sehr lange Beine. Und sie füllte die Gesäßpartie hübsch aus. »Eine rauchfreie Gesellschaft … Negerkinder und weiße Kinder, die friedlich miteinander lernen … Kein Wunder, dass du einen Roman schreibst, du hast eine blühende Fantasie. Was siehst du noch in deiner Wahrsagekugel, George? Raketen, die zum Mond fliegen?«

»Klar, aber das dauert vielleicht noch etwas länger als die Integration. Wer hat dir erzählt, dass ich einen Roman schreibe?«

»Miz Mimi«, sagte sie und drückte ihre Zigarette in einem der fünf oder sechs mit Sand gefüllten Stehascher aus. »Sie hat gesagt, er wäre gut. Und weil wir eben bei Miz Mimi sind … Wir sollten weiterarbeiten, glaube ich. Mit den Fotos sind wir ja fast fertig, oder?«

»Ja.«

»Und du bist dir wirklich sicher, dass es nicht zu kitschig ist, zu den Dias diesen Song aus der West Side Story spielen?«

Ich hielt »Somewhere« für einen Ausbund an Kitsch, aber Ellen Dockerty hatte mir erklärt, dass es Mimis Lieblingslied gewesen sei.

Als ich Sadie das erzählte, lachte sie zweifelnd. »Ich habe sie nicht sehr gut gekannt, aber das sieht ihr wirklich nicht ähnlich. Vielleicht ist das Ellies Lieblingslied.«

»Wenn ich’s mir recht überlege, könnte das sogar hinhauen. Hör zu, Sadie, hast du Lust, am Freitag mit mir zum Footballspiel zu gehen? Um den Schülern schon vor Schulbeginn am Montag zu zeigen, dass du bereits hier bist.«

»Oh, sehr gern.« Sie hielt inne und wirkte etwas unbehaglich. »Solange du nicht, du weißt schon, auf irgendwelche Ideen kommst. Ich kann noch nicht wieder ausgehen. Vielleicht noch ziemlich lange nicht.«

»Geht mir genauso.« Sie dachte vermutlich an ihren Ex, während ich an Lee Harvey Oswald dachte. Bald würde er seinen amerikanischen Pass zurückerhalten. Dann ging es nur noch darum, ein sowjetisches Ausreisevisum für seine Frau zu ergattern. »Aber Freunde gehen eben manchmal miteinander zum Spiel.«

»Richtig, das tun sie. Und ich bin gern mit dir zusammen, George.«

»Weil ich größer bin.«

Sie boxte mich – wie eine große Schwester – spielerisch gegen den Oberarm. »Stimmt genau, Partner. Du bist der Typ Mann, zu dem ich aufsehen kann.«

9

Beim Spiel sah praktisch jeder zu uns auf – und das fast ehrfürchtig, so als verkörperten wir eine leicht unterschiedliche Menschenrasse. Ich fand das irgendwie nett, und Sadie musste sich ausnahmsweise nicht klein machen, um hineinzupassen. Sie trug einen Löwenrudel-Pulli und ihre ausgebleichten Jeans. Mit ihren zu einem Pferdeschwanz zusammengefassten Haaren sah sie selbst wie eine Schülerin aus der Oberstufe aus. Ein großes Mädchen, das vermutlich Center in der Basketballmannschaft der Schule spielte.

Wir saßen auf den Lehrerplätzen und jubelten, als Jim LaDue die Verteidigung der Arnette Bears mit einem halben Dutzend Kurzpässen aufriss und dann eine Sechzigyardbombe folgen ließ, die das Publikum von den Sitzen riss. Zur Halbzeit führte Denholm gegen Arnette mit 31 : 6 Punkten. Als die Spieler vom Platz rannten und die Schulkapelle Tuben und Posaunen schwenkend aufmarschierte, fragte ich Sadie, ob sie einen Hotdog und eine Cola wolle.

»Und wie! Aber jetzt reicht die Schlange bestimmt schon bis zum Parkplatz hinaus. Warten wir lieber eine Auszeit im dritten Viertel oder so ab. Wir müssen noch wie die Löwen brüllen und den Jim-Schrei loslassen.«

»Ich glaube, das schaffst du beides allein.«

Sie fasste mich lächelnd am Arm. »Nein, du musst mir dabei helfen. Ich bin hier neu, schon vergessen?«

Bei ihrer Berührung empfand ich einen warmen kleinen Schauder, den ich nicht mit Freundschaft in Verbindung brachte. Kein Wunder: Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten; im Scheinwerferlicht unter dem grünlich blauen Himmel einer texanischen Abenddämmerung war sie weit mehr als nur hübsch. Die Dinge zwischen uns hätten rascher fortschreiten können, als sie es taten – wäre das Erlebnis in der Halbzeitpause nicht gewesen.

Die Kapelle marschierte um den Platz, wie es Schülerkapellen eben taten: im Gleichschritt, aber nicht ganz im Takt, und ein Potpourri schmetternd, das man nicht recht identifizieren konnte. Als der letzte Ton verklungen war, liefen die Cheerleader zur Fünfzigyardlinie, legten ihre Pompons vor den Füßen ab und stemmten die Arme in die Hüften. »Gebt uns ein L!«

Das taten wir, und als sie weitere Buchstaben forderten, waren wir ihnen mit einem I, einem O, einem N und einem S gefällig.

»Was ergibt das?«

»LIONS!« Auf der Heimtribüne waren alle aufgesprungen und klatschten.

»Wer gewinnt heute?«

»LIONS!« Beim heutigen Halbzeitstand stand das einigermaßen außer Zweifel.

»Dann wollen wir euch brüllen hören!«

Wir brüllten alle, wie es der Brauch erforderte, indem wir uns erst nach links und dann nach rechts wandten. Sadie gab sich ordentlich Mühe, legte die Hände an den Mund und ließ ihren Pferdeschwanz von einer Schulter zur anderen fliegen.

Als Nächstes kam der Jim-Cheer. In den vergangenen drei Jahren – ja, unser Mr. LaDue hatte schon von Anfang an als Quarterback gespielt – war das eine ziemlich einfache Sache gewesen. Die Cheerleader riefen etwas wie: Let us hear your Lion Pride! Name the man who leads our side! Und das heimische Publikum skandierte JIM! JIM! JIM!. Danach schlugen die Cheerleader auf dem Rasen noch ein paar Räder, bevor sie vom Feld liefen, damit die Kapelle der Gäste aufmarschieren und ebenfalls ein, zwei Stücke spielen konnte. Aber dieses Jahr, vielleicht weil es Jims Abschiedssaison war, war der bisherige Ruf abgeändert worden.

Immer wenn die Menge JIM brüllte, antworteten die Cheerleader mit der ersten Silbe seines Nachnamens, die sie fast neckisch in die Länge zogen. Das war neu, aber es war nicht schwierig, und das Publikum hatte es sofort drauf. Sadie war mit bei den Besten, bis sie merkte, dass ich nicht in den Chor einstimmte. Ich stand nur mit offenem Mund da.

»George? Alles in Ordnung mit dir?«

Ich konnte nicht antworten. Eigentlich hörte ich sie kaum. Weil der größte Teil von mir wieder in Lisbon Falls weilte. Ich war gerade aus dem Kaninchenbau gekommen. Ich war gerade den Trockenschuppen entlanggegangen und unter der Absperrkette hindurchgeschlüpft. Ich war darauf vorbereitet, dem Gelbe-Karte-Mann zu begegnen, aber nicht darauf gefasst, dass er mich angreifen würde. Was er aber tat. Nur war er nicht mehr der Gelbe-Karte-Mann, sondern der Orange-Karte-Mann. Du gehörst nicht hierher, hatte er gesagt. Wer bist du? Was machst du hier? Und als ich ihn gerade fragen wollte, ob er es wegen seines Alkoholproblems schon bei den Anonymen Alkoholikern versucht habe, hatte er gesagt …

»George?« Das klang jetzt sorgenvoll betroffen. »Was ist mit dir? Was hast du?«

Die Fans fuhren total auf diese Ruf-und-Gegenruf-Sache ab. Die Cheerleader kreischten JIM, und die Menge auf der Tribüne antwortete mit LA.

Verpiss dich, Jimla! So hatte der Gelbe-Karte-Mann, der zum Orange-Karte-Mann geworden war (allerdings noch nicht zum Schwarze-Karte-Mann, der durch eigene Hand starb), mich angeknurrt, und das hörte ich jetzt, als würde zwischen den Cheerleadern und den zweieinhalbtausend Fans auf den Rängen ein Medizinball hin und her geworfen:

»JIMLA! JIMLA! JIMLA!«

Sadie packte mich am Arm und schüttelte mich. »Red mit mir, Mister. Red mit mir, sonst bekomme ich es mit der Angst zu tun!«

Ich wandte mich ihr zu und rang mir ein Lächeln ab. Es fiel mir nicht gerade leicht, ehrlich. »Ich bin nur unterzuckert, glaube ich. Ich hole uns jetzt zwei Cokes.«

»Aber du kippst mir nicht um, oder? Ich kann dich zur Erste-Hilfe-Station begleiten, wenn du …«

»Mir geht’s gut«, beteuerte ich, und dann küsste ich sie, ohne viel zu überlegen, auf die Nasenspitze. Irgendein Schüler rief: »Weiter so, Mr. A.!«

Statt irritiert zu reagieren, machte sie eine krause Nase wie ein Kaninchen und lächelte. »Dann geh endlich. Bevor du meinen Ruf ruinierst. Und bring mir eine Chiliwurst mit. Mit reichlich Käse.«

»Yes, Ma’am.«

Die Vergangenheit harmonierte mit sich selbst, das hatte ich bereits gewusst. Aber was für ein Song war das jetzt? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, und das bereitete mir große Sorgen. Auf dem betonierten Weg, der zum Erfrischungsstand führte, klangen die Rufe noch lauter, sodass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um sie auszublenden.

»JIMLA, JIMLA, JIMLA.«

Загрузка...