Teil 5 22. NOVEMBER 1963

Kapitel 23

1

Aus der Dallas Morning News, 11. April 1963 (Seite 1):

ATTENTÄTER SCHIESST AUF WALKER


von Eddie Hughes

Ein Schütze mit einem Hochleistungsgewehr hat am Mittwochabend versucht, Generalmajor a. D. Edwin A. Walker in seinem Haus zu erschießen. Wie die Polizei berichtet, verfehlte er den umstrittenen Propagandisten um kaum einen Fingerbreit.

Walker war gegen 21 Uhr damit beschäftigt, seine Steuererklärung zu machen, als ein Geschoss ein rückwärtiges Fenster durchschlug und sich in die Wand neben ihm bohrte.

Nach Ansicht der Polizei hat eine kleine Bewegung Walkers ihm vermutlich das Leben gerettet.

»Irgendjemand hatte ihn genau im Fadenkreuz«, erklärte Detective Ira Van Cleave. »Der Unbekannte wollte ihn eindeutig erschießen.«

Walker zog mehrere Geschosssplitter aus dem rechten Ärmel und war noch dabei, Glas- und Metallsplitter aus seinen Haaren zu schütteln, als die Reporter bei ihm eintrafen.

Walker sagte, er sei am Montag von der ersten Etappe einer als »Operation Midnight Ride« bezeichneten Vortragsreise nach Dallas zurückgekehrt. Weiter erklärte er den Reportern, er …

Aus der Dallas Morning News, 12. April 1963 (Seite 7):

GEISTESGESTÖRTER VERLETZT EXFRAU MIT MESSER UND VERÜBT SELBSTMORD


von Mack Dugas

(JODIE) Der 77-jährige Deacon »Deke« Simmons kam am Mittwochabend zu spät, um zu verhindern, dass Sadie Dunhill verletzt wurde, aber für die 28-jährige Dunhill, eine beliebte Bibliothekarin im Denholm Consolidated School District, hätte alles noch viel schlimmer ausgehen können.

Wachtmeister Douglas Reems aus Jodie erklärte dazu: »Wäre Deke nicht rechtzeitig gekommen, wäre Miss Dunhill bestimmt ermordet worden.« Fragen von Reportern wehrte Simmons mit den Worten ab: »Ich will nicht darüber reden, es ist vorbei.«

Wie Wachtmeister Reems berichtete, hat Simmons den viel jüngeren John Clayton überwältigt und ihm einen kleinen Revolver abgenommen. Daraufhin zog Clayton das Messer, mit dem er seine Frau verletzt hatte, und schnitt sich selbst die Kehle durch. Simmons und ein zweiter Mann, George Amberson aus Dallas, bemühten sich vergeblich, Clayton zu retten. Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.

Mr. Amberson, ehemals Lehrer im Denholm Consolidated School District, der kurz nach Claytons Selbstmord eintraf, stand Reportern nicht selbst zur Verfügung; er hatte Wachtmeister Reems jedoch am Tatort mitgeteilt, der geisteskranke Clayton habe seiner Exfrau offenbar schon monatelang nachgestellt. Das Personal der Denholm Consolidated High School war gewarnt gewesen, und Direktorin Ellen Dockerty hatte sich ein Foto von Clayton beschafft, aber der Täter hatte sein Aussehen stark verändert.

Miss Dunhill wurde mit einem Krankenwagen ins Parkland Memorial Hospital in Dallas gebracht, wo die Ärzte ihren Zustand als stabil bezeichnen.

2

Ich durfte sie erst am Samstag besuchen. Die Zeit bis dahin verbrachte ich hauptsächlich im Wartezimmer – mit einem Buch, das ich einfach nicht lesen konnte. Aber das war in Ordnung, denn ich hatte reichlich Gesellschaft: Die meisten DCHS-Lehrer kamen ebenso vorbei, um sich nach Sadies Zustand zu erkundigen, wie fast hundert Schüler, wobei die ohne Führerschein von ihren Eltern nach Dallas gebracht wurden. Einige spendeten sogar Blut, um die Mengen zu ersetzen, die Sadie verloren hatte. Meine Aktentasche quoll bald über von gedruckten und handschriftlichen Genesungswünschen. Die vielen abgegebenen Blumen ließen das Stationszimmer wie ein Treibhaus aussehen.

Obwohl ich glaubte, das Leben in der Vergangenheit gewohnt zu sein, was überwiegend zutraf, schockierte mich Sadies Zimmer im Parkland, als ich endlich zu ihr vorgelassen wurde. Es war ein überheiztes Einzelzimmer, kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Eine Toilette gab es nicht; in einer Ecke stand ein hässliches Klosett, auf dem nur ein Zwerg hätte bequem sitzen können, mit einem halb durchsichtigen Plastikvorhang davor, den man zuziehen konnte (für eine halbe Privatsphäre). Statt elektrischer Verstellung des Kopfteils durch Tasten gab es eine Handkurbel, deren weißer Lack von zahllosen Händen abgewetzt war. Natürlich standen dort keine Monitore, auf denen von Computern generierte Lebensfunktionen dargestellt waren, und auch kein Patientenfernseher.

An einem verchromten Ständer hing eine einzelne Glasflasche, die wahrscheinlich Kochsalzlösung enthielt. Von ihr führte ein dünner Schlauch zu Sadies linkem Handrücken, auf dem er unter einem dicken Pflaster verschwand.

Noch viel dicker war jedoch der Verband, der ihre linke Gesichtshälfte bedeckte. Auf dieser Seite war ein Büschel Haare abgeschnitten worden, was dem Gesicht einen schiefen, übel zugerichteten Ausdruck verlieh … und sie war natürlich übel zugerichtet worden. Die Ärzte hatten nur einen winzigen Schlitz für ihr Auge frei gelassen. Als sie meine Schritte hörte, öffneten sich dieses und das rechte Auge mit flatternden Lidern, und obwohl Sadie von Schmerzmitteln benommen war, flackerte in ihrem Blick kurzzeitig ein Entsetzen auf, das mir ans Herz griff.

Dann drehte sie ihr Gesicht matt zur Wand.

»Sadie … ich bin’s, Schatz.«

»Hi, ich«, sagte sie, ohne sich mir zuzuwenden.

Als ich ihre nicht von dem Nachthemd bedeckte Schulter berührte, wich sie zurück. »Sieh mich bitte nicht an.«

»Sadie, dein Aussehen ist unwichtig.«

Sie wandte sich mir wieder zu. Traurige, von Morphium trübe Augen, von denen eines aus einem von Verbandmull umgebenen Guckloch spähte, betrachteten mich. Durch den Verband sickerte ein hässlicher, gelbroter Fleck. Blut und irgendeine Salbe, wie ich vermutete.

»Es ist wichtig«, sagte sie. »Das hier ist etwas anderes als Bobbi Jills Verletzung.« Sie versuchte zu lächeln. »Du weißt, wie ein Baseball aussieht, all die roten Stiche? So sieht Sadie jetzt aus. Sie verlaufen nach oben und unten und rings herum.«

»Sie verblassen wieder.«

»Du hast ja keine Ahnung. Er hat meine Wange bis in den Mund durchschnitten.«

»Aber du lebst. Und ich liebe dich.«

»Das wirst du nicht mehr tun, wenn ich keinen Verband mehr trage«, sagte sie mit ihrer matten, hörbar betäubten Stimme. »Im Vergleich zu mir sieht Frankensteins Braut wie Liz Taylor aus.«

Ich ergriff ihre Hand. »Ich habe mal etwas gelesen …«

»Ich glaube nicht, dass ich einer literarischen Diskussion gewachsen bin, Jake.«

Sie wollte sich wieder wegdrehen, aber ich hielt ihre Hand fest. »Es war ein japanisches Sprichwort. ›Wenn man liebt, sind Pockennarben so hübsch wie Grübchen.‹ Ich werde dein Gesicht lieben, ganz gleich wie es aussieht. Weil es deines ist.«

Sie begann zu weinen, und ich hielt sie umarmt, bis sie sich beruhigte. Ich dachte sogar, sie wäre eingeschlafen, als sie plötzlich sagte: »Ich weiß, dass alles meine Schuld ist, ich hab ihn geheiratet, aber …«

»Es ist nicht deine Schuld, Sadie, das konntest du doch nicht ahnen.«

»Ich hab gewusst, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt. Und ich hab ihn trotzdem geheiratet. Vor allem weil meine Eltern es unbedingt wollten. Sie haben mich noch nicht besucht, und ich bin froh darüber. Weil ich auch ihnen die Schuld gebe. Das ist schrecklich, oder?«

»Wenn du schon dabei bist, Schuld zu verteilen, kannst du auch eine Portion für mich aufheben. Ich habe den gottverdammten Plymouth, den er gefahren hat, mindestens zweimal direkt vor mir gesehen und ein paarmal aus den Augenwinkeln.«

»In diesem Punkt brauchst du dich nicht schuldig zu fühlen. Von dem Detective der State Police und dem Texas Ranger, die mich befragt haben, weiß ich, dass Johnny den ganzen Kofferraum voll Nummernschilder hatte. Er muss sie in Autohöfen geklaut haben, haben sie gesagt. Und er hatte jede Menge Aufkleber, wie heißen die gleich wieder …«

»Sticker«, sagte ich und dachte an den einen, der mich auf dem Parkplatz der Candlewood Bungalows getäuscht hatte. GO, SOONERS! Ich hatte den Fehler gemacht, den wiederholt auftauchenden weiß-roten Plymouth nur als eine weitere harmonische Schwingung der Vergangenheit abzutun. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich hätte es auch besser gewusst, wenn ich nicht in Gedanken bei Lee Oswald und General Walker in Dallas gewesen wäre. Und wenn es Schuld zu verteilen gab, musste auch Deke seinen Teil abbekommen. Schließlich hatte er den Mann gesehen und seine auffällig tief eingesunkenen Schläfen bemerkt.

Lass es gut sein, dachte ich. Es ist passiert. Das kann man nicht mehr rückgängig machen.

In Wahrheit konnte man das sehr wohl.

»Jake, weiß die Polizei, dass du … nicht ganz der bist, als der du dich ausgibst?«

Ich strich ihr die Haare, die rechts noch lang waren, aus dem Gesicht. »Da ist nichts zu befürchten.«

Deke und ich waren von denselben Polizeibeamten vernommen worden, die Sadie befragt hatten, bevor man sie in den OP gerollt hatte. Der Detective von der State Police hatte einen halbherzigen Tadel an Männern geäußert, die im Fernsehen zu viele Westernfilme gesehen hätten. Der Ranger hatte ihm zugestimmt, uns dann aber die Hand geschüttelt und gesagt: »An Ihrer Stelle hätte ich genauso gehandelt.«

»Deke hat mich so gut wie möglich aus allem rausgehalten. Er will sicherstellen, dass der Schulausschuss keine kalten Füße bekommt, wenn es darum geht, deinen Vertrag zu verlängern. Mir kommt es unglaublich vor, dass das Opfer der Messerattacke eines Geisteskranken als moralisch zweifelhaft entlassen werden könnte, aber Deke scheint es für besser zu halten, gleich …«

»Ich kann nicht zurückgehen. Wie ich jetzt aussehe, kann ich den Schülern nicht gegenübertreten.«

»Sadie, wenn du wüsstest, wie viele von denen hier gewesen sind, um …«

»Das war lieb von ihnen, es bedeutet mir viel, aber sie sind genau diejenigen, vor die ich nicht treten könnte. Verstehst du das nicht? Mit den anderen, die lachen und Witze reißen, würde ich fertig, glaube ich. In Georgia hatte ich eine Kollegin mit einer Hasenscharte. Von ihr habe ich viel über den Umgang mit der Grausamkeit von Jugendlichen gelernt. Aber die anderen – die Wohlmeinenden – würden mir den Rest geben. Ihre mitleidigen Blicke … und die anderen, die mich gar nicht ansehen könnten.« Sie holte erschaudernd tief Luft, dann brach es aus ihr heraus: »Außerdem schäme ich mich. Ich weiß, dass das Leben hart ist, das weiß im Innersten wohl jeder, aber warum muss es noch dazu grausam sein? Warum muss es zubeißen?«

Ich nahm sie in die Arme. Die unverletzte Hälfte ihres Gesichts war heiß und schien zu pochen. »Das weiß ich nicht, Schatz.«

»Wieso bekommt man keine zweite Chance?«

Ich hielt sie in den Armen. Als ihre Atmung regelmäßig wurde, ließ ich sie zurücksinken und stand leise auf, um zu gehen. Ohne die Augen zu öffnen, sagte sie: »Du hast mir erzählt, du würdest am Mittwochabend etwas beobachten müssen. Ich glaube nicht, dass das Johnny Clayton war, der sich selbst die Kehle durchschneidet, stimmt’s?«

»Ja.«

»Hast du es verpasst?«

Ich überlegte, ob ich lügen sollte, tat es aber nicht. »Ja.«

Jetzt öffnete sie die Augen, aber das war mühsam, und sie würden nicht lange offen bleiben. »Bekommst du eine zweite Chance?«

»Weiß ich nicht. Ist auch unwichtig.«

Das entsprach nicht der Wahrheit. Denn es würde für John Kennedys Frau und seine Kinder wichtig sein; es würde für seine Brüder wichtig sein … vielleicht auch für Martin Luther King und ganz bestimmt für Zehntausende von jungen Amerikanern, die jetzt in der Highschool waren und später aufgefordert werden würden – wenn nichts den Lauf der Geschichte änderte –, sich eine Uniform anzuziehen, nach Südostasien zu fliegen und dort einen verlustreichen Krieg zu führen, der nicht zu gewinnen war.

Sadie schloss die Augen. Ich verließ das Zimmer.

3

Als ich aus dem Aufzug trat, sah ich in der Eingangshalle keine DCHS-Schüler, aber zwei Ehemalige: Mike Coslaw und Bobbi Jill Allnut saßen auf den harten Plastikstühlen, die Zeitschriften auf ihren Knien hatten sie nicht aufgeschlagen. Mike sprang auf und schüttelte mir die Hand. Bobbi Jill begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie. »Ich meine …« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ihre verblassende Narbe. »Lässt es sich operieren?«

»Das weiß ich nicht.«

»Haben Sie schon mit Dr. Ellerton gesprochen?«, fragte Mike. Ellerton, für viele der beste Chirurg für kosmetische Operationen in Mitteltexas, war der Arzt, der an Bobbi Jill Wunder gewirkt hatte.

»Er ist heute Nachmittag hier, auf Visite. Deke, Miz Ellie und ich haben …« Ich sah auf meine Uhr. »… in zwanzig Minuten einen Termin bei ihm. Möchtet ihr beiden mit dazukommen?«

»Bitte«, sagte Bobbi Jill. »Ich weiß einfach, dass er sie wieder hinkriegt. Er ist ein Genie.«

»Okay, dann kommt mit. Mal sehen, wozu das Genie imstande ist.«

Mike musste meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er drückte meinen Arm und sagte: »Vielleicht ist es weniger schlimm, als Sie denken, Mr. A.«

4

Es war schlimmer.

Ellerton reichte Fotos herum – kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder, die mich an Weegee und Diane Arbus erinnerten. Bobbi Jill holte erschrocken tief Luft und wandte sich ab. Deke ächzte leise, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. Miz Ellie sah sie mit stoischer Miene durch, aber ihr Gesicht war bis auf zwei grelle Rougeflecken auf ihren Backenknochen kreidebleich.

Auf den beiden ersten Fotos hing Sadies Wange in ausgefransten Lappen herab. Das hatte ich am Mittwochabend gesehen; darauf war ich vorbereitet. Nicht gefasst war ich jedoch auf den wie bei einem Schlaganfallopfer herabhängenden linken Mundwinkel und das stark hängende untere Augenlid. Beides zusammen erzeugte einen clownesken Ausdruck, der mich so hilflos wütend machte, dass ich am liebsten mit der Stirn auf den Tisch des kleinen Konferenzraums geschlagen hätte. Oder – das wäre besser gewesen – noch lieber wäre ich in den Leichenkeller hinuntergestürmt, in dem Johnny Clayton lag, und hätte weiter auf ihn eingeprügelt.

»Wenn die Eltern dieser jungen Frau heute Abend kommen«, sagte Ellerton, »werde ich taktvoll sein und mich zuversichtlich geben, weil Eltern Takt und Zuversicht verdienen.« Er runzelte die Stirn. »Man hätte sie allerdings früher erwartet, wenn man bedenkt, wie ernst Mrs. Clay…«

»Miss Dunhill«, sagte Ellie ruhig, aber sehr nachdrücklich. »Sie hat sich von diesem Ungeheuer scheiden lassen.«

»Ja, gewiss, entschuldigen Sie. Jedenfalls sind Sie ihre Freunde, und ich glaube, dass Sie weniger Taktgefühl als vielmehr die Wahrheit verdient haben.« Er betrachtete eines der Fotos leidenschaftslos und tippte mit einem kurz geschnittenen Fingernagel auf Sadies zerschnittene Wange. »Das lässt sich verbessern, aber nie ganz ungeschehen machen. Nicht mit der heutigen Operationstechnik. In ungefähr einem Jahr, wenn die Verletzung ganz ausgeheilt ist, müsste ich die größte Asymmetrie beseitigen können.«

Bobbi Jill liefen jetzt Tränen über die Wangen. Sie tastete nach Mikes Hand.

»Dass sie dauerhaft entstellt bleiben wird, ist schlimm genug, aber es gibt noch weitere Probleme«, sagte Ellerton. »Der Gesichtsnerv ist durchtrennt worden. Sie wird Schwierigkeiten haben, links zu kauen. Das hängende Unterlid, das Sie auf den Fotos sehen, wird sie ihr Leben lang behalten, und auch der Tränenkanal ist teilweise durchtrennt. Trotzdem dürfte ihr Sehvermögen unbeeinträchtigt bleiben. Das hoffen wir jedenfalls.«

Er breitete seufzend die Hände aus.

»Mit der Aussicht auf wundervolle Neuerungen wie Mikrochirurgie und Nervenregeneration werden wir in zwanzig oder dreißig Jahren in solchen Fällen mehr erreichen können. Im Augenblick kann ich nur sagen, dass ich mein Bestes tun werde, um alle reparablen Schäden zu beheben.«

Mike sagte zum ersten Mal etwas. Er klang verbittert. »Zu dumm, dass wir nicht im Jahr 1990 leben, was?«

5

Es war eine schweigsame, bedrückte kleine Gruppe, die an jenem Nachmittag das Krankenhaus verließ. Bevor wir den Parkplatz erreichten, berührte Miz Ellie mich am Ärmel. »Ich hätte auf Sie hören sollen, George. Es tut mir so schrecklich, schrecklich leid.«

»Ich weiß nicht, ob das etwas ausgemacht hätte, aber wenn Sie etwas wiedergutmachen wollen, bitten Sie Freddy Quinlan, mich mal anzurufen«, sagte ich. »Er ist der Immobilienmakler, der mir behilflich war, als ich damals nach Jodie gekommen bin. Ich möchte in diesem Sommer in Sadies Nähe sein, und das bedeutet, dass ich irgendetwas mieten muss.«

»Du kannst bei mir wohnen«, sagte Deke. »Ich habe reichlich Platz.«

Ich wandte mich ihm zu. »Ist das dein Ernst?«

»Du tätest mir sogar einen Gefallen.«

»Ich zahle gern eine …«

Deke winkte ab. »Du kannst deinen Anteil am Essen zahlen. Das reicht völlig.«

Ellie und er waren mit seinem Ranch Wagon gekommen. Ich beobachtete, wie sie wegfuhren, dann schlurfte ich zu meinem Chevrolet, der mir jetzt – was vermutlich nicht fair war – als Unglücksbringer erschien. Niemals hatte ich weniger in die West Neely Street zurückfahren wollen, in der ich bestimmt hören würde, wie Lee seine Frustration darüber, dass er General Walker verfehlt hatte, an Marina auslassen würde.

»Mr. A.?« Es war Mike. Bobbi Jill stand mit verschränkten Armen einige Schritte hinter ihm. Sie wirkte unglücklich und schien zu frieren.

»Ja, Mike?«

»Wer zahlt Miss Dunhills Krankenhausrechnungen? Und alle diese Operationen, von denen er gesprochen hat? Ist sie denn versichert?«

»Ich glaube schon.« Aber sicher nicht ausreichend, nicht für mehrfache Operationen. Ich dachte an ihre Eltern, aber die Tatsache, dass sie noch nicht aufgekreuzt waren, war beunruhigend. Sie konnten doch unmöglich ihr vorwerfen, was Clayton getan hatte … oder etwa doch? Für mich war das unvorstellbar, aber ich kam aus einer Welt, in der ein Schwarzer US-Präsident war und Frauen, jedenfalls größtenteils, als gleichberechtigt behandelt wurden. 1963 war mir nie fremdartiger erschienen als in diesem Augenblick.

»Ich helfe ihr, so gut ich kann«, sagte ich. Aber wie wirkungsvoll würde diese Hilfe sein? Von meinen Geldreserven konnte ich noch ein paar Monate leben, aber sie würden niemals für ein halbes Dutzend plastischer Gesichtsoperationen ausreichen. Ich wollte nicht wieder in das Wettbüro Faith Financial in der Greenville Avenue gehen, aber ich würde es wohl tun, wenn es sein musste. Das Kentucky Derby würde in weniger als einem Monat stattfinden, und wenn Als Aufzeichnungen zutrafen, würde der Außenseiter Chateaugay siegen. Ein Tausender auf Sieg würde sieben bis acht Mille bringen, die für Sadies Krankenhausaufenthalt und – bei den Preisen von 1963 – für einige der nachfolgenden Operationen ausreichen würden.

»Ich hab eine Idee«, sagte Mike und sah sich dann um. Bobbi Jill lächelte ihm aufmunternd zu. »Das heißt, ich und Bobbi haben eine.«

»Bobbi und ich, Mike. Du bist kein Teenie mehr, also red nicht wie einer.«

»Klar, klar, sorry. Wenn Sie ein paar Minuten mit uns in die Cafeteria gehen, setzen wir sie Ihnen auseinander.«

Ich ging mit. Wir tranken Kaffee. Ich hörte mir ihre Idee an. Und erklärte mich damit einverstanden. Wann immer die Vergangenheit für Harmonie sorgte, räusperte sich der Weise und sang mit.

6

An diesem Abend kam es in der Wohnung über mir zu einem Riesenkrach. Sogar die kleine June beteiligte sich daran, indem sie wie am Spieß brüllte. Ich machte mir nicht die Mühe, die Oswalds zu belauschen; sie würden sich ohnehin hauptsächlich auf russisch anschreien. Gegen acht herrschte dann ungewohnte Stille. Ich vermutete, dass sie zwei Stunden früher als gewöhnlich ins Bett gegangen waren, was ich als Erleichterung empfand.

Als ich gerade überlegte, ob auch ich ins Bett gehen sollte, hielt der Straßenkreuzer der de Mohrenschildts vor dem Haus. Jeanne glitt aus dem Cadillac; George sprang geradezu mit charakteristischem Schachtelteufelelan aus dem Wagen. Er öffnete die linke hintere Tür und holte einen riesigen Spielzeughasen mit unmöglich purpurrotem Fell heraus. Ich glotzte das Plüschtier sekundenlang durch meinen Vorhangspalt an, bis ich den Anlass für dieses Geschenk begriff. Morgen war Ostersonntag.

Sie machten sich auf den Weg zu der Außentreppe. Jeanne ging im normalen Tempo, während George ihr voraushüpfte. Sein Getrampel auf der wackeligen Treppe ließ das ganze Haus erzittern.

Über mir hörte ich erschrockene Stimmen: gedämpft, aber eindeutig ratlos. Schritte hasteten über meine Decke und ließen die Deckenlampe im Wohnzimmer klirren. Fürchteten die Oswalds, dass die Dallas Police gekommen war, um eine Verhaftung vorzunehmen? Oder vielleicht einer der FBI-Agenten, die Lee in ihrer Zeit in der Mercedes Street überwacht hatten? Ich hoffte, dass dem kleinen Dreckskerl das Herz bis zum Hals schlug, als müsste er daran ersticken.

Dann klopfte jemand energisch an die obere Wohnungstür, und de Mohrenschildt rief jovial: »Aufmachen, Lee! Mach auf, du alter Heide!«

Die Tür wurde geöffnet. Ich setzte meinen Kopfhörer auf, hörte aber nichts. Als ich eben das Richtmikrofon in der Tupperware-Schale holen wollte, knipste Lee oder Marina die verwanzte Lampe an. Die Wanze funktionierte wieder – zumindest vorläufig.

»… für das Baby«, sagte Jeanne gerade.

»Oh, danke!«, rief Marina aus. »Danke sehr viel, Jeanne, so freundlich!«

»Steh nicht bloß da, Genosse, hol uns was zu trinken!«, verlangte de Mohrenschildt. Er klang, als hätte er schon etwas intus.

»Ich habe nur Tee«, sagte Lee verdrießlich. Er schien noch halb zu schlafen.

»Tee ist in Ordnung. Ich habe hier was in der Tasche, was ihm auf die Beine helfen wird.« Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er dabei zwinkerte.

Marina und Jeanne verfielen ins Russische. Lee und de Mohrenschildt – ihre schwereren Schritte waren unverkennbar – entfernten sich in Richtung Küche, in der ich sie nicht mehr würde belauschen können. Die Frauen standen neben der Lampe; ihre Stimmen würden übertönen, was die Männer redeten.

Dann sagte Jeanne auf englisch: »Du meine Güte, ist das ein Gewehr?«

Danach schien alles stillzustehen – scheinbar auch mein Herz.

Marina lachte. Es war ein perlendes, kleines CocktailpartyLachen, hahaha, total künstlich. »Er verlieren Job, wir haben keine Geld, und diese verrückte Mensch kaufen Gewehr. Ich sagen: ›Stell in Schrank, verrückte Kerl, damit es nicht schadet meine Schwangerschaft.‹«

»Ich wollte ein bisschen Zielschießen üben, das ist alles«, sagte Lee. »Bei den Marines war ich ziemlich gut. Hab nie eine Fahrkarte geschossen.«

Erneutes Schweigen. Es schien endlos lange anzuhalten. Dann dröhnte de Mohrenschildts kumpelhaftes Lachen durch den Raum. »Komm, versuch nicht, einen Bescheißer zu bescheißen! Wieso hast du ihn verfehlt, Lee?«

»Ich weiß nicht, wovon zum Teufel du redest.«

»General Walker, mein Junge! Irgendjemand hätte sein Negerhasserhirn beinahe über die Wand des Büros in seinem Haus am Turtle Creek Boulevard verteilt. Willst du behaupten, davon nichts zu wissen?«

»Ich hab in letzter Zeit keine Zeitung mehr gelesen.«

»Ach«, sagte Jeanne. »Sehe ich nicht den Times Herald auf dem Hocker da liegen?«

»Ich lese keine Nachrichten, mein ich. Zu deprimierend. Nur die Witzseiten und die Stellenangebote. Der Große Bruder sagt, dass ich einen Job finden muss, sonst verhungert das Baby.«

»Du warst also nicht der, der diesen Schuss aus dem Hinterhalt abgegeben hat, was?«, sagte de Mohrenschildt.

Er zog Lee auf. Köderte ihn.

Die Frage war, weshalb. Weil de Mohrenschildt sich in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte, dass eine Niete wie Ozzie Rabbit tatsächlich der Schütze von Mittwochabend gewesen war … oder weil er sich wünschte, dass Lee der Attentäter war? Ich hätte viel dafür gegeben, wenn die Frauen nicht da gewesen wären. Hätte ich ein Gespräch unter Männern, das Lee und sein spezieller Amigo führten, belauschen können, wären meine Fragen vielleicht beantwortet worden. Aber so hatte ich weiterhin keine Gewissheit.

»Glaubst du, ich wär so verrückt, auf jemand zu schießen, während J. Edgar Hoover mir über die Schulter sieht?« Lee schien bemüht zu sein, sich de Mohrenschildts Gemüt anzupassen, Scherzbold zu sein statt Langweiler, aber das gelang ihm nicht sehr gut.

»Niemand glaubt, dass du auf irgendwen geschossen hast, Lee«, sagte Jeanne besänftigend. »Du musst mir nur versprechen, einen besseren Platz für das Gewehr zu finden, wenn die Kleine laufen lernt.«

Darauf antwortete Marina auf russisch, aber ich hatte June in letzter Zeit mehrmals im Garten gesehen und konnte mir deshalb denken, was ihre Mutter sagte: Die Kleine könne bereits laufen.

»June wird sich über den Hasen freuen, aber wir feiern Ostern nicht«, sagte Lee. »Wir sind Atheisten.«

Er mochte einer sein, aber in Als Aufzeichnungen stand, dass Marina mithilfe ihres Verehrers George Bouhe June hatte heimlich taufen lassen, ungefähr zur Zeit der Raketenkrise.

»Das sind wir auch«, sagte de Mohrenschildt. »Daher feiern wir den Osterhasen!« Er war näher an die Lampe herangetreten, und sein dröhnendes Lachen ließ mich halb ertauben.

Sie unterhielten sich noch zehn Minuten lang in einer Mischung aus englisch und russisch. Dann sagte Jeanne: »Wir lassen euch jetzt in Ruhe. Ich fürchte, wir haben euch aus dem Bett geholt.«

»Nein, nein, wir waren noch auf«, sagte Lee. »Danke fürs Vorbeikommen.«

George sagte: »Wir reden bald mal miteinander, Lee, ja? Du kannst in den Country Club kommen. Wir organisieren die Kellner zu einem Kollektiv!«

»Klar, klar.« Sie bewegten sich jetzt in Richtung Wohnungstür.

De Mohrenschildt sagte noch etwas, aber er sprach so leise, dass ich nur ein paar Wörter mitbekam. Ann … as … zurück, das war alles, was ich mitbekam.

Wann hast du’s zurückgeholt? Hatte er das gefragt? Wie in Wann hast du dir das Gewehr zurückgeholt?

Ich spielte die Aufzeichnung noch ein halbes Dutzend Mal ab, aber die superlangsame Aufnahme war einfach nicht deutlich genug. Ich lag noch lange wach, als die Oswalds längst schliefen; ich war immer noch wach, als June um zwei Uhr morgens kurz quengelte und dann, von ihrer Mutter beruhigt, weiterschlief. Ich dachte an Sadie, die im Parkland Memorial in unruhigem Morphiumschlaf lag. Ihr Zimmer war hässlich, und ihr Bett war schmal, aber ich hätte dort schlafen können, davon war ich überzeugt.

Ich dachte über de Mohrenschildt nach, diesen verrückten Schauspieler, der sich dramatisch das Hemd aufgerissen hatte. Was hast du zu ihm gesagt, George? Was hast du zuletzt gesagt? Wann hast du’s zurückgeholt? Oder: Mann, wir lassen uns dadurch nicht zurückwerfen? Oder: Los, Mann, lass uns auf den alten Plan zurückgreifen? Oder etwas völlig anderes?

Schließlich schlief ich doch ein. Ich träumte davon, mit Sadie über einen Rummelplatz zu gehen. Wir kamen zu einer Schießbude, an der Lee mit seinem in die Schulter eingezogenen Gewehr stand. Der Kerl hinter der Theke war George de Mohrenschildt. Lee schoss dreimal, aber immer daneben.

»Sorry, mein Sohn«, sagte de Mohrenschildt. »Für Kerle, die nur Fahrkarten schießen, gibt’s keine Preise.«

Dann wandte er sich mir zu und grinste.

»Tritt vor, mein Sohn, vielleicht hast du ja mehr Glück. Irgendjemand wird den Präsidenten erschießen, warum nicht du?«

Schon im ersten grauen Tagesschimmer schreckte ich hoch. Über mir schliefen die Oswalds weiter.

7

Am Ostersonntag saß ich nachmittags wieder auf der Dealey Plaza auf einer Parkbank, betrachtete den dräuenden Klinkerwürfel des Schulbuchlagers und fragte mich, was ich als Nächstes tun solle.

In zehn Tagen würde Lee aus Dallas in seine Geburtsstadt New Orleans umziehen. Er würde Arbeit als Wartungstechniker bei einem Kaffeeröster bekommen und die Wohnung in der Magazine Street mieten. Marina und June würden noch etwa zwei Wochen bei Ruth Paine und ihren Kindern in Irving zu Gast sein, bevor sie Lee folgten. Ich würde ihm nicht folgen. Nicht jetzt, wo Sadie eine lange Genesungszeit und eine ungewisse Zukunft vor sich hatte.

Würde ich Lee zwischen diesem Ostersonntag und dem Vierundzwanzigsten erschießen? Möglichkeiten würden sich genug bieten. Seit er seinen Job bei Jaggars-Chiles-Stovall verloren hatte, hielt er sich meist in seiner Wohnung auf, wenn er nicht gerade in der Innenstadt Gerechtigkeit-für-Kuba-Flugblätter verteilte. Gelegentlich ging er in die Stadtbibliothek, schien aber Ayn Rand und Karl Marx zugunsten von Zane-Gray-Western aufgegeben zu haben.

Oswald auf offener Straße oder in der Bibliothek in der Young Street zu erschießen wäre ein gutes Rezept zur sofortigen Verhaftung, aber was war, wenn ich ihn oben in seiner Wohnung ermordete, während Marina in Irving war und Ruth Paine Russischstunden gab? Ich konnte bei ihm anklopfen und ihn mit einem Kopfschuss erledigen, wenn er die Tür öffnete. Kinderspiel. Auf Kernschussweite konnte man keine Fahrkarte schießen. Das Problem waren die Folgen. Ich müsste fliehen. Wenn ich das nicht tat, würde die Polizei sich als Erstes für mich interessieren. Schließlich war ich der Nachbar von unten.

Ich konnte behaupten, zur Tatzeit nicht zu Hause gewesen zu sein, und die Polizei würde das vielleicht zunächst auch glauben, aber wie lange würde es dauern, bis sie entdeckte, dass der George Amberson aus der West Neely Street derselbe George Amberson war, der erst vor Kurzem »zufällig« am Tatort eines Gewaltverbrechens in der Bee Tree Lane in Jodie gewesen war? Das wäre eine Überprüfung wert, die bald zeigen würde, dass George Ambersons Lehrerbefugnis aus einer Titelmühle in Oklahoma stammte und alle seine Empfehlungen gefälscht waren. Daraufhin würde ich voraussichtlich verhaftet werden. Ein Richter würde der Polizei gestatten, mein Bankschließfach zu öffnen, wenn sie herausbekam, was wahrscheinlich war, dass ich eines besaß. Mr. Richard Link, mein Bankier, würde meinen Namen und/oder mein Gesicht in der Zeitung sehen und zur Polizei gehen. Was würde sie aus meinen biografischen Notizen entnehmen? Dass ich ein Motiv hatte – und sei es noch so verrückt –, Oswald zu ermorden.

Nein, ich würde zum Kaninchenbau flüchten müssen, den Chevy irgendwo in Oklahoma oder Arkansas verstecken und mit Bus oder Zug weiterfahren. Und wenn ich es schaffte, ins Jahr 2011 zurückzukehren, konnte ich den Kaninchenbau nie mehr benutzen, ohne einen Neustart zu verursachen. Das würde bedeuten, Sadie – entstellt und allein – auf ewig zu verlassen. Natürlich ist er abgehauen, würde sie denken. Er hat so nett von Pockennarben erzählt, die hübsch wie Grübchen sind, aber als er Ellertons Prognose gehört hat – jetzt hässlich, für immer hässlich –, hat er sich schleunigst davongemacht.

Sie würde es mir vielleicht nicht einmal verübeln. Das war die schrecklichste Möglichkeit von allen.

Aber nein. Nein. Ich konnte mir eine noch schrecklichere denken. Was war, wenn ich ins Jahr 2011 zurückkehrte und entdeckte, dass Kennedy trotz allem am 22. November 1963 ermordet worden war? Ich konnte immer noch nicht mit Sicherheit sagen, dass Oswald allein gehandelt hatte. Wie konnte ich behaupten, zehntausend Verschwörungstheoretiker hätten unrecht, wenn ich selbst nur ein paar kümmerliche Informationen besaß, die auf eigenen Beobachtungen und Lauschangriffen basierten?

Vielleicht würde ich in Wikipedia nachlesen und entdecken, dass der Schütze doch auf dem Grashügel auf der Lauer gelegen hatte. Oder auf dem Dach des Gerichts- und Gefängnisgebäudes in der Houston Street – diesmal mit einem Scharfschützengewehr statt mit einem Mannlicher-Carcano aus dem Versandhandel. Oder in der Elm Street in einem Gully versteckt, von dem aus er Kennedys Nahen mit einem Periskop verfolgte, wie einige der wilderen Verschwörungstheoretiker behaupteten.

De Mohrenschildt arbeitete irgendwie mit der CIA zusammen. Das gestand selbst Al Templeton ein, der sich fast hundertprozentig sicher war, dass Oswald allein gehandelt hatte. Nach Als Überzeugung war de Mohrenschildt nur ein ganz kleiner CIA-Informant, der Klatsch aus Süd- und Mittelamerika weitergab, um seine Ölspekulationen zu befördern. Aber was, wenn er mehr war? Die CIA hasste Kennedy, seit er sich geweigert hatte, die in der Schweinebucht belagerten Partisanen durch amerikanische Truppen heraushauen zu lassen. Seine elegante Beilegung der Raketenkrise hatte diesen Hass noch verstärkt; die Schlapphüte hatten sie als Vorwand dafür benutzen wollen, den Kalten Krieg ein für alle Mal zu beenden, weil es die oft zitierte »Raketenlücke« ihrer Überzeugung nach nicht gebe. Viel davon konnte man in der Tagespresse lesen – manchmal nur zwischen den Zeilen bestimmter Meldungen, gelegentlich auch ganz offen in Leitartikeln.

Was war, wenn bestimmte Abweichler in der CIA George de Mohrenschildt dazu überredet hatten, einen weit gefährlicheren Auftrag zu übernehmen? Nicht den Präsidenten selbst zu erschießen, sondern mehrere Psychopathen anzuwerben, die bereit sein würden, diesen Job zu übernehmen? Hätte de Mohrenschildt ein solches Angebot angenommen? Ich hielt das für wahrscheinlich. Jeanne und er lebten auf großem Fuß, aber ich hatte keine richtige Erklärung dafür, womit er den Cadillac, den Country Club und ihr weitläufiges Haus in der Simpson Stuart Road finanzierte. Als Sollbruchstelle zwischen dem Präsidenten und einer Behörde, die theoretisch seine Weisungen ausführte, zu fungieren … das war gefährliche Arbeit, aber wenn die Bezahlung attraktiv war, konnte sie einem Menschen, der über seine Verhältnisse lebte, verlockend erscheinen. Und das Honorar brauchte nicht einmal in bar bezahlt zu werden, das war das Schöne daran. Nur mit wundervollen Schürfrechten in Venezuela, auf Haiti und in der DR. Außerdem konnte eine solche Herausforderung einen Gernegroß wie de Mohrenschildt reizen. Er liebte die Action und hatte nichts für Kennedy übrig.

Durch John Claytons Schuld konnte ich de Mohrenschildt nicht einmal als Mittäter bei dem Attentat auf Walker eliminieren. Gewiss, die Tatwaffe hatte Oswald gehört, aber was war, wenn Lee letztlich nicht imstande gewesen war, abzudrücken? Ich traute dem kleinen Wiesel durchaus zu, im entscheidenden Augenblick schlappzumachen. Ich konnte förmlich sehen, wie de Mohrenschildt ihm das Carcano aus den zitternden Händen riss und dabei knurrte: Her damit, ich mach’s selbst.

Wäre de Mohrenschildt imstande gewesen, den Schuss hinter der Mülltonne hervor, die Lee als Gewehrauflage vorgesehen hatte, abzugeben? Eine Zeile in Als Notizen über ihn schien das zu bestätigen: 1961 in seinem Country Club Meister im Tontaubenschießen.

Wenn ich Oswald ermordete und Kennedy trotzdem starb, würde alles vergebens gewesen sein. Was dann? Zurück auf Start? Noch einmal Frank Dunning erschießen? Noch einmal Carolyn Poulin retten? Noch einmal nach Dallas fahren?

Noch einmal Sadie begegnen.

Sie würde nicht entstellt sein, und das wäre gut. Ich würde wissen, wie ihr verrückter Exmann aussah, auch wenn er sich die Haare färbte, und ihn diesmal stoppen, bevor er an sie herankam. Auch das wäre gut. Aber schon bei dem Gedanken daran, das alles noch einmal durchleben zu müssen, fühlte ich mich erschöpft. Ich traute mir auch nicht zu, Lee eiskalt zu erschießen – zumindest nicht aufgrund der Indizienbeweise, die ich besaß. Bei Frank Dunning war das anders gewesen. Seine Untaten hatte ich selbst gesehen.

Also – was sollte ich als Nächstes tun?

Es war Viertel nach vier, und ich beschloss, als Nächstes Sadie zu besuchen. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Wagen, den ich in der Main Street geparkt hatte. An der Ecke Main Street und Houston Street, gleich nach dem alten Gerichtsgebäude, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, und drehte mich um. Der Gehsteig hinter mir war menschenleer. Beobachtet wurde ich von dem Lagergebäude, dessen kahle Fensterreihen auf die Elm Street hinabsahen, auf der die Autokolonne des Präsidenten rund zweihundert Tage nach diesem Ostersonntag heranrollen würde.

8

Bei meiner Ankunft wurde auf Sadies Station gerade das Abendessen ausgeteilt: ein Nudelgericht. Der Geruch erinnerte mich lebhaft daran, wie das Blut über John Claytons Hand und Unterarm geströmt war, bevor er – glücklicherweise mit dem Gesicht nach unten – der Länge nach hingeschlagen war.

»Hallo, Mr. Amberson«, sagte die Oberschwester, als ich mich ins Besucherbuch eintrug. Sie war eine grau werdende Frau mit gestärktem weißen Häubchen und frisch gebügelter Uniform. An ihrem gewaltigen Busen war mit einer Nadel eine Taschenuhr befestigt. Sie saß hinter einer Barriere aus Blumensträußen und musterte mich. »Dort drinnen ist gestern laut gestritten worden. Das erzähle ich Ihnen nur, weil Sie doch ihr Verlobter sind, nicht wahr?«

»Richtig«, sagte ich. Jedenfalls wäre ich gern ihr Verlobter gewesen, entstelltes Gesicht hin oder her.

Die Oberschwester beugte sich zwischen zwei übervollen Vasen vor. Einige Margeriten streiften ihre Haare. »Hören Sie, ich klatsche normalerweise nicht über meine Patienten und schimpfe die jüngeren Schwestern aus, wenn sie’s tun. Aber wie ihre Eltern sie behandelt haben, war nicht richtig. Vielleicht kann ich ihnen nicht ganz vorwerfen, dass sie mit den Angehörigen dieses Verrückten aus Georgia runtergekommen sind, aber …«

»Augenblick. Soll das heißen, dass die Dunhills und die Claytons eine Fahrgemeinschaft gebildet haben?«

»Vermutlich waren sie in glücklicheren Zeiten ein Herz und eine Seele, also kann man’s durchgehen lassen, aber an ihrem Bett zu hocken und ihr zu erzählen, dass ihre guten Freunde, die Claytons, gerade unten sind, um die Überführung der Leiche ihres Sohns zu regeln …« Sie schüttelte den Kopf. »Der Vater hat keinen Mucks von sich gegeben, aber diese Frau …«

Sie überzeugte sich mit einem kurzen Blick, dass wir weiter allein waren, und wandte sich mir wieder zu. Ihr gutmütiges Gesicht wirkte vor Empörung grimmig.

»Sie hat einfach nicht den Mund gehalten. Eine kurze Frage nach dem Befinden ihrer Tochter, dann waren es die armen Claytons hier, die armen Claytons dort. Ihre Miss Dunhill hat sich zurückgehalten, bis ihre Mutter meinte, was für eine Schande es wäre, dass sie schon wieder die Kirche wechseln müssten. Da hat die junge Frau die Beherrschung verloren und sie lautstark aus dem Zimmer gewiesen.«

»Gut gemacht«, sagte ich.

»Ich habe sie schreien gehört: ›Wollt ihr sehen, was der Sohn eurer guten Freunde mir angetan hat?‹ … und da bin ich losgerannt, mein Lieber. Sie hat versucht, sich den Verband abzureißen. Und die Mutter … die hat sich nach vorn gebeugt, Mr. Amberson. Ganz begierig. Sie wollte doch tatsächlich die Wunde sehen. Ich habe die Eltern aus dem Zimmer gedrängt und einen Assistenzarzt geholt, damit er Miss Dunhill eine Beruhigungsspritze gibt. Der Vater – ein kümmerliches, kleines Männchen – hat versucht, sich für seine Frau zu entschuldigen. ›Sie hat nicht gemerkt, dass sie Sadie aus der Fassung bringt‹, sagt er. ›Na, und was ist mit Ihnen?‹, habe ich da gesagt. ›Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?‹ Und wissen Sie, was die Frau gesagt hat, bevor sie im Aufzug verschwunden sind?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie hat gesagt: ›Ich kann ihn nicht verurteilen – wie denn auch? Er hat früher bei uns im Garten gespielt und war der niedlichste kleine Junge, den man sich denken konnte.‹ Ist das nicht unglaublich?«

Für mich war es das nicht. Weil ich glaubte, Mrs. Dunhill gewissermaßen schon begegnet zu sein. Auf der West Seventh Street in Fort Worth, auf der sie laut schreiend hinter ihrem älteren Sohn hergelaufen war. Halt, Robert, geh nicht so schnell, ich bin noch nicht mit dir fertig!

»Wenn Sie reingehen, ist sie vielleicht … ein bisschen dünnhäutig. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass sie gute Gründe dafür hat.«

9

Sie war nicht dünnhäutig. Falls es etwas wie eine heitere Niedergeschlagenheit gab, so war das Sadies Gemütszustand an diesem Osterabend. Sie saß auf ihrem Stuhl, immerhin, und hatte einen nicht angerührten Teller von dem Nudelgericht vor sich. Sie hatte abgenommen; ihr langer Körper schien in dem weißen Krankenhausnachthemd, das sie bei meinem Hereinkommen enger um sich zog, regelrecht zu schweben.

Aber sie lächelte – mit der Gesichtshälfte, die das noch konnte –, und hielt mir die unverletzte Wange hin, damit ich sie küssen konnte. »Hallo, George – so sollte ich dich lieber nennen, findest du nicht auch?«

»Vielleicht hast du recht. Wie geht’s dir, Schatz?«

»Die Ärzte sind zufrieden, aber mein Gesicht fühlt sich an, als hätte es jemand mit Kerosin übergossen und angezündet. Das kommt daher, dass sie mir inzwischen weniger Schmerzmittel geben. Gott verhüte, dass ich hier drogensüchtig werde!«

»Wenn du mehr brauchst, kann ich mit jemand reden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es macht mich benommen, und ich muss nachdenken. Außerdem habe ich meine Gefühle dann nicht so gut im Griff. Mit meinen Eltern habe ich mich ziemlich heftig gestritten.«

Hier gab es nur den einen Stuhl – außer man wollte das Klo in der Ecke mitzählen –, also setzte ich mich aufs Bett. »Die Oberschwester hat mir davon erzählt. Nach allem, was sie mitgekriegt hat, war dein Wutanfall nur berechtigt.«

»Schon möglich, aber was nutzt mir das? Mama wird sich nie ändern. Sie kann stundenlang darüber reden, wie sie bei meiner Geburt fast draufgegangen wäre, aber sie empfindet sehr wenig für andere Menschen. Das ist nicht nur ein Mangel an Taktgefühl, sondern ihr fehlt noch etwas anderes. Mir fällt nur gerade das Wort dafür nicht ein.«

»Empathie?«

»Ja, genau! Und sie hat eine ziemlich scharfe Zunge. Die hat meinen Dad im Lauf der Jahre immer kleiner gemacht. Inzwischen sagt er kaum noch etwas.«

»Du brauchst sie nicht wiederzusehen.«

»Oh, ich denke schon.« Ihr ruhiger, leidenschaftsloser Ton gefiel mir immer weniger. »Mama sagt, dass sie mein altes Zimmer für mich herrichten, und ich kann eigentlich sonst nirgends hin.«

»Dein Haus ist in Jodie. Und deine Arbeit auch.«

»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich werde kündigen.«

»Nein, Sadie, nein. Das wäre eine sehr schlechte Idee.«

Sie lächelte, so gut sie konnte. »Du klingst wie Miz Ellie. Die dir nicht geglaubt hat, als du sie vor Johnny gewarnt hast.« Sie dachte darüber nach, dann fügte sie hinzu: »Ich natürlich auch nicht. Ich habe wohl nie aufgehört, mich von Johnny täuschen lassen, was?«

»Du hast ein Haus.«

»Richtig. Und eine Hypothek, die ich nicht abbezahlen kann. Ich werde es verkaufen müssen.«

»Das Abbezahlen übernehme ich.«

Das drang durch. Sie starrte mich entsetzt an. »Das kannst du dir nicht leisten!«

»Doch, das kann ich.« Was sogar der Wahrheit entsprach … wenigstens für einige Zeit. Und ich konnte immer noch auf Chateaugay zurückgreifen. »Ich ziehe aus Dallas weg und quartiere mich bei Deke ein. Er verlangt keine Miete, sodass reichlich Geld für die Tilgungszahlungen übrig bleibt.«

Aus ihrem rechten Auge quoll eine Träne, die zitternd im Augenwinkel hängen blieb. »Du verstehst nicht ganz, worum es hier geht. Ich komme noch nicht wieder allein zurecht. Und ich will nicht ›aufgenommen‹ werden – außer zu Hause, wo Mama eine Pflegerin einstellen wird, die ihr die unangenehmen Sachen abnimmt. Ich habe mir noch etwas Stolz bewahrt. Nicht viel, aber immerhin ein bisschen.«

»Ich pflege dich.«

Sie starrte mich verwundert an. »Was?«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Und was mich betrifft, Sadie, kannst du dir deinen Stolz sonst wohin stecken. Ich liebe dich nämlich. Und wenn du mich auch liebst, hörst du auf, dummes Zeug über eine Heimkehr zu deinem Krokodil von einer Mutter zu quatschen.«

Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab, dann saß sie mit den Händen auf dem Schoß ihres dünnen Gewands nachdenklich schweigend da. »Du bist nach Texas gekommen, um etwas zu tun – aber nicht, um eine Schulbibliothekarin zu pflegen, die zu dumm war, die Gefahr zu erkennen, in der sie war.«

»Was ich in Dallas zu tun habe, ist aufgeschoben.«

»Ganz im Ernst?«

»Ja.« Und damit war die Entscheidung auch schon gefallen. Lee würde nach New Orleans ziehen, und ich würde nach Jodie zurückgehen. »Du brauchst Zeit, Sadie, und ich habe Zeit. Wir können sie genauso gut gemeinsam verbringen.«

»Du kannst mich nicht wollen.« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Nicht so, wie ich jetzt aussehe.«

»Aber ich tu’s trotzdem.«

Ihr Blick zeigte, dass sie es nicht zu hoffen wagte, aber trotzdem die Hoffnung hegte. »Wieso solltest du das tun?«

»Weil du das Beste bist, was mir in meinem Leben passiert ist.«

Ihr unverletzt gebliebener Mundwinkel begann zu zucken. Die Träne lief über ihre Wange, dann folgten weitere. »Wenn ich nicht nach Savannah zurückmüsste … wenn ich nicht bei ihnen … bei ihr … leben müsste, dann könnte ich vielleicht, ich weiß nicht, vielleicht wieder ein kleines bisschen in Ordnung kommen.«

Ich schloss sie behutsam in die Arme. »Viel mehr als nur ein kleines bisschen.«

»Jake?« Ihre Stimme war von Tränen gedämpft. »Tust du mir noch einen Gefallen, bevor du gehst?«

»Welchen, Schatz?«

»Schaff das gottverdammte Nudelgericht hier raus. Von dem Geruch wird mir schlecht.«

10

Die Oberschwester mit den Schultern eines Footballspielers und der mit einer Nadel an ihrem Busen befestigten Taschenuhr war Rhonda McGinley, und am 18. April bestand sie darauf, Sadies Rollstuhl nicht nur in den Aufzug, sondern bis zum Randstein zu schieben, wo Dekes Ranch Wagon mit offener Beifahrertür bereitstand.

»Lassen Sie sich ja nicht wieder hier blicken, Schätzchen«, sagte Schwester McGinley, nachdem wir Sadie ins Auto geholfen hatten.

Sadie lächelte geistesabwesend und sagte nichts. Sie war – um es ganz deutlich zu sagen – völlig zugedröhnt. Dr. Ellerton hatte ihr Gesicht an diesem Morgen noch einmal untersucht: ein sehr schmerzhafter Vorgang, vor dem sie eine zusätzliche Dosis Schmerzmittel bekommen hatte.

McGinley wandte sich an mich. »In den kommenden Monaten wird sie viel liebevolle Fürsorge brauchen.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

Wir fuhren los. Zehn Meilen südlich von Dallas sagte Deke: »Nimm sie ihr weg, und wirf sie aus dem Fenster. Ich hab genug mit diesem verdammten Verkehr zu tun.«

Sadie war mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern eingenickt. Ich beugte mich über die Sitzlehne und nahm ihr die Zigarette weg. Dabei stöhnte sie arg und sagte: »Bitte nicht, Johnny, tu das bitte nicht.«

Deke und ich wechselten einen Blick. Nur ganz kurz, aber lange genug, um zu sehen, dass wir das Gleiche dachten: Vor ihr liegt ein langer Weg. Ein sehr langer.

11

Ich zog in Dekes nach spanischem Vorbild gestaltetes Haus in der Sam Houston Road ein. Zumindest nach außen hin. In Wirklichkeit zog ich zu Sadie in das Haus Bee Tree Lane 135. Als ich sie nach Hause brachte, fürchtete ich mich davor, was wir dort vorfinden könnten, und ich glaube, dass es Sadie – zugedröhnt oder nicht – ähnlich erging. Aber Miz Ellie und Jo Peet aus dem Fachbereich Hauswirtschaftslehre hatten eine Gruppe von Freiwilligen organisiert, die den ganzen Tag vor Sadies Rückkehr damit verbracht hatte, im Haus zu putzen, zu bohnern und jegliche Spur von Claytons Obszönitäten von den Wänden zu entfernen. Der Wohnzimmerteppich war abtransportiert und ersetzt worden. Der neue Teppich war industriegrau – keine sehr aufregende Farbe, aber vermutlich eine gute Wahl; graue Dinge weckten selten Erinnerungen. Auch Sadies zerschnittene Kleidung war weggeschafft und durch neue Sachen ersetzt worden.

Sadie äußerte sich mit keinem Wort zu dem neuen Teppich und der anderen Kleidung. Ich weiß nicht einmal, ob sie die Veränderungen überhaupt bemerkte.

12

Ich verbrachte meine Tage dort, kochte für sie, arbeitete in ihrem kleinen Garten (der in einem weiteren heißen Sommer in Mitteltexas dahinsiechen, aber nicht ganz sterben würde) und las ihr Bleak House von Dickens vor. Auch vertieften wir uns in mehrere Seifenopern im Nachmittagsprogramm: The Secret Storm, Young Doctor Malone, From These Roots und, unsere Lieblingsserie, The Edge of Night.

Sadie verlegte ihren Mittelscheitel nach rechts und trug nun eine Veronica-Lake-Frisur, die ihre Narben, wenn der Verband eines Tages entfernt war, größtenteils verdecken würde. Allerdings würde dieser Zustand nicht lange anhalten; die erste plastische Operation – bei der vier Ärzte zusammenarbeiten würden – war für den 5. August angesetzt. Ellerton sagte, dass mindestens vier weitere folgen würden.

Nachdem Sadie und ich zu Abend gegessen hatten (wobei sie selten mehr als ein paar Bissen aß), fuhr ich zu Dekes Haus zurück, weil Kleinstädte bekanntlich große Augen und zudem geschwätzige Mundwerke hatten. Es war besser, wenn diese großen Augen meinen Wagen nach Sonnenuntergang in Dekes Einfahrt stehen sahen. Sobald es dunkel war, ging ich die zwei Meilen zu Sadies Haus zurück, wo ich bis fünf Uhr morgens auf dem neuen Bettsofa schlief. Ununterbrochene Nachtruhe gab es für mich kaum, denn die Nächte, in denen Sadie mich nicht weckte, indem sie sich schreiend und um sich schlagend aus Albträumen befreite, waren selten. Tagsüber war Johnny Clayton tot. Nach Einbruch der Dunkelheit bedrohte er Sadie weiter mit dem Revolver und seinem Messer.

Ich ging dann zu ihr und beruhigte sie, so gut es ging. Manchmal schleppte sie sich in meiner Gegenwart ins Wohnzimmer, um eine zu rauchen, und schlurfte dann wieder zum Bett, wobei sie ihr Haar immer schützend auf die schlimme Gesichtshälfte drückte. Den Verband ließ sie mich nicht wechseln. Das machte sie bei geschlossener Tür im Bad immer selbst.

Nach einem besonders schlimmen Albtraum fand ich Sadie, wie sie in ihrem Zimmer nackt und schluchzend neben dem Bett stand. Sie war erschreckend abgemagert. Ihr abgestreiftes Nachthemd bildete einen Ring um ihre Beine. Sie hörte mich kommen und drehte sich zu mir um, einen Arm über die Brüste gelegt, die andere Hand vor den Schritt gehalten. Ihre Haare fielen auf die rechte Schulter zurück, wo sie eigentlich hingehörten, sodass ich die wulstigen Narben, die groben Stiche und das eingesunkene, faltige Fleisch über dem Wangenknochen sah.

»Raus!«, kreischte sie. »Sieh mich nicht so an, kannst du nicht einfach verschwinden?«

»Sadie, was hast du? Warum hast du dein Nachthemd ausgezogen? Was ist passiert?«

»Ich hab ins Bett gemacht, okay? Ich muss es neu beziehen, also verschwinde bitte, und lass mich was anziehen!«

Ich trat ans Fußende ihres Betts, griff nach der dort zusammengerollt liegenden Tagesdecke und wickelte sie um Sadie. Als ich eine Ecke hochschlug, sodass sie eine Art Stehkragen bildete, der ihre Wange verdeckte, beruhigte sie sich wieder.

»Geh ins Wohnzimmer, aber pass auf, damit du nicht über die Decke stolperst. Rauch eine Zigarette. Ich beziehe das Bett inzwischen neu.«

»Nein, Jake, es ist schmutzig.«

Ich fasste sie an den Schultern. »Das hätte Clayton gesagt, aber der ist jetzt tot. Das bisschen Pipi ist nicht der Rede wert.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja. Aber bevor du gehst …«

Ich klappte den provisorischen Stehkragen herab. Sadie zuckte leicht zusammen und schloss die Augen, hielt jedoch still. Dass sie sich das gefallen ließ, war ein Fortschritt, fand ich. Ich küsste das schlaffe Fleisch, das ihre Wange gewesen war, und klappte die Tagesdecke dann wieder hoch, um es zu verbergen.

»Wie kannst du nur?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Es ist scheußlich.«

»Nein. Es ist nur ein weiteres Stück von dir, das ich liebe, Sadie. Geh jetzt nach nebenan, damit ich das Bett beziehen kann.«

Als ich fertig war, bot ich ihr an, mich neben sie zu legen, bis sie eingeschlafen war. Sie fuhr zusammen wie kurz zuvor, als ich die Tagesdecke herabgeschlagen hatte, und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Jake. Tut mir leid.«

Langsam, mit kleinen Schritten, sagte ich mir, als ich im Morgengrauen durch die Kleinstadt zu Dekes Haus zurücktrottete. Langsam, mit kleinen Schritten.

13

Am 21. April erklärte ich Deke, dass ich in Dallas zu tun hätte, und bat ihn, bei Sadie zu bleiben, bis ich gegen neun Uhr zurückkäme. Er war gern dazu bereit, und um fünf Uhr abends saß ich in der South Polk Street auf einer Bank gegenüber dem Greyhound-Busbahnhof nahe der Kreuzung des Highways 77 mit der noch neuen vierspurigen I-20. Ich las (oder tat zumindest so) Der Spion, der mich liebte, den letzten James Bond.

Um halb sechs bog ein Kombi auf den Parkplatz neben dem Busbahnhof ab. Am Steuer saß Ruth Paine. Lee stieg aus, ging nach hinten und öffnete die Heckklappe. Marina stieg mit June auf dem Arm hinten rechts aus. Ruth Paine blieb hinter dem Steuer sitzen.

Lee hatte nur zwei Gepäckstücke: einen olivgrünen Seesack und eine gepolsterte Gewehrtasche mit Tragegriffen. Damit ging er zu dem Scenicruiser, der mit laufendem Motor wartete. Nach einem flüchtigen Blick auf Lees Fahrkarte nahm der Busfahrer ihm den Seesack und das Gewehr ab und verstaute beides in dem offenen Gepäckabteil.

Lee ging zur Tür des Busses, machte dort kehrt, umarmte seine Frau und küsste sie erst auf beide Wangen, dann auf den Mund. Er nahm June auf den Arm und kraulte sie unter dem Kinn. Die Kleine lachte. Lee lachte mit, aber in seinen Augen glitzerten Tränen. Er küsste June auf die Stirn, umarmte sie, gab sie Marina zurück und sprang dann die Stufen des Busses hinauf, ohne sich noch einmal umzusehen.

Marina ging zurück zu dem Kombi, neben dem Ruth Paine jetzt stand. June streckte die Arme nach der älteren Frau aus, die sie der Mutter lächelnd abnahm. Sie blieben noch eine Zeit lang stehen und sahen zu, wie weitere Fahrgäste einstiegen, dann fuhren sie davon.

Ich blieb, wo ich war, bis der Bus pünktlich um 18 Uhr abfuhr. Das Licht der im Westen blutrot untergehenden Sonne glitt über die Fahrzielanzeige hinweg und machte sie für einige Augenblicke unsichtbar. Dann konnte ich sie wieder lesen, nur drei Wörter, die jedoch bedeuteten, dass Lee Harvey Oswald zumindest vorübergehend aus meinem Leben verschwinden würde:

NEW ORLEANS EXPRESS

Ich beobachtete, wie der Bus die Einfahrtsrampe zur I-20 East hinaufrollte, dann ging ich die zwei Straßen zu meinem geparkten Wagen und fuhr zurück nach Jodie.

14

Ahnungsdenken, wieder einmal.

Ich zahlte die Maimiete für die Wohnung in der West Neely Street, obwohl ich eigentlich keinen konkreten Grund dafür hatte und anfangen sollte, überflüssige Ausgaben zu vermeiden. Dazu bewog mich allein ein undefinierbares, aber starkes Gefühl, dass ich eine Operationsbasis in Dallas behalten sollte.

Zwei Tage vor dem Kentucky Derby fuhr ich mit der Absicht in die Greenville Street, fünfhundert Dollar auf Chateaugay zu setzen, allerdings nur auf Platz. Das, so überlegte ich mir, würde weniger auffallen, als wenn ich gezielt auf einen Sieg des Gauls setzte. Ich parkte vier Straßen vom Wettbüro Faith Financial entfernt und schloss meinen Wagen ab, was in diesem Teil der Stadt selbst um elf Uhr vormittags eine notwendige Vorsichtsmaßnahme war. Ich ging zielstrebig los, aber dann verlangsamte ich meine Schritte – wieder ohne konkreten Grund.

Einen halben Block vor dem als Kreditvermittlung getarnten Wettbüro blieb ich ganz stehen. Ich konnte wieder den Buchmacher sehen – an diesem Vormittag ohne Augenschirm –, der am Türrahmen lehnend eine Zigarette rauchte. Wie er dort von den scharfen Schatten des Eingangs flankiert im hellen Sonnenschein stand, sah er aus wie von Edward Hopper gemalt. Dass er mich an diesem Tag sah, war ausgeschlossen, denn er starrte unentwegt eine auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkte Limousine an. Bei dem Wagen handelte es sich um einen cremefarbenen Lincoln mit grünem Kennzeichen. Über den Ziffern standen die Worte SUNSHINE STATE. Was nicht bedeutete, dass hier eine Harmonisierung stattfand. Was ganz sicher nicht bedeutete, dass er Eduardo Gutierrez gehörte – dem Buchmacher aus Tampa, der immer gelächelt und gesagt hatte: Da kommt mein Yanqui aus Yankeeland. Der Kerl, der mit einiger Sicherheit mein Häuschen am Strand hatte niederbrennen lassen.

Trotzdem machte ich auf der Stelle kehrt und ging zu meinem Wagen zurück, die fünfhundert Dollar, die ich hatte setzen wollen, immer noch in meiner Tasche.

Ahnungsdenken.

Kapitel 24

1

Angesichts der Neigung der Geschichte, sich – zumindest in meiner Umgebung – zu wiederholen, wird es niemand überraschen, dass Mike Coslaw Sadies Heilkosten durch eine Wiederaufnahme des Jodie Jamborees finanzieren wollte. Er sagte, er traue sich zu, die ursprünglich Mitwirkenden dazu zu bringen, ihre Rollen erneut zu übernehmen, wenn wir die Vorstellungen für den Sommer planten, und hielt prompt Wort – fast alle kamen wieder an Bord. Sogar Ellie erklärte sich bereit, noch einmal »Camptown Races« und »Clinch Mountain Breakdown«, die großen Jubel ausgelöst hatten, auf dem Banjo zu spielen, obwohl sie behauptete, noch vom letzten Mal wunde Finger zu haben. Wir entschieden uns für den 12. und 13. Juli, aber eine Zeit lang war nicht ganz sicher, ob die Abende wirklich stattfinden würden.

Das erste Hindernis, das überwunden werden musste, war Sadie selbst, die von dieser Idee entsetzt war. Sie sprach von »Almosen annehmen«.

»Das klingt wie etwas, was du auf dem Schoß deiner Mutter gelernt hast«, sagte ich.

Sie funkelte mich kurz an, dann senkte sie den Kopf und ließ Haare über die entstellte Gesichtshälfte fallen. »Und wenn’s so wäre? Ist die Auffassung deshalb gleich falsch?«

»Herrje, lass uns mal überlegen. Du sprichst davon, eine Lebensweisheit von einer Frau zu übernehmen, deren größte Sorge, nachdem sie erfahren hat, dass ihre Tochter durch einen Messerangriff entstellt wurde, deren Kirchenzugehörigkeit war.«

»Das ist entwürdigend«, sagte sie leise. »An die Mildtätigkeit der Stadt zu appellieren ist entwürdigend.«

»Als es um Bobbi Jill ging, warst du da anderer Meinung.«

»Du bedrängst mich, Jake. Bitte tu das nicht.«

Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hand. Sadie entzog sie mir. Ich nahm sie trotzdem wieder. Diesmal ließ sie zu, dass ich sie hielt.

»Ich weiß, dass das für dich nicht einfach ist, Schatz. Aber es gibt eine Zeit des Nehmens wie eine Zeit des Gebens. Ich weiß nicht, ob das in den Sprüchen Salomos steht, aber es stimmt trotzdem. Deine Krankenversicherung ist ein Witz. Wir haben Glück, weil Dr. Ellerton auf sein Honorar verzichtet, aber …«

»Ich habe ihn nie gebeten …«

»Sachte, Sadie. Das nennt man gemeinnützige Arbeit, und er übernimmt sie gern. Aber zu seinem Team gehören weitere Chirurgen. Die Kosten für deine Operationen werden gewaltig sein, und meine Reserven sind irgendwann erschöpft.«

»Ich wollte fast, er hätte mich umgebracht«, flüsterte sie.

»Sag so etwas nie wieder!« Sie schrak vor dem Zorn in meiner Stimme zurück und fing an zu weinen. Das konnte sie jetzt allerdings nur aus einem Auge. »Schatz, die Leute wollen das für dich tun. Lass sie es tun. Ich weiß, dass deine Mutter in deinem Kopf lebt – den meisten von uns geht es mit ihrer Mutter vermutlich ähnlich –, aber du darfst ihr in dieser Sache nicht ihren Willen lassen.«

»Die Ärzte können ohnehin nicht viel reparieren. Wie früher wird mein Gesicht nie wieder. Das hat Ellerton mir gesagt.«

»Sie können eine Menge reparieren.« Das klang ein wenig besser als sie können einiges davon reparieren.

Sie seufzte. »Du bist tapferer als ich, Jake.«

»Unsinn, nur du bist tapfer.«

»Die Sadie-Dunhill-Wohltätigkeitsshow. Meine Mutter würde an die Decke gehen, wenn sie davon erführe.«

»Umso mehr Grund, finde ich. Wir schicken ihr ein paar Fotos.«

Darüber musste sie lächeln, wenn auch nur kurz. Sie zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an und strich wieder ihre Haare über der entstellten Gesichtshälfte glatt. »Müsste ich dabei sein? Damit sie sehen, was sie für ihr Geld bekommen? Gewissermaßen wie ein Berkshire-Schwein auf dem Versteigerungspodest?«

»Natürlich nicht. Obwohl ich bezweifle, dass irgendjemand in Ohnmacht fallen würde. Die meisten Leute hier haben schon Schlimmeres gesehen.« Als Lehrer an einer Schule in einem landwirtschaftlich geprägten Gebiet hatten auch wir schon Schlimmeres gesehen: zum Beispiel Britta Carlson, die bei einem Hausbrand schwere Verbrennungen erlitten hatte, oder Duffy Hendrickson, dessen linke Hand wie ein Huf aussah, seit in der Autowerkstatt seines Vaters ein Flaschenzug, an dem ein Lkw-Motor hing, versagt hatte.

»Ich schaff es noch nicht, mich einer solchen Begutachtung auszusetzen. Ich glaube nicht, dass ich es jemals wieder kann.«

Ich hoffte von ganzem Herzen, dass sie nicht recht behalten würde. Die Verrückten dieser Welt – die Johnny Claytons, die Lee Harvey Oswalds – durften nicht siegreich bleiben. Wenn Gott zu keiner Wiedergutmachung bereit war, nachdem sie ihre beschissenen kleinen Siege erzielt hatten, mussten gewöhnliche Menschen einspringen. Sie mussten es wenigstens versuchen. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Predigt zu diesem Thema.

»Würde es helfen, wenn ich dir sage, dass selbst Dr. Ellerton sich bereit erklärt hat, in der Show aufzutreten?«

Sie vergaß einen Augenblick lang ihre Haare und starrte mich an. »Was?«

»Er will das Hinterteil von Bertha sein.« Bertha das tanzende Pony war ein Segeltuchgeschöpf der Kunstkursschüler. Es trat bei mehreren Sketchen auf, aber seine große Nummer war ein schweifwedelnder Tanz zu Gene Autrys »Back in the Saddle Again«. (Der Schweif wurde durch eine Schnur bewegt, die der rückwärtige Teil des Teams Bertha zog.) Die im Allgemeinen nicht gerade für ihren feinsinnigen Humor bekannte Landbevölkerung fand Bertha zum Schießen.

Sadie musste lachen. Ich merkte, dass ihr das wehtat, aber sie war machtlos dagegen. Sie sank aufs Sofa zurück und presste eine Handfläche an die Stirnmitte, als wollte sie verhindern, dass ihr Gehirn explodierte. »Also gut!«, sagte sie, als sie schließlich wieder sprechen konnte. »Ich lasse dich machen, nur um das zu sehen.« Dann funkelte sie mich an. »Aber ich sehe mir die Aufführung bei der Generalprobe an. Du kriegst mich nicht auf die Bühne, damit alle mich anstarren und flüstern können: ›Seht euch bloß an, was er dem armen Mädchen angetan hat.‹ Sind wir uns darüber einig?«

»Völlig einig«, sagte ich und küsste sie. Damit war die erste Hürde überwunden. Die nächste bestand darin, dass ich den besten Schönheitschirurgen von Dallas dazu bringen musste, in der Julihitze nach Jodie zu kommen und unter zwölf Kilo Segeltuch als Hinterteil eines tanzenden Ponys aufzutreten. Weil ich ihn noch gar nicht gefragt hatte.

Das Ganze stellte sich als problemlos heraus. Ellerton strahlte wie ein kleiner Junge, als ich ihm den Vorschlag unterbreitete. »Ich bringe sogar praktische Erfahrung mit«, sagte er. »Meine Frau wirft mir seit Jahren vor, ein richtiger Arsch zu sein.«

2

Die letzte Hürde bestand darin, einen geigneten Veranstaltungsort zu finden. Mitte Juni, etwa zu dem Zeitpunkt, an dem Lee in New Orleans von einem Kai verwiesen wurde, weil er versucht hatte, seine für Castro werbenden Flugblätter an Seeleute der USS Wasp zu verteilen, kam Deke eines Nachmittags bei Sadie vorbei. Er küsste ihre nicht entstellte Wange (die andere Gesichtshälfte wandte sie automatisch ab, wenn Besuch kam) und fragte mich, ob ich Lust hätte, auf ein kaltes Bier mit ihm auszugehen.

»Geht nur«, sagte Sadie. »Ich komme schon zurecht.«

Deke fuhr mit mir zum Prairie Chicken, einem unzulänglich klimatisierten Schuppen mit Wellblechdach, neun Meilen westlich der Stadt. An diesem Spätnachmittag war das Lokal bis auf zwei einzelne Trinker an der Bar leer, die Jukebox war nicht in Betrieb. Deke drückte mir einen Dollar in die Hand. »Ich zahle, du holst das Bier. Wie gefällt dir der Deal?«

Ich war einverstanden. Ich ging an die Bar und ließ mir zwei Buckhorns geben.

»Hätte ich gewusst, dass du Buckies bringst, wäre ich selbst gegangen«, sagte Deke. »Mann, das Zeug ist Pferdepisse.«

»Mir schmeckt es zufällig«, sagte ich. »Ich dachte übrigens, dass du nur zu Hause trinkst. ›Für meinen Geschmack ist der Arschlochquotient in hiesigen Bars ein bisschen zu hoch‹, das waren, glaube ich, deine Worte.«

»Ich will sowieso kein verdammtes Bier.« Jetzt, wo wir nicht in Sadies Nähe waren, machte er kein Hehl daraus, dass er fuchsteufelswild war. »Eigentlich will ich etwas ganz anderes: Fred Miller ins Gesicht schlagen und Jessica Caltrop in ihren schmalen, zweifellos mit Spitze verbrämten Arsch treten.«

Ich kannte diese Namen und Gesichter, obwohl ich als bescheidener Lohnsklave nie mit einem der beiden gesprochen hatte. Miller und Caltrop stellten zwei Drittel des Schulausschusses in der Denholm County.

»War’s das schon?«, sagte ich. »Solange du in blutrünstiger Stimmung bist, erzähl mir bitte auch, was du mit Dwight Rawson vorhast. Ist er nicht der Dritte?«

»Er heißt Rawlings«, sagte Deke missmutig. »Und ihn lasse ich ungeschoren. Er hat für uns gestimmt.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«

»Sie lassen uns die Schulturnhalle nicht für das Jamboree benutzen. Obwohl wir von einem Termin mitten im Sommer reden, in dem sie ohnehin leer steht.«

»Soll das ein Witz sein?« Sadie hatte mir erzählt, bestimmte Elemente in der Stadt könnten sich gegen sie stellen, aber ich hatte ihr nicht geglaubt. Der dumme alte Jake Epping, der sich immer noch an seine SF-Fantasien aus dem 21. Jahrhundert klammerte.

»Mein Sohn, ich wollte, es wäre tatsächlich ein Witz. Sie haben Bedenken wegen der Brandversicherung angeführt. Ich habe darauf hingewiesen, dass sie solche Bedenken nicht hatten, als es um eine Wohltätigkeitsveranstaltung für eine Schülerin ging, die bei einem Unfall verletzt worden war, und die Caltrop, diese vertrocknete alte Jungfer, hat gesagt: ›Gewiss, Deke, aber das war während des Schuljahrs.‹ Sie haben Bedenken, das stimmt, aber vor allem wegen der Frage, wie ein Verrückter der Schulbibliothekarin, die mit ihm verheiratet war, das Gesicht zerschneiden konnte. Sie haben Angst, eine Zeitung oder – da sei Gott davor! – ein Fernsehsender aus Dallas könnten darüber berichten.«

»Was kann das ausmachen?«, sagte ich. »Er … Verdammt, Deke, er war nicht mal von hier! Er war aus Georgia!«

»Das interessiert sie nicht. Für sie ist entscheidend, dass er hier gestorben ist, und sie fürchten, das könnte ein schlechtes Licht auf die Schule werfen. Auf die Stadt. Und auf sie.«

Ich hörte mich weinerlich reden – kein edler Laut aus dem Mund eines Mannes in der Blüte seines Lebens –, aber ich konnte nicht anders. »Das ist doch alles sinnlos!«

»Sie würden sie entlassen, wenn sie könnten, nur um sich dieser Peinlichkeit zu entledigen. Weil sie das nicht können, hoffen sie, dass Sadie aufgibt, bevor die Schüler sich ansehen müssen, wie Clayton sie entstellt hat. Gottverdammte Kleinstadtheuchelei in Bestform, mein Junge. Als Fred Miller Anfang zwanzig war, ist er zweimal im Monat durch die Bordelle von Nuevo Laredo gezogen. Sogar öfter, wenn er einen Vorschuss auf sein Taschengeld kriegen konnte. Und ich weiß aus verdammt guter Quelle, dass Jessica Caltrop, als sie noch die schlichte Jessica Trapp von der Sweetwater Ranch war, mit sechzehn richtig dick war und wenige Monate später von jetzt auf nachher wieder ganz schlank geworden ist. Ich hätte Lust, denen zu erzählen, dass mein Gedächtnis länger ist als ihre gottverdammt hoch getragenen Nasen und ich sie übel in Verlegenheit bringen könnte, wenn ich wollte. Dazu müsste ich mich nicht mal besonders anstrengen.«

»Sie können Sadie doch nicht die Verrücktheit ihres Exmanns anlasten … oder doch?«

»Werd endlich erwachsen, George. Du benimmst dich manchmal, als wärst du in einem Stall zur Welt gekommen. Oder in einem Land, in dem die Leute tatsächlich vernünftig denken. Für sie geht es hier um Sex. Für Leute wie Fred und Jessica geht es immer um Sex. Sie glauben vermutlich, dass Alfalfa und Spanky aus Die kleinen Strolche in ihrer Freizeit Darla hinter der Scheune bumsen, während Buckwheat sie anfeuert. Und wenn etwas wie das hier passiert, ist die Frau daran schuld. Das würden sie nie offen sagen, aber im Innersten glauben sie, dass Männer Bestien sind, und wenn Frauen sie nicht zähmen können … nun, dann sollen sie dafür büßen, mein Sohn, dann sollen sie dafür büßen. Aber das lasse ich ihnen nicht durchgehen.«

»Das wirst du aber müssen«, sagte ich. »Wenn du es nämlich tust, könnte der ganze Krach Sadie zu Ohren kommen. Und sie ist im Augenblick sehr labil. So was könnte ihr den Rest geben.«

»Wohl wahr«, sagte er und kramte seine Pfeife aus der Jackentasche. »Ja, ich weiß. Ich muss nur Dampf ablassen. Ellie hat erst gestern mit den Betreibern der Grange Hall gesprochen. Sie sind gern bereit, sie uns für unsere Show zur Verfügung zu stellen, und sie hat sogar fünfzig Plätze mehr. Wegen dem Balkon, weißt du.«

»Na also«, sagte ich erleichtert. »Zuletzt siegt doch die Vernunft.«

»Aber dabei gibt’s ein Problem. Sie verlangen vierhundert für zwei Abende. Wenn ich zweihundert spendiere, kannst du dann die anderen zweihundert übernehmen? Aus den Eintrittsgeldern bekommst du sie allerdings nicht zurück. Die sind alle für Sadies Heilkosten reserviert.«

Wie hoch Sadies Heilkosten waren, wusste ich sehr gut; ich hatte schon dreihundert Dollar bezahlt, um den Teil der Krankenhausrechnung zu übernehmen, den ihre schäbige Versicherung nicht begleichen wollte. Auch wenn Ellerton umsonst arbeitete, würden die sonstigen Kosten schnell ansteigen. Was mich betraf, waren meine finanziellen Reserven zwar noch nicht erschöpft, aber ihr Ende war abzusehen.

»George? Was sagst du?«

»Fifty-fifty«, stimmte ich zu.

»Dann trink dein beschissenes Bier aus. Ich will in die Stadt zurück.«

3

Als wir diesen dürftigen Ersatz für eine Bar verließen, fiel mein Blick auf ein im Fenster stehendes Plakat. Im oberen Drittel stand in Fettdruck:

SEHEN SIE DEN KAMPF DES JAHRHUNDERTS IN EINER DIREKTÜBERTRAGUNG!


LIVE AUS DEM MADISON SQUARE GARDEN!


LOKALMATADOR TOM »THE HAMMER« CASE GEGEN DICK TIGER!


DALLAS AUDITORIUM


DONNERSTAG, 29. AUG.


KARTENVORVERKAUF HIER

Darunter waren nebeneinander die Fotos zweier Muskelmänner mit bloßem Oberkörper angeordnet, die behandschuhten Fäuste in anerkannter Boxhaltung erhoben. Einer war jung und zeigte keine Kampfspuren. Der andere Kerl sah viel älter aus, und seine Nase schien mehrfach gebrochen zu sein. Mich interessierten allerdings in erster Linie die Namen. Ich kannte sie von irgendwoher.

»Denk noch nicht mal daran«, sagte Deke kopfschüttelnd. »Sportlich gesehen hättest du mehr von einem Hundekampf zwischen einem Pitbull und einem Cockerspaniel. Einem alten Cockerspaniel.«

»Wieso?«

»Tommy Case hat immer durch Kampfgeist überzeugt, aber jetzt schlägt sein vierzig Jahre altes Herz in einem vierzig Jahre alten Körper. Er hat einen Bierbauch und kann sich kaum noch bewegen. Tiger ist jung und schnell. Wenn er die richtigen Kämpfe bekommt, wird er in ein paar Jahren Meister. Bis dahin setzen sie ihm schwerfällige Kolosse wie Case vor, damit er in Form bleibt.«

In meinen Ohren klang das wie Rocky Balboa gegen Apollo Creed, aber warum nicht? Manchmal imitierte das Leben die Kunst.

Deke sagte: »Fernsehen, für das man zahlt, um es in einer Halle zu sehen. Mann, was fällt denen noch alles ein?«

»Ist wohl der Trend der Zukunft«, sagte ich.

»Und es ist bestimmt ausverkauft – zumindest in Dallas –, was aber nichts daran ändert, dass Tom Case der Trend der Vergangenheit ist. Du wirst sehen, Tiger macht ihn platt.« Er wechselte das Thema. »Bleibt es also bei unserer Vereinbarung in der Grange-Sache, George?«

»Unbedingt.«

4

Es war ein seltsamer Juni. Einerseits machte es mir Spaß, wieder mit der Truppe proben zu können, die das ursprüngliche Jamboree aufgeführt hatte. Das war ein Déjà-vu-Erlebnis vom Feinsten. Andererseits fragte ich mich immer öfter, ob ich jemals wirklich vorgehabt hatte, Lee Harvey Oswald aus dem Buch der Geschichte zu streichen. Ich konnte nicht glauben, dass mir der Mut dazu fehlen sollte – schließlich hatte ich schon einmal einen Menschen, der sonst gemordet hätte, kaltblütig erledigt –, aber ich konnte nicht leugnen, dass ich Oswald im Fadenkreuz gehabt und laufen lassen hatte. Ich redete mir ein, dass das nicht an seiner Familie lag, sondern an dem Ungewissheitsprinzip, aber vor meinem inneren Auge stand oft Marina, die lächelnd mit flachen Händen einen dicken Bauch andeutete. Ich fragte mich oft, ob er nicht vielleicht doch ein Sündenbock war. Ich sagte mir, dass er ja im Oktober zurückkehren würde. Und dann fragte ich mich natürlich, was das ändern sollte. Seine Frau würde weiterhin schwanger sein und die restliche Unsicherheit immer noch bestehen.

Inzwischen musste ich Sadies langsame Genesung beaufsichtigen; es gab Rechnungen zu zahlen, Versicherungsvordrucke auszufüllen (die Bürokratie war 1963 genauso nervtötend wie 2011) und Proben zu leiten. Dr. Ellerton konnte nur zu einer kommen, aber er lernte schnell und meisterte seine Hälfte von Bertha dem tanzenden Pony mit begeisterndem Elan. Nach der Probe erzählte er mir, dass er vorhabe, einen Kollegen hinzuzuziehen, einen Gesichtschirurgen vom Massachusetts General. Ich versicherte ihm – mit sinkendem Mut –, ein weiterer Chirurg sei eine großartige Idee.

»Können Sie sich das denn auch leisten?«, fragte er. »Mark Anderson ist nicht billig.«

»Wir kommen schon zurecht«, sagte ich.

Als die beiden Vorstellungen näher rückten, lud ich Sadie zu den Proben ein. Sie weigerte sich sanft, aber nachdrücklich, obwohl sie anfangs versprochen hatte, wenigstens zur Generalprobe zu kommen. Sie verließ das Haus nur selten, und wenn doch, ging sie nur in den Garten. Seit dem Abend, an dem John Clayton ihr das Gesicht zerschnitten und sich dann selbst die Kehle durchtrennt hatte, war sie nicht mehr in der Schule gewesen – geschweige denn in der Stadt.

5

Den späten Vormittag und frühen Nachmittag des 12. Juli verbrachte ich bei einer letzten Technikprobe in der Grange Hall. Mike Coslaw, der die Rolle des Dramaturgen so selbstverständlich ausfüllte wie die eines Komikers, erzählte mir, dass die Samstagsvorstellung ausverkauft sei, die heutige zu neunzig Prozent. »Die restlichen Plätze gehen an der Abendkasse weg, Mr. A. Verlassen Sie sich darauf. Hoffentlich verpatzen ich und Bobbi Jill die Zugabe nicht.«

»Bobbi Jill und ich, Mike. Und ihr werdet sie nicht verpatzen.«

All das war gut. Weniger gut war, dass mir Ellen Dockertys Wagen begegnete, als ich eben auf die Bee Tree Lane abbog, und Sadie bei meinem Eintreffen mit verweintem Gesicht und einem Taschentuch in der zur Faust geballten Hand am Wohnzimmerfenster saß.

»Was ist?«, fragte ich. »Was hat sie zu dir gesagt?«

Sadie überraschte mich, indem sie sich ein Grinsen abrang. Es war ziemlich schief, besaß aber einen gewissen kessen Charme. »Nichts, was nicht wahr gewesen wäre. Mach dir bitte keine Sorgen. Ich mache dir ein Sandwich, und du kannst mir erzählen, wie es gelaufen ist.«

Das tat ich dann also. Und ich machte mir natürlich Sorgen, die ich jedoch für mich behielt. Ebenso wie meinen Kommentar zum Thema lästige Schulleiterinnen, die sich in alles einmischen müssten. Um sechs Uhr an diesem Abend inspizierte Sadie mich, rückte mir die Krawatte zurecht und wischte dann einen Fussel, real oder imaginär, von einer Schulter meines Sportsakkos. »Ich würde dir Hals- und Beinbruch wünschen, aber geh einfach los und mach.«

Sie trug ihre alten Jeans und eine Babydoll-Bluse, die – zumindest ein wenig – ihren enormen Gewichtsverlust tarnte. Ich musste unwillkürlich an das hübsche Kleid denken, das sie zum ursprünglichen Jodie Jamboree getragen hatte. Ein hübsches Kleid, in dem an jenem Abend eine hübsche junge Frau gesteckt hatte. Das war damals gewesen. Heute würde die junge Frau – auf einer Seite immer noch hübsch – zu Hause sitzen, wenn der Vorhang hochging, und sich eine Wiederholung von Route 66 ansehen.

»Was hast du?«, fragte sie.

»Ich wünschte nur, du wärst auch dort, das ist alles.«

Ich bedauerte sofort, das gesagt zu haben, aber so schlimm war es dann doch nicht. Ihr Lächeln verblasste zunächst, kehrte dann aber zurück. Wie die Sonne, wenn sie vorübergehend durch eine sehr kleine Wolke verdeckt wurde. »Du bist dort. Das heißt, dass auch ich dort bin.« Aus dem einen Auge, das ihre Veronica-Lake-Welle nicht verdeckte, betrachtete sie mich mit scheuem Ernst. »Das heißt, wenn du mich liebst.«

»Ich liebe dich sehr.«

»Ja, das stimmt wohl.« Sie küsste meinen Mundwinkel. »Und ich liebe dich auch. Brich dir also nichts, und richte allen meinen Dank aus.«

»Wird gemacht. Du hast keine Angst, wenn du hier allein bist?«

»Ich komme schon zurecht.« Das war eigentlich keine Antwort auf meine Frage, aber das Beste, wozu sie im Augenblick imstande war.

6

Mike behielt recht, was die Abendkasse betraf. Die Freitagsvorstellung war eine volle Stunde vor Vorstellungsbeginn ausverkauft. Donald Bellingham, unser Inspizient, regelte die Saalbeleuchtung um Punkt 20 Uhr herunter. Ich hatte erwartet, nach dem fast unübertrefflichen Original mit seinem Tortenwurf-Finale (das wir nur am Samstagabend wiederholen würden, weil keiner von uns die Bühne der Grange Hall – und die vordersten Reihen – zweimal putzen wollte) eine gewisse Enttäuschung zu spüren, aber dieses Jamboree war fast ebenso gut. Für mich war der komische Höhepunkt der Show das gottverdammte tanzende Pony. Dr. Ellertons vordere Hälfte, der übertrieben begeisterte Coach Borman, walzte Bertha endlose Sekunden lang fast von der Bühne.

Das Publikum hielt diese zwanzig oder dreißig Sekunden, in denen Bertha sich durchs Rampenlicht schlängelte, für einen Teil der Show und applaudierte dieser Kühnheit herzhaft. Ich, der es besser wusste, fand mich in einem emotionalen Paradox gefangen, das sich vermutlich niemals wiederholen würde. Ich stand in den Kulissen neben dem vor Schreck wie gelähmten Donald Bellingham und lachte wie wild, während mir das Herz bis zum Hals schlug.

Die Harmonisierung dieses Abends ereignete sich bei der Zugabe. Mike und Bobbi Jill gingen Hand in Hand in die Bühnenmitte. Bobbi Jill wandte sich an das Publikum und sagte: »Miz Dunhill bedeutet mir sehr, sehr viel, wegen ihrer Freundlichkeit und christlichen Wohltätigkeit. Sie hat mir geholfen, als ich Hilfe brauchte, und mich dazu gebracht, das lernen zu wollen, was wir Ihnen jetzt vorführen möchten. Wir danken Ihnen allen, dass Sie heute Abend gekommen sind und Ihre christliche Wohltätigkeit bewiesen haben. Nicht wahr, Mike?«

»O ja«, sagte er. »Ihr seid die Besten, Leute!«

Er sah auf der Bühne nach links. Ich zeigte auf Donald, der mit dem Tonarm in der Hand über den Plattenspieler gebeugt bereitstand, um die Nadel in die Rille zu setzen. Diesmal würde Donalds Vater verdammt genau wissen, dass Donald sich eine seiner Big-Band-Platten ausgeliehen hatte, denn der Mann saß im Publikum.

Glenn Miller, der einst beliebte Fliegerjackenträger, begann mit »In the Mood«, und während das Publikum im Takt mitklatschte, legten Mike Coslaw und Bobbi Jill einen Turbo-Lindy hin, der alles, was ich jemals mit Christy oder Sadie geschafft hatte, alt aussehen ließ. Hier war alles Jugend und Spaß und Begeisterung, und das machte ihren Auftritt so hinreißend. Als ich sah, wie Mike Bobbi Jills Hand drückte, um ihr zu signalisieren, sich in Gegenrichtung zu drehen und zwischen seinen Beinen hindurchzugleiten, war ich plötzlich wieder in Derry und sah Bevvie-from-the-levee und Richie-from-the-ditchie zu.

Es gehört alles zusammen, dachte ich. Es ist ein so perfektes Echo, dass niemand sagen kann, was die lebende Stimme und was die zurückgeworfene Geisterstimme ist.

Einen Augenblick lang war alles klar, und wenn das passierte, sah man, dass die Welt in Wirklichkeit kaum da war. Wussten wir das insgeheim nicht alle? Es war ein perfekt ausbalancierter Mechanismus aus Rufen und Echos, die vorgaben, Räder und Zahnräder zu sein: eine Traumuhr, die hinter einem milchigen Glas schlug, das wir als Leben bezeichneten. Dahinter? Darunter und auf allen Seiten? Chaos, Stürme, Männer mit Hämmern, Männer mit Messern, Männer mit Gewehren. Frauen, die verdrehten, was sie nicht beherrschen konnten, und herabsetzten, was sie nicht verstehen konnten. Ein Universum aus Horror und Verlust, das eine einzelne beleuchtete Bühne umgab, auf der Sterbliche tanzten, um der Dunkelheit zu trotzen.

Mike und Bobbi Jill tanzten in ihrer Zeit, und ihre Zeit war 1963, die Ära von Bürstenhaarschnitten, Fernsehtruhen und selbst produziertem Garagen-Rock. Sie tanzten an dem Tag, an dem President Kennedy zusagte, einen Atomwaffenteststopp zu unterzeichnen, und den Journalisten erklärte, er werde nicht zulassen, dass unsere Streitkräfte in den Morast der undurchschaubaren Politik und uralten Fehden Südostasiens gerieten. Sie tanzten, wie Bevvie und Richie getanzt hatten, wie Sadie und ich getanzt hatten, und sie waren schön, und ich liebte sie nicht trotz ihrer Zerbrechlichkeit, sondern gerade ihretwegen. Ich liebe sie immer noch.

Ihr Finale war perfekt: Sie standen mit erhobenen Händen und schwer atmend da und blickten ins Publikum. Mike ließ den Applaus volle vierzig Sekunden lang gewähren (erstaunlich, wie rasch das Rampenlicht einen bescheidenen Footballverteidiger in eine echte Rampensau verwandeln konnte), dann bat er um Ruhe. Schließlich bekam er sie.

»Unser Regisseur, Mr. George Amberson, möchte ein paar Worte sprechen. Er hat viel Mühe und Kreativität in diese Show gesteckt, deshalb hoffe ich, dass er reichlich Beifall bekommt.«

Ich trat unter neuem Applaus auf die Bühne. Ich schüttelte Mike die Hand und küsste Bobbi Jill auf die Wange. Die beiden verschwanden in den Kulissen. Ich hob um Ruhe bittend selbst die Hände, begann meine sorgfältig einstudierte Rede mit der Feststellung, dass Sadie heute Abend leider nicht hier sein könne, und dankte allen in ihrem Namen. Jeder Redner, der etwas taugte, wusste, dass er sich auf einzelne Zuhörer konzentrieren musste – in meinem Fall ein Paar in der dritten Reihe, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Ma und Pa auf dem Bild American Gothic hatte. Es waren Jessica Caltrop und Fred Miller, die beiden Mitglieder des Schulausschusses, die uns die Schulturnhalle verweigert hatten, weil sie fanden, dass der Überfall auf Sadie durch ihren Ex eine Geschmacklosigkeit sei, die man möglichst ignoriere.

Im vierten Satz meiner Rede wurde ich durch einen kollektiven Laut des Erstaunens unterbrochen. Dann folgte Applaus – erst zögerlich, dann zunehmend zu einem Sturm anschwellend. Das Publikum erhob sich von den Sitzen. Ich hatte keine Ahnung, weshalb die Leute applaudierten, bis ich eine Hand spürte, die meinen rechten Arm knapp über dem Ellbogen leicht umfasste. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah Sadie in ihrem roten Kleid neben mir stehen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und mit einem Strassclip befestigt. Ihr Gesicht – beide Seiten – war komplett sichtbar. Ich war bass erstaunt, als ich entdeckte, dass die verbliebenen Schäden – die ich hier zum ersten Mal deutlich sehen konnte – nicht so schrecklich waren, wie ich befürchtet hatte. Darin mochte irgendeine universelle Botschaft liegen, aber ich war zu erstaunt, um dahinterzukommen. Klar, die tief eingesunkene Wange mit dem nur langsam verblassenden roten Kreuzstichmuster war nicht schön anzusehen. Das galt auch für das schlaffe Fleisch und ihr übernatürlich großes linkes Auge, das nicht mehr ganz synchron mit dem rechten blinzelte.

Aber sie lächelte ihr charmantes, einseitiges Lächeln, und das machte sie in meinen Augen zu Helena von Troja. Ich umarmte sie, und sie erwiderte meine Umarmung lachend und weinend. Unter dem Kleid vibrierte sie am ganzen Leib wie ein unter Hochspannung stehendes Kabel. Als wir uns wieder dem Publikum zuwandten, waren alle aufgestanden und jubelten uns zu, außer Miller und Caltrop. Die beiden sahen sich um, stellten fest, dass sie als Einzige noch auf ihrem Hintern saßen, und folgten widerstrebend dem Beispiel der anderen.

»Danke«, sagte Sadie, als wieder Ruhe im Saal herrschte. »Ich danke euch allen aus tiefstem Herzen. Mein besonderer Dank gilt Ellen Dockerty, die mir erklärt hat, wenn ich nicht herkomme und euch allen in die Augen sehe, würde ich das für den Rest meines Lebens bereuen. Und am meisten danke ich …«

Ein kaum wahrnehmbares Zögern. Das Publikum nahm es bestimmt nicht einmal wahr, sodass ich als Einziger im Saal wusste, wie dicht Sadie davor gewesen war, fünfhundert Leuten meinen richtigen Namen zu verraten.

»… George Amberson. Ich liebe dich, George.«

Was natürlich Beifallsstürme auslöste. In finsteren Zeiten, wenn selbst die Weisen unsicher waren, bewirkten Liebesbezeugungen das immer.

7

Ellen brachte Sadie – die sichtlich erschöpft war – gegen halb elf nach Hause. Um Mitternacht machten Mike und ich das Licht in der Grange Hall aus und traten ins Freie. »Kommen Sie noch zu unserer Party, Mr. A.? Al hat gesagt, dass er bis zwei Uhr geöffnet haben will, und er hat ein paar Fässchen auf Lager. Er hat keine Lizenz dafür, aber ich glaube nicht, dass er deswegen verhaftet wird.«

»Nicht für mich«, sagte ich. »Ich bin erschossen. Wir sehen uns morgen, Mike.«

Bevor ich zu Sadie fuhr, schaute ich noch bei Deke vorbei. Er saß im Schlafanzug auf der Veranda vor seinem Haus und rauchte eine letzte Pfeife.

»Ziemlich besonderer Abend«, sagte er.

»Ja.«

»Deine junge Freundin hat Mut bewiesen. Tonnenweise.«

»Das hat sie.«

»Behandelst du sie auch anständig, mein Sohn?«

»Ich werd’s versuchen.«

Er nickte. »Das hat sie nach diesem anderen verdient. Und du machst deine Sache nicht schlecht.« Er sah zu meinem Chevy hinüber. »Heute Nacht könntest du vermutlich mit deinem Auto fahren und es vor ihrem Haus parken. Ich glaube nicht, dass nach heute Abend deswegen noch jemand mit der Wimper zucken würde.«

Wahrscheinlich hatte er recht, aber ich beschloss, lieber vorsichtig zu sein, und ging wie in so vielen anderen Nächten zu Fuß. Diese Zeit brauchte ich, damit meine Gefühle zur Ruhe kommen konnten. Ich sah immer wieder Sadie im Rampenlicht. Ihr rotes Kleid. Die elegante Kurve ihres Nackens. Die glatte Wange … und die zerfetzte.

Als ich das Haus in der Bee Tree Lane betrat, war das Bettsofa im Wohnzimmer noch zugeklappt. Ich stand da und betrachtete es leicht verwirrt, weil ich nicht wusste, wie ich das deuten sollte. Dann rief Sadie meinen Namen – meinen richtigen Namen – aus dem Schlafzimmer. Ganz leise.

Die Nachttischlampe warf sanftes Licht auf ihre bloßen Schultern und eine Gesichtshälfte. Ihre Augen leuchteten ernst. »Ich glaube, dass du hierher gehörst«, sagte sie. »Ich möchte dich hier haben. Willst du das auch?«

Ich zog mich aus und kroch zu ihr ins Bett. Ihre Hand bewegte sich unter der Decke, fand mich, liebkoste mich. »Bist du hungrig? Ich habe Napfkuchen, falls du ein Stück möchtest.«

»Oh, Sadie, ich verhungere.«

»Dann mach das Licht aus.«

8

Diese Nacht in Sadies Bett war die beste meines Lebens – nicht nur weil damit das Kapitel John Clayton endgültig abgeschlossen war, sondern weil sie für uns ein neues aufschlug.

Nachdem wir uns ausgiebig geliebt hatten, sank ich in den ersten wirklichen Tiefschlaf seit Monaten. Ich wachte um acht Uhr auf. Die Sonne war längst aufgegangen, im Küchenradio sangen die Angels »My Boyfriend’s Back«, und ich konnte gebratenen Speck riechen. Bald würde sie mich an den Tisch rufen, aber nicht gleich jetzt. Nicht sofort.

Ich faltete die Hände hinter dem Kopf, sah zur Decke auf und wunderte mich darüber, wie dämlich – wie fast wissentlich blind – ich seit dem Tag gewesen war, an dem ich zugelassen hatte, dass Lee ungehindert den Bus nach New Orleans bestieg. Musste ich wissen, ob de Mohrenschildt mehr mit dem Anschlag auf Edwin Walker zu tun hatte, als nur einen psychisch labilen Menschen dazu angestiftet zu haben? Nun, das ließe sich eigentlich recht einfach feststellen, oder?

De Mohrenschildt wusste es, also würde ich ihn fragen.

9

Sadie aß besser als jemals seit dem Abend, an dem Clayton in ihr Haus eingedrungen war, und ich tat es ihr gleich. Gemeinsam vertilgten wir ein halbes Dutzend Eier, dazu Toast und Speck. Als das Geschirr im Ausguss stand und sie zu ihrer zweiten Tasse Kaffee eine Zigarette rauchte, verkündete ich, dass ich sie etwas fragen wolle.

»Wenn es darum geht, ob ich heute zur Show komme: Ich glaube nicht, dass ich das ein zweites Mal könnte.«

»Es geht um etwas anderes. Aber weil wir gerade beim Thema sind: Was hat Ellie eigentlich zu dir gesagt?«

»Dass es Zeit wird, mit dem Selbstmitleid Schluss zu machen und wieder im Festzug mitzumarschieren.«

»Ziemlich unverblümt.«

Sadie strich sich mit einer automatischen Geste die Haare über ihre entstellte Gesichtshälfte. »Miz Ellie ist nicht für Takt und Feingefühl bekannt. Hat sie mich schockiert, als sie hier reingeplatzt ist und mir erklärt hat, dass ich aufhören soll, meine Zeit mit Selbstmitleid zu verplempern? Ja, das hat sie. Hat sie recht damit? Ja, das auch.« Sie hörte auf, ihr Haar zu streicheln, und schob es abrupt mit dem Handballen nach hinten. »So werde ich in Zukunft aussehen – na ja, mit ein paar Verbesserungen –, also sollte ich mich daran gewöhnen. Sadie wird herausfinden müssen, ob die alte Redensart, dass Schönheit nur hauttief ist, wirklich zutrifft.«

»Darüber wollte ich mit dir reden.«

»Na gut.« Sie stieß Rauch durch die Nasenlöcher aus.

»Nehmen wir mal an, ich könnte dich an einen Ort mitnehmen, an dem Chirurgen dein Gesicht wiederherstellen könnten – nicht perfekt, aber weit besser, als Dr. Ellerton und sein Team es jemals könnten. Würdest du mitkommen? Auch wenn du wüsstest, dass du nie wieder hierher zurückkönntest?«

Sie runzelte die Stirn. »Reden wir hypothetisch?«

»Eigentlich nicht.«

Sie drückte langsam und bedächtig ihre Zigarette aus und dachte dabei nach. »Ist das etwas wie die experimentelle Krebsbehandlung, zu der Miz Mimi nach Mexiko gereist ist? Ich glaube nicht, dass ich …«

»Ich rede von Amerika, Schatz.«

»Nun, wenn’s um Amerika geht, verstehe ich nicht, wieso wir nicht einfach …«

»Hier ist der Rest: Ich muss vielleicht dorthin. Mit dir oder ohne dich.«

»Um dann nie wieder zurückzukommen?« Sie wirkte besorgt.

»Nie. Das könnte keiner von uns – aus Gründen, die zu schwierig zu erklären sind. Ich nehme an, dass du mich jetzt für verrückt hältst.«

»Ich weiß, dass du das nicht bist.« Sie blickte beunruhigt, sprach aber, ohne zu zögern.

»Ich muss vielleicht etwas tun, was den hiesigen Gesetzeshütern wie ein Verbrechen vorkommt. Es ist kein Verbrechen, aber das würde mir nie jemand glauben.«

»Ist das … Jake, hat das etwas mit dem zu tun, was du mir von Adlai Stevenson erzählt hast? Was er über die zufrierende Hölle gesagt hat?«

»In gewisser Weise. Aber die Sache hat einen Haken: Auch wenn ich das, was ich tun muss, ohne geschnappt zu werden schaffe – was ich mir zutraue –, ändert das nichts an deiner Situation. Dein Gesicht bleibt durch größere oder kleinere Narben entstellt. An jenem anderen Ort, zu dem ich dich mitnehmen könnte, gibt es Operationsmethoden, von denen Ellerton nur träumen kann.«

»Aber wir könnten nie zurückkommen.« Sie sprach nicht mit mir; sie versuchte nur, sich selbst darüber Klarheit zu verschaffen.

»Richtig.« Das eigentliche Problem lautete: Kämen wir am 9. September 1958 zurück, würde die Originalversion von Sadie Dunhill bereits existieren. Das war ein Paradox, über das ich nicht einmal nachdenken wollte.

Sie stand auf und trat ans Fenster. Dort blieb sie lange mit dem Rücken zu mir stehen. Ich wartete.

»Jake?«

»Ja, Schatz.«

»Kannst du die Zukunft voraussagen? Das kannst du, nicht wahr?«

Ich schwieg.

Mit schwacher Stimme fragte sie: »Bist du aus der Zukunft hierhergekommen?«

Ich schwieg.

Sie wandte sich vom Fenster ab. Ihr Gesicht war leichenblass. »Jake, bist du aus der Zukunft?«

»Ja.« Mir war, als wäre ein großer Felsblock von meiner Brust gerollt. Zugleich hatte ich schreckliche Angst. Um uns, aber vor allem um sie.

»Wie … wie weit voraus?«

»Schatz, willst du wirklich …«

»Ja. Wie weit voraus?«

»Fast achtundvierzig Jahre.«

»Bin ich … tot?«

»Das weiß ich nicht. Das will ich auch nicht wissen. Das Jetzt zählt. Und wir zählen.«

Sie dachte darüber nach. Die Haut um die roten Verletzungsnarben war sehr weiß geworden, und ich wollte auf sie zutreten, aber ich hatte Angst, mich zu bewegen. Was, wenn sie mit einem Aufschrei vor mir flüchtete?

»Wozu bist du hier?«

»Um einen Mann daran zu hindern, etwas zu tun. Notfalls bringe ich ihn vorher um. Das heißt, wenn ich hundertprozentig davon überzeugt bin, dass er den Tod verdient. Bisher konnte ich mich noch nicht eindeutig davon überzeugen.«

»Was ist dieses Etwas?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er in vier Monaten den Präsidenten ermorden wird. Er wird John Ken…«

Ich sah, wie ihre Knie nachgaben, aber sie schaffte es, auf den Beinen zu bleiben, bis ich sie auffangen konnte, bevor sie vollends zusammenbrach.

10

Ich trug sie ins Schlafzimmer und ging dann ins Bad, um einen nassen Waschlappen zu holen. Als ich zurückkam, hatte sie die Augen schon wieder geöffnet. Sie betrachtete mich mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.

»Ich hätte es dir nicht sagen sollen.«

»Vielleicht nicht«, sagte sie, aber sie fuhr nicht zusammen, als ich mich neben sie aufs Bett setzte, und ließ einen zufriedenen kleinen Seufzer hören, als ich ihr Gesicht mit dem kalten Waschlappen abtupfte, wobei ich den schlimmen Bereich aussparte, der nur noch für starke, dumpfe Schmerzen empfindlich war. Als ich fertig war, betrachtete Sadie mich mit feierlichem Ernst. »Erzähl mir etwas, was erst passieren wird. Ich brauche das, wenn ich dir glauben soll. Irgendwas wie die Sache mit Adlai Stevenson und der zufrierenden Hölle.«

»Das kann ich nicht. Ich habe Englisch studiert, nicht amerikanische Geschichte. Und in meiner Schulzeit wurde die Geschichte Maines behandelt, aber ich weiß praktisch nichts über Texas. Ich kann nur …« Auf einmal fiel mir ein, dass ich doch etwas wusste. Ich erinnerte mich an den letzten Eintrag auf Al Templetons Sportwettenliste. Für den Fall, dass du eine letzte Geldspritze brauchst, hatte er dazugeschrieben.

»Jake?«

»Ich weiß, wer nächsten Monat den Boxkampf im Madison Square Garden gewinnen wird. Er heißt Tom Case und wird Dick Tiger in der fünften Runde k. o. schlagen. Wenn er das nicht tut, darfst du meinetwegen die Männer in den weißen Kitteln rufen. Aber kannst du das bis dahin für dich behalten? Davon hängt viel ab.«

»Ja, das kann ich.«

11

Ich rechnete halbwegs damit, dass Deke oder Miz Ellie mich nach der zweiten Abendvorstellung abfangen würden, um mir mit ernster Miene mitzuteilen, dass Sadie angerufen und ihnen erklärt habe, ich hätte mein letztes bisschen Verstand verloren. Aber das passierte nicht, und als ich in Sadies Haus zurückkam, lag auf dem Tisch eine Mitteilung: Weck mich, wenn du einen Mitternachtsimbiss willst.

Es war nicht Mitternacht – noch nicht ganz –, und Sadie schlief noch nicht. Die folgenden etwa vierzig Minuten waren sehr vergnüglich. Danach sagte sie im Halbdunkel: »Ich muss mich nicht gleich entscheiden, oder?«

»Nein.«

»Und wir brauchen jetzt nicht darüber zu sprechen.«

»Nein.«

»Vielleicht nach dem Boxkampf, von dem du mir erzählt hast.«

»Vielleicht.«

»Ich glaube dir, Jake. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass ich verrückt bin, aber ich tu’s. Und ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

Ihre Augen leuchteten im Halbdunkel: das eine, das mandelförmig war, und das andere, das trotz des hängenden Lids sein Sehvermögen bewahrt hatte. »Ich will nicht, dass dir etwas zustößt, und ich will nicht, dass du jemand etwas antust, wenn du nicht unbedingt musst. Und nicht, wenn es irrtümlich sein könnte. Auf keinen Fall! Versprichst du mir das?«

»Ja.« Das fiel mir leicht. Nur aus diesem Grund lebte und atmete Lee Oswald noch.

»Passt du gut auf dich auf?«

»Ja. Ich werde sehr …«

Sie schnitt mir das Wort mit einem Kuss ab. »Weil es für mich ohne dich – unabhängig davon, wo du herkommst – keine Zukunft gibt. Und jetzt wollen wir schlafen.«

12

Ich nahm an, das Gespräch würde am nächsten Morgen fortgeführt werden. Ich hatte keine Ahnung, was – das heißt, wie viel – ich ihr dann erzählen würde, aber wie sich herausstellte, brauchte ich ihr nichts mehr zu erzählen, weil sie nämlich nicht danach fragte. Stattdessen wollte sie wissen, wie viel die Sadie-Dunhill-Wohltätigkeitsshow eingebracht habe. Als ich ihr erzählte, dass durch den Kartenverkauf und mit dem Inhalt der Spendenbox im Foyer gut dreitausend Dollar zusammengekommen seien, warf sie den Kopf in den Nacken und ließ ein wundervolles, lautes Lachen hören. Drei Mille würden nicht ausreichen, um ihre Operationen zu bezahlen, aber es war eine Million wert, Sadie so lachen zu hören … statt dass sie sagt: Wozu das alles, wenn ich mich einfach in der Zukunft behandeln lassen kann? Weil ich mir nicht ganz sicher war, ob sie wirklich vorhatte mitzukommen, selbst wenn sie mir tatsächlich glaubte – und weil ich nicht recht wusste, ob ich sie überhaupt mitnehmen wollte.

Ich wollte mit ihr zusammen sein, ja. Für immer, soweit das menschenmöglich war. Aber das konnte im Jahr 1963 besser sein … und in all den Jahren, die Gott oder die Vorhersehung uns nach 1963 schenkten. Uns konnte es besser gehen. Mir stand deutlich vor Augen, wie Sadie durchs Jahr 2011 irrte, wie sie jeden Minirock, jede bauchfreie Jeans und jeden Computermonitor fasziniert und unbehaglich anstarrte. Ich würde sie niemals anbrüllen oder schlagen – nein, nicht Sadie –, aber vielleicht würde sie trotzdem meine Marina Prusakowa werden, die an einem fremden Ort lebte und nie in ihre Heimat zurückkehren konnte.

13

In Jodie gab es jemand, der vermutlich wusste, wie ich Als letzten Wettvorschlag zu Geld machen konnte. Das war Freddy Quinlan, der Immobilienmakler. Er veranstaltete bei sich ein wöchentliches Pokerspiel mit fünf Cent Einsatz und einem Vierteldollar fürs Halten, an dem ich einige Male teilgenommen hatte. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er damit angegeben, auf zwei Gebieten erfolgreich wetten zu können: Profifootball und das Texas State Basketball Tournament. Er empfing mich nur deshalb in seinem Büro, sagte er, weil es fürs Golfen zu verdammt heiß sei.

»Wovon reden wir hier, George? Von einer mittelhohen Wette oder von einer um Haus und Hof?«

»Ich denke an fünfhundert Dollar.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus, dann lehnte er sich auf dem Drehstuhl zurück und faltete die Hände über dem straffen kleinen Bauch. Es war erst neun Uhr morgens, aber das Klimagerät lief auf Hochtouren. Stapel von Immobilienprospekten flatterten in dem eisigen Wind. »Das ist ’ne Menge Holz. Möchtest du mir vielleicht einen guten Tipp geben?«

Weil Freddy mir einen Gefallen tat – zumindest hoffte ich das –, erzählte ich ihm, auf wen ich wetten wolle. Seine Augenbrauen schossen so hoch, dass sie Gefahr liefen, mit seinem zurückweichenden Haaransatz zu kollidieren.

»Heiliger Strohsack! Warum wirfst du dein Geld nicht einfach in den nächsten Gully?«

»Ich hab so ein Gefühl, das ist alles.«

»George, hör auf deinen Daddy. Der Kampf Case gegen Tiger ist kein Sportereignis, er ist ein Versuchsballon für diese neue Art der Fernsehübertragung. Manche der Rahmenkämpfe sind vielleicht nicht schlecht, aber der Hauptkampf ist ein Witz. Tiger wird die Anweisung haben, den armen Kerl sieben bis acht Runden lang auf den Beinen zu lassen und ihn dann auszuknocken. Es sei denn …«

Er beugte sich vor. Irgendwo unter der Sitzfläche knarrte sein Drehstuhl hässlich. »Es sei denn, du wüsstest etwas.« Er lehnte sich wieder zurück und schürzte die Lippen. »Aber wie könntest du das? Du lebst in Jodie, um Himmels willen. Aber wenn’s so wäre, würdest du einen Kumpel einweihen, stimmt’s?«

»Ich weiß nichts«, sagte ich (was glatt gelogen war, mich aber nicht im Geringsten belastete). »Das ist nur ein Gefühl, aber als es das letzte Mal ähnlich stark war, habe ich darauf gewettet, dass die Pirates in den World Series gegen die Yankees gewinnen, und eine Menge Geld eingestrichen.«

»Nicht schlecht, aber du kennst ja die alte Redensart – sogar eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig.«

»Hilfst du mir jetzt oder nicht, Freddy?«

Er bedachte mich mit einem Lächeln, das mir versicherte, dass der Dummkopf und sein Geld bald getrennte Wege gehen würden. »In Dallas gibt’s einen Kerl, der deinen Einsatz gern annehmen wird. Er heißt Akiva Roth. Betreibt sein Wettbüro bei Faith Financial in der Greenville Avenue. Hat das Geschäft vor fünf oder sechs Jahren von seinem Vater übernommen.« Er senkte die Stimme. »Wie man hört, hat er gute Verbindungen zur Mafia.« Er sprach noch leiser. »Carlos Marcello.«

Genau davor hatte ich Angst, weil das nämlich schon Eduardo Gutierrez nachgesagt worden war. Ich musste wieder an den in Florida zugelassenen Lincoln denken, der gegenüber dem Wettbüro gestanden hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich riskieren möchte, beim Betreten eines Wettbüros gesehen zu werden. Ich will vielleicht wieder als Lehrer arbeiten, und mindestens zwei Mitglieder des Schulausschusses sind eh schon sauer auf mich.«

»Du könntest es mit Frank Frati drüben in Fort Worth versuchen. Er betreibt ein Leihhaus.« Sein Stuhl knarrte wieder, als Freddy sich vorbeugte, um mein Gesicht besser sehen zu können. »Was hab ich gesagt? Oder hast du ’ne Fliege verschluckt?«

»Nein, nein. Ich habe bloß mal einen Frati gekannt. Der auch Pfandleiher war und Wetten angenommen hat.«

»Wahrscheinlich stammen beide aus demselben Geldwechsler-Clan in Rumänien. Jedenfalls würde er deine fünf Hunderter vermutlich akzeptieren – vor allem bei einer so dämlichen Wette. Nur dass du bei ihm nicht die Quote kriegst, die du verdient hättest. Die würdest du natürlich auch bei Roth nicht kriegen, aber sie wäre besser als bei Frank Frati.«

»Aber bei Frank gäbe es keine Verbindung zur Mafia. Richtig?«

»Vermutlich nicht, aber wer weiß das schon. Buchmacher, auch die im Nebenberuf, sind nicht gerade für hochklassige Geschäftsverbindungen bekannt.«

»Vielleicht sollte ich deinen Rat beherzigen und mein Geld behalten.«

Quinlan wirkte erschrocken. »Nein, nein, nein, tu das nicht. Setz darauf, dass die Bears Footballmeister werden. Damit verdienst du einen Haufen Geld. Das kann ich praktisch garantieren.«

14

Am 22. Juli erklärte ich Sadie, dass ich einiges in Dallas zu erledigen und deshalb Deke gebeten hätte, nach ihr zu sehen. Sie versicherte mir, das sei unnötig gewesen, sie komme auch so gut zurecht. Sie fand wieder in ihr altes Leben zurück. Langsam, in kleinen Schritten, ja, aber sie fand dorthin zurück.

Sie fragte nicht nach, was ich zu erledigen hätte.

Mein erstes Ziel war die First Corn Bank, in der ich mein Schließfach öffnete und Als Liste dreimal kontrollierte, um mich zu vergewissern, dass mich meine Erinnerung wirklich nicht trog. Das war nicht der Fall. Tom Case würde überraschend siegen, indem er Dick Tiger in der fünften Runde k. o. schlug. Diese Informationen musste Al aus dem Internet haben, weil er Dallas – und die sensationellen Sechziger – schon lange vor dem Kampf verlassen hatte.

»Kann ich heute sonst noch etwas für Sie tun, Mr. Amberson?«, fragte mein Banker mich, als er mich anschließend zum Ausgang begleitete.

Na ja, Sie könnten ein kleines Gebet zum Himmel schicken, dass die Informationen meines alten Kumpels Al Templeton über diesen Boxkampf stimmen.

»Vielleicht. Wissen Sie, wo ich einen Kostümverleih finde? Ich soll beim Geburtstag meines Neffen als Zauberer auftreten.«

Nach einem kurzen Blick in die Gelben Seiten gab Mr. Links Sekretärin mir eine Adresse in der Young Street. Dort konnte ich kaufen, was ich brauchte. Ich lagerte es in der Wohnung in der West Neely Street – solange ich dafür Miete zahlte, sollte sie für irgendwas taugen. Dort ließ ich auch den Revolver auf dem obersten Fach des Kleiderschranks zurück. Die Wanze, die ich aus der Lampe im ersten Stock ausgebaut hatte, wanderte wie das raffinierte japanische Minitonbandgerät in mein Handschuhfach. Auf der Rückfahrt nach Jodie würde ich die Geräte im Gestrüpp abseits der Straße entsorgen. Brauchen konnte ich sie nicht mehr. Die Wohnung über mir war bisher nicht wieder vermietet worden, und im Haus herrschte gespenstische Stille.

Bevor ich die West Neely Street verließ, unternahm ich einen Rundgang durch den Garten neben dem Haus, in dem Marina erst vor einem Vierteljahr die Fotos von Lee mit seinem Gewehr gemacht hatte. Außer festgetrampelter Erde und robustem Unkraut gab es dort nichts zu sehen. Aber als ich schon gehen wollte, sah ich doch etwas: ein rotes Aufblitzen unter der Außentreppe. Dort lag eine Babyrassel. Ich nahm sie mit und legte sie zu der Wanze in mein Handschuhfach, aber im Gegensatz zu der Wanze behielt ich sie. Keine Ahnung, warum.

15

Mein nächstes Ziel war die weitläufige Ranch in der Simpson Stuart Road, in der George de Mohrenschildt und seine Frau Jeanne wohnten. Sobald ich sie sah, wurde mir klar, dass die Ranch für das beabsichtigte Treffen nicht geeignet war. Zum einen konnte ich nicht sicher sein, wann Jeanne zu Hause und wann sie unterwegs sein würde, und dieses Gespräch musste strikt unter vier Augen stattfinden. Außerdem lag die Ranch nicht einsam genug: im benachbarten Paul Quinn College, an dem nur Schwarze studierten, fanden jetzt wohl die Sommerseminare statt. Ich sah zwar keine Menschenmassen, aber viele junge Leute, auch zu Fuß und auf Fahrrädern. Für meinen Zweck eher schlecht. Es war möglich, dass unsere Diskussion lautstark sein würde. Auch wenn sie möglicherweise keine Diskussion war, wie der Merriam-Webster sie definierte.

Dann fiel mir etwas ins Auge. Es stand auf der weiten Rasenfläche vor dem Haus der de Mohrenschildts, auf der Rasensprenger elegante Girlanden versprühten und Regenbogen erzeugten, die so klein waren, dass man glaubte, sie einstecken zu können. 1963 war kein Wahljahr, aber Anfang April – ziemlich genau an dem Tag, an dem jemand auf General Edwin Walker geschossen hatte –, war der Abgeordnete aus dem Fünften Bezirk an einem Herzschlag gestorben. Deshalb würde es am 6. August eine Nachwahl um den freien Sitz geben.

Auf dem Schild stand: WÄHLT JENKINS FÜR DEN 5. BEZIRK! ROBERT »ROBBIE« JENKINS, DALLAS’ WEISSER RITTER!

Zeitungsberichten nach war die Bezeichnung für Jenkins sehr treffend: ein strammer Rechter, der mit Walker und Billy James Hargis, Walkers spirituellem Berater, übereinstimmte. Robbie Jenkins trat für die Rechte der Bundesstaaten, getrennte, aber gleichwertige Schulen und eine Wiederaufnahme der Seeblockade Kubas ein. Dasselbe Kuba, das de Mohrenschildt »diese schöne Insel« genannt hatte. Das Schild bestätigte meinen starken Verdacht in Bezug auf de Mohrenschildt. Der Mann war ein Dilettant, der eigentlich gar keine politischen Überzeugungen hatte. Er unterstützte jeden, der ihn amüsierte oder ihm Geld zusteckte. Letzteres konnte Lee Harvey Oswald nicht tun – er war so arm, dass Kirchenmäuse gegen ihn stinkreich wirkten –, aber seine humorlose Hingabe an den Sozialismus im Verein mit seinen grandiosen persönlichen Ambitionen hatte de Mohrenschildt oft genug belustigt.

Eine Schlussfolgerung lag auf der Hand: Lee hatte diesen Rasen nie betreten oder die Teppiche dieses Hauses mit seinen Bettlerfüßen beschmutzt. Dies war de Mohrenschildts anderes Leben … oder eines von vielen anderen. Ich hatte den Verdacht, dass er mehrere sorgfältig voneinander getrennte Leben führte. Aber damit war die zentrale Frage nicht beantwortet: Langweilte er sich so sehr, dass er Lee bei seinem Vorhaben, das faschistische Ungeheuer Edwin Walker zu erschießen, begleitet hatte? Ich kannte ihn nicht gut genug, eine begründete Vermutung anstellen zu können.

Aber dazu würde es noch kommen. Das war mir eine Herzensangelegenheit.

16

Auf dem großen Schild im Schaufenster von Frank Fratis Leihhaus stand: WILLKOMMEN IN DER GITARREN-ZENTRALE. Ringsum waren zahlreiche Gitarren ausgestellt: Akustikgitarren, Elektrogitarren, Gitarren mit zwölf Saiten und eine mit doppeltem Griffbrett, die mich an etwas erinnerte, was ich in einem Mötley-Crüe-Video gesehen hatte. Drinnen gab es natürlich all das Treibgut gescheiterter Existenzen: Ringe, Broschen, Halsketten, Radios, andere Elektrogeräte. Die Frau, die mich empfing, war nicht dick, sondern sehr mager; sie trug kein purpurrotes Gewand und Mokassins, sondern eine Stoffhose und eine Bluse von Ship N Shore, aber ihr versteinertes Gesicht war das gleiche wie das der Frau in Derry, und ich hörte mich die gleichen Worte wie dort sagen. Jedenfalls ähnlich genug, wenn man es nicht allzu genau nahm.

»Ich würde gern mit Mr. Frati über ein größeres sportlich orientiertes Geschäft sprechen.«

»Ach ja? Meinen Sie so eine Wette, die sich danebenbenimmt?«

»Sind Sie ein Cop?«

»O ja, ich bin Chief Curry von der Dallas Police. Sehen Sie das nicht an meiner Brille und meinen Hamsterbacken?«

»Ich sehe weder Brille noch Hamsterbacken, Ma’am.«

»Das kommt daher, dass ich verkleidet bin. Worauf wollen Sie mitten im Sommer denn setzen, Freundchen? Da gibt’s nämlich nichts zu wetten.«

»Case – Tiger.«

»Auf wen der beiden?«

»Case.«

Sie verdrehte die Augen, dann rief sie nach hinten: »Komm lieber mal raus, Dad! Kundschaft für dich!«

Frank Frati war fast doppelt so alt wie Chaz Frati, aber die Ähnlichkeit war trotzdem da. Die beiden waren verwandt, natürlich waren sie das. Hätte ich erwähnt, dass ich mal bei Mr. Frati in Derry, Maine, gewettet hätte, hätte sich zweifellos eine nette kleine Diskussion darüber ergeben, wie klein die Welt doch sei.

Aber stattdessen begann ich sofort zu verhandeln. Konnte ich fünfhundert Dollar darauf setzen, dass Tom Case seinen Kampf gegen Dick Tiger im Madison Square Garden gewinnen würde?

»Aber klar doch«, sagte Frati. »Sie könnten auch ein rot glühendes Brenneisen in Ihren Allerwertesten stecken, aber wozu würden Sie das wollen?«

Seine Tochter japste kurz und schrill auf.

»Welche Quote bekäme ich dafür?«

Er sah seine Tochter an. Sie hob beide Hände. Links waren zwei Finger hochgereckt, rechts einer.

»Zwei zu eins? Das ist lächerlich.«

»Das ganze Leben ist lächerlich, mein Lieber. Wenn Sie mir nicht glauben, sollten Sie ein Stück von Ionesco lesen. Ich würde Ihnen Opfer der Pflicht empfehlen.«

Immerhin nannte er mich nicht dauernd junger Freund wie sein Cousin in Derry.

»Kommen Sie, Mr. Frati, bewegen Sie sich ein bisschen.«

Er griff nach einer Hummingbird von Epiphone und begann sie zu stimmen. Das ging gespenstisch schnell. »Geben Sie mir einen Grund dafür – oder fahren Sie rüber nach Dallas. Dort gibt’s ein Wettbüro namens …«

»Das in Dallas kenne ich. Mir ist Fort Worth lieber. Ich habe mal hier gelebt.«

»Dass Sie weggezogen sind, beweist mehr Vernunft als Ihr Wunsch, auf Tom Case zu setzen.«

»Was wäre, wenn Case in den ersten sieben Runden durch K. o. siegen würde? Was bekäme ich dafür?«

Er sah zu seiner Tochter hinüber. Diesmal streckte sie drei Finger der linken Hand hoch.

»Und Case durch K. o. in den ersten fünf Runden?«

Sie überlegte, dann streckte sie den vierten Finger hoch. Ich beschloss, mich damit zufriedenzugeben. Ich schrieb meinen Namen in sein Buch und zeigte ihm meinen Führerschein, wobei ich die Adresse in Jodie mit dem Daumen verdeckte, genau wie vor fast drei Jahren, als ich bei Faith Financial auf die Pirates gewettet hatte. Dann blätterte ich den Einsatz hin, der ungefähr ein Viertel meiner verbliebenen Liquidität ausmachte, und steckte die Quittung anschließend in meine Geldbörse. Zweitausend würden genügen, um eine Anzahlung auf Sadies zukünftige Operationen zu leisten und meinen restlichen Aufenthalt in Texas zu finanzieren. Außerdem wollte ich diesen Frati nicht mehr ausnehmen, als ich Chaz Frati hatte ausnehmen wollen, den Bill Turcotte auf mich angesetzt hatte.

»Ich bin am Tag nach dem Tanz wieder hier«, sagte ich. »Halten Sie das Geld bereit.«

Die Tochter lachte und zündete sich eine Zigarette an. »Hat das nicht auch das Revuegirl zum Bischof gesagt?«

»Heißen Sie zufällig Marjorie?«, fragte ich.

Sie erstarrte mit der Zigarette in der halb erhobenen Hand, während zwischen ihren Lippen Rauch hervorquoll. »Woher wissen Sie das?« Sie sah meinen Gesichtsausdruck und lachte dann. »Eigentlich heiße ich Wanda, Sportsfreund. Hoffentlich sind Sie im Wetten besser als im Namenraten.«

Auf dem Rückweg zu meinem Wagen hoffte ich das Gleiche.

Kapitel 25

1

Am Morgen des 5. August blieb ich bei Sadie, bis sie auf eine fahrbare Krankentrage gelegt und in den OP gerollt wurde. Dort erwartete Dr. Ellerton sie mit genügend Kollegen, um ein Basketballteam aufstellen zu können. Sadies Augen glänzten von dem Mittel, das sie vor der Operation bekommen hatte.

»Wünsch mir viel Glück.«

Ich beugte mich über sie und küsste sie. »Alles Glück der Welt.«

Es dauerte drei Stunden, bis sie wieder in ihr Zimmer – dasselbe Zimmer, derselbe Kunstdruck an der Wand, dasselbe grässliche Klo in der Ecke – gerollt wurde: fest schlafend und schnarchend, ihre linke Gesichtshälfte mit einem neuen Verband bedeckt. Rhonda McGinley, die Oberschwester mit den Schultern eines Footballspielers, ließ mich bei ihr bleiben, bis sie wieder ansprechbar war, eigentlich ein gravierender Verstoß gegen die Vorschriften. Im Land des Einst waren die Besuchszeiten strenger geregelt. Außer die Oberschwester hatte einen ins Herz geschlossen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ich und nahm ihre Hand in meine.

»Wund. Und schläfrig.«

»Dann schlaf weiter, Schatz.«

»Vielleicht ist nächstes Mal …« Die Worte verschwammen zu einem Nuscheln. Ihre Augen schlossen sich, aber Sadie zwang sich dazu, sie noch einmal zu öffnen. »… alles besser. In deiner Welt.«

Dann war sie weg, und ich hatte etwas, worüber ich nachdenken konnte.

Als ich zum Stationszimmer zurückkam, hörte ich von Rhonda, dass Dr. Ellerton unten in der Cafeteria auf mich warte.

»Wir behalten sie heute Nacht und vermutlich noch morgen hier«, sagte er. »Wir wollen unbedingt vermeiden, dass irgendeine Infektion entsteht.« (Daran erinnerte ich mich natürlich später – eine dieser Sachen, die komisch, aber nicht wirklich lustig waren.)

»Wie ist es gelaufen?«

»So gut, wie man erwarten konnte, aber die Schäden durch den Messerangriff sind sehr schwer. Wenn ihre Genesung die erhofften Fortschritte macht, will ich die nächste Operation für November oder Dezember ansetzen.« Er zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch gegen die Decke und sagte: »Das Operationsteam ist große Klasse, und wir tun, was wir können, aber … es gibt eben Grenzen.«

»Ja, ich weiß.« Ich war mir ziemlich sicher, noch etwas anderes zu wissen: Es würde keine weiteren zwecklosen Operationen mehr geben, keine weiteren Schmerzen durch Versuche, etwas Irreparables zu reparieren. Zumindest nicht hier. Wenn Sadie das nächste Mal unters Messer kam, würde es gar kein Skalpell mehr sein, sondern ein Laser.

In meiner Welt.

2

Kleine Einsparungen machten sich später oft unangenehm bemerkbar. Um acht oder zehn Dollar im Monat zu sparen, hatte ich das Telefon aus meiner Wohnung in der West Neely Street entfernen lassen, und jetzt hätte ich es gebraucht. Aber vier Straßen weiter gab es einen U-Tote-M-Laden mit einer Telefonzelle neben dem Cokekühler. Ich hatte de Mohrenschildts Nummer auf einem Zettel. Ich warf eine Münze ein und wählte sie.

»Bei de Mohrenschildt, was kann ich für Sie tun?« Es war nicht Jeannes Stimme. Vermutlich ein Dienstmädchen … Wo hatte der Kerl bloß das viele Geld her?

»Kann ich bitte mit George sprechen?«

»Tut mir leid, er ist im Büro, Sir.«

Ich zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche. »Können Sie mir seine Nummer geben?«

»Ja, Sir. CHapel 5-6323.«

»Danke.« Ich schrieb sie mir auf den Handrücken.

»Soll ich ihm sagen, wer angerufen hat, falls Sie ihn nicht erreichen, Sir?«

Ich hängte wortlos ein. Eine vertraute Kälte erfasste mich. Die war ganz in meinem Sinne. Wenn ich jemals kalte Klarheit gebraucht hatte, dann jetzt.

Ich warf eine weitere Münze ein. Diesmal meldete sich eine Sekretärin, die mir mitteilte, ich hätte die Centrex Corporation erreicht. Ich erklärte ihr, dass ich Mr. de Mohrenschildt zu sprechen wünschte. Sie wollte, natürlich, wissen, in welcher Sache.

»Sagen Sie ihm, dass es um Jean-Claude Duvalier und Lee Oswald geht. Und dass es zu seinem Vorteil wäre, mit mir zu sprechen.«

»Ihr Name, Sir?«

Puddentane war hier ungeeignet. »John Lennon.«

»Bleiben Sie bitte dran, Mr. Lennon. Ich frage mal nach, ob er Zeit hat.«

Es gab keine Tonbandmusik, was mir insgesamt als Verbesserung erschien. Ich lehnte an der Wand der heißen Telefonzelle und starrte das Schild an, auf dem BITTE VENTILATOR EINSCHALTEN, WENN SIE RAUCHEN stand.

Dann ließ mich ein lautes Klicken zusammenfahren, und die Sekretärin sagte: »Sie sind verbunden, Mr. D.«

»Hallo?« Die jovial dröhnende Bühnenstimme ließ mir die Kehle austrocknen. »Hallo? Mr. Lennon?«

»Hallo. Ist diese Verbindung abhörsicher?«

»Wie kommen Sie …? Natürlich ist sie das. Augenblick, ich mache nur die Tür zu.«

Nach kurzer Unterbrechung war er wieder da. »Worum geht es also?«

»Haiti, mein Freund. Und Ölbohrrechte.«

»Was haben Monsieur Duvalier und dieser Oswald damit zu schaffen?« In seiner Stimme lag keine Besorgnis, nur unbekümmerte Neugier.

»Ach, Sie kennen die beiden doch weit besser«, sagte ich. »Nennen Sie sie einfach Baby Doc und Lee, wie wär’s damit?«

»Ich habe heute schrecklich viel zu tun, Mr. Lennon. Wenn Sie nicht bald zur Sache kommen, muss ich leider …«

»Baby Doc kann die Bohrrechte auf Haiti gewähren, hinter denen Sie seit fünf Jahren her sind. Das wissen Sie; er ist die rechte Hand seines Vaters, er befehligt die Tontons Macoutes, er steht als Nachfolger von Doc Duvalier fest. Er mag Sie, und wir mögen Sie …«

De Mohrenschildt sprach nicht mehr wie ein Schauspieler, sondern fast wie ein wirklicher Mensch. »Wenn Sie wir sagen, meinen Sie wohl …«

»Wir alle mögen Sie, de Mohrenschildt, aber Ihre Verbindung zu Oswald macht uns Sorgen.«

»Himmel, ich kenne den Kerl doch kaum! Ich habe ihn seit sechs oder sogar acht Monaten nicht mehr gesehen!«

»Sie waren erst am Ostersonntag bei ihm. Sie haben seiner kleinen Tochter einen großen Plüschhasen mitgebracht.«

Eine sehr lange Pause. Dann: »Also gut, das stimmt wohl. Das hatte ich vergessen.«

»Haben Sie auch vergessen, dass jemand auf Edwin Walker geschossen hat?«

»Was hat das mit mir zu tun? Oder mit meinem Geschäft?« Es war fast unmöglich, ihm seine verwunderte Empörung nicht abzukaufen. Schlüsselwort: fast.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte ich. »Sie haben Oswald auf den Kopf zugesagt, dass er das war.«

»Nur im Scherz, gottverdammt noch mal!«

Ich wartete zwei Herzschläge lang, dann sagte ich: »Wissen Sie, bei welcher Firma ich arbeite, de Mohrenschildt? Ich will Ihnen einen Hinweis geben – nicht bei Standard Oil.«

Am anderen Ende herrschte Schweigen, während de Mohrenschildt den Scheiß analysierte, den ich ihm bisher erzählt hatte. Nur war es kein Scheiß, nicht ausschließlich. Ich hatte von dem Plüschhasen gewusst, und ich hatte von seiner Wieso-hast-duihn-verfehlt-Bemerkung gewusst, die er gemacht hatte, nachdem seine Frau das Gewehr entdeckt hatte. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand. Meine Firma war die Firma, und de Mohrenschildt würde sich jetzt nur fragen – hoffentlich –, wie viel mehr von seinem zweifellos interessanten Leben wir abgehört hatten.

»Das ist alles ein Missverständnis, Mr. Lennon.«

»Das hoffe ich um Ihretwillen, denn uns drängt sich der Eindruck auf, dass Sie ihn zu dem Attentat angestiftet haben. Indem Sie sich darüber ausgelassen haben, was für ein Rassist Walker ist und dass er ein amerikanischer Hitler werden könnte.«

»Davon stimmt kein Wort!«

Ich ging nicht darauf ein. »Aber das ist nicht unsere größte Sorge. Unsere Hauptsorge ist, dass Sie Mr. Oswald bei seinem Unternehmen am 10. April begleitet haben könnten.«

»Ach, mein Gott! Das ist verrückt!«

»Wenn Sie das beweisen können und versprechen, den labilen Mr. Oswald in Zukunft zu meiden …«

»Er ist in New Orleans, um Himmels willen!«

»Schnauze«, sagte ich. »Wir wissen, wo er ist und was er tut. Verteilt Gerechtigkeit-für-Kuba-Handzettel. Wenn er nicht bald damit aufhört, landet er hinter Gittern.« Das würde er tatsächlich, und zwar in weniger als einer Woche. Sein Onkel Dutz – der mit den Kontakten zu Carlos Marcello – würde die Kaution für ihn stellen. »Er kommt bald nach Dallas zurück, aber Sie treffen nicht wieder mit ihm zusammen. Ihr kleines Spiel ist beendet.«

»Ich sage Ihnen doch, ich habe nie …«

»Diese Bohrrechte warten nur dann noch auf Sie, wenn Sie beweisen können, dass Sie Oswald am 10. April nicht begleitet haben. Können Sie das?«

»Ich … Lassen Sie mich nachdenken.« Wieder eine längere Pause. »Ja. Ja, das müsste ich können.«

»Dann sollten wir uns treffen.«

»Wann?«

»Heute Abend. Neun Uhr. Ich habe Vorgesetzte, die sehr unzufrieden mit mir wären, wenn ich Ihnen Zeit ließe, ein Alibi zu konstruieren.«

»Kommen Sie zu mir. Ich schicke Jeanne mit ihren Freundinnen ins Kino.«

»Ich dachte da an einen anderen Treffpunkt. Den Weg dorthin kennen Sie.« Ich sagte ihm, woran ich gedacht hatte.

»Wieso dort?« Er klang tatsächlich verwirrt.

»Kommen Sie einfach. Und wenn Sie nicht wollen, dass die Duvaliers, père et fils, böse auf Sie werden, mein Freund, kommen Sie allein.«

Ich hängte ein.

3

Um Punkt sechs Uhr war ich wieder im Krankenhaus und besuchte Sadie eine halbe Stunde lang. Ihr Kopf war wieder klar, und sie behauptete, die Schmerzen seien nicht allzu schlimm. Um halb sieben küsste ich sie auf ihre unversehrte Wange und sagte, ich müsse leider gehen.

»Wegen deinem Auftrag?«, fragte sie. »Wegen deinem wahren Auftrag?«

»Ja.«

»Niemand wird verletzt, außer es ist unbedingt notwendig. Richtig?«

Ich nickte. »Und auf keinen Fall irrtümlich.«

»Sei vorsichtig.«

»Als ginge ich auf Eiern.«

Sie versuchte zu lächeln. Daraus wurde eine Grimasse, als die frisch operierte linke Gesichtshälfte sich spannte. Ihr Blick ging über meine Schulter hinweg. Ich drehte mich um und sah Deke und Ellie an der Tür stehen. Sie waren im Sonntagsstaat gekommen: Deke in einem leichten Anzug mit Bolo Tie und einem Ausgehcowboyhut; Ellie in einem mit Rosen bedruckten Seidenkleid.

»Wir können warten, wenn Sie möchten«, sagte Ellie.

»Nein, kommen Sie nur rein. Ich wollte gerade gehen. Aber bleiben Sie nicht zu lange, sie ist müde.«

Ich küsste Sadie noch zweimal – trockene Lippen, feuchte Stirn. Dann fuhr ich in die West Neely Street zurück, wo ich die Sachen, die ich beim Kostümverleih gekauft hatte, auf dem Bett ausbreitete. Ich arbeitete langsam und sorgfältig vor dem Spiegel im Bad, las oft in der Gebrauchsanweisung nach und wünschte mir, Sadie wäre hier, um mir zu helfen.

Ich hatte keine Angst davor, dass de Mohrenschildt mich fragen könnte: Habe ich Sie nicht schon mal gesehen? Aber ich wollte sichergehen, dass er »John Lennon« später nicht wiedererkannte. Je nachdem wie glaubwürdig ich wirkte, würde ich ihn mir vielleicht noch einmal vorknöpfen müssen. In diesem Fall wollte ich ihn überraschen können.

Als Erstes klebte ich den Schnurrbart an. Mit diesem buschigen Schnauzer sah ich wie ein Bandit aus einem Western von John Ford aus. Dann kam das Make-up, mit dem ich Gesicht und Händen die Bräune eines Ranchers verlieh. Vervollständigt wurde meine Tarnung durch eine Hornbrille mit Gläsern aus Fensterglas. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, mir die Haare zu färben, aber das hätte eine Parallele zu John Clayton erzeugt, der ich mich nicht aussetzen mochte. Stattdessen setzte ich eine Baseballmütze der San Antonio Bullets auf. Als ich fertig war, erkannte ich mich im Spiegel selbst kaum wieder.

»Keiner wird verletzt, wenn es nicht unbedingt nötig ist«, erklärte ich dem Fremden im Spiegel. »Und auf keinen Fall irrtümlich. Sind wir uns darüber einig?«

Der Fremde nickte, aber die Augen hinter seiner falschen Brille blieben kühl.

Bevor ich ging, nahm ich meinen Revolver aus dem obersten Fach des Kleiderschranks und steckte ihn ein.

4

Den leeren Parkplatz am Ende der Mercedes Street erreichte ich zwanzig Minuten zu früh, aber de Mohrenschildt war schon da. Sein auffälliger Cadillac stand rückwärts eingeparkt an der Klinkerrückwand des Montgomery-Ward-Lagerhaus. Was bedeutete, dass er besorgt war. Ausgezeichnet.

Ich sah mich um und rechnete fast damit, die Springseilmädchen zu sehen, aber die waren natürlich längst zu Hause; vielleicht schliefen sie schon und träumten von Charlie Chaplin, der durch Frankreich reiste, nur um die Damen tanzen zu sehen.

Ich hielt neben de Mohrenschildts Straßenkreuzer, kurbelte das Fenster herunter, streckte die linke Hand ins Freie und krümmte den Zeigefinger, um ihn aufzufordern, zu mir zu kommen. De Mohrenschildt blieb noch einen Augenblick sitzen, als wäre er unsicher. Dann stieg er aus. Sein gockelhaftes Stolzieren hatte er abgelegt. Er wirkte ängstlich und schuldbewusst. Auch das war ausgezeichnet. In einer Hand trug er einen Schnellhefter, der so dünn war, dass er nicht viel enthalten konnte. Ich hoffte, dass er nicht nur ein Requisit war. Sollte er eines sein, würden wir tanzen, aber bestimmt nicht den Lindyhop.

Er öffnete die Beifahrertür, beugte sich herein und fragte: »Hören Sie, Sie wollen mich doch nicht erschießen oder so?«

»Nur die Ruhe«, sagte ich, was hoffentlich gelangweilt klang. »Wäre ich vom FBI, müssten Sie das vielleicht befürchten, aber ich bin nicht vom FBI, das wissen Sie. Sie haben schon früher mit uns Geschäfte gemacht.« Ich konnte nur hoffen, dass Als Aufzeichnungen das richtig darstellten.

»Ist der Wagen verwanzt? Oder Sie?«

»Wenn Sie mit Ihren Äußerungen vorsichtig sind, haben Sie nicht das Geringste zu befürchten. Steigen Sie jetzt ein.«

Er stieg ein und schloss die Tür. »Was diese Ölbohrrechte betrifft …«

»Über die können Sie ein andermal mit anderen Leuten reden. Öl ist nicht mein Spezialgebiet. Ich bin auf Leute spezialisiert, die sich indiskret benehmen, und Ihre Beziehung zu Oswald ist sehr indiskret gewesen.«

»Ich war neugierig, das war alles. Auf einen Mann, der es schafft, nach Russland zu desertieren, nur um anschließend nach Amerika zurückzudesertieren. Er ist ein halbgebildeter Hinterwäldler, aber auch überraschend gerissen. Außerdem …« Er räusperte sich. »Ich habe einen Freund, der seine Frau vögeln möchte.«

»Das wissen wir«, sagte ich und dachte dabei an Bouhe – nur ein weiterer George in einer anscheinend endlosen Reihe. Wie glücklich würde ich sein, aus der Echokammer der Vergangenheit zu entkommen. »Mir geht’s nur darum, zweifelsfrei festzustellen, dass Sie nichts mit dem vermurksten Attentat auf Walker zu tun hatten.«

»Sehen Sie sich das hier an. Ich habe es aus dem Sammelalbum meiner Frau mitgenommen.«

Er schlug den Schnellhefter auf, nahm das darin liegende einzelne Zeitungsblatt heraus und gab es mir. Ich schaltete die Deckenleuchte des Chevys ein und konnte nur hoffen, dass meine Sonnenbräune nicht wie das Make-up aussah, das sie in Wirklichkeit war. Aber wen störte das andererseits? De Mohrenschildt würde es nur für etwas mehr Mantel-und-Degen-Spukerei halten.

Das Blatt stammte aus der Morning News vom 12. April. Ich kannte diese Kolumne: In Dallas wurde AROUND TOWN vermutlich mehr gelesen als die Berichterstattung aus dem In- und Ausland. Der Text enthielt viele Namen in Fettdruck, und dazwischen gab es viele Fotos von Männern und Frauen in Abendkleidung. Eine Meldung im mittleren Drittel hatte de Mohrenschildt mit roter Tinte umringelt. Das dazugehörige Foto zeigte unverkennbar George und Jeanne. Er trug einen Smoking und ließ ein Grinsen sehen, das so viele Zähne zu zeigen schien, wie ein Klavier weiße Tasten besaß. Jeanne stellte ein erstaunlich tiefes Dekolleté zur Schau, das der zweite Mann an ihrem Tisch genauestens zu begutachten schien. Alle drei hielten ein Champagnerglas hoch.

»Das ist die Zeitung vom Freitag«, sagte ich. »Das Attentat auf Walker ist am Mittwoch verübt worden.«

»Diese Gesellschaftsnachrichten sind immer zwei Tage alt. Weil sie aus dem Nachtleben berichten, kapiert? Außerdem … sehen Sie sich nicht bloß das Bild an, lesen Sie den Text, Mann. Da steht’s schwarz auf weiß!«

Ich las die Meldung, aber ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, sobald ich den Namen des zweiten Mannes in der wichtigtuerischen halbfetten Schrift der Zeitung las. Das harmonische Echo war so laut wie ein auf Nachhall eingestellter Gitarrenverstärker.

Der hiesige Ölmagnat George de Mohrenschildt und seine Frau Jeanne hoben am Mittwochabend im Carousel Club ein Glas Champagner (oder vielleicht waren es ein Dutzend!), um den Geburtstag der Lady, die wieder mal zum Anbeißen aussah, zu feiern. Wie alt? Die Turteltauben wollten es nicht verraten, aber uns kommt sie keinen Tag älter als dreiundzwanzig vor (und tschüs!). Ihr Gastgeber war Jack Ruby, der joviale Besitzer des Carousel, der eine Flasche Schampus rüberschickte und zu einem Toast an ihren Tisch kam. Alles Gute zum Geburtstag, Jeanne, und bleiben Sie uns noch lange erhalten!

»Der Champagner war Fusel, und ich war bis nachmittags um drei verkatert, aber das war’s wert, wenn Sie jetzt zufrieden sind.«

Das war ich. Und ich war sogar fasziniert. »Wie gut kennen Sie diesen Ruby?«

De Mohrenschildt schniefte – sein ganzer adliger Snobismus drückte sich in einem einzigen heftigen Luftholen durch geweitete Nasenlöcher aus. »Nicht gut, und ich würde das auch nicht wollen. Er ist ein verrückter kleiner Jude, der Polizeibeamten Drinks spendiert, damit sie wegsehen, wenn er die Fäuste gebraucht. Was er gern tut. Irgendwann wird er wegen seines Naturells in Schwierigkeiten geraten. Jeanne gefallen seine Stripperinnen. Sie machen sie heiß.« Er zuckte die Achseln, wie um zu sagen, dass mal einer die Frauen verstehen solle. »Sind Sie jetzt …« Er blickte nach unten, sah den Revolver in meiner Faust und verstummte abrupt. Seine Augen weiteten sich. Seine Zungenspitze kam heraus und fuhr über die Lippen. Sie machte ein eigenartig feucht schlürfendes Geräusch, als er sie wieder einzog.

»Ob ich zufrieden bin? Wollten Sie das fragen?« Ich stieß ihn mit dem Revolver an und genoss es, als er erschrocken tief Luft holte. Das Morden veränderte einen, das konnte ich bestätigen, es wirkte verrohend, aber wenn es jemals einen Menschen gab, der einen heilsamen Schreck verdiente, dann war es dieser. Marguerite war teilweise dafür verantwortlich, wie ihr jüngster Sohn sich entwickelt hatte, und Lee selbst trug viel Verantwortung dafür – all diese unausgegorenen Berühmtheitsfantasien –, aber de Mohrenschildt hatte ebenfalls eine Rolle gespielt. Und war dies alles eine tief im Innersten der CIA ausgeheckte komplizierte Verschwörung gewesen? Nein. Es amüsierte ihn nur, sich unters Volk zu mischen. Das taten auch die Wut und die Enttäuschung, die aus dem Dampfkochtopf von Lees gestörter Persönlichkeit hochkochten.

»Bitte«, flüsterte de Mohrenschildt.

»Ich bin zufrieden. Aber passen Sie auf, Sie Schaumschläger: Sie werden sich nie mehr mit Lee Oswald treffen. Sie werden nie mehr mit ihm telefonieren. Sie werden seiner Frau, seiner Mutter, George Bouhe oder irgendeinem der übrigen Emigranten nie ein Sterbenswörtchen von diesem Gespräch erzählen. Haben Sie verstanden?«

»Ja. Vollkommen. Er hat ohnehin angefangen, mich zu langweilen.«

»Nicht halb so sehr, wie Sie mich langweilen. Falls ich jemals herausfinden sollte, dass Sie wieder mit Lee geredet haben, lege ich Sie um. Capisce?«

»Ja. Und die Bohrlizenzen …?«

»Jemand nimmt Verbindung mit Ihnen auf. Verschwinden Sie jetzt aus meinem Wagen.«

Das tat er eiligst. Sobald er hinter den Steuer des Caddys saß, streckte ich wieder die linke Hand aus dem Fenster. Statt ihn heranzuwinken, zeigte ich diesmal in Richtung Mercedes Street. Er fuhr dankbar davon.

Ich blieb noch eine Weile, wo ich war, und las den Zeitungsausschnitt, den er in der Eile vergessen hatte mitzunehmen, ein zweites Mal durch. Das Ehepaar de Mohrenschildt und Jack Ruby mit erhobenen Gläsern. War das doch ein Hinweis auf eine Verschwörung? Die Stahlhelmfraktion, die an Dinge wie aus Gullys auftauchende Schützen und Oswald-Doppelgänger glaubte, hätte das vermutlich gedacht, aber ich wusste es besser. Es war nur eine weitere harmonische Schwingung. Ich befand mich im Land des Einst, in dem alles echote.

Ich hatte das Gefühl, Al Templetons noch verbliebene Ungewissheit weitgehend ausgeräumt zu haben. Am 3. Oktober 1963 würde Oswald nach Dallas zurückkommen. Den Aufzeichnungen von Al nach würde er Mitte Oktober im Schulbuchlager als gewöhnlicher Arbeiter anfangen. Nur würde es dazu nicht mehr kommen, weil ich irgendwann zwischen dem Dritten und dem Sechzehnten seine miserable, gefährliche Existenz beenden würde.

5

Am Morgen des 7. August durfte ich Sadie aus dem Krankenhaus holen. Auf der Heimfahrt nach Jodie war sie schweigsam. Ich merkte, dass sie weiter ziemliche Schmerzen hatte, aber sie ließ ihre linke Hand für den Großteil der Fahrt vertraulich auf meinem Oberschenkel ruhen. Als wir an der großen Werbetafel der Denholm Lions vom Highway 77 abbogen, sagte sie: »Im September gehe ich in die Schule zurück.«

»Bestimmt?«

»Ja. Wenn ich in der Grange vor der ganzen Stadt stehen konnte, müsste ich es auch schaffen, in der Schulbibliothek vor ein paar Schülern zu stehen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir das Geld brauchen werden. Falls du nicht irgendeine Einkommensquelle hast, von der ich nichts weiß, musst du fast abgebrannt sein. Durch meine Schuld.«

»Ich müsste Ende des Monats eigentlich wieder zu etwas Geld kommen.«

»Nach dem Kampf?«

Ich nickte.

»Gut. Und ich muss mir das Geflüster und Gekicher ohnehin nicht lange anhören. Denn wenn du gehst, komme ich mit.« Sie hielt inne. »Wenn du das noch willst.«

»Sadie, das ist alles, was ich mir wünsche.«

Wir bogen in die Main Street ein. Jem Needham beendete gerade seine Runde mit dem Milchlaster. Vor der Bäckerei legte Bill Gavery unter dünnem Baumwollstoff frisch gebackene Brotlaibe aus. Aus einem vorbeifahrenden Auto sangen Jan and Dean, in Surf City gebe es für jeden Jungen zwei Mädchen.

»Wird sie mir gefallen, Jake? Deine Welt?«

»Das hoffe ich, Schatz.«

»Ist sie sehr anders?«

Ich lächelte. »Die Leute zahlen mehr für Benzin und haben mehr Knöpfe zu drücken. Sonst ist sie ziemlich gleich.«

6

Jener heiße August kam Flitterwochen so nahe, wie wir es je bewerkstelligen konnten, und es war wundervoll. Jegliche Vortäuschung, dass ich bei Deke Simmons wohnte, ging ziemlich den Bach hinunter, obwohl ich weiter darauf achtete, dass mein Wagen nachts in seiner Einfahrt stand.

Sadie erholte sich recht schnell von dem letzten Eingriff, und obwohl ihr Lid herabhing und ihre Wange stark vernarbt und tief eingesunken war, wo Claytons Messer bis in den Mund geschnitten hatte, war die Verbesserung unübersehbar. Ellerton und sein Team hatten mit ihren beschränkten Mitteln ihr Bestes getan.

Wir lasen nebeneinander auf dem Sofa, während ihr Ventilator uns die Haare nach hinten wehte: Sadie Die Clique, ich Juda, der Unberühmte. Wir picknickten im Garten hinter dem Haus im Schatten ihrer geliebten chinesischen Pistazie und tranken literweise Eiskaffee. Sadie versuchte wieder, weniger zu rauchen. Wir sahen uns Tausend Meilen Staub, Ben Casey und Route 66 an. Eines Abends schaltete sie The Further Adventures of Ellery Queen ein, aber ich bat sie, das Programm zu wechseln. Weil ich keine Krimis mochte, behauptete ich.

Bevor wir zu Bett gingen, rieb ich ihr immer behutsam mit einer Heilsalbe das Gesicht ein, und wenn wir im Bett waren … war es gut. Belassen wir es dabei.

Eines Tages begegnete ich vor dem Lebensmittelmarkt Jessica Caltrop, diesem ehrbaren Mitglied des Schulausschusses. Sie sagte, sie wolle einen Augenblick mit mir sprechen – über ein heikles Thema, wie sie es nannte.

»Was könnte das sein, Miz Caltrop?«, fragte ich. »Ich habe nämlich Eiscreme gekauft und möchte sie nach Hause bringen, bevor sie schmilzt.«

Sie bedachte mich mit einem eisigen Lächeln, das mein Vanilleeis für Stunden hätte kühlen können. »Könnte Ihr Zuhause in der Bee Tree Lane liegen, Mr. Amberson? Bei der bedauernswerten Miss Dunhill?«

»Und was ginge Sie das an?«

Das Lächeln wurde noch etwas kälter. »Als Mitglied des Schulausschusses muss ich mich vergewissern, dass die Moral unseres Lehrkörpers untadelig ist. Falls Miss Dunhill und Sie zusammenleben, ist das für mich Anlass zu großer Sorge. Teenager sind recht beeinflussbar. Sie imitieren, was sie bei Erwachsenen sehen.«

»Glauben Sie? Nach ungefähr fünfzehn Berufsjahren hätte ich eher gesagt, dass sie das Verhalten von Erwachsenen beobachten und dann so schnell wie möglich in die Gegenrichtung davonrennen.«

»Ich bin mir sicher, dass wir eine aufschlussreiche Diskussion darüber führen könnten, wie Sie die Psychologie von Teenagern beurteilen, Mr. Amberson, aber das ist nicht der Grund dafür, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe, so unangenehm es mir auch ist.« Sie wirkte nicht im Geringsten unbehaglich. »Wenn Sie mit Miss Dunhill in Sünde leben …«

»Sünde«, sagte ich. »Ah, das ist ein interessantes Wort. Jesus hat gesagt, wer ohne Sünde sei, der werfe den ersten Stein. Oder die, nehme ich an. Sind Sie ohne Sünde, Miz Caltrop?«

»Bei dieser Diskussion geht es nicht um mich.«

»Aber wir könnten eine über Sie daraus machen. Ich könnte eine über Sie daraus machen. Ich könnte beispielsweise anfangen, Nachforschungen nach dem Kegel anzustellen, den Sie in jungen Jahren zur Welt gebracht haben.«

Sie fuhr zurück, als hätte ich sie geschlagen, und machte zwei Schritte rückwärts auf die Klinkerfassade des Lebensmittelmarkts zu. Ich rückte mit meinen Einkaufstüten in den Armen zwei Schritte weit nach.

»Ich finde das abstoßend und ungehörig. Wären Sie noch Lehrer bei uns, würde ich …«

»Das täten Sie bestimmt, aber ich bin keiner mehr, deshalb sollten Sie mir gut zuhören. Meines Wissens haben Sie ein Kind bekommen, als Sie sechzehn waren und noch auf der Sweetwater Ranch gelebt haben. Ich weiß nicht, ob der Vater des Kindes einer Ihrer Schulfreunde, ein streunender Cowboy oder vielleicht Ihr eigener Vater war …«

»Sie sind abscheulich!«

Genau. Und manchmal machte das richtig Spaß.

»Mir ist egal, wer es war, aber mir liegt Sadie am Herzen, die mehr Kummer und Schmerzen erdulden musste, als Sie Ihr ganzes Leben lang empfunden haben.« Ich hatte sie jetzt an die Ziegelwand gepresst. Sie sah mit vor Entsetzen funkelnden Augen zu mir auf. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte sie mir leidgetan. Nicht jedoch heute. »Sagen Sie auch nur ein Wort über Sadie – zu irgendwem –, mache ich es mir zur Aufgabe, Ihr uneheliches Kind aufzuspüren und diese Geschichte in der ganzen Stadt zu verbreiten. Haben Sie mich verstanden?«

»Gehen Sie mir aus dem Weg! Lassen Sie mich durch!«

»Haben Sie mich verstanden?«

»Ja! Ja!«

»Gut.« Ich trat zurück. »Leben Sie Ihr Leben, Miz Caltrop. Ich vermute, dass es seit damals mit sechzehn ziemlich grau ist – obwohl recht geschäftig, denn die schmutzige Wäsche anderer Leute zu begutachten hält einen wirklich auf Trab –, aber Sie sollen es leben. Und lassen Sie uns unseres leben.«

Sie stahl sich die Mauer entlang nach links davon, wo der Parkplatz hinter dem Markt lag. Ihre Augen drohten aus den Höhlen zu treten. Ihr Blick verließ mich keine Sekunde lang.

Ich lächelte freundlich. »Bevor dieses Gespräch nun zu einem Gespräch wird, das niemals stattgefunden hat, möchte ich Ihnen einen guten Rat geben, meine Gnädigste. Er kommt direkt aus meinem Herzen. Ich liebe diese Frau, und mit einem Mann, der liebt, sollte man sich nicht anlegen. Sollten Sie sich dennoch in meine Angelegenheiten – oder Sadies – einmischen, tue ich mein Bestes, um aus Ihnen die jämmerlichste hochnäsige Schlampe in ganz Texas zu machen. Das verspreche ich Ihnen hiermit feierlich.«

Sie rannte zum Parkplatz. Und zwar so unbeholfen wie jemand, der sich seit Langem nicht mehr schneller als gravitätisch schreitend fortbewegt hatte. Mit ihrem braunen, wadenlangen Rock, der undurchsichtigen, hautfarbenen Strumpfhose und ihrem vernünftigen, braunen Schuhwerk verkörperte sie den Zeitgeist. Ihre Haare lösten sich aus dem Nackenknoten. Früher hatte sie sie bestimmt offen getragen, wie Männer es an Frauen am liebsten sahen, aber diese Zeit lag lange zurück.

»Und schönen Tag noch!«, rief ich ihr nach.

7

Sadie kam in die Küche, als ich gerade die Einkäufe im Kühlschrank verstaute. »Du warst lange weg. Ich hab schon angefangen, mir Sorgen zu machen.«

»Ich bin aufgehalten worden. Du weißt ja, wie es in Jodie ist. Irgendjemand hat immer Zeit für ein Schwätzchen.«

Sie lächelte. Das Lächeln fiel ihr schon etwas leichter. »Du bist ein süßer Kerl.«

Ich bedankte mich und erklärte ihr, sie wiederum sei ein süßes Mädchen. Ich fragte mich, ob die Caltrop mit Fred Miller, dem zweiten selbst ernannten Tugendwächter im Schulausschuss, reden würde. Wohl eher nicht. Ich wusste nicht nur von ihrem jugendlichen Fehltritt, sondern hatte es darauf angelegt, ihr Angst einzujagen. Das hatte bei de Mohrenschildt funktioniert, und es hatte bei ihr gewirkt. Leute zu ängstigen war dreckige Arbeit, aber irgendjemand musste sie nun einmal tun.

Sadie kam durch die Küche und legte einen Arm um mich. »Was hältst du von einem Wochenende in den Candlewood Bungalows, bevor die Schule beginnt? Genau wie in den guten alten Zeiten? Das ist wohl ziemlich dreist von Sadie, was?«

»Na ja, kommt darauf an.« Ich schloss sie in die Arme. »Reden wir von einem schmutzigen Wochenende?«

Sie errötete. Außer in der Umgebung der Narbe; dort blieb die Haut weiß und glänzend. »Totaal schmuutzig, Señor.«

»Dann am besten so früh wie möglich.«

8

Es wurde kein wirklich schmutziges Wochenende, außer man hing dem Glauben an – wie es die Jessica Caltrops der Welt zu tun schienen –, dass körperliche Liebe prinzipiell schmutzig war. Wahr ist, dass wir große Teile des Wochenendes im Bett verbrachten. Aber wir hielten uns auch viel im Freien auf. Sadie war eine unermüdliche Wandererin, und dem Hügel hinter dem Candlewood war eine riesige Wiese mit unzähligen Spätsommerblumen. Dort verbrachten wir den größten Teil des Samstagnachmittags. Sadie konnte einige der Blumen bestimmen – Kerzen-Palmlilie, Stachelmohn und etwas, was sie als Yucca-Knöterich bezeichnete –, aber bei allen anderen konnte sie nur den Kopf schütteln und sich über sie beugen, um zu riechen, welchen Duft sie auch immer ausströmten. Unter mächtigen weißen Kumuli, die durch den hohen texanischen Himmel segelten, gingen wir Hand in Hand durch das kniehohe Gras. Lange Streifen aus Licht und Schatten glitten über die Landschaft. An diesem Tag wehte eine kühle Brise, und hier gab es keinen Raffineriegestank. Oben auf dem Hügel blieben wir stehen und sahen uns um. Auf der mit Bäumen gesprenkelten Prärie wirkten die Bungalows klein und unbedeutend. Die Straße war ein schmales Band.

Sadie setzte sich, zog die Knie unters Kinn hoch und umschlang ihre Beine mit den Armen. Ich setzte mich neben sie.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte sie.

»Schieß los.«

»Es geht nicht darum … du weißt schon, woher du kommst … Das ist mehr, als ich im Augenblick gedanklich bewältigen könnte. Mir geht es um den Mann, wegen dem du hergekommen bist, um ihn aufzuhalten. Den Mann, der den Präsidenten ermorden wird, wie du sagst.«

Ich überlegte. »Heikles Thema, Schatz. Erinnerst du dich, dass ich davon gesprochen habe, dass ich mich in der Nähe einer großen Maschine mit scharfen Zähnen aufhalte?«

»Ja …«

»Ich hab dir gesagt, dass ich dich nicht in ihre Nähe lassen werde, solange ich daran herumpfusche. Ich habe schon mehr erzählt, als ich wollte, und vermutlich auch mehr, als ich dürfte. Weil die Vergangenheit nicht verändert werden will. Sie setzt sich zur Wehr, wenn man’s versucht. Und je größer die potenzielle Veränderung ist, desto energischer kämpft sie. Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst.«

»Das bin ich schon«, sagte sie leise.

»Denkst du, dass es meine Schuld war?«

»Nein, Schatz.« Sadie legte eine Hand auf meine Wange. »Nein.«

»Na ja, es könnte meine gewesen sein, zumindest teilweise. Es gibt da den sogenannten Schmetterlingseffekt …« Auf dem Hang unter uns flatterten Hunderte von Schmetterlingen, als wollten sie es dadurch illustrieren.

»Den kenne ich«, sagte sie. »Ray Bradbury hat eine Kurzgeschichte darüber geschrieben.«

»Wirklich?«

»Sie heißt ›Ferner Donner‹. Sie ist sehr schön und gleichzeitig sehr beunruhigend. Aber, Jake … Johnny war verrückt, lange bevor du auf der Bildfläche erschienen bist. Ich habe ihn verlassen, lange bevor du aufgekreuzt bist. Und wärst du nicht gekommen, hätte irgendein anderer Mann auftauchen können. Er wäre bestimmt nicht so nett gewesen wie du, aber das hätte ich ja nicht ahnen können. Die Zeit ist ein Baum mit vielen Ästen.«

»Was willst du über den Kerl wissen, Sadie?«

»Vor allem, wieso du nicht einfach die Polizei anrufst – natürlich anonym – und ihn anzeigst.«

Ich riss einen Grashalm ab, um etwas zum Kauen zu haben, während ich darüber nachdachte. Als Erstes fiel mir etwas ein, was de Mohrenschildt auf dem Parkplatz des Montgomery-Ward-Lagerhauses gesagt hatte: Er ist ein halbgebildeter Hinterwäldler, aber auch überraschend gerissen.

Das war eine zutreffende Einschätzung. Lee war aus Russland entkommen, als es ihm dort nicht mehr gefallen hatte; er würde auch so gerissen sein, nach dem Attentat auf Kennedy aus dem Schulbuchlager zu entkommen, obwohl Polizei und Secret Service fast augenblicklich reagierten. Natürlich reagierten sie sofort; zahlreiche Leute würden genau sehen, von woher die tödlichen Schüsse kamen.

Noch bevor die rasende Wagenkolonne den sterbenden Präsidenten im Parkland Memorial Hospital ablieferte, würde Lee im Aufenthaltsraum im ersten Stock mit vorgehaltener Waffe befragt werden. Der Polizist, der ihn dort befragte, würde sich später erinnern, dass der junge Mann vernünftig und überzeugend gewirkt habe. Sobald der Vorarbeiter Roy Truly sich für seinen Mitarbeiter verbürgte, würde der Polizist Ozzie Rabbit laufen lassen und auf der Suche nach dem Schützen nach oben hasten. Man konnte sich vorstellen, dass Oswald ohne seine Begegnung mit dem Streifenpolizisten Tippit noch tage- oder wochenlang nicht gefasst worden wäre.

»Sadie, die Polizei in Dallas wird die Welt mit ihrer Unfähigkeit schockieren. Ich wäre verrückt, wenn ich mich auf sie verließe. Vielleicht würden sie auf einen anonymen Tipp nicht einmal reagieren.«

»Aber wieso? Warum würden sie nicht reagieren?«

»Jetzt im Moment, weil der Kerl nicht mal in Texas ist und auch nicht vorhat zurückzukommen. Er will nämlich nach Kuba überlaufen.«

»Kuba? Wozu um Himmels willen nach Kuba?«

Ich wiegte den Kopf. »Das spielt keine Rolle, weil es nicht dazu kommen wird. Er kehrt nach Dallas zurück, ohne zunächst vorzuhaben, den Präsidenten zu erschießen. Er weiß nicht mal, dass Kennedy nach Dallas kommen wird. Das weiß übrigens auch Kennedy nicht, weil der Reisetermin noch nicht feststeht.«

»Aber du weißt es.«

»Ja.«

»Weil das in der Zeit, aus der du kommst, alles in den Geschichtsbüchern steht.«

»In groben Zügen, ja. Nähere Einzelheiten weiß ich von dem Freund, der mich hergeschickt hat. Irgendwann später, wenn alles vorbei ist, erzähle ich dir die ganze Geschichte, aber nicht jetzt. Nicht, solange die gefährliche Maschine auf Hochtouren läuft. Wichtig dabei ist Folgendes: Würde dieser Mann irgendwann vor Mitte November von der Polizei vernommen, würde er völlig unschuldig wirken, weil er unschuldig ist.« Ein weiterer riesiger Wolkenschatten glitt über uns hinweg und ließ die Temperatur um einige gefühlte Grade sinken. »Wer weiß, vielleicht war er die ganze Zeit über unschlüssig, bis er abgedrückt hat.«

»Du sprichst davon, als wäre es bereits passiert«, sagte sie kopfschütteln.

»In meiner Welt schon.«

»Weshalb ist Mitte November so wichtig?«

»Am Sechzehnten wird die Morning News ganz Dallas von Kennedys geplantem Autokorso die Main Street entlang berichten. L… der Kerl wird die Meldung lesen und erkennen, dass die Kolonne genau an seinem Arbeitsplatz vorbeifahren soll. Wahrscheinlich wird er das für eine Botschaft Gottes halten. Oder für eine von Karl Marx’ Geist.«

»Wo wird er arbeiten?«

Ich schüttelte abermals den Kopf. Das zu wissen wäre für sie gefährlich. Natürlich war nichts von alledem ungefährlich. Trotzdem (das habe ich schon einmal erwähnt, aber es verdient, wiederholt zu werden), es war eine Erleichterung, wenigstens einen Teil davon einem anderen Menschen erzählen zu können.

»Aber wenn die Polizei mit ihm reden würde, könnte sie ihm vielleicht so viel Angst einjagen, dass er seinen Plan nicht ausführt.«

Sie hatte recht, aber das Risiko wäre erschreckend hoch. Ich hatte bereits ein kleineres auf mich genommen, indem ich mit de Mohrenschildt gesprochen hatte, aber der war nur scharf auf diese Ölbohrlizenzen. Außerdem hatte ich mehr getan, als ihn bloß einzuschüchtern – ich hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Ich war mir sicher, dass er dichthalten würde. Lee dagegen …

Ich nahm Sadies Hand. »Gegenwärtig weiß ich, wohin dieser Mann unterwegs ist, wie ich den Weg eines Zuges voraussagen kann, weil er auf seiner Strecke bleiben muss. Aber sobald ich eingreife, sobald ich mich einmische, ist alles möglich.«

»Und wenn du selbst mit ihm reden würdest?«

Vor meinem inneren Auge stand eine wahrhaft albtraumhafte Szene. Ich sah, wie Lee der Polizei erzählte: Die Idee hat mir ein gewisser George Amberson in den Kopf gesetzt. Ohne ihn wäre ich niemals darauf gekommen.

»Ich glaube auch nicht, dass das funktionieren würde.«

Mit schwacher Stimme fragte sie: »Wirst du ihn umbringen müssen?«

Ich gab keine Antwort. Was natürlich an sich eine Antwort war.

»Und du weißt wirklich, dass das alles passieren wird?«

»Ja.«

»So wie du weißt, dass Tom Case den Kampf am Abend des Neunundzwanzigsten gewinnen wird.«

»Ja.«

»Obwohl jeder, der etwas vom Boxen versteht, sagt, dass Tiger ihn ganz sicher massakriert.«

Ich lächelte. »Du hast den Sportteil gelesen, was?«

»Ja, das habe ich.« Sie zog mir den Grashalm aus dem Mund und steckte ihn sich selbst zwischen die Lippen. »Ich war noch nie bei einem Boxkampf. Gehst du mit mir hin?«

»Den Kampf gibt’s eigentlich nicht live zu sehen. Nur auf einem großen Bildschirm.«

»Ja, ich weiß. Gehst du mit mir hin?«

9

Am Abend der Fernsehübertragung waren viele gut aussehende Frauen im Dallas Auditorium, aber Sadie heimste ihren Teil an bewundernden Blicken ein. Sie hatte sich zu diesem Anlass sorgfältig zurechtgemacht, aber selbst das raffinierteste Make-up konnte die Schäden in ihrem Gesicht nur minimieren, nicht gänzlich verbergen. Sadies Kleid glich diesen Umstand wirkungsvoll aus Es zeichnete ihre Kurven weich fallend nach und hatte einen tiefen U-Ausschnitt.

Der Clou war der schwarze Filzhut, den Ellen Dockerty vorbeibrachte, als Sadie ihr erzählte, dass ich sie eingeladen hätte, mit mir zu dem Boxkampf zu gehen. Er war eine fast exakte Kopie des Huts, den Ingrid Bergman in der Schlussszene von Casablanca trug. Mit seinem flotten Schwung betonte er ihr Gesicht perfekt … und die Krempe war natürlich nach links geneigt, sodass ein Dreieck aus tiefem Schatten über ihre vernarbte Wange fiel. Das war besser als jedes professionelle Make-up. Als sie aus dem Schlafzimmer kam, um sich begutachten zu lassen, versicherte ich ihr, dass sie hinreißend aussehe. Sadies erleichterter Gesichtsausdruck und das aufgeregte Glitzern in ihren Augen zeigten mir, dass sie das nicht nur für ein billiges Kompliment, ihr zu schmeicheln, hielt.

Der Verkehr nach Dallas hinein war stärker als erwartet, und als wir unsere Plätze einnahmen, lief bereits der dritte Vorkampf: Ein großer Schwarzer und ein noch größerer Weißer droschen gemächlich aufeinander ein, während die Menge johlte. Über dem gebohnerten Hartholzboden, auf dem in der Basketballsaison die Dallas Spurs (schlecht) spielten, hingen statt nur einem gleich vier riesige Leinwände. Das Bild wurde durch ein rückwärtiges Projektionssystem erzeugt, und obwohl die Farben trüb – fast rudimentär – waren, war das Bild selbst erstaunlich scharf. Sadie war beeindruckt. Ich übrigens auch.

»Bist du nervös?«, fragte sie.

»Ja.«

»Obwohl du …«

»Trotzdem. Als ich 1960 gewettet habe, dass die Pirates die World Series gewinnen, habe ich es selbst gewusst. Hier muss ich mich ganz auf meinen Freund verlassen, der die Informationen vermutlich aus dem Internet hatte.«

»Was um Himmels willen ist das denn?«

»Science-Fiction. Wie Ray Bradbury.«

»Oh … okay.« Dann steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. »He, Biermann!«

Der Biermann in Weste, Cowboyhut und Concho-Gürtel verkaufte uns zwei Flaschen Lone Star (Glas, nicht Kunststoff) mit über die Hälse gestülpten Pappbechern. Ich gab ihm einen Dollar und sagte, der Rest sei für ihn.

Sadie nahm ihr Bier, stieß mit mir an und sagte: »Viel Glück, Jake.«

»Wenn ich darauf angewiesen wäre, säße ich echt in der Scheiße.«

Sie zündete sich eine Zigarette an und blies ihren Rauch in die blauen Schwaden, die bereits um alle Scheinwerfer waberten. Ich saß rechts neben ihr, und aus diesem Blickwinkel sah sie perfekt aus.

Ich tippte ihr auf die Schulter, und als sie sich mir zuwandte, küsste ich sie auf ihre leicht geöffneten Lippen. »Kleines«, sagte ich. »Uns bleibt immer noch Paris.«

Sadie lachte. »Vielleicht das in Texas.«

Die Menge stöhnte auf. Eben hatte der schwarze Boxer den weißen niedergeschlagen.

10

Der Hauptkampf begann um halb zehn. Nahaufnahmen der Boxer füllten die Leinwände, und als die Kamera Tom Case zeigte, rutschte mir das Herz in die Hose. Sein lockiges, schwarzes Haar war unübersehbar grau meliert. Er hatte fast schon Hängebacken. Sein Bauch quoll wabbelig über den Bund seiner Boxerhose. Das Schlimmste waren jedoch seine irgendwie verwirrten Augen, die aus schweren Tränensäcken mit Narbengewebe starrten. Er schien nicht recht zu wissen, wo er eigentlich war. Die meisten der ungefähr fünfzehnhundert Zuschauer jubelten ihm zu – schließlich war Tom Case von hier –, aber ich hörte auch einen kräftigen Chor von Buhrufern. Wie er zusammengesunken in seiner Ecke hockte und sich mit den behandschuhten Fäusten an den Seilen festhielt, sah er aus, als hätte er bereits verloren. Dick Tiger dagegen war auf den Beinen, übte sich im Schattenboxen und tänzelte flink auf schwarzen Boxerstiefeln umher.

Sadie beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Sieht nicht so gut aus, Schatz.«

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Es sah grässlich aus.

Unten vor uns (wo die Leinwand einer drohend aufragenden Felsklippe gleichen musste, auf der sich verschwommene Gestalten bewegten) sah ich Akiva Roth eine Mieze mit Nerzstola und Garbo-Brille zu einem Platz geleiten, der bei einem echten Boxkampf ein Ringsitz gewesen wäre. Der Zigarre rauchende dickliche Mann vor Sadie und mir drehte sich um und fragte: »Auf wen wetten Sie, schönes Kind?«

»Case!«, sagte Sadie tapfer.

Der dickliche Zigarrenraucher lachte. »Na, Sie sind ja ganz schön zuversichtlich. Wollen Sie einen Zehner darauf setzen?«

»Bieten Sie mir vier zu eins? Wenn Case ihn ausknockt?«

»Wenn Case den Tiger ausknockt? Lady, die Wette gilt.« Der Mann streckte die Hand aus. Sadie schlug ein. Dann wandte sie sich mir mit einem trotzigen kleinen Lächeln zu, das um ihren unversehrten Mundwinkel spielte.

»Ziemlich mutig«, sagte ich.

»Von wegen«, sagte sie. »Tiger geht in der Fünften k. o. Ich kann in die Zukunft sehen.«

11

Der Ringsprecher, der einen Smoking und ein Pfund Brillantine trug, trabte in die Ringmitte, zog ein Mikrofon an einem silbernen Kabel herunter und machte mit der rollenden Stimme eines Jahrmarktschreiers die Angaben zu den Boxern. Die Nationalhymne wurde gespielt; Männer rissen sich den Hut vom Kopf und legten die Rechte aufs Herz. Ich konnte spüren, wie mein eigenes Herz jagte: Ich hatte mindestens einen Puls von hundertzwanzig, wahrscheinlich mehr. Obwohl die Sporthalle klimatisiert war, lief mir Schweiß über den Rücken, und ich hatte nasse Achselhöhlen.

Ein Mädchen in einem trägerlosen Badeanzug stöckelte auf High Heels durch den Ring und hielt eine Tafel mit der großen Ziffer 1 hoch.

Der Gong ertönte. Tom Case schlurfte mit resigniertem Gesichtsausdruck in den Ring. Dick Tiger tänzelte ihm ungeduldig entgegen, täuschte mit der Rechten an und ließ einen trockenen linken Haken folgen, der Case exakt zwölf Sekunden nach Kampfbeginn auf die Bretter schickte. Das Publikum – das hiesige und das im Garden, zweitausend Meilen von hier – stöhnte angewidert auf. Sadies Hand, die auf meinem Oberschenkel lag, schien Krallen zu bekommen, als sie sich anspannte und sich in mein Fleisch grub.

»Sagen Sie Ihrem Zehner, dass er seinen Freunden Adieu sagen soll, schönes Kind«, sagte der dickliche Zigarrenraucher vergnügt.

Scheiße, Al, was hast du dir dabei gedacht?

Dick Tiger zog sich in seine Ecke zurück und wippte dort nonchalant auf den Fußballen, während der Ringrichter zu zählen begann, wobei er jedes Mal den rechten Arm dramatisch hob und senkte. Bei drei bewegte Case sich. Bei fünf setzte er sich auf. Bei sieben stützte er sich auf ein Knie. Und bei neun war er auf den Beinen und nahm die Fäuste hoch. Der Ringrichter nahm Case’ Gesicht in die Hände und fragte ihn etwas. Case antwortete. Der Ringrichter nickte, machte Tiger ein Zeichen und trat beiseite.

Der Tiger Man, der es vielleicht eilig hatte, zu einem Steakdinner zu kommen, das bei Sardi’s auf ihn wartete, griff sofort wieder an, um Schluss zu machen. Case machte keine Anstalten, ihm zu entkommen – seine Beweglichkeit hatte er längst eingebüßt, vielleicht bei einem Provinzkampf in Moline, Illinois, oder New Haven, Connecticut –, aber seine Deckung funktionierte noch … und er konnte klammern. Das tat er andauernd, wobei er den Kopf wie ein müder Tangotänzer auf Tigers Schulter ruhen ließ und müde auf Tigers Rücken trommelte. Das Publikum begann zu buhen. Als der Gong ertönte und Case mit gesenktem Kopf und hängenden Fäusten in seine Ecke zurückschlurfte, buhte es noch lauter.

»Der ist ’ne Pfeife, schönes Kind«, bemerkte der Dicke.

Sadie musterte mich besorgt. »Was denkst du?«

»Ich denke, dass er immerhin die erste Runde überstanden hat.« In Wirklichkeit dachte ich, jemand sollte eine Gabel in Tom Case’ schlaffen Hintern stoßen, denn er erschien mir schon gut durch.

Das Nummerngirl im Jantzen machte wieder ihr Ding, diesmal mit einer hochgehaltenen 2. Der Gong erklang wieder. Tiger tänzelte wieder, und Case schlurfte. Mein Mann suchte weiter den Nahkampf, um möglichst oft klammern zu können, aber mir fiel auf, dass er den linken Haken, der in der ersten Runde sein Verderben gewesen war, jetzt immer besser abfing. Tiger bearbeitete den Magen des älteren Boxers mit kolbenförmig geschlagenen rechten Geraden, aber unter dem schlaffen Fleisch mussten noch ziemliche Muskeln liegen, denn die Wirkung auf Case schien nicht besonders groß zu sein. Einmal stieß Tiger Case von sich weg und machte mit beiden Fäusten eine unmissverständliche Komm-nur-her-Geste. Die Menge johlte. Case starrte ihn nur an, also griff Tiger wieder an. Case klammerte sofort. Das Publikum ächzte. Der Gong ertönte.

»Gegen meine Oma hätte Tiger mehr zu kämpfen«, murrte der Zigarrenraucher.

»Vielleicht«, sagte Sadie und zündete sich die dritte Zigarette nach Kampfbeginn an. »Aber er ist noch auf den Beinen, oder?«

»Nicht mehr lange, Schätzchen. Wenn der nächste linke Haken durchkommt, ist’s aus mit ihm.« Er lachte glucksend.

Die dritte Runde brachte noch mehr Klammern und Schlurfen, aber in der vierten vernachlässigte Case seine Deckung leicht, und Tiger traf seinen Kopf mit einer Links-rechts-links-Kombination, die das Publikum johlend aufspringen ließ. Akiva Roths Freundin war mit dabei. Mr. Roth blieb sitzen, geruhte aber immerhin, den Hintern seiner Freundin mit der beringten Rechten zu tätscheln.

Case wich an die Seile zurück, während er Tiger immer wieder mit seiner Rechten attackierte, und eine dieser Geraden kam durch. Sie wirkte ziemlich schwach, aber ich sah Schweißtropfen fliegen, als der Tiger Man den Kopf schüttelte. Auf seinem Gesicht stand ein verwirrter Wo-ist-die-denn-hergekommen-Ausdruck. Dann ging er wieder resolut zum Angriff über. Aus einer Platzwunde über Case’ linkem Auge sickerte Blut. Bevor Tiger dafür sorgen konnte, dass aus dem Rinnsal ein Strom wurde, ertönte der Gong.

»Wenn Sie Ihren Zehner jetzt gleich rausrücken, schönes Kind«, sagte der beleibte Zigarrenraucher, »können Sie und Ihr Freund dem Stoßverkehr zuvorkommen.«

»Passen Sie auf«, sagte Sadie. »Ich gebe Ihnen die Chance, die Wette abzusagen und sich vierzig Dollar zu sparen.«

Der beleibte Zigarrenraucher lachte. »Schön und mit Sinn für Humor. Wenn der lange Hubschrauber, mit dem Sie da sind, Sie schlecht behandelt, können Sie mit mir nach Hause kommen, Schätzchen.«

In Case’ Ecke bemühte sein Trainer sich hektisch um die Platzwunde über dem linken Auge, indem er etwas aus einer Tube drückte und mit den Fingerspitzen einmassierte. Das Zeug sah aus wie Sekundenkleber, nur glaube ich, dass der noch nicht erfunden war. Dann schlug er Case mit einem nassen Handtuch auf die Backen. Der Gong ertönte wieder.

Dick Tiger griff sofort wieder an, schlug rechte Geraden und linke Haken. Case wich einem linken Haken aus, aber nun schlug Tiger erstmals einen rechten Aufwärtshaken gegen den Kopf des Älteren. Case schaffte es gerade noch, so weit zurückzuweichen, dass er ihn nicht voll aufs Kinn bekam, aber seine Backe wurde getroffen. Die Wucht des Schlages verzerrte sein Gesicht zu einer Geisterbahnfratze. Er torkelte rückwärts. Tiger griff weiter an. Die Menge war wieder aufgesprungen und wollte Blut sehen. Auch wir waren auf den Beinen. Sadie hielt sich die Hände vor den Mund.

Tiger hatte Case in eine der neutralen Ecken gedrängt und hämmerte mit Linken und Rechten auf ihn ein. Ich konnte sehen, wie Case in sich zusammensackte; ich konnte sehen, wie die Lichter in seinen Augen trüber wurden. Noch ein linker Haken – oder diese Vorschlaghammer-Rechte –, dann würden sie ausgehen.

»LEG IHN FLACH!«, brüllte der rundliche Zigarrenraucher. »LEG IHN FLACH, DICKY! HAU IHM DIE RÜBE WEG!«

Tiger traf ihn tief, deutlich unter der Gürtellinie. Vermutlich nicht aus Absicht, aber der Ringrichter griff ein. Während er Tiger wegen des Tiefschlags verwarnte, beobachtete ich Case, um zu sehen, wie er diese Verschnaufpause nutzen würde. Auf seinem Gesicht erschien etwas, was mir vertraut war. Diesen Ausdruck hatte ich auf Lees Gesicht gesehen, und zwar an dem Tag, an dem er Marina wegen des Reißverschlusses an ihrem Rock die Hölle heißgemacht hatte. Der Ausdruck war erschienen, als Marina sich mit dem Vorwurf, er habe sie und das Baby in einem Schweinstall untergebracht, revanchiert und ihm dabei einen Vogel gezeigt hatte.

Plötzlich war Schluss mit Tom Case’ Rolle als hilfloses Opfer.

Der Ringrichter gab den Ring frei. Tiger griff sofort wieder an, aber diesmal trat Case ihm entgegen. Was in den folgenden zwanzig Sekunden geschah, gehörte zu den packendsten, schrecklichsten Dingen, die ich je als Zuschauer erlebt habe. Die beiden standen sich einfach auf Armeslänge gegenüber und schlugen aufeinander ein: ins Gesicht, auf Brust und Schultern, in den Magen. Es gab keine Finten, kein Ausweichen, keine raffinierte Fußarbeit. Die beiden glichen Bullen auf der Weide. Case erlitt einen Nasenbeinbruch, der stark blutete. Tigers Unterlippe wurde gegen die Zähne gequetscht und platzte auf; Blut lief ihm links und rechts übers Kinn und ließ ihn wie einen Vampir nach einem Festmahl aussehen.

Alle Zuschauer in der Sporthalle waren aufgesprungen und brüllten laut. Sadie hüpfte auf und ab. Der Filzhut fiel ihr vom Kopf und entblößte die mit Narben bedeckte Wange. Sie achtete nicht darauf. Das tat auch sonst niemand. Auf den Großleinwänden war der Dritte Weltkrieg in vollem Gange.

Bei der nächsten Bazooka-Rechten senkte Case den Kopf, und ich sah, wie Tiger das Gesicht verzog, als seine Faust gegen harten Knochen prallte. Er wich einen Schritt zurück, und Case brachte einen gewaltigen Aufwärtshaken an. Tiger drehte den Kopf zur Seite und schwächte die Wirkung ab, doch dabei verlor er seinen Mundschutz, der anschließend über die Ringmatte rollte.

Case rückte nach und brachte wilde linke und rechte Schwinger an. Darin steckte keinerlei Finesse, nur rohe, wütende Kraft. Tiger wich weiter zurück, stolperte über die eigenen Beine und ging zu Boden. Case stand über ihm und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte … oder vielleicht auch, wo er überhaupt war. Dann merkte er, dass sein Trainer ihm hektisch Zeichen gab, und schlurfte in seine Ecke zurück. Der Ringrichter begann zu zählen.

Bei vier stützte Tiger sich auf ein Knie. Bei sechs war er wieder auf den Beinen. Nachdem der Ringrichter wie vorgeschrieben bis acht gezählt hatte, ging der Kampf weiter. Ich sah auf die große Uhr rechts oben auf der Leinwand und stellte fest, dass diese Runde noch fünfzehn Sekunden dauern würde.

Nicht lange genug, die Zeit reicht nicht.

Case stampfte vorwärts. Tiger schlug seinen vernichtenden linken Haken. Case konnte ausweichen, und als der Haken ins Leere ging, brachte er seine Rechte an. Diesmal verzerrte sich Tigers Gesicht, und als er zu Boden ging, stand er nicht mehr auf.

Der dickliche Mann betrachtete die zerkauten Reste seiner Zigarre, dann ließ er sie angewidert fallen. »Verdammt, da kommen ja sogar Jesus die Tränen!«

»Ja!«, sagte Sadie vergnügt und brachte den Filzhut wieder in seine lässig schräge Position. »Und er flennt auf einen Stapel Blaubeerpfannkuchen, und seine Jünger sagen, sie hätten nie bessere gegessen! Jetzt raus mit der Kohle!«

12

Bis wir nach Jodie zurückkamen, war aus dem 29. August der 30. August geworden, aber wir waren beide zu aufgeregt, um schlafen zu können. Wir liebten uns, dann saßen wir in unserer Unterwäsche in der Küche und naschten Kuchen.

»Und?«, sagte ich. »Was denkst du?«

»Dass ich nie wieder zu einem Boxkampf gehen werde. Das war reine Blutgier. Und ich war auf den Beinen und habe geschrien wie die anderen. Sekundenlang – vielleicht sogar eine volle Minute lang – wollte ich, dass Case diesen angeberhaft tänzelnden Dandy totschlägt. Und danach konnte ich es kaum erwarten, hierher zurückzukommen und mit dir ins Bett zu springen. Das vorhin hatte nichts mit Liebe zu tun, Jake. Ich habe gebrannt

Ich schwieg. Manchmal gab es nichts zu sagen.

Sie griff über den Tisch, klaubte einen Kuchenkrümel von meinem Kinn und steckte ihn mir in den Mund. »Sag mir, dass es nicht Hass ist.«

»Was denn?«

»Der Grund dafür, dass du glaubst, diesen Mann aufhalten zu müssen.« Sie sah, dass ich den Mund öffnen wollte, und hob abwehrend eine Hand. »Ich habe alles gehört, was du über deine Gründe gesagt hast, aber du musst mir versichern, dass es wirklich nur um sie geht – und nicht etwa um das, was ich nach dem Tiefschlag in Case’ Augen gesehen habe. Ich kann dich lieben, wenn du ein Mann bist, und ich kann dich lieben, wenn du ein Held bist – obwohl mir das aus irgendeinem Grund viel schwieriger vorkommt –, aber ich glaube nicht, dass ich ein Mitglied einer Bürgerwehr lieben könnte.«

Ich dachte daran, wie Lee seine Frau ansah, wenn er nicht gerade zornig auf sie war. Ich erinnerte mich an die von mir belauschte Unterhaltung, als er mit seiner kleinen Tochter gebadet hatte. Ich dachte an seine Tränen auf dem Busbahnhof, als er June auf dem Arm gehalten und unter dem Kinn gekrault hatte, bevor er in den Greyhound nach New Orleans gestiegen war.

»Es ist nicht Hass«, sagte ich. »Wenn ich an ihn denke, empfinde ich …«

Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Sie beobachtete mich unverwandt.

»Bedauern wegen eines vergeudeten Lebens. Aber man kann auch Mitleid mit einem guten Hund haben, der tollwütig wird. Das hindert einen nicht daran, ihn zu erschießen.«

Sie sah mir in die Augen. »Ich will dich noch mal. Aber diesmal sollte es aus Liebe sein. Nicht, weil wir eben gesehen haben, wie zwei Kerle sich bis zur Erschöpfung prügeln und unser Mann als Sieger aus dem Ring geht.«

»Okay«, sagte ich. »Okay, das ist gut.«

Und das war es.

13

»Sieh einer an«, sagte Frank Fratis Tochter, als ich an diesem Freitag gegen Mittag das Pfandhaus betrat. »Der Box-Swami mit dem Neuenglandakzent.« Sie bedachte mich mit einem eisigen Lächeln, dann sah sie sich um und rief: »Da-ad! Dein Tom-Case-Mann ist da!«

Frati kam aus seinem Büro geschlurft. »Oh, hallo, Mr. Amberson«, sagte er. »Lebensgroß und gut aussehend wie Satan an einem Samstagabend. Ich möchte wetten, dass Sie sich heute ziemlich clever vorkommen.«

»Klar«, sagte ich. »Kein Wunder: Ich hab schließlich grad ’nen Glückstreffer gelandet.«

»Den leider ich einstecken musste.« Er zog einen braunen Umschlag, der nicht ganz Standardformat hatte, aus der Hüfttasche seiner ausladenden Gabardinehose. »Zwei Mille. Sie können sie ruhig nachzählen.«

»Danke, nicht nötig«, sagte ich. »Ich vertraue Ihnen.«

Er tat so, als wollte er mir den Umschlag geben, dann zog er ihn wieder zurück und tippte sich damit ans Kinn. Seine klugen, verblassten Augen musterten mich prüfend. »Sie hätten nicht Lust, Ihren Gewinn wieder zu setzen? Die Footballsaison beginnt bald – und die World Series ebenfalls.«

»Von Football verstehe ich nichts, und ein Duell zwischen Yankees und Dodgers interessiert mich nicht sonderlich. Geben Sie her.«

Er gab mir das Geld.

»War mir ein Vergnügen«, sagte ich und ging hinaus. Ich konnte spüren, wie mir ihre Blicke folgten, und hatte wieder dieses inzwischen sehr unangenehme Déjà-vu-Gefühl. Allerdings konnte ich seinen Ursprung nicht ermitteln. Ich stieg ins Auto und hoffte, dass ich nie nach Fort Worth zurückkehren musste. Oder in die Greenville Avenue in Dallas. Oder noch einmal bei einem Buchmacher namens Frati wetten.

Das waren meine drei Wünsche, und mir wurden alle erfüllt.

14

Mein nächstes Ziel war die West Neely Street 214. Ich hatte den Hausbesitzer angerufen und ihm gesagt, dass der August mein letzter Monat sein würde. Er hatte versucht, mich umzustimmen, und mir erklärt, gute Mieter wie ich seien schwer zu finden. Das stimmte vermutlich – die Polizei war nie meinetwegen da gewesen, obwohl sie vor allem an den Wochenenden oft aufkreuzte –, aber seine Überredungsversuche hatten wohl eher mit einem Überangebot an Wohnungen bei gleichzeitigem Mietermangel zu tun. Dallas erlebte gerade eine seiner periodischen Rezessionen.

Unterwegs machte ich bei der First Corn Bank halt und zahlte Fratis zwei Riesen auf mein Girokonto ein. Das war mein Glück. Später – viel später – wurde mir klar, dass das Geld bestimmt verloren gewesen wäre, wenn ich es in der West Neely Street noch gehabt hätte.

Ich hatte vor, alle vier Räume nach etwaigen Dingen zu durchsuchen, die ich dort zurückgelassen haben könnte – unter besonderer Berücksichtigung der Stellen, die so etwas auf unerklärliche Weise anzogen: unter Sofakissen, unter dem Bett und ganz hinten in Schubladen. Und ich würde natürlich meinen Police Special mitnehmen. Ich wollte die Sache mit Lee zu Ende bringen. Inzwischen war ich fest entschlossen, ihn zu beseitigen, und das würde ich möglichst bald nach seiner Rückkehr nach Dallas erledigen. Bis es so weit war, sollte nicht die geringste Spur von George Amberson zurückbleiben.

Je näher ich der West Neely Street kam, desto stärker wurde das Gefühl, in der Echokammer der Zeit zu stecken. Ich musste ständig an die beiden Fratis denken – der eine mit einer Frau namens Marjorie, der andere mit einer Tochter namens Wanda.

Marjorie: Ist das in normalen Worten eine Wette?


Wanda: Meinen Sie so eine Wette, die sich danebenbenimmt?


Marjorie: Ich bin J. Edgar Hoover, mein Sohn.


Wanda: Ich bin Chief Curry von der Dallas Police.

Und wenn schon. Es war das Glockenklingen, sonst nichts. Die Harmonisierung. Eine Nebenwirkung von Zeitreisen.

Trotzdem begann irgendwo in meinem Hinterkopf eine Alarmglocke zu läuten, und als ich in die West Neely Street einbog, ertönte sie im Vorderhirn. Die Geschichte wiederholte sich, die Vergangenheit strebte nach Harmonie … darum ging es bei diesem Gefühl – aber nicht nur. Als ich in die Einfahrt des Hauses einbog, in dem Lee seinen dämlichen Plan, Edwin Walker zu erschießen, geschmiedet hatte, hörte ich wirklich auf dieses Alarmsignal. Weil es jetzt ganz nahe war. Weil es jetzt laut schrillte.

Akiva Roth war bei dem Boxkampf gewesen, aber nicht allein. Begleitet worden war er von einer Partymieze mit Garbo-Brille und Nerzstola. August in Dallas war keine Jahreszeit für Pelze, aber die Halle war klimatisiert gewesen, und manchmal musste man einfach zeigen, was man sich leisten konnte.

Nimm die dunkle Brille weg. Nimm die Nerzstola weg. Was bleibt dann übrig?

Ich blieb noch einen Augenblick in meinem Wagen sitzen, hörte den abkühlenden Motor knistern und knacken und war immer noch nicht schlauer. Dann plötzlich erkannte ich, wen man bekam, wenn man die Nerzstola gegen eine Bluse von Ship N Shore vertauschte: Wanda Frati.

Chaz Frati aus Derry war von Bill Turcotte auf mich angesetzt worden. Dieser Gedanke war mir sogar durch den Kopf gegangen … aber ich hatte ihn wieder verdrängt. Schlechte Idee.

Wen hatte Frank Frati aus Fort Worth auf mich angesetzt? Nun, er musste Akiva Roth von Faith Financial kennen; immerhin war Roth der Freund seiner Tochter.

Plötzlich wollte ich meinen Revolver, und zwar sofort.

Ich stieg aus dem Chevy und trabte mit meinem Schlüsselbund in der Hand die Stufen zur Veranda hinauf. Ich war noch dabei, den richtigen Schlüssel zu suchen, als ein Kastenwagen von der Haines Avenue her einbog und mit quietschenden Reifen entgegen der Fahrtrichtung vor der Nummer 214 hielt.

Ich sah mich um. Sah niemand. Die Straße war menschenleer. Es gab nie einen Umstehenden, den man zu Hilfe rufen konnte, wenn man einen brauchte. Von einem Cop ganz zu schweigen.

Ich rammte den Schlüssel ins Schloss und schloss auf, um sie auszusperren – wer immer sie waren – und die Polizei anzurufen. Als ich drinnen war und die heiße, abgestandene Luft der unbewohnten Wohnung roch, fiel mir ein, dass es hier kein Telefon gab. Ich hatte es abholen lassen.

Große Männer liefen über den Rasen. Ich zählte drei. Einer trug ein kurzes Stück Rohr, das in etwas eingewickelt zu sein schien.

Nein, es waren sogar genügend Männer für eine Bridge-Partie. Der vierte war Akiva Roth, der jedoch nicht rannte. Er kam mit den Händen in den Hosentaschen gelassen lächelnd den Plattenweg heraufgeschlendert.

Ich knallte die Wohnungstür zu. Schob den Sicherungsriegel vor. Ich war kaum damit fertig, als er abgesprengt wurde. Ich wollte ins Schlafzimmer flüchten. Etwa auf halbem Weg schnappten sie mich.

15

Zwei von Roths Schlägern schleiften mich in die Küche. Der dritte war der Mann mit dem kurzen Stück Rohr in der Hand. Es war in Streifen aus dunklem Filz gewickelt. Das sah ich, als er es auf den Tisch legte, an dem ich so oft gegessen hatte. Er streifte sich gelbe Rohlederhandschuhe über.

Roth lehnte am Türrahmen und lächelte weiter gelassen. »Eduardo Gutierrez hat Syphilis«, verkündete er. »Sie hat das Gehirn erfasst. In achtzehn Monaten ist er tot, aber weißt du was? Er macht sich nichts daraus. Er glaubt, dass er als arabischer Emirat oder so ’n Scheiß wiedergeboren wird. Wie findest du das, hä?«

Auf schiefe Argumente zu reagieren – auf Cocktailpartys, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Schlange vor der Kinokasse – war knifflig genug, aber es war richtig schwierig, die richtige Antwort zu finden, wenn man von zwei Männern festgehalten wurde, damit der dritte zuschlagen konnte. Deshalb schwieg ich.

»Die Sache ist die, dass der Gedanke an dich sich in sein Hirn hineingefressen hat. Du hast Wetten gewonnen, die du nicht hättest gewinnen dürfen. Manchmal hast du verloren, aber Eddie G. hat diese verrückte Idee, dass du absichtlich verloren hast. Du verstehst, was ich meine? Dann hast du beim Derby abgesahnt, und er hat sich eingebildet, du bist … ich weiß nicht … so ’ne Art Telepath, der in die Zukunft schauen kann. Weißt du übrigens, dass er dein Strandhaus abgefackelt hat?«

Ich schwieg.

»Dann, als die kleinen Würmerchen sich wirklich über sein Gehirn hergemacht haben, fing er an zu glauben, du bist irgendein Ghul oder Teufel«, fuhr Roth fort. »Er hat im ganzen Süden, im Westen, im Mittleren Westen nach dir fahnden lassen. ›Haltet Ausschau nach diesem Amberson und erledigt ihn. Knallt ihn ab. Der Kerl ist unnatürlich. Ich hab’s an ihm gerochen, aber nicht ernst genommen. Seht mich jetzt an, krank und so gut wie tot. Und das ist die Schuld von diesem Kerl. Er ist ein Ghul oder ein Teufel oder so ’n Scheiß.‹ Verrückt, was? Nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

Ich schwieg.

»Carmo, ich glaube nicht, dass mein Freund Georgie zuhört. Ich glaube, er nickt bald ein. Weck ihn ein bisschen auf.«

Der Mann mit den gelben Lederhandschuhen verpasste mir einen Aufwärtshaken à la Tom Case, den er aus Hüfthöhe bis zu meiner linken Gesichtshälfte hochzog. Mein Kopf schien vor Schmerzen zu explodieren, und ich sah sekundenlang alles wie durch blutrote Schleier,

»Okay, jetzt siehst du wieder wacher aus«, sagte Roth. »Wo war ich gleich wieder? Ach, ich weiß. Wie du dich in Eddie G.s privaten Butzemann verwandelt hast. Wegen der Syphilis, das wussten wir alle. Wärst du’s nicht gewesen, dann wahrscheinlich irgendein kleiner Friseur. Oder ein Mädchen, das ihm im Autokino zu grob einen runtergeholt hat, als er sechzehn war. Manchmal weiß er nicht mal mehr, wo er wohnt, und muss anrufen, damit wer kommt und ihn abholt. Traurig, was? Das kommt von den Würmerchen in seinem Kopf. Aber alle spielen mit, weil Eddie G. immer ein guter Kerl war. Er konnte Witze erzählen, Mann, da haben die Leute gelacht, bis ihnen die Tränen runtergelaufen sind. Kein Mensch hat geglaubt, dass es dich wirklich gibt. Dann taucht Eddie G.s Butzemann in Dallas auf, in meinem Laden. Und was passiert? Der Butzemann wettet darauf, dass die Pirates die Yankees schlagen, was sie bekanntlich nicht können, wie jeder weiß – und zwar in sieben Spielen, obwohl jeder weiß, dass es nicht so viele geben wird.«

»Das war bloß Glück«, sagte ich. Meine Stimme klang pelzig, weil die eine Mundhälfte bereits anschwoll. »Eine impulsive Wette.«

»Das ist einfach dumm, und für Dummheit muss man immer büßen. Carmo, zerschlag diesem Blödmann die Kniescheibe.«

»Nein!«, rief ich. »Nein, bitte nicht!«

Carmo grinste, als hätte ich etwas Witziges gesagt, griff sich das in Filz gewickelte Rohr vom Tisch und schwang es gegen mein linkes Knie. Ich hörte irgendetwas dort unten laut knacken. Wie einen großen Fingerknöchel. Der Schmerz war nicht von dieser Welt. Ich schaffte es, nicht aufzuschreien, und sackte gegen die Männer, die mich hielten. Die beiden rissen mich wieder hoch.

Roth stand in der Tür, hatte die Hände in den Taschen und lächelte sein gelassenes Lächeln. »Okay. Cool. Das schwillt übrigens an. Du wirst es nicht glauben können, wie groß das wird. Aber he, das hast du dir redlich erworben, du hast dafür bezahlt. Bis es so weit ist, hier die Tatsachen, Ma’am, nichts als die Tatsachen.«

Die Schläger, die mich festhielten, lachten.

»Es ist nun einmal so, dass niemand, der so angezogen ist, wie du an dem Tag angezogen warst, an dem du in meinen Laden gekommen bist, eine Wette in dieser Höhe abschließt. Ein Mann in deinen Klamotten setzt impulsiv mal zehn Dollar, allerhöchstens zwei Zehner. Aber die Pirates haben gewonnen, auch das ist eine Tatsache. Und ich fange an zu glauben, dass Eddie G. recht haben könnte. Nicht dass du ein Teufel oder ein Ghul oder ein Telepathie-Dingsbums bist, aber vielleicht kennst du jemand, der was weiß. Weil bei den Series vielleicht Bestechungsgelder geflossen sind und die Pirates in sieben gewinnen sollten.«

»Im Baseball gibt’s keine gekauften Spiele, Roth. Nicht seit den Black Sox im Jahr 1919. Als Buchmacher müssten Sie das wissen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Du weißt, wie ich heiße? He, vielleicht bist du doch ein Telepathie-Kerl, ein telepathischer Mistkerl. Aber ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

Wie um das zu bestätigen, sah er auf seine Uhr. Sie war groß und klobig, wahrscheinlich eine Rolex.

»Ich versuche zu sehen, wo du wohnst, als du deinen Gewinn abholst, aber du hältst den Daumen über deine Adresse. Das ist okay. Das tun viele. Ich beschließe, dich laufen zu lassen. Ich könnte ein paar Kerle hinter dir herschicken, um dich zusammenschlagen oder sogar umbringen zu lassen, damit Eddie G.s Verstand – was noch davon übrig ist – endlich Ruhe findet. Weil irgendein Kerl eine beschissene Quote akzeptiert und mich um zwölfhundert gebracht hat? Scheiß drauf, was Eddie G. nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Außerdem würde er sich sofort was Neues ausdenken, wenn du beseitigt wärst. Vielleicht dass Henry Ford die Annie Christ war oder so ’n Scheiß. Carmo, er hört wieder nicht zu, und das macht mich sauer!«

Carmo schwang das Rohr gegen meine Körpermitte. Es traf mich mit lähmender Gewalt unterhalb von den Rippen. Der Schmerz war erst gezackt, dann wurde er von einer sich ausdehnenden Hitzewelle wie von einem Feuerball verschluckt.

»Tut weh, was?«, sagte Carmo. »Erwischt einen voll in den ollen Klöten.«

»Ich glaub, ich hab innere Verletzungen«, sagte ich. Ich hörte ein heiseres Dampfmaschinengeräusch und merkte, dass das mein Keuchen war.

»Scheiße, das will ich doch hoffen«, sagte Roth. »Ich lass dich laufen, du Blödmann! Ich hab dich vergessen! Dann tauchst du bei Frank in Fort Worth auf, um auf den gottverdammten Case-Tiger-Kampf zu wetten. Mit exakt derselben Methode: hohe Wette auf den Underdog zur bestmöglichen Quote. Diesmal hast du sogar die verdammte Runde vorhergesagt. Ich will dir sagen, wie’s weitergeht, mein Freund: Du wirst mir erzählen, woher du das gewusst hast. Wenn du das tust, mache ich ein paar Aufnahmen von dir in deinem jetzigen Zustand, und Eddie G. ist zufrieden. Er weiß, dass er dich nicht umbringen lassen darf, weil Carlos nein gesagt hat, und Carlos ist der Einzige, auf den er noch hört. Und wenn er dich so zugerichtet sieht … Ach was, du siehst noch nicht schlimm genug aus. Streng dich ein bisschen an, Carmo. Polier ihm die Fresse.«

Also hämmerte Carmo auf mein Gesicht ein, während die beiden anderen mich festhielten. Er brach mir die Nase, ließ das linke Auge zuschwellen, schlug mir ein paar Zähne aus und riss meine linke Wange auf. Ich dachte ständig: Ich werde bewusstlos, oder sie bringen mich um, aber so oder so hören die Schmerzen auf. Aber ich blieb bei Bewusstsein, und irgendwann hörte Carmo auf. Er atmete angestrengt und hatte rote Flecken auf den gelben Rohlederhandschuhen. Durchs Küchenfenster fiel Sonnenlicht herein und malte fröhliche Rechtecke auf das verblasste Linoleum.

»Schon besser«, sagte Roth. »Hol die Polaroid aus dem Wagen, Carmo. Aber beeil dich. Ich will hier Schluss machen.«

Bevor Carmo hinausging, zog er seine Handschuhe aus und ließ sie neben dem Bleirohr zurück. Einige der Filzstreifen hatten sich gelöst. Sie waren mit Blut getränkt. Mein Gesicht pochte vor Schmerzen, aber die Unterleibsschmerzen waren schlimmer. Dort breitete sich die Hitze weiter aus. Dort unten war etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

»Also, ich frage dich noch mal, Amberson. Woher hast du gewusst, dass der Kampf gekauft war? Wer hat’s dir gesagt? Raus mit der Wahrheit!«

»Ich hab nur geraten.« Ich versuchte mir einzureden, dass meine Stimme klang, als wäre ich schrecklich erkältet, aber das stimmte nicht. Sie klang wie die eines Mannes, der eben zusammengeschlagen worden war.

Roth nahm das Rohr und klopfte sich damit leicht in die fette Hand. »Wer hat es dir verraten, Hackfresse?«

»Niemand. Gutierrez hat recht. Ich bin ein Teufel, und Teufel können in die Zukunft sehen.«

»Du vertust deine letzte Chance.«

»Wanda ist zu groß für Sie, Roth. Und zu mager. Wenn Sie auf ihr liegen, müssen Sie wie ’ne Kröte aussehen, die versucht, ’nen Besenstiel zu bumsen. Oder wie …«

Sein zufriedenes Gesicht wurde zu einer wütenden Fratze. Diese komplette Verwandlung dauerte nicht einmal eine Sekunde. Er wollte mir das Rohr über den Schädel ziehen. Ich riss den linken Arm hoch und hörte den Unterarm wie einen Birkenast unter zu großer Eislast splittern. Als ich diesmal zusammensackte, ließen die beiden Schläger mich zu Boden gehen.

»Verdammter Klugscheißer, wie ich diese Klugscheißer hasse.« Das schien aus weiter Ferne zu kommen. Oder aus großer Höhe. Oder aus beidem. Ich war endlich so weit, dass ich bewusstlos werden konnte, und wollte das dankbar tun. Aber ich sah noch genug, um zu erkennen, dass Carmo mit einer Polaroidkamera zurückkam. Sie war groß und klobig, und ihr Objektiv ließ sich an einem Faltenbalg ausziehen.

»Dreht ihn um«, sagte Roth. »Ich will seine Schokoladenseite.« Während die Schläger das taten, übergab Carmo Roth die Kamera, und Roth übergab Carmo das Bleirohr. Dann hob Roth die Kamera vor die Augen und sagte: »Gleich kommt das Vögelchen, du Drecksack. Hier ist eins für Eddie G. …«

Blitz.

»… und eins für meine Privatsammlung, die ich noch nicht habe, aber vielleicht jetzt anfange …«

Blitz.

»… und hier ist eins für dich. Um dich daran zu erinnern, dass man die Fragen wichtiger Leute gefälligst beantwortet.«

Blitz.

Er riss die dritte Aufnahme aus der Kamera und ließ sie in meine Richtung segeln. Sie landete vor meiner linken Hand … auf die er jetzt trat. Knochen knackten. Ich wimmerte und zog die verletzte Hand an meine Brust zurück. Er hatte mir mindestens einen Finger gebrochen, vielleicht sogar drei.

»Denk dran, dass du das Deckblatt nach sechzig Sekunden abziehen musst, sonst wird die Aufnahme überentwickelt. Das heißt, wenn du dann noch wach bist.«

»Willst du ihn weiter ausfragen, wo er jetzt weichgeklopft ist?«, fragte Carmo.

»Soll das ein Witz sein? Sieh ihn dir an. Er weiß nicht mal mehr seinen Namen. Zum Teufel mit ihm.« Er wollte sich abwenden, drehte sich dann aber noch einmal um. »He, Arschloch. Hier ist was zum Nachdenken.«

Dabei trat er mir mit etwas, was ein Schuh mit Stahlkappe sein musste, seitlich gegen den Kopf. Vor meinen Augen explodierten Feuerwerksraketen. Dann knallte mein Hinterkopf gegen die Sockelleiste, und ich war weg.

16

Ich glaube nicht, dass ich lange bewusstlos war, denn die Sonnenrechtecke auf dem Linoleum schienen nicht weitergewandert zu sein. Im Mund hatte ich den Geschmack von nassem Kupfer. Ich spuckte halb geronnenes Blut und ein Stück Zahn aus, dann machte ich mich daran, aufzustehen. Ich musste mich mit der heilen Hand am Küchenstuhl und dann am Tisch (der dabei fast auf mich kippte) festhalten, aber insgesamt war es leichter als gedacht. Mein linkes Bein fühlte sich taub an, und die Hose spannte auf halber Länge, wo das Knie wie versprochen anschwoll, aber alles hätte viel schlimmer sein können.

Nach einem Blick aus dem Fenster, um mich zu vergewissern, dass der Kastenwagen weg war, humpelte ich langsam ins Schlafzimmer. Mein Herz schlug weich und schwammig in meiner Brust. Jeder Pulsschlag pochte in meiner gebrochenen Nase und ließ meine geschwollene linke Gesichtshälfte mit dem garantiert gebrochenen Backenknochen vibrieren. Auch mein Hinterkopf pochte, und mein Hals war steif.

Könnte schlimmer sein, sagte ich mir, während ich durchs Schlafzimmer humpelte. Du bist auf den Beinen, oder nicht? Hol dir den verdammten Revolver, leg ihn ins Handschuhfach und fahr in die Notaufnahme. Im Grunde genommen fehlt dir nicht viel. Wahrscheinlich geht’s dir besser als Dick Tiger heute Morgen.

Das konnte ich mir einreden, bis ich mich streckte, um nach dem Revolver im Kleiderschrankfach zu greifen. Als ich das tat, spürte ich erst ein Ziehen im Unterleib … und dann schien das, was eben noch gezogen hatte, zu rollen. Die in meiner linken Seite schwelende Hitze schien wie Holzkohlenglut aufzuflammen, auf die man Benzin kippte. Ich bekam den Revolvergriff mit den Fingerspitzen zu fassen, drehte ihn, steckte den Daumen in den Abzugsbügel und zog die Waffe herunter. Der Revolver prallte vom Fußboden ab und landete mitten im Schlafzimmer.

Wahrscheinlich nicht mal geladen. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben. Mein linkes Knie gab mit einem Aufschrei nach. Ich schlug hin, und die Schmerzen in meinem Unterleib flammten wieder auf. Aber ich bekam den Revolver zu fassen und inspizierte die Trommel. Er war doch geladen. Sämtliche Kammern. Ich steckte ihn ein und versuchte in die Küche zurückzukriechen, aber das Knie tat zu weh. Und die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Sie saßen in ihrer kleinen Höhle oberhalb des Genicks und breiteten ihre finsteren Tentakel aus.

Mit Schwimmbewegungen kämpfte ich mich bäuchlings bis zum Bett. Als ich dort ankam, schaffte ich es, mich mithilfe des rechten Arms und des rechten Beins wieder aufzurichten. Das linke Bein trug mich zwar, aber ich konnte das Knie kaum noch beugen. Ich musste so schnell wie möglich weg von hier.

Ich sah bestimmt aus wie Chester, der hinkende Hilfssheriff in Rauchende Colts, als ich mich aus dem Schlafzimmer, weiter durch die Küche bis hin zur Wohnungstür schleppte. Ich kann mich sogar erinnern, gedacht zu haben: Mr. Dillon, Mr. Dillon, unten im Long Branch Saloon gibt’s Ärger!

Ich überquerte die Veranda, klammerte mich mit der rechten Hand am Geländer fest und hüpfte einbeinig auf den Gehsteig hinunter. Es waren nur vier Stufen, aber meine Kopfschmerzen wurden mit jeder Stufe schlimmer. Mein Blickfeld schien sich allmählich zu verengen, was nicht gut sein konnte. Ich versuchte den Kopf zu drehen, um meinen Chevrolet sehen zu können, aber mein Hals wollte nicht mitmachen. Stattdessen schaffte ich nur eine schwerfällige Körperdrehung, und als ich den Wagen in Sicht hatte, wurde mir klar, dass ich unmöglich fahren konnte. Es war schon ausgeschlossen, dass ich die Beifahrertür öffnete und den Revolver im Handschuhfach verstaute: Dazu hätte ich mich hinunterbeugen müssen, wodurch die Schmerzen und die Hitze in meiner Seite wieder explodiert wären.

Ich fummelte den Police Special aus der Tasche und hinkte zur Veranda zurück. Am Geländer lehnend warf ich die Waffe mit einem Unterhandschwung unter die Stufen. Das würde genügen müssen. Ich richtete mich wieder auf und kehrte langsam auf den Gehsteig zurück. Babyschritte, ermahnte ich mich. Kleine Babyschritte.

Zwei Jungen kamen auf Fahrrädern herangesegelt. Ich versuchte ihnen zu sagen, dass ich Hilfe brauchte, aber zwischen meinen geschwollenen Lippen kam nur ein trockenes Hhhahhhh hervor. Sie wechselten einen Blick, strampelten schneller und umkurvten mich links und rechts.

Ich wandte mich nach rechts (mein geschwollenes Knie suggerierte mir, dass eine Linksdrehung die schlechteste Idee der Welt wäre) und torkelte den Gehsteig entlang. Mein Gesichtsfeld verengte sich weiter; ich schien meine Umgebung jetzt durch eine Schießscharte oder aus einem Tunnel heraus wahrzunehmen. Einen Augenblick lang ließ mich das an den umgestürzten Fabrikkamin des Eisenwerks Kitchener damals in Derry denken.

Sieh zu, dass du zur Haines Avenue kommst, sagte ich mir. Dort herrscht Verkehr. So weit musst du mindestens kommen.

Aber bewegte ich mich auf die Haines Avenue zu oder von ihr weg? Es fiel mir einfach nicht mehr ein. Die sichtbare Welt war für mich auf einen klar definierten Kreis mit ungefähr fünfzehn Zentimetern Durchmesser reduziert. Mein Kopf drohte zu platzen; in meinen Eingeweiden wütete ein Großbrand. Als ich fiel, schien mein Sturz in Zeitlupe abzulaufen, und der Gehsteig war weich wie ein Federkissen.

Bevor ich bewusstlos wurde, stieß mich etwas an. Irgendetwas Hartes, Metallisches. Acht oder zehn Meilen über mir sagte eine rostige Stimme: »Sie! Sie, junger Mann! Was ist mit Ihnen los?«

Ich wälzte mich zur Seite. Das kostete mich zwar die letzte Kraft, aber ich schaffte es. Über mir stand die alte Frau, für die ich ein Feigling war, weil ich mich geweigert hatte, mich am Tag des Reißverschlusses in den Streit zwischen Lee und Marina einzumischen. Dieser Tag hätte heute sein können, denn sie trug wieder – Augusthitze hin oder her – das rosa Flanellnachthemd und ihre Steppjacke. Vielleicht weil der verbliebene Rest meines Verstands sich immer noch mit Boxen beschäftigte, erinnerten ihre gesträubten Haare mich diesmal an Don King statt an Elsa Lanchester. Sie hatte mich mit einem der Vorderbeine ihres Gehgestells angestoßen.

»Ach du liebes bisschen«, sagte sie. »Wer hat Sie denn so zugerichtet?«

Das war eine lange Geschichte, und ich konnte sie nicht erzählen. Um mich herum wurde es dunkel, worüber ich froh war, weil die Kopfschmerzen mich umbrachten. Al hat Lungenkrebs gekriegt, dachte ich. Mich hat Akiva Roth erwischt. So oder so ist das Spiel aus. Ozzie gewinnt.

Nicht, wenn ich es verhindern konnte.

Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und sprach zu dem Gesicht hoch über mir – dem einzigen hellen Fleck in der herabsinkenden Nacht. »Rufen Sie … neun-eins-eins.«

»Was ist das denn?«

Natürlich wusste sie das nicht. Die Notrufnummer 911 war noch nicht eingeführt. Ich hielt lange genug durch, es noch einmal zu versuchen. »Krankenwagen.«

Ich glaube, ich habe dieses Wort wiederholt, aber ich bin mir da nicht ganz sicher. Im nächsten Augenblick verschlang mich die Dunkelheit.

17

Es war mir immer ein Rätsel, ob es Kinder oder Roths Schläger waren, die mein Auto gerstohlen haben. Und wann das war. Jedenfalls haben die Diebe es weder zu Schrott gefahren noch irgendwo entsorgt; Deke Simmons holte es eine Woche später bei der Verwahrstelle der Polizei in Dallas ab. Es war in einem weit besseren Zustand als ich.

Zeitreisen waren voller Paradoxe.

Kapitel 26

In den darauffolgenden elf Wochen führte ich wieder zwei Leben. Da war das eine, von dem ich kaum etwas wusste – mein äußeres Leben –, und dazu dasjenige, das ich nur allzu gut kannte. Das war mein inneres Leben, in dem ich häufig vom Gelbe-Karte-Mann träumte.

Im äußeren Leben stand die alte Frau mit der Gehhilfe (Alberta Hitchinson; Sadie machte sie ausfindig und brachte ihr einen Blumenstrauß) über mir und rief um Hilfe, bis ein Nachbar herauskam, die Situation erfasste und telefonisch einen Krankenwagen anforderte, der mich dann ins Parkland Memorial Hospital brachte. Der Arzt, der mich dort behandelte, war Dr. Malcom Perry, der später John F. Kennedy und Lee Harvey Oswald behandeln würde, als sie im Sterben lagen. Mit mir hatte er mehr Glück, aber nur mit knapper Not.

Ich hatte ausgeschlagene Zähne, einen Nasenbeinbruch, einen gebrochenen Backenknochen, ein zersplittertes linkes Knie, einen gebrochenen linken Arm, ausgerenkte Finger und innere Verletzungen. Außerdem hatte ich ein Schädelhirntrauma erlitten, das Perry die größten Sorgen machte.

Wie ich später erfuhr, wachte ich auf und jaulte, weil mein Bauch abgetastet wurde, aber daran habe ich keine Erinnerung. Ich bekam einen Katheter und begann sofort »Rotwein« zu pissen, wie ein Ringsprecher gesagt hätte. Mein Zustand war anfangs stabil, aber dann verschlechterte er sich. Meine Blutgruppe wurde bestimmt, und ich erhielt vier Beutel Blut … die, wie Sadie mir später erzählte, Ende September von den Einwohnern Jodies bei einer Blutspendenaktion hundertfach ersetzt wurden. Das musste sie mir mehrmals erzählen, weil ich es immer wieder vergaß. Ich wurde auf eine Bauchoperation vorbereitet, aber vorher gab es noch eine neurologische Untersuchung, bei der eine Rückenmarkspunktion vornommen wurde – im Land des Einst gab es weder Computer- noch Kernspintomografie.

Später wurde mir auch berichtet, dass ich mich mit den beiden Krankenschwestern unterhalten hätte, die mich für die Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit vorbereiteten. Dass ich ihnen erzählt hätte, meine Frau habe ein Alkoholproblem. Eine von ihnen äußerte ihr Bedauern und fragte mich nach ihrem Namen. Woraufhin ich ihr angeblich erklärte, sie sei ein Fisch namens Wanda, und herzlich darüber lachte. Dann sei ich wieder bewusstlos geworden.

Meine Milz war irreparabel geschädigt. Sie wurde herausgenommen.

Während ich noch in der Narkose lag und meine Milz dorthin wanderte, wohin nicht mehr funktionierende, aber nicht absolut lebenswichtige Organe kamen, wurde ich den Orthopäden überlassen. Sie schienten meinen gebrochenen Arm und legten mein Bein in Gips. In den folgenden Wochen setzten viele Leute ihre Unterschrift darauf. Manchmal erkannte ich die Namen, meistens aber nicht.

Ich erhielt Beruhigungsmittel, mein Kopf wurde fixiert, und mein Bett wurde genau um dreißig Grad hochgekurbelt. Das Luminal bekam ich nicht deshalb, weil ich bei Bewusstsein war (obwohl ich manchmal etwas murmelte, wie Sadie mir erzählte), sondern weil die Ärzte fürchteten, ich könnte plötzlich aufwachen und mir etwas antun. Im Prinzip behandelten Perry und die anderen Ärzte (auch Ellerton kam regelmäßig vorbei, um nach meinen Fortschritten zu fragen) meine demolierte Birne wie einen Bombenblindgänger.

Bis heute ist mir nicht ganz klar, was Hämatokrit- und Hämoglobinwerte sind, aber meine wurden wieder besser, worüber sich alle freuten. Drei Tage später wurde eine weitere Rückenmarkspunktion vorgenommen. Dabei wurden Spuren von altem Blut entdeckt, und in Rückenmarksflüssigkeit war alt besser als neu. Das alte Blut überzeugte die Ärzte davon, dass ich zwar ein schweres Hirntrauma erlitten hätte, sie aber keine Trepanation vornehmen müssten, die wegen all den Schlachten, die mein Körper an anderen Fronten führte, riskant gewesen wäre.

Aber die Vergangenheit war unerbittlich und schützte sich vor Veränderungen. Fünf Tage nach meiner Einlieferung begann das Fleisch um die Operationswunde von der Milzresektion rot und warm zu werden. Am folgenden Tag ging die Wunde wieder auf, und ich bekam hohes Fieber. Mein Zustand, der nach der zweiten Entnahme von Rückenmarksflüssigkeit von kritisch auf ernst herabgestuft worden war, schnellte wieder auf kritisch hoch. Meinem Krankenblatt nach war ich »laut Angabe von Dr. Perry sediert und neurologisch minimal reagierend«.

Am 7. September wachte ich kurz auf. Zumindest wurde mir das später erzählt. An meinem Bett saßen eine Frau, die trotz ihres vernarbten Gesichts hübsch war, und ein alter Mann mit einem Cowboyhut auf dem Schoß.

»Kennst du deinen Namen?«, fragte die Frau.

»Puddentane«, sagte ich. »Fragen Sie mich noch mal, dann sage ich das Gleiche.«

Mr. Jake George Puddentane Epping-Amberson lag sieben Wochen lang im Parkland, bevor er in das Rehazentrum Eden Fallows – eine kleine Wohnsiedlung für kranke Menschen – im Norden von Dallas verlegt wurde. In diesen sieben Wochen bekam ich intravenös Antibiotika gegen die Infektion, die sich dort eingenistet hatte, wo meine Milz gewesen war. Die Armschiene wurde durch einen langen Gipsverband ersetzt, der bald ebenfalls mit Namen bedeckt war, die ich nicht kannte. Nicht lange vor der Verlegung in das Rehazentrum erhielt ich eine Beförderung in Form eines kurzen Armgipses. Etwa zur gleichen Zeit begann eine Krankengymnastin, mein Knie zu foltern, um ihm eine gewisse Beweglichkeit zurückzugeben. Ich soll viel geschrien haben, kann mich aber nicht daran erinnern.

Malcolm Perry und das übrige Pflegepersonal im Parkland retteten mir das Leben, das steht für mich außer Zweifel. Zudem bekam ich von ihnen noch ein unabsichtliches und unwillkommenes Geschenk, das mir noch im Eden Fallows zu schaffen machte: eine sekundäre Infektion von den Antibiotika, mit denen ich vollgepumpt worden war, um die primäre zu bekämpfen. Ich habe vage Erinnerungen daran, dass ich mich oft übergeben musste und anscheinend ganze Tage auf der Bettpfanne verbrachte. Ich weiß noch, wie ich einmal dachte: Ich muss zu Mr. Keene im Derry Drugstore gehen. Ich brauche Pepto-Bismol. Aber wer war Mr. Keene – und wo lag Derry?

Aus dem Krankenhaus wurde ich entlassen, als ich wieder normal essen konnte, aber im Eden Fallows dauerte es noch fast zwei Wochen, bis die Diarrhö aufhörte. Inzwischen war es fast Ende Oktober. Sadie (meist wusste ich ihren Namen; manchmal entfiel er mir auch wieder) brachte mir eine Halloweenlaterne mit. Diese Erinnerung ist sehr deutlich, denn ich brüllte sofort los, als ich die Kürbisfratze darauf sah. Es war das Geschrei eines Menschen, der etwas äußerst Wichtiges vergessen hatte.

»Was ist?«, fragte sie mich. »Was hast du, Schatz? Was ist los? Geht’s um Kennedy? Irgendwas wegen Kennedy?«

»Er erschlägt sie alle mit einem Hammer!«, schrie ich sie an. »An Halloween! Ich muss ihn aufhalten!«

»Wen?« Der Schreck stand Sadie ins Gesicht geschrieben, als sie meine fuchtelnden Hände festhielt. »Aufhalten?«

Aber ich konnte mich nicht erinnern und schlief darüber ein. Ich schlief überhaupt viel, was nicht nur an der langsam ausheilenden Kopfverletzung lag. Ich war erschöpft, irgendwie nur noch ein Schatten meines früheren Selbst. Am Tag des Überfalls hatte ich vierundachtzig Kilo gewogen. Als ich aus dem Krankenhaus ins Rehazentrum Eden Fallows überwiesen wurde, wog ich noch zweiundsechzig.

Das war das äußere Leben von Jake Epping, einem Menschen, der brutal zusammengeschlagen worden und dann im Krankenhaus fast gestorben war. Mein inneres Leben bestand aus Dunkelheit, Stimmen und vereinzelten lichten Augenblicken, die mich mit ihrer strahlenden Helligkeit wie Blitze blendeten und wieder erloschen, bevor ich in ihrem Licht mehr als einen flüchtigen Blick auf meine Umgebung werfen konnte. Ich war meistens orientierungslos, aber ab und zu fand ich mich selbst.

Ich fand mich vor Fieber glühend, und eine Frau fütterte mich mit Eissplittern, die himmlisch kalt waren. Es war DIE FRAU MIT DER NARBE, die manchmal Sadie war.

Ich fand mich auf der Toilette in der Ecke meines Zimmers, ohne zu wissen, wie ich dort hingekommen war, und gab scheinbar literweise brennende, wässrige Scheiße von mir, während meine Seite pochte und juckte und mein Knie rebellierte. Ich weiß noch, wie ich mir wünschte, jemand würde mich umbringen.

Ich fand mich bei dem Versuch, aus dem Bett aufzustehen, weil ich etwas schrecklich Wichtiges zu tun hatte. Irgendwie schien das Schicksal der ganzen Welt daran zu hängen, dass ich das tat. DER MANN MIT DEM COWBOYHUT war da. Er fing mich auf und half mir wieder ins Bett, bevor ich zu Boden krachte. »Noch nicht, mein Sohn«, sagte er. »Dafür bist du noch längst nicht kräftig genug.«

Ich fand mich im Gespräch – oder zumindest bei dem Versuch, ein Gespräch zu führen – mit zwei uniformierten Polizeibeamten, die gekommen waren, um mir ein paar Fragen zu dem Überfall auf mich zu stellen. Einer von ihnen trug ein Namensschild, auf dem TIPPIT stand. Ich versuchte ihn zu warnen, er sei in Gefahr. Ich versuchte zu sagen: »Remember, remember the fifth of November.« Das war zwar der richtige Monat, aber der falsche Tag. Ich konnte mich nicht an das richtige Datum erinnern und fing an, mir vor Frustration mit der flachen Hand an meinen dummen Kopf zu schlagen. Die Beamten wechselten einen besorgten Blick, und NICHT-TIPPIT holte eine Krankenschwester. Die Schwester brachte einen Arzt mit, der mir eine Spritze gab, die mich wieder ins Dunkel schweben ließ.

Ich fand mich als Zuhörer neben Sadie, die mir erst Juda, der Unberühmte, dann Tess von den d’Urbervilles vorlas. Ich kannte diese Romane, und es war beruhigend, sie noch einmal vorgelesen zu bekommen. Bei Tess fiel mir an einer Stelle etwas ein.

»Ich habe dafür gesorgt, dass Tessica Caltrop uns in Ruhe lässt.«

Sadie sah auf. »Du meinst Jessica? Jessica Caltrop? Das hast du geschafft? Wie? Weißt du das noch?«

Aber ich wusste es nicht mehr. Die Erinnerung daran war verschüttet.

Ich fand mich, wie ich Sadie beobachtete, die an meinem kleinen Fenster stehend in den Regen hinausstarrte und dabei weinte.

Aber meistens war ich orientierungslos.

DER MANN MIT DEM COWBOYHUT war Deke, aber einmal hielt ich ihn für meinen Großvater, was mich sehr ängstigte, weil Grandpa Epping tot war, und …

Epping, das war mein Name. Merk ihn dir, ermahnte ich mich, aber das klappte anfangs nicht.

Manchmal besuchte mich EINE ÄLTERE FRAU MIT LIPPENSTIFT. Manchmal glaubte ich, sie heiße Miz Mimi; manchmal glaubte ich, dass sie Miz Ellie hieß; einmal meinte ich in ihr ziemlich sicher Irene Ryan zu erkennen, die in der Fernsehserie The Beverly Hillbillies Granny Clampett spielte. Ihr erzählte ich, dass ich mein Handy in einen Teich geworfen hätte. »Jetzt schläft es bei den Fischen. Ich wollte, ich hätte das Scheißding wieder.«

Auch EIN JUNGES PAAR kam. Sadie sagte: »Sieh mal, da sind Mike und Bobbi Jill.«

Ich sagte: »Mike Coleslaw.«

DER JUNGE MANN sagte: »Schon ziemlich richtig, Mr. A.« Er lächelte, aber dabei lief ihm eine Träne über die Wange.

Als Sadie und Deke mich später im Eden Fallows besuchten, saßen sie mit mir auf der Couch. Sadie nahm meine Hand und fragte: »Wie heißt er, Jake? Seinen Namen hast du mir nie gesagt. Wie können wir ihn aufhalten, wenn wir nicht wissen, wer er ist und wo er sein wird?«

Ich sagte: »Ich werde ihn floppen.« Ich strengte mich sehr an. Davon bekam ich im Hinterkopf zwar Schmerzen, aber das spornte mich nur noch mehr an. »Ihn stoppen.«

»Ohne unsere Hilfe kannst du das nicht«, sagte Deke.

Aber Sadie war zu kostbar, und Deke war zu alt. Sie hätte ihn niemals einweihen dürfen. Aber vielleicht war das doch irgendwie in Ordnung, weil er das alles eigentlich nicht glaubte.

»Der Gelbe-Karte-Mann wird euch aufhalten, wenn ihr versucht, euch einzumischen«, sagte ich. »Ich bin der Einzige, den er nicht aufhalten kann.«

»Wer ist der Gelbe-Karte-Mann?«, fragte Sadie. Sie beugte sich vor und nahm meine beiden Hände.

»Weiß ich nicht mehr, aber er kann mich nicht aufhalten, weil ich nicht hierhergehöre.«

Nur wurde ich in Wirklichkeit von ihm aufgehalten. Oder von sonst jemand. Nach Ansicht von Dr. Perry war mein Gedächtnisverlust nur oberflächlich und vorübergehend, und damit behielt er recht … aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn ich mich allzu intensiv an etwas zu erinnern versuchte, bekam ich sofort starke Kopfschmerzen, mein Hinken wurde zu einem Stolpern, und vor meinen Augen verschwamm alles. Am schlimmsten war, dass ich unter anfallartigem Schlafdrang litt. Sadie fragte Dr. Perry, ob das Narkolepsie sei. Wahrscheinlich nicht, sagte er, aber ich fand, dass er dabei besorgt aussah.

»Wacht er auf, wenn Sie ihn rufen oder schütteln?«

»Immer«, sagte Sadie.

»Passiert das eher, wenn er sich darüber ärgert, dass ihm irgendetwas nicht einfällt?«

Sadie bestätigte, dass dem so sei.

»Dann verschwindet das sicher genauso, wie seine Amnesie verschwinden wird.«

Schließlich – langsam, in kleinen Schritten – begann meine innere Welt wieder mit der Außenwelt zu verschmelzen. Ich war Jacob Epping, ich war von Beruf Lehrer, und ich war irgendwie als Zeitreisender unterwegs, um zu verhindern, dass President Kennedy ermordet wurde. Anfangs versuchte ich, diesen Gedanken von mir zu weisen, aber ich wusste zu viel über die Zukunft, und diese Dinge waren keine Visionen. Sie waren Erinnerungen. Die Rolling Stones, die Anhörungen im Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton, das World Trade Center in Flammen. Christy, meine ruhelose und schwierige Exfrau.

Eines Abends, als Sadie und ich uns eine Folge von Combat ansahen, fiel mir ein, was ich mit Frank Dunning gemacht hatte.

»Sadie, bevor ich nach Texas gekommen bin, habe ich einen Mann ermordet. Auf einem Friedhof. Das musste ich tun. Sonst hätte er seine ganze Familie umgebracht.«

Sie starrte mich mit großen Augen und offenem Mund an.

»Stell den Fernseher ab«, sagte ich. »Der Kerl, der Sergeant Saunders spielt – ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern –, wird vom Rotorblatt eines Hubschraubers geköpft. Bitte stell den Kasten ab, Sadie.«

Sie tat es, dann kniete sie sich vor mich.

»Wer wird Kennedy ermorden? Wo wird er sein, wenn er es tut?«

Ich strengte mich wirklich an, und diesmal schlief ich dabei nicht ein, aber ich konnte mich nicht erinnern. Ich war aus Maine nach Florida umgezogen, daran erinnerte ich mich. Mit einem Ford Sunliner, einem großartigen Wagen. Von Florida aus war ich über New Orleans nach Texas gelangt. Ich erinnerte mich daran, wie ich im Autoradio »Earth Angel« gehört hatte, als ich die Staatsgrenze überquert hatte – mit siebzig Meilen in der Stunde auf dem Highway 20. Ich erinnerte mich an ein Schild: TEXAS HEISST SIE WILLKOMMEN. Und eine Werbetafel mit der Aufschrift SONNY’S BARBECUE, 27 MEILEN. Danach eine Lücke im Film. Dann folgten allmählich mehr Erinnerungen an die Zeit, in der ich in Jodie gelebt und unterrichtet hatte. Schönere Erinnerungen daran, wie ich mit Sadie Swing tanzte und in den Candlewood Bungalows mit ihr im Bett lag. Sadie erzählte mir, dass ich auch in Fort Worth und Dallas gelebt hätte, aber sie wisse nicht, wo; sie hatte nur zwei Telefonnummern, unter denen sich aber niemand meldete. Auch ich wusste nicht mehr, wo ich gewohnt hatte, obwohl ich glaubte, eine Adresse könnte in der Cadillac Street gewesen sein. Sadie sah auf den Stadtplänen nach und sagte, in keiner der beiden Städte gebe es eine Cadillac Street.

Ich konnte mich jetzt an vieles erinnern, nur nicht an den Namen des Attentäters oder daran, wo er sein würde, wenn er den Anschlag verübte. Und weshalb nicht? Weil die Vergangenheit mir das vorenthielt. Die unerbittliche Vergangenheit.

»Der Attentäter hat eine kleine Tochter«, sagte ich. »Sie heißt April, glaube ich.«

»Jake, ich muss dich etwas fragen. Vielleicht macht es dich wütend, aber weil so viel davon abhängt – deiner Aussage nach das Schicksal der Welt –, muss ich es tun.«

»Frag nur.« Ich konnte mir keine Frage vorstellen, die mich hätte wütend machen können.

»Belügst du mich?«

»Nein«, sagte ich. Das war die Wahrheit. Damals.

»Ich habe Deke gesagt, dass wir die Polizei alarmieren müssen. Er hat mir einen Artikel in der Morning News gezeigt, in dem steht, dass es bereits zweihundert Morddrohungen und Hinweise auf potenzielle Attentäter gegeben hat. Er sagt, dass sowohl die Rechtsextremisten aus Dallas/Fort Worth als auch die Linksextremisten aus San Antonio Kennedy aus Texas vergraulen wollen. Er sagt, dass die Polizei in Dallas alle Hinweise dem FBI übergibt und selbst nichts tut. Er sagt, dass der einzige Mann, den J. Edgar Hoover noch mehr hasst als JFK, dessen Bruder Bobby ist.«

Wen J. Edgar Hoover hasste, war mir ziemlich egal. »Glaubst du mir?«

»Ja«, sagte sie und seufzte. »Muss Vic Morrow wirklich sterben?«

Das war sein Name, klar. »Ja.«

»Bei Dreharbeiten zu einer Combat-Folge?«

»Nein, zu einem Film.«

Sie brach in Tränen aus. »Stirb du bitte nicht, Jake. Ich will nur, dass es dir wieder besser geht.«

Ich hatte viele Albträume. Der Ort der Handlung wechselte – manchmal war er eine leere Straße, die wie die Main Street in Lisbon Falls aussah, manchmal war er der Friedhof, auf dem ich Frank Dunning erschossen hatte, manchmal war er die Küche von Cribbage-Ass Andy Cullum –, aber meistens war er in Al Templetons Diner. Wir hockten in einer Sitznische, in der die Fotos der Lokalprominenz auf uns herabsahen. Al war krank – sterbenskrank –, aber in seinem Blick brannte leidenschaftlicher Eifer.

»Der Gelbe-Karte-Mann verkörpert die unerbittliche Vergangenheit«, sagte Al. »Das weißt du doch, oder?«

Ja, das wusste ich.

»Er hat geglaubt, du würdest den Überfall nicht überleben, aber du hast es getan. Er hat geglaubt, die Infektionen würden dir den Rest geben, aber du hast sie überlebt. Jetzt blockiert er all diese Erinnerungen – die wirklich wichtigen –, weil er weiß, dass das seine letzte Hoffnung ist, dich aufzuhalten.«

»Wie sollte er das schaffen? Er ist tot.«

Al schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich.«

»Wer ist er? Was ist er? Und wie kann er ins Leben zurückkehren? Er hat sich die Kehle durchgeschnitten, und die Karte ist schwarz geworden! Ich hab es selbst gesehen!«

»Keine Ahnung, Kumpel. Ich weiß nur, dass er dich nicht aufhalten kann, wenn du dich weigerst, dich aufhalten zu lassen. Du musst wieder an diese Erinnerungen herankommen!«

»Dann hilf mir!«, rief ich und umklammerte die harte Kralle seiner Hand. »Verrat mir den Namen des Kerls! Heißt er Chapman? Manson? Beide kommen mir bekannt vor, aber keiner scheint richtig zu sein. Du hast mich hier reingeritten, also hilf mir!«

An dieser Stelle des Traums öffnet Al den Mund, um genau das zu tun, aber der Gelbe-Karte-Mann greift ein. Wenn wir gerade auf der Main Street sind, kommt er aus dem Greenfront oder der Kennebec Fruit. Auf dem Friedhof klettert er aus einem offenen Grab wie ein Zombie in einem Film von George Romero. Wenn wir in Als Diner sind, fliegt plötzlich die Tür auf. Die Karte im Hutband seines weichen Filzhuts ist so schwarz, dass sie einem rechteckigen Loch in der Welt gleicht. Er ist tot und schon dabei, zu verwesen. Sein uralter Mantel ist voller Schimmelflecken. Seine Augenhöhlen sind wimmelnde Madenknäuel.

»Er kann dir nichts verraten, weil heute Zwei-für-eins-Tag ist«, kreischt der Gelbe-Karte-Mann, der jetzt der Schwarze-Karte-Mann ist.

Ich drehe mich wieder zu Al um, aber der ist jetzt ein Skelett, dem eine Zigarette zwischen den Zähnen klemmt, und ich wache schweißgebadet auf. Ich greife nach Erinnerungen, aber sie sind nicht da.

Deke brachte mir Zeitungen mit Berichten über den bevorstehenden Besuch Kennedys, weil er hoffte, sie würden etwas lostreten. Fehlanzeige. Einmal hörte ich, als ich auf der Couch lag (nach einem meiner plötzlichen Schlafanfälle), wie die beiden wieder darüber stritten, ob es zweckmäßig sei, sich an die Polizei zu wenden. Deke sagte, ein anonymer Hinweis würde ignoriert werden … und einer mit Namensnennung könne uns alle in Schwierigkeiten bringen.

»Das ist mir egal!«, rief Sadie hitzig. »Ich weiß, dass du ihn für plemplem hältst, aber was ist, wenn er recht hat? Wie wirst du dich fühlen, wenn Kennedy in einem Sarg von Dallas nach Washington zurückfliegt?«

»Wenn du zur Polizei gehst, konzentriert die sich auf Jake, Schätzchen. Und du hast mir selbst erzählt, dass er in Neuengland einen Mann ermordet hat, bevor er nach Texas gekommen ist.«

Sadie, Sadie, ich wollte, du hättest ihm das nicht anvertraut.

Sie hörte auf zu streiten, glaubte mir aber weiterhin und gab nicht auf. Manchmal versuchte sie, mir durch Erschrecken die Wahrheit zu entlocken, so wie Erschrecken gegen einen nicht endenden Schluckauf helfen soll. Es funktionierte nicht.

»Was soll ich nur mit dir machen?«, fragte sie betrübt.

»Keine Ahnung.«

»Versuch mal, auf andere Weise ranzukommen. Versuch dich anzuschleichen.«

»Das habe ich schon getan. Ich glaube, dass der Kerl in der Army oder bei den Marines war.« Ich rieb mir den Hinterkopf, der wieder zu schmerzen begann. »Aber es kann auch die Navy gewesen sein. Scheiße, Christy, ich weiß es nicht.«

»Sadie, Jake. Ich bin Sadie.«

»Hab ich das nicht gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf und lächelte gequält.

Am 12. November, dem Dienstag nach dem Veterans Day, brachte die Morning News einen langen Leitartikel über den bevorstehenden Kennedy-Besuch und seine Bedeutung für die Stadt. »Der größte Teil der Einwohnerschaft scheint bereit zu sein, den jungen, unerfahrenen Präsidenten mit offenen Armen zu empfangen«, hieß es darin. »Die Aufregung ist groß. Natürlich schadet es nicht, dass seine hübsche und charismatische Frau diesmal mit von der Partie sein wird.«

»Hast du letzte Nacht wieder von dem Kartenmann geträumt?«, fragte Sadie, als sie hereinkam. Sie hatte den Tag in Jodie verbracht, hauptsächlich um ihre Blumen zu gießen und »Flagge zu zeigen«, wie sie es ausdrückte.

Ich schüttelte den Kopf. »Schatz, du warst viel öfter hier als in Jodie. Wie steht’s mit deinem Job?«

»Miz Ellie hat mir eine Teilzeitstelle gegeben. Ich komme halbwegs zurecht, und wenn ich mit dir gehe … falls wir gehen … werde ich halt einfach abwarten, was passiert.«

Ihr Blick glitt von mir weg, und sie beschäftigte sich damit, sich eine Zigarette anzuzünden. Während ich beobachtete, wie sie den Tabak zu lange auf der Tischplatte festklopfte und dann mit ihren Streichhölzern herumfummelte, wurde mir etwas Entmutigendes klar: Auch Sadie hegte Zweifel. Ich hatte die friedliche Beilegung der Raketenkrise vorhergesagt und gewusst, dass Dick Tiger in der fünften Runde k. o. gehen würde … aber sie hatte weiter ihre Zweifel. Und ich konnte ihr das nicht verübeln. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, hätte auch ich Zweifel gehabt.

Dann heiterte ihre Miene sich auf. »Aber ich habe einen verdammt guten Stellvertreter gefunden, den du bestimmt erraten kannst.«

Ich lächelte. »Das ist sicher …« Der Name fiel mir nicht ein. Ich sah den Mann vor mir – das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht, den Cowboyhut, den Bolo Tie –, aber an diesem Dienstagmorgen konnte ich seinen Namen nicht einmal andeutungsweise erraten. Mein Hinterkopf begann wieder dort zu schmerzen, wo ich ihn mir an der Fußleiste angeschlagen hatte – aber an welcher Leiste, in welchem Haus? Das nicht zu wissen war grauenhaft frustrierend.

Kennedy kommt in zehn Tagen, und ich kann mich nicht mal an den Scheißnamen des alten Kerls erinnern.

»Gib dir Mühe, Jake.«

»Das tue ich ja«, sagte ich. »Das tue ich, Sadie!«

»Augenblick, ich hab eine Idee.«

Sie legte ihre brennende Zigarette in eine der Mulden des Aschenbechers, stand auf, ging hinaus und schloss die Haustür hinter sich. Dann öffnete sie die Tür wieder, sprach mit komisch barscher, tiefer Stimme und sagte, was der alte Kerl immer sagte, wenn er mich besuchen kam: »Na, wie geht’s uns heute denn so, mein Sohn? Isst du auch tüchtig?«

»Deke«, sagte ich. »Deke Simmons. Er war mit Miz Mimi verheiratet, aber die ist in Mexiko gestorben. Wir haben eine Trauerfeier für sie veranstaltet.«

Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Einfach so.

Sadie klatschte Beifall und kam zu mir gelaufen. Ich bekam einen langen, liebevollen Kuss.

»Siehst du?«, rief sie aus, als sie sich aus meiner Umarmung löste. »Du kannst es schaffen! Es ist noch nicht zu spät. Wie heißt er, Jake? Wie heißt dieser verrückte Dreckskerl?«

Aber ich konnte mich nicht erinnern.

Am 16. November veröffentlichte der Times Herald die Route der Autokolonne des Präsidenten. Sie würde am Flughafen Love Field beginnen und am Trade Mart enden, wo Kennedy bei einem Essen vor dem Stadtrat und ausgesuchten Gästen sprechen sollte. Offiziell hatte diese Rede den Zweck, das Graduate Research Center zu feiern und Dallas zu seinen wirtschaftlichen Fortschritten im vergangenen Jahrzehnt zu gratulieren, aber der Times Herald teilte allen, die es noch nicht wussten, bereitwillig mit, dass sie rein politisch motiviert sei. Texas war 1960 an Kennedy gegangen, aber für 1964 war das nicht garantiert, obwohl JFK weiter einen guten alten Haudegen aus Johnson City mit im Boot hatte. Bei Zynikern hieß der Vizepräsident immer noch »Erdrutsch-Lyndon«, was auf die Senatswahl des Jahres 1948 anspielte, die er mit lächerlichen siebenundachtzig Stimmen Vorsprung denkbar knapp für sich entschieden hatte. Das war längst Geschichte, aber die Langlebigkeit seines Spitznamens sagte viel darüber aus, welche gemischten Gefühle die Texaner für ihn hegten. Kennedys – und natürlich Jackies – Aufgabe würde es sein, Erdrutsch-Lyndon und dem texanischen Gouverneur John Connally zu helfen, die Getreuen zu motivieren.

»Sieh dir das an«, sagte Sadie und fuhr die Route mit dem Zeigefinger nach. »Straße um Straße die Main Street entlang. Dann die Houston Street. In diesem Abschnitt stehen überall hohe Gebäude. Lauert der Attentäter an der Main Street? Das muss er praktisch, findest du nicht auch?«

Ich hörte kaum zu, weil ich etwas anderes gesehen hatte. »Sieh mal, Sadie, die Autokolonne fährt auch über den Turtle Creek Boulevard!«

Ihre Augen blitzten. »Passiert es dort, glaubst du?«

Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. Vermutlich nicht, aber ich wusste irgendetwas über den Turtle Creek Boulevard, und es musste mit dem Mann zusammenhängen, den aufzuhalten ich hergekommen war. Während ich darüber nachdachte, tauchte eine weitere Information auf.

»Er wollte das Gewehr verstecken und es sich später zurückholen.«

»Wo verstecken?«

»Das spielt keine Rolle, weil dieser Teil schon passiert ist. Der ist schon Vergangenheit.« Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, weil mich das Licht im Zimmer plötzlich blendete.

»Hör jetzt auf, darüber nachzugrübeln«, sagte sie und zog mir die Zeitung weg. »Entspann dich, sonst kriegst du wieder Kopfschmerzen und brauchst eine dieser Pillen. Die machen dich ganz benommen.«

»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«

»Du brauchst Kaffee. Starken Kaffee.«

Sie ging in die Küche, um welchen zu kochen. Als sie zurückkam, schnarchte ich. Ich schlief fast drei Stunden lang und wäre wohl noch länger im Tiefschlaf geblieben, aber sie rüttelte mich wach. »Woran erinnerst du dich von deiner Ankunft in Dallas als Letztes?«

»Ich erinnere mich an nichts

»Wo bist du untergekommen? In einem Hotel? In einem Autohof? In einem möblierten Zimmer?«

Einen Augenblick lang hatte ich nebelhafte Erinnerungen an einen Innenhof und viele Fenster. Ein Portier? Schon möglich. Dann waren sie weg. Die Kopfschmerzen wurden stärker.

»Weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur daran, die Staatsgrenze auf dem Highway 20 passiert und eine Werbetafel für Barbecue gesehen zu haben. Und das war weit vor Dallas.«

»Ich weiß, aber wir brauchen nicht dorthin zurückzufahren, denn wenn du auf dem Highway 20 warst, bist du auf ihm geblieben.« Sie sah auf ihre Uhr. »Heute ist es schon zu spät, aber morgen machen wir einen kleinen Sonntagsausflug mit dem Auto.«

»Das klappt wahrscheinlich nicht.« Aber ich spürte trotzdem etwas aufkeimende Hoffnung.

Sie blieb über Nacht, und am nächsten Morgen verließen wir Dallas auf dem Honeybee Highway, wie ihn die Einheimischen nannten, und fuhren nach Osten in Richtung Louisiana. Sadie saß hinter dem Steuer. Sie fuhr bis Terrell, verließ dort den Highway 20 und wendete auf dem mit Schlaglöchern übersäten, unbefestigten Parkplatz einer Kirche am Straßenrand. Wie die Anschlagtafel auf dem verdorrten Rasen verkündete, hatte das Gotteshaus den schönen Namen Blut des Erlösers. Unter dem Namen stand eine Botschaft in weißen Klebebuchstaben. Sie sollte HABEN SIE HEUTE DAS WORT DES ALLMÄCHTIGEN GOTTES GELESEN? lauten, aber weil ein paar Buchstaben abgefallen waren, stand dort: HABEN SIE HEUTE DAS WORT DES ALLMÄCHTIGEN GOTTES GELESEN?

Sadie musterte mich mit beunruhigtem Blick. »Kannst du zurückfahren, Schatz?«

Das traute ich mir zu. Die Straße führte geradeaus, und der Chevy hatte ein Automatikgetriebe. Ich würde mein steifes, linkes Bein gar nicht benutzen müssen. Das einzige Problem war …

»Sadie?«, sagte ich, als ich mich zum ersten Mal seit August wieder ans Steuer setzte und den Fahrersitz ganz zurückfuhr.

»Ja?«

»Wenn ich einschlafe, greifst du ins Steuer und schaltest die Zündung aus, okay?«

Sie lächelte nervös. »Ist doch klar.«

Ich sah in beide Richtungen, dann fuhr ich auf den Highway. Anfangs traute ich mich nicht, viel schneller als fünfundvierzig zu fahren, aber an diesem Sonntagnachmittag hatten wir die Straße ziemlich für uns. Allmählich entspannte ich mich.

»Sieh die Sache ganz locker, Jake. Versuch nicht mit Gewalt, dich an irgendwas zu erinnern, lass es einfach nur geschehen.«

»Ich wollte, ich hätte meinen Sunliner«, sagte ich.

»Dann stell dir vor, das hier wäre dein Sunliner, und lass ihn einfach fahren, wohin er will.«

»Okay, aber …«

»Kein Aber! Das Wetter ist schön. Du kommst in eine neue Stadt und brauchst dir keine Sorgen wegen dem Attentat auf Kennedy zu machen, weil es noch in weiter Ferne liegt. Jahre entfernt.«

Ja, das Wetter war wirklich schön. Und nein, ich schlief nicht ein, obwohl ich sehr müde war – seit dem Überfall war ich noch nie wieder so lange unterwegs gewesen. Ich musste mehrmals an die kleine Kirche am Straßenrand denken. Höchstwahrscheinlich eine schwarze Kirche. Die Gemeinde ließ die Choräle vermutlich swingen, wie es Weiße nie getan hätten, und las DAS WORT DES ALLMÄCHTIGEN GOTTES mit vielen Hallelujas und Gelobt-sei-Jesus-Christus.

Wir kamen jetzt nach Dallas hinein. Ich bog nach links und rechts ab – vermutlich mehr rechts, weil mein linker Arm noch schwach war und beim Linksabbiegen trotz der Servolenkung schmerzte. Bald hatte ich in den Seitenstraßen die Orientierung verloren.

Ich habe mich wirklich verlaufen, dachte ich. Ich brauche jemand, der mir den Weg erklärt wie der junge Schwarze in New Orleans. Zum Hotel Moonstone.

Nur hatte es nicht Moonstone, sondern Monteleone geheißen. Und das Hotel, in dem ich nach meiner Ankunft in Dallas gewohnt hatte, hieß … es hieß …

Einen Augenblick lang fürchtete ich, der Name würde wegschweben, wie es manchmal sogar Sadies Name tat. Aber dann sah ich den Portier und all die auf die Commerce Street hinausführenden, glitzernden Fenster und wusste plötzlich den Namen.

Ich hatte im Hotel Adolphus gewohnt. Ja. Wegen der Nähe zu …

Daran konnte ich mich nicht erinnern. Dieser Teil blieb einfach blockiert.

»Schatz? Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte ich. »Warum?«

»Du bist sichtlich zusammengezuckt.«

»Das war das Bein. Ein leichter Krampf.«

»Kommt dir hier nichts bekannt vor?«

»Nein«, sagte ich. »Gar nichts.«

Sie seufzte. »Und die nächste Idee beißt ins Gras. Wir sollten lieber umkehren. Soll ich fahren?«

»Das wäre vielleicht besser.« Ich hinkte zur Beifahrerseite hinüber und dachte dabei: Hotel Adolphus. Schreib dir das auf, sobald du im Eden Fallows bist. Damit du es nicht vergisst.

Als wir wieder in dem kleinen Dreizimmerappartement mit den Rampen, dem Krankenbett und den Haltegriffen links und rechts neben dem Klosett waren, riet Sadie mir, mich ein bisschen hinzulegen. »Und nimm eine deiner Pillen.«

Ich ging ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus – ein langwieriger Vorgang – und legte mich aufs Bett. Aber ich nahm keine Pille. Mein Verstand sollte klar bleiben. Von nun an musste er ständig klar bleiben. Kennedy und Dallas waren nur noch fünf Tage auseinander.

Im Hotel Adolphus hast du wegen seiner Nähe zu irgendetwas gewohnt. Zu was?

Na ja, es stand in der Nähe der Route von Kennedys Autokolonne, die in der Zeitung veröffentlicht worden war, was die Auswahl auf … o Mann, nur auf ungefähr zweitausend Gebäude einengte. Von all den Statuen, Denkmälern und Mauern, hinter denen ein potenzieller Attentäter sich verstecken konnte, ganz zu schweigen. Wie viele Einmündungen enger Gassen gab es entlang der Route? Dutzende. Wie viele Überführungen mit freiem Schussfeld auf die West Mockingbird Lane, die Lemmon Avenue oder den Turtle Creek Boulevard? Die Autokolonne würde alle diese Straßen befahren. Und wie viele weitere an Main Street und Houston Street?

Du musst dich daran erinnern, wer er ist oder von wo aus er schießen will.

Sobald mir eines dieser Dinge einfiel, würde mir auch das andere einfallen. Das wusste ich. Aber in Gedanken war ich immer wieder bei der kleinen Kirche an der Route 20, auf deren Parkplatz wir gewendet hatten. Die Kirche Blut des Erlösers am Honeybee Highway. Viele Leute sahen Kennedy als Erlöser, als Heiland. Al Templeton hatte das bestimmt getan. Er …

Ich bekam große Augen, und mir stockte der Atem.

Im Zimmer nebenan klingelte das Telefon, und ich hörte, wie Sadie dranging. Sie sprach halblaut, weil sie dachte, ich würde schlafen.

DAS WORT DES ALLMÄCHTIGEN GOTTES.

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich Sadies vollständigen Namen teilweise abgedeckt hatte, sodass nur Doris Dun zu lesen gewesen war. Das hier war eine Harmonisierung ähnlichen Ausmaßes. Ich schloss die Augen und stellte mir die Anschlagtafel der kleinen Kirche vor. Dann tat ich so, als verdeckte ich MÄCHTIGEN GOTTES mit einer Hand.

Zurück blieb DAS WORT DES AL.

Als Notizen. Ich hatte seine Aufzeichnungen!

Aber wo? Wo lagen sie?

Die Schlafzimmertür ging auf. Sadie steckte den Kopf herein. »Jake? Schläfst du?«

»Nein«, sagte ich. »Ich ruhe mich nur ein bisschen aus.«

»Ist dir irgendwas eingefallen?«

»Nein«, sagte ich. »Sorry.«

»Du hast noch Zeit.«

»Ja. Mir fällt jeden Tag irgendwas Neues ein.«

»Schatz, das war Deke. In der Schule grassiert ein Virus, das auch ihn ziemlich erwischt hat. Er hat gefragt, ob ich morgen und am Dienstag kommen kann. Vielleicht auch am Mittwoch.«

»Fahr nur hin«, sagte ich. »Wenn du’s nicht tust, schleppt er sich in die Schule. Und er ist nicht mehr der Jüngste.« Vor meinem inneren Auge blinkten vier Wörter wie eine Leuchtreklame: DAS WORT DES AL, DAS WORT DES AL, DAS WORT DES AL.

Sie setzte sich neben mich auf die Bettkante. »Soll ich wirklich?«

»Ich komme allein zurecht. Gesellschaft habe ich genug. Morgen kommt sowieso jemand vom DAVIN vorbei, wie du weißt.« Vom Pflegedienst Dallas Area Visiting Nurses kam regelmäßig eine Krankenschwester vorbei, um sich davon zu überzeugen, dass ich kein wirres Zeug redete, was immerhin auf eine Gehirnblutung hätte schließen lassen.

»Genau. Morgen um neun. Das steht auch im Kalender, falls du’s vergisst. Und Dr. Ellerton …«

»Kommt zum Mittagessen. Daran erinnere ich mich.«

»Gut, Jake. Das ist gut.«

»Er will Sandwichs mitbringen. Und Milchshakes. Er will mich mästen.«

»Du brauchst wirklich dringend mehr auf den Rippen.«

»Dazu am Mittwoch Krankengymnastik. Vormittags Beinfolter, nachmittags Armfolter.«

»Ich mag dich nicht im Stich lassen, nicht so kurz vor dem … du weißt schon.«

»Sollte mir etwas einfallen, rufe ich dich an, Sadie.«

Sie ergriff meine Hand und beugte sich so dicht über mich, dass ich ihr Parfüm und den schwachen Geruch von Zigarettenrauch in ihrem Atem riechen konnte. »Versprichst du mir das?«

»Ja. Natürlich.«

»Ich bin spätestens am Mittwochabend wieder da. Falls Deke am Donnerstag noch krank sein sollte, muss die Bibliothek einfach geschlossen bleiben.«

»Mach dir um mich keine Sorgen.«

Sie küsste mich sanft und wollte schon das Zimmer verlassen, da drehte sie sich noch mal um. »Ich hoffe fast, dass Deke recht hat … dass diese ganze Sache eine Illusion ist. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass wir davon wissen und es trotzdem nicht verhindern können. Dass wir im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen könnten, wenn jemand …«

»Ich komme schon noch drauf«, sagte ich.

»Wirklich, Jake?«

»Ich muss.«

Sie nickte, aber selbst bei heruntergelassenen Jalousien konnte ich die Zweifel auf ihrem Gesicht lesen. »Ich muss erst nach dem Abendessen fahren. Mach die Augen zu, und lass die Pille wirken. Versuch ein bisschen zu schlafen.«

Ich schloss die Augen, obwohl ich bestimmt nicht schlafen würde. Aber das war in Ordnung, weil ich über das Wort des Al nachdenken musste. Nach einiger Zeit konnte ich riechen, dass in der Küche gekocht wurde. Es roch gut. Als ich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus noch alle zehn Minuten hatte kotzen oder scheißen müssen, hatten mich alle Gerüche angewidert. Das war jetzt besser geworden.

Ich begann wegzudriften. Ich konnte sehen, wie Al – wie immer mit seiner schräg über der linken Augenbraue sitzenden Papiermütze – mir in einer der Sitznischen des Diners gegenübersaß. Fotos der Kleinstadtprominenz blickten auf uns herab, aber Harry Dunning hing nicht länger an der Wand. Ich hatte ihn gerettet. Vielleicht auch ein zweites Mal vor dem Soldatentod in Vietnam. Das ließ sich unmöglich feststellen.

Er behindert dich immer noch, stimmt’s, Kumpel?, fragte Al.

Ja, das tut er.

Aber du bist jetzt nah dran.

Nicht nah genug. Ich habe keine Ahnung, wo ich dein gottverdammtes Notizbuch hingetan habe.

Du hast es irgendwo sicher verwahrt. Engt das die Möglichkeiten ein?

Ich wollte nein sagen, dann dachte ich: Das Wort des Al ist sicher. Wie in einem Safe. Weil …

Ich öffnete die Augen und hatte zum ersten Mal seit vielen Wochen ein breites Grinsen im Gesicht.

Es lag in einem Bankschließfach.

Die Tür ging auf. »Bist du hungrig? Ich hab’s warm gehalten.«

»Hä?«

»Jake, du hast über zwei Stunden lang geschlafen.«

Ich setzte mich auf und stellte die Beine auf den Boden. »Dann lass uns essen.«

Kapitel 27

1

17. 11. 63 (Sonntag)

Nach dem Abendessen, das köstlich war, wollte Sadie noch abwaschen, aber ich forderte sie auf, ihren Handkoffer zu packen. Er war klein und blau und hatte abgerundete Ecken.

»Dein Knie …«

»Mein Knie hält durch, bis ich das bisschen Geschirr abgewaschen habe. Du musst jetzt fahren, wenn du noch genug Schlaf abbekommen willst.«

Zehn Minuten später war das Geschirr abgewaschen, meine Fingerkuppen waren verschrumpelt, und Sadie stand an der Tür. Sie war mir nie hübscher erschienen als mit dem Köfferchen in der Hand und ihrem von Locken eingerahmten Gesicht.

»Jake? Erzähl mir etwas Gutes aus der Zukunft.«

Mir fiel überraschend wenig ein. Handys? Nein. Selbstmordattentäter? Lieber nicht. Schmelzendes Polareis? Vielleicht ein andermal.

Dann grinste ich. »Du sollst zwei zum Preis von einem haben. Der Kalte Krieg ist längst Vergangenheit, und der Präsident ist ein Schwarzer.«

Sie setzte zu einem Lächeln an, dann sah sie, dass das kein Scherz war, und machte große Augen. »Soll das heißen, dass ein Neger im Weißen Haus ist?«

»In der Tat. Allerdings wollen diese Leute in meiner Zeit lieber Afroamerikaner genannt werden.«

»Ist das dein Ernst?«

»Allerdings.«

»O mein Gott!«

»Genau das haben viele Leute am Wahlabend auch gesagt.«

»Macht er … seine Sache gut?«

»Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Meiner Ansicht nach macht er sie so gut, wie man es angesichts der Kompliziertheit erwarten könnte.«

»Mit diesem Gedanken sollte ich jetzt nach Jodie zurückfahren.« Sie lachte zerstreut. »Ich bin richtig baff.«

Sie ging die Rampe hinunter, legte das Köfferchen in den vorderen Kofferraum ihres Käfers und warf mir eine Kusshand zu. Dann wollte sie einsteigen, aber ich konnte sie nicht einfach so davonfahren lassen. Ich konnte nicht rennen – Dr. Perry sagte, bis dahin würden noch acht Monate vergehen, vielleicht sogar ein Jahr –, aber ich hinkte die Rampe hinunter, so schnell ich konnte.

»Warte, Sadie, warte einen Augenblick!«

Mr. Kenopensky von nebenan saß in seinem Rollstuhl, eingehüllt in eine dicke Jacke und mit seinem batteriebetriebenen Radio auf dem Schoß. Auf dem Gehsteig war Norma Whitten mithilfe von Holzstöcken, die eher Skistöcken als Krücken glichen, qualvoll langsam zum Briefkasten an der Ecke unterwegs. Sie drehte sich um, winkte uns zu und bemühte sich, ihre starre, linke Gesichtshälfte mitlächeln zu lassen.

Sadie sah mir in der Abenddämmerung fragend entgegen.

»Ich wollte dir nur noch etwas sagen«, keuchte ich. »Ich wollte dir sagen, dass mir nie was gottverdammt Besseres als du passiert ist.«

Sie umarmte mich lachend. »Dito, liebster Herr.«

Wir küssten uns lange und hätten uns wohl noch länger geküsst, wäre von rechts nicht trockenes Klatschen zu hören gewesen. Mr. Kenopensky applaudierte uns.

Sadie löste sich aus meiner Umarmung und fasste mich aber an den Handgelenken. »Du rufst mich an, versprochen? Und sagst mir Bescheid … wie sagst du manchmal? Wie die Aktien stehen?«

»Klar, wird gemacht.« Aber ich hatte nicht die Absicht, sie auf dem Laufenden zu halten. Deke oder die Polizei auch nicht.

»Weil du es nicht allein schaffen kannst, Jake. Du bist zu schwach.«

»Das weiß ich«, sagte ich und dachte dabei: Hoffentlich nicht! »Ruf mich an, damit ich weiß, dass du gut heimgekommen bist.«

Als ihr Käfer um die Ecke bog und verschwand, sagte Mr. Kenopensky: »Behandeln Sie sie lieber anständig, Amberson. Die sollten Sie unbedingt behalten.«

»Ja, ich weiß.« Ich blieb noch unten an der Einfahrt, bis ich davon überzeugt war, dass Miz Whitten es schaffte, vom Briefkasten zurückzukommen, ohne zu stürzen.

Sie schaffte es.

Ich ging wieder hinein.

2

Als Erstes schnappte ich mir meinen Schlüsselring von der Kommode und sah mir die Schlüssel einzeln an. Mich wunderte, dass Sadie sie mir nie in dem Versuch vorgelegt hatte, mein Gedächtnis anzustoßen … aber sie konnte natürlich nicht an alles denken. Es waren genau ein Dutzend. Von den meisten hatte ich keine Ahnung, in welches Schloss sie passen könnten, aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Schlage-Sicherheitsschlüssel die Tür meines Hauses aufsperrte, das in … in Sabbatus stand? Das klang richtig, aber ich war mir da nicht ganz sicher.

An dem Ring hing auch ein kleiner Schlüssel mit der eingeprägten Bezeichnung FC 775. Das war allerdings ein Schließfachschlüssel, aber von welcher Bank? First Commercial? Das klang bankenmäßig, aber es war nicht richtig.

Ich schloss die Augen und starrte ins Dunkel. Ich wartete, weil ich mir fast sicher war, dass das Gewünschte auftauchen würde … und das tat es dann auch. Ich sah ein Scheckbuch in einer Schutzhülle aus Krokodillederimitat. Ich beobachtete, wie ich es aufschlug. Das war erstaunlich einfach. Auf dem obersten Scheck stand nicht mein Name im Land des Einst, aber meine letzte offizielle Adresse im Land des Einst:

214 W. Neely St. Apartment 1


Dallas, TX

Ich dachte: Da wurde mein Auto gestohlen.

Und ich dachte: Oswald. Der Attentäter heißt Oswald Rabbit.

Nein, natürlich nicht. Er war ein Mensch, keine Comicfigur. Aber ich war nahe dran.

»Ich bin hinter Ihnen her, Mr. Rabbit«, sagte ich. »Immer noch.«

3

Das Telefon klingelte kurz vor halb zehn. Sadie war gut nach Hause gekommen. »Dir ist inzwischen nichts eingefallen, nehme ich an. Ich bin lästig, ich weiß.«

»Nichts. Und du bist Welten davon entfernt, lästig zu sein.« Wenn ich darüber zu bestimmen hätte, würde sie auch Welten von Oswald Rabbit entfernt bleiben. Von seiner Frau, die Mary heißen konnte oder auch nicht, und seiner kleinen Tochter, die ziemlich sicher April hieß, ganz zu schweigen.

»Mit der Geschichte von dem Neger im Weißen Haus wolltest du mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«

Ich lächelte. »Warte noch ein Weilchen. Dann kannst du ihn selbst sehen.«

4

18. 11. 63 (Montag)

Die DAVIN-Krankenschwestern, eine alt und Furcht einflößend, die andere jung und hübsch, waren um Punkt neun Uhr da. Sie machten ihr Ding. Als die ältere fand, dass ich genug Grimassen geschnitten, gezuckt und gestöhnt hatte, gab sie mir eine kleine Papiertüte mit zwei Tabletten. »Schmerzen.«

»Ich glaube nicht, dass ich …«

»Nehmen Sie sie«, sagte sie – eine Frau, die nicht viel Worte machte. »Kostenlos.«

Ich warf die Tabletten ein, beförderte sie in die Backentasche, trank etwas Wasser nach und entschuldigte mich, um auf die Toilette zu gehen. Dort spuckte ich sie aus.

Als ich in die Küche zurückkam, sagte die ältere Schwester: »Gute Fortschritte. Nicht übertreiben.«

»Auf keinen Fall.«

»Geschnappt?«

»Wie bitte?«

»Die Arschlöcher, die Sie zusammengeschlagen haben.«

»Äh … noch nicht.«

»Haben Sie was Unrechtes getan?«

Ich bedachte sie mit meinem breitesten Lächeln, mit dem ich wie ein Quizmaster auf Crack aussah, wie Christy immer behauptet hatte. »Kann mich an nichts erinnern.«

5

Dr. Ellerton kam zum Mittagessen und brachte riesige Roastbeefsandwichs, fetttriefende, knusprige Pommes frites und die versprochenen Milchshakes mit. Ich aß so viel, wie ich hinunterbrachte, was ziemlich viel war. Mein Appetit kehrte allmählich zurück.

»Mike hat für eine weitere Varietévorstellung geworben«, sagte er. »Diesmal zu Ihren Gunsten. Letztlich haben sich klügere Köpfe durchgesetzt. Eine Kleinstadt kann nicht unbegrenzt spenden.« Er zündete sich eine Zigarette an, ließ das Streichholz in den Aschenbecher fallen und inhalierte mit Genuss. »Ob die Kerle, die Sie überfallen haben, jemals gefasst werden? Was hören Sie von der Polizei?«

»Nichts, aber ich bezweifle es sehr. Sie sind mit meinem Geld abgehauen.«

»Was hat Sie überhaupt in diesen Teil von Dallas geführt? Nicht gerade das beste Viertel der Stadt.«

Nun, ich habe offenbar dort gewohnt.

»Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich da jemand besucht.«

»Und Sie ruhen sich auch genug aus? Und überanstrengen das Knie nicht?«

»Nein.« Allerdings hatte ich den Verdacht, dass ich es bald sehr anstrengen würde.

»Schlafen Sie immer noch plötzlich ein?«

»Das hat sich ziemlich gebessert.«

»Wunderbar. Ich glaube, dass Sie …«

Mein Telefon klingelte. »Das wird Sadie sein«, sagte ich. »Sie ruft immer in ihrer Mittagspause an.«

»Ich muss ohnehin weiter. Freut mich, dass Sie wieder ein bisschen zunehmen, George. Sagen Sie der hübschen Lady einen Gruß von mir.«

Das tat ich. Sadie fragte, ob irgendwelche relevanten Erinnerungen zurückgekommen seien. Ihre vorsichtige Ausdrucksweise zeigte, dass sie aus dem Schulsekretariat anrief – und dieses Ferngespräch anschließend bei Mrs. Coleridge würde bezahlen müssen. Mrs. Coleridge führte nicht nur die Kasse der DCHS, sondern hatte auch lange Ohren.

Ich erklärte ihr, mir sei nichts Neues eingefallen, aber ich würde jetzt ein Nickerchen machen und hoffentlich mit neuen Erinnerungen aufwachen. Ich fügte hinzu, dass ich sie liebte (es war nett, etwas zu sagen, was die volle Wahrheit war), erkundigte mich nach Deke, wünschte ihr einen schönen Nachmittag und legte auf. Aber ich machte kein Nickerchen. Ich schnappte mir die Autoschlüssel, nahm meine Aktentasche mit und fuhr in die Stadt. Meine große Hoffnung war, dass ich etwas in der Aktentasche haben würde, wenn ich zurückkehrte.

6

Ich fuhr langsam und vorsichtig – wie eine alte Dame –, aber mein Knie tat trotzdem ziemlich weh, als ich die First Corn Bank betrat und den Schließfachschlüssel vorlegte.

Als mein Banker aus seinem Büro kam, fiel mir sein Name sofort ein: Richard Link. Er musterte mich besorgt, als ich ihm entgegenhinkte. »Was ist mit Ihnen passiert, Mr. Amberson?«

»Verkehrsunfall.« Hoffentlich hatte er die kleine Meldung im Polizeibericht der Morning News übersehen oder vergessen. Ich hatte sie nicht selbst gelesen, aber es hatte eine gegeben: Mr. George Amberson aus Jodie, zusammengeschlagen und ausgeraubt, bewusstlos aufgefunden, ins Parkland Memorial Hospital gebracht. »Aber mir geht’s schon viel besser.«

»Immerhin das ist erfreulich.«

Die Schließfächer befanden sich im Keller. Ich bewältigte die Treppe auf einem Bein hüpfend. Wir benutzten unsere Schlüssel, und Link trug mir die Stahlkassette in eine der Kabinen. Er stellte sie auf die winzige Ablagefläche, die eben groß genug für sie war, und zeigte auf den Klingelknopf an der Wand.

»Klingeln Sie einfach nach Melvin, wenn Sie fertig sind. Er wird Ihnen dann behilflich sein.«

Ich bedankte mich und zog den Türvorhang der Kabine zu, nachdem er gegangen war. Wir hatten die Kassette aufgeschlossen, aber ihr Deckel war noch zu. Mein Herz hämmerte, während ich sie anstarrte. Sie enthielt John F. Kennedys Zukunft.

Ich öffnete sie. Obenauf lagen ein Bündel Geldscheine und alles mögliche Zeug aus meiner Wohnung in der Neely Street, auch mein Scheckbuch von der First Corn Bank. Darunter kam ein von zwei Gummibändern zusammengehaltenes, dickes Manuskript zum Vorschein. Auf der Titelseite stand THE MURDER PLACE. Der Autor war nicht genannt, aber es war mein Werk. Darunter lag ein blaues Notizbuch: das Wort des Al. Sobald ich es in den Händen hielt, erfüllte mich die schreckliche Gewissheit, die Seiten würden leer sein, wenn ich es aufschlug. Der Gelbe-Karte-Mann würde die Aufzeichnungen gelöscht haben.

Bitte nicht.

Ich schlug es auf. Gleich auf der ersten Seite erwiderte ein Foto meinen Blick. Ein schmales, fast gut aussehendes Gesicht. Die Lippen zu einem Lächeln verzogen, das ich nur allzu gut kannte – hatte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen? Ein Lächeln, das Ich weiß, was läuft, und du weißt es nicht, du armer Trottel hieß.

Lee Harvey Oswald. Das erbärmliche verwahrloste Kind, das die Weltgeschichte verändern würde.

7

Erinnerungen stürmten auf mich ein, während ich nach Atem ringend in der kleinen Kabine saß.

Ivy und Rosette in der Mercedes Street. Nachname Templeton, genau wie Al.

Die Springseilmädchen: My old man drives a sub-ma-rine.

Silent Mike (Holy Mike) von Satellite Electronics.

George de Mohrenschildt, der sich das Hemd wie Superman aufriss.

Billy James Hargis und General Edwin A. Walker.

Marina Oswald, die schöne Geisel des Attentäters, die im Haus West Neely Street 214 vor meiner Tür stand: Bitte entschuldigen, haben Sie mein musch gesehen?

Das Texas School Book Depository, das Schulbuchlager.

Fünfter Stock, Südostfenster. Das mit dem besten Blick auf Dealey Plaza und Elm Street, wo sie eine Kurve in Richtung Dreifachunterführung machte.

Ich begann zu zittern. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und umklammerte meine Oberarme mit beiden Händen. Das verursachte im linken – dem, der von einem Schlag mit dem filzumwickelten Rohr gebrochen war – neue Schmerzen, aber sie machten mir nichts aus. Ich begrüßte sie sogar. Sie stellten eine Verbindung zur Realität her.

Als das Zittern endlich aufhörte, verstaute ich das unfertige Romanmanuskript, das kostbare blaue Notizbuch und alles übrige Zeug in meiner Aktentasche. Ich streckte eine Hand nach der Klingel aus, die Melvin rufen würde, dann sah ich sicherheitshalber ganz hinten in der Kassette nach. Dort fand ich zwei weitere Gegenstände. Einer war der billige Ehering aus dem Leihhaus, den ich gekauft hatte, damit meine Story bei Satellite Electronics glaubwürdiger klang. Der andere war die rote Babyrassel, die dem kleinen Mädchen der Oswalds (June, nicht April) gehört hatte. Die Rassel kam in die Aktentasche, der Ring in die Uhrentasche meiner Hose. Ich würde ihn auf der Heimfahrt wegwerfen. Wenn ich Sadie eines Tages einen Heiratsantrag machen konnte, sollte sie einen viel hübscheren bekommen.

8

Ein Klopfen an Glas. Dann eine Stimme: »… in Ordnung? Alles in Ordnung, Mister?«

Ich öffnete die Augen, ohne gleich zu wissen, wo ich mich befand. Ein Blick nach links zeigte mir einen uniformierten Streifenpolizisten, der ans Fahrerfenster meines Chevys geklopft hatte. Dann fiel mir alles wieder ein. Auf halber Strecke zum Eden Fallows – gleichermaßen müde und begeistert und verängstigt – hatte mich das Gleich-schläfst-du-ein-Gefühl übermannt. Zum Glück hatte ich sofort einen freien Parkplatz gefunden. Das war gegen zwei Uhr gewesen. Jetzt schien es dem Licht nach gegen vier Uhr zu sein.

Ich kurbelte das Fenster herunter und sagte: »Tut mir leid, Officer. Ich war plötzlich ganz schläfrig und wollte sicherheitshalber nicht weiterfahren.«

Er nickte. »Ja, ja, das kommt vom Suff. Wie viel haben Sie gekippt, bevor Sie sich ans Steuer gesetzt haben?«

»Nichts. Ich hatte vor einigen Monaten eine Kopfverletzung.« Ich drehte den Kopf zur Seite, damit er die Stelle sehen konnte, wo die Haare noch nicht nachgewachsen waren.

Er war halb überzeugt, forderte mich aber trotzdem auf, ihn anzuhauchen. Das überzeugte ihn ganz.

»Lassen Sie mich Ihre Papiere sehen«, sagte er.

Ich wies meinen texanischen Führerschein vor.

»Sie wollen jetzt nicht etwa nach Jodie zurückfahren, oder?«

»Nein, Officer, nur nach North Dallas. Dort bin ich Patient im Rehazentrum Eden Fallows.«

Ich schwitzte. Falls er das sah, würde er es hoffentlich darauf zurückführen, dass ich an einem ziemlich warmen Novembertag in einem Auto mit geschlossenen Fenstern gedöst hatte. Ich hoffte auch – verzweifelt –, dass er nicht verlangen würde, den Inhalt der neben mir auf der Sitzbank liegenden Aktentasche zu sehen. Im Jahr 2011 hätte ich diese Aufforderung mit dem Hinweis ablehnen können, dass im Auto zu schlafen keinen hinreichenden Verdacht begründete. Teufel, ich stand nicht mal vor einer abgelaufenen Parkuhr. Im Jahr 1963 konnte ein Cop jedoch einfach anfangen, darin herumzuwühlen. Er würde zwar keine Drogen finden, dafür aber Bargeld, ein Manuskript mit Mord im Titel und ein Notizbuch voller Wahnideen über Dallas und JFK. Würde ich zum Verhör aufs nächste Polizeirevier mitgenommen oder zur psychiatrischen Begutachtung ins Parkland eingeliefert werden? Brauchten die Waltons viel zu lange, um gute Nacht zu sagen?

Er stand einen Augenblick groß und rotgesichtig da: ein von Norman Rockwell gemalter Cop, der auf die Titelseite der Saturday Evening Post gehörte. Dann gab er mir den Führerschein zurück. »Okay, Mr. Amberson. Fahren Sie zu diesem Fallows zurück, und ich schlage vor, dass Sie Ihren Wagen dort über Nacht abstellen. Sie sehen erledigt aus, Nickerchen hin oder her.«

»Genau das habe ich vor.«

Während ich davonfuhr, konnte ich im Rückspiegel sehen, wie er mich beobachtete. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich wieder einschlafen würde, bevor ich außer Sicht geriet. Diesmal würde es keine Warnung geben; ich würde einfach von der Fahrbahn abkommen, auf den Gehsteig geraten und vielleicht einen Fußgänger oder mehrere niedermähen, bevor ich im Schaufenster eines Möbelgeschäfts zum Stehen kam.

Als ich schließlich vor meinem Häuschen mit der zum Eingang hinaufführenden Rampe parkte, hatte ich Kopfschmerzen, meine Augen waren wässrig, mein Knie pochte schmerzhaft … aber meine Erinnerungen an Oswald blieben klar und deutlich. Ich warf die Aktentasche auf den Küchentisch und rief Sadie an.

»Ich wollte dich anrufen, als ich aus der Schule gekommen bin, aber du warst nicht da«, sagte sie. »Ich hab mir Sorgen gemacht.«

»Ich war nebenan und habe mit Mr. Kenopensky Cribbage gespielt.« Diese Lügen waren notwendig. Das musste ich mir immer wieder einbläuen. Und ich musste sie flüssig erzählen, weil Sadie mich kannte.

»Na, das hört sich gut an.« Dann ohne Pause, ohne Veränderung im Ton: »Wie heißt er? Wie heißt der Mann?«

Lee Oswald. Mit ihrer Überrumpelungstaktik hätte sie beinahe Erfolg gehabt.

»Ich … ich weiß es immer noch nicht.«

»Du hast gezögert. Ich hab’s gehört.«

Ich erwartete einen Vorwurf und hielt den Hörer so fest umklammert, dass es wehtat.

»Diesmal ist er dir fast eingefallen, oder?«

»Da war was«, bestätigte ich vorsichtig.

Wir redeten eine Viertelstunde lang, während ich die Aktentasche mit Als Notizen betrachtete. Ich solle sie später noch einmal anrufen. Ich versprach es ihr.

9

Ich beschloss, bis nach dem Huntley-Brinkley Report zu warten, bevor ich das blaue Notizbuch wieder aufschlug. Ich erwartete nicht, darin viel für die Gegenwart Verwendbares zu finden. Als letzte Aufzeichnungen waren lückenhaft und eilig hingekritzelt; er hatte nie erwartet, dass das Unternehmen Oswald sich so lange hinziehen würde. Ich auch nicht. Der Weg zu dem missmutigen kleinen Fuzzi glich einer mit abgebrochenen Ästen übersäten Straße, und der Vergangenheit würde es zu guter Letzt vielleicht doch gelingen, sich zu schützen. Aber immerhin hatte ich Dunning das Handwerk gelegt. Das gab mir Zuversicht. Ich hatte vage Vorstellungen von einem Plan, wie ich Oswald aufhalten könnte, ohne Gefängnis oder den elektrischen Stuhl in Huntsville riskieren zu müssen. Für meinen Wunsch, in Freiheit zu bleiben, gab es ausgezeichnete Gründe. Der beste von allen war an diesem Abend in Jodie und fütterte Deke Simmons vermutlich mit heißer Hühnersuppe.

Ich arbeitete mich planvoll durch mein behindertengerechtes kleines Appartement und suchte Sachen zusammen. Außer meiner alten Schreibmaschine wollte ich keine Spur von George Amberson zurücklassen, wenn ich es verließ. Ich hoffte, dass das nicht vor Mittwoch sein würde, aber falls Sadie sagte, Deke sei wieder auf den Beinen und sie werde am Dienstagabend zurückkommen, würde ich früher verschwinden müssen. Und wo würde ich versteckt bleiben, bis mein Auftrag ausgeführt war? Eine sehr gute Frage.

Ein Trompetenstoß kündigte die Fernsehnachrichten an. Chet Huntley erschien auf dem Bildschirm. »Nach einem Wochenende in Florida, wo er die Erprobung einer Polaris-Rakete beobachtete und seinen kranken Vater besuchte, hat President Kennedy einen arbeitsreichen Montag mit fünf Reden in neun Stunden hinter sich.«

Ein Hubschrauber – Marine One – landete, während die wartende Menge jubelte. Die nächste Szene zeigte Kennedy, der sich mit der einen Hand über sein dichtes Haar und mit der anderen über seine Krawatte fuhr und auf die Menge hinter einer improvisierten Absperrung zustrebte. Er hatte einen ziemlichen Vorsprung vor dem Secret-Service-Aufgebot, das traben musste, um mit ihm Schritt zu halten. Ich beobachtete fasziniert, wie er sogar durch eine Lücke in der Absperrung schlüpfte, ein Bad in der Menge nahm und links und rechts Hände schüttelte. Die Sicherheitsleute wirkten bestürzt, während sie hinter ihm herhasteten.

»Diese Szene hat sich in Tampa abgespielt, wo Kennedy fast zehn Minuten lang Hände schüttelte«, fuhr Huntley fort. »Den Männern, die ihn zu beschützen haben, bereitet das Sorgen, aber Sie können sehen, dass die Menge begeistert ist. Und er ist es auch, David – trotz seiner angeblichen Reserviertheit genießt er die Anforderungen der Politik.«

Kennedy war jetzt zu seinem Wagen unterwegs, schüttelte weiter Hände und ließ sich gelegentlich von Frauen umarmen. Der Wagen war ein offenes Kabriolett – genau wie das, mit dem er vom Love Field zu seinem Treffen mit Oswalds Kugel fahren würde. Vielleicht war es derselbe Wagen. Einen Augenblick lang zeigte der flimmernde Schwarz-Weiß-Film ein mir vertrautes Gesicht in der Menge. Von meinem Sofa aus beobachtete ich, wie der Präsident der Vereinigten Staaten meinem ehemaligen Buchmacher in Tampa die Hand schüttelte.

Ich wusste nicht, ob Roth zu Recht von Syph gesprochen oder nur ein Gerücht wiedergegeben hatte, aber Eduardo Gutierrez war erschreckend abgemagert, sein Haar war schütter geworden, und sein Blick wirkte so verwirrt, als wüsste er nicht genau, wo oder sogar wer er war. Wie Kennedys Secret-Service-Aufgebot trugen die Männer, die ihn abschirmten, trotz der in Florida herrschenden Hitze unförmige, lange Jacketts. Im nächsten Augenblick zeigte die Kamera wieder Kennedy, der in dem offenen Wagen, der ihn so verwundbar machte, davonfuhr – immer noch winkend und mit seinem berühmten Lächeln.

Zurück zu Huntley, auf dessen zerfurchtem Gesicht jetzt ein nachdenkliches Lächeln stand. »Der Tag hatte auch seine komische Seite, David. Als der Präsident im International Inn den Ballsaal betrat, in dem die Handelskammer von Tampa auf seine Rede wartete … Nun, hören Sie selbst.«

Wieder ein Einspieler. Als Kennedy hereinkam und dem stehenden Publikum zuwinkte, stimmte ein älterer Mann mit Trachtenhut und Lederhose auf einem Akkordeon, das fast größer als er selbst war, »Hail to the Chief« an. Der Präsident stutzte, dann hob er die Hände zu einer freundlichen Heiliger-Strohsack-Geste. Zum ersten Mal sah ich ihn so, wie ich Oswald sehen gelernt hatte – als richtigen Menschen. In dem Stutzen und der darauf folgenden Geste erkannte ich etwas, was noch schöner und wertvoller war als Sinn für Humor: Verständnis für die fundamentale Absurdität des Lebens.

Auch David Brinkley lächelte. »Sollte Kennedy wiedergewählt werden, wird dieser Gentleman vielleicht eingeladen, auf dem Ball zur Amtseinführung zu spielen. Vermutlich eher die ›Beer Barrel Polka‹ als ›Hail to the Chief‹. Inzwischen haben sich in Genf …«

Ich schaltete den Fernseher aus, kehrte aufs Sofa zurück und schlug Als Notizbuch auf. Während ich nach hinten blätterte, sah ich wieder dieses Stutzen. Und das Grinsen. Sinn für Humor; Sinn fürs Absurde. Der Mann am Fenster im fünften Stock des Schulbuchlagers besaß nichts dergleichen. Das hatte Oswald immer wieder bewiesen, und solch einem Menschen stand es nicht zu, die Geschichte zu verändern.

10

Mit Bestürzung stellte ich fest, dass fünf der letzten sechs Seiten von Als Notizbuch Lees Bewegungen in New Orleans und seine vergeblichen Bemühungen schilderten, über Mexiko nach Kuba zu gelangen. Nur die letzte Seite betraf die Zeit unmittelbar vor dem Anschlag, und diese abschließenden Notizen waren sehr oberflächlich. Al hatte die Details bestimmt auswendig gekannt und war vermutlich zu der Einschätzung gelangt, dass es zu spät sein würde, wenn ich Oswald nicht bis zur dritten Novemberwoche erledigt hatte.

3. 10. 63: O wieder in Texas. Er und Marina leben »mehr oder weniger« getrennt. Sie in Ruth Paines Haus; O kreuzt meist nur an Wochenenden auf. Ruth verschafft O durch einen Nachbarn (Buell Frazier) einen Job im Schulbuchlager. Ruth bezeichnet O als »netten jungen Mann«.

O lebt während der Arbeitswoche in Dallas. Pension.

17. 10. 63: O nimmt die Arbeit im Buchlager auf. Ordnet Bücher ein, entlädt Lastwagen usw.

18. 10. 63: O wird 24. Ruth und Marina organisieren eine Überraschungsparty. O bedankt sich gerührt. Weint.

20. 10. 63: 2te Tochter geboren. Audrey Rachel. Ruth fährt Marina ins Krankenhaus (Parkland), während O arbeitet. Gewehr liegt in Decke gewickelt in der Garage der Paines.

O erhält wiederholt Besuch von FBI-Agent James Hosty. Das verstärkt seinen Verfolgungswahn.

21. 11. 63: O kreuzt bei den Paines auf. Beschwört Marina, zu ihm zurückzukommen. M weigert sich. Das gibt O den Rest.

22. 11. 63: O lässt sein ganzes Geld auf der Kommode für Marina zurück. Fährt mit Buell Frazier von Irving aus zum Buchlager. Hat längliches Paket in braunem Packpapier dabei. Buell fragt ihn danach. »Vorhangstangen für meine neue Wohnung«, behauptet O. Mann-Carc-Gewehr vermutlich zerlegt. Buell parkt auf städtischem Parkplatz 2 Blocks vom Buchlager entfernt. 3 Minuten zu gehen.

11.50 Uhr: O baut Scharfschützennest in Südostecke des 5ten Stocks; stapelt Kartons als Sichtschutz vor Handwerkern, die auf der anderen Seite Sperrholz für einen neuen Boden verlegen. Mittagessen. Außer ihm niemand da. Alle wollen Präs. sehen.

11.55 Uhr: O baut Mann-Carc zusammen & lädt das Gewehr.

12.29 Uhr: Autokolonne erreicht Dealey Plaza.

12.30 Uhr: O schießt 3 Mal. 3ter Schuss trifft JFK tödlich.

Die Information, die ich am dringendsten brauchte – die Adresse von Oswalds Pension –, stand nicht in Als Aufzeichnungen. Ich widerstand dem Drang, das Notizbuch quer durchs Zimmer zu schleudern. Stattdessen stand ich auf, zog meine Jacke an und ging ins Freie. Inzwischen war es fast Nacht, aber am Horizont ging ein Dreiviertelmond auf. In seinem Licht sah ich Mr. Kenopensky zusammengesunken im Rollstuhl hocken. Er hatte sein Motorola-Radio auf dem Schoß.

Ich hinkte die Rampe hinunter zu ihm hinüber. »Mr. K.? Alles in Ordnung?«

Als er nicht gleich antwortete und auch sonst keine Regung zeigte, war ich überzeugt, dass er tot war. Dann blickte er auf und lächelte. »Ich hör bloß meine Musik, mein Sohn. Nachts spielen sie auf KMAT immer Swing, und der versetzt mich echt in die alte Zeit. Früher konnt ich wie verrückt Lindy- und Bunnyhop tanzen, auch wenn mir das keiner mehr ansieht. Ist der Mond nicht schön?«

Das war er allerdings. Wir betrachteten ihn einige Zeit lang schweigend, und ich dachte an den Auftrag, den ich auszuführen hatte. Auch wenn ich nicht wusste, wo Lee übernachtete, wusste ich, wo sein Gewehr war: in eine Decke gewickelt in Ruth Paines Garage. Was, wenn ich einfach hinfuhr und es klaute? Ich würde vielleicht nicht einmal einbrechen müssen. Hier war das Land des Einst, in dem Provinzler ihre Häuser – von ihren Garagen ganz zu schweigen – oft nicht abschlossen.

Aber was war, wenn Al danebenlag? Schließlich hatte er sich schon in Bezug auf das Waffenversteck vor dem Anschlag auf Walker geirrt. Selbst wenn die Waffe dort war …

»Woran denken Sie, mein Sohn?«, fragte Mr. Kenopensky. »Sie sehn ganz elend aus. Hoffentlich kein Frauenkummer?«

»Nein.« Zumindest momentan nicht. »Erteilen Sie Ratschläge?«

»Ja, Sir, das tu ich. Das ist das Einzige, wofür alte Käuze noch taugen, wenn sie kein Lasso mehr schwingen oder Vieh treiben können.«

»Nehmen wir mal an, Sie würden einen Mann kennen, der ein Verbrechen vorhat. Der absolut dazu entschlossen ist. Würde er es noch mal versuchen, wenn man ihn zunächst von seinem Vorhaben abbrächte – zum Beispiel indem man es ihm ausredet –, oder wäre die Gefahr damit gebannt?«

»Schwer zu sagen. Denken Sie vielleicht, der Kerl, der Ihrer jungen Dame das Gesicht zerschnitten hat, könnte zurückkommen und ihr den Rest geben wollen?«

»Irgendwas in der Art.«

»Verrückter Kerl.« Es war keine Frage.

»Ja.«

»Vernünftige Männer verstehen oft einen Wink«, sagte Mr. Kenopensky. »Verrückte Kerle tun das selten. Das hab ich in meiner Cowboyzeit, bevor es Strom und Telefon gab, oft erlebt. Wenn man sie warnt, sie sollen wegbleiben, kommen sie wieder. Wenn man sie verprügelt, greifen sie das nächste Mal aus dem Hinterhalt an – erst dich, dann denjenigen, den sie wirklich meinen. Locht man sie ein, warten sie auf den Tag, an dem sie wieder rauskommen. Am sichersten ist es, Verrückte für lange Zeit ins Zuchthaus zu sperren. Oder sie umzubringen.«

»Genau das denke ich auch.«

»Lassen Sie nicht zu, dass er zerstört, was sie sich von ihrem hübschen Gesicht bewahrt hat, falls er das vorhat. Wenn Sie sich so viel aus ihr machen, wie’s den Anschein hat, tragen Sie Verantwortung.«

Das tat ich allerdings, obwohl Clayton nicht länger das Problem war. Ich kehrte in mein kleines, bausteinförmiges Appartement zurück, machte mir starken Kaffee und setzte mich mit einem Schreibblock an den Küchentisch. Mein Plan stand mir jetzt etwas deutlicher vor Augen, und ich wollte anfangen, die Details auszuarbeiten.

Stattdessen kritzelte ich irgendwas auf den Block. Dann schlief ich ein.

Als ich aufwachte, war es fast Mitternacht, und meine Wange tat mir dort weh, wo sie auf der karierten Wachstuchdecke des Küchentischs gelegen hatte. Ich sah mir an, was ich auf den Block gekritzelt hatte. Ich wusste nicht, ob ich das gezeichnet hatte, bevor ich eingenickt war, oder zwischendurch lange genug aufgewacht war und diesen Gegenstand unbewusst hingekritzelt hatte.

Es war eine Schusswaffe. Kein Gewehr von Mannlicher-Carcano, sondern ein Revolver. Mein Revolver, den ich unter die Verandastufen des Hauses West Neely Street 214 geworfen hatte. Vermutlich lag er immer noch dort. Das hoffte ich jedenfalls.

Ich würde ihn brauchen.

11

19. 11. 63 (Dienstag)

Sadie rief vormittags an und sagte, Deke gehe es etwas besser, aber sie werde darauf bestehen, dass er auch am Mittwoch zu Hause bleibe. »Sonst versucht er doch nur, in der Bibliothek zu sein, und erleidet einen Rückfall. Aber ich packe, bevor ich morgen früh in die Schule fahre, und bin gleich nach der sechsten Stunde zu dir unterwegs.«

Die sechste Stunde dauerte bis zehn nach eins. Das bedeutete, dass ich das Eden Fallows bis spätestens um vier Uhr verlassen musste. Hätte ich nur gewusst, mit welchem Ziel! »Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen.«

»Du redest ganz steif und komisch. Hast du wieder deine Kopfschmerzen?«

»Ein bisschen«, sagte ich. Es stimmte sogar.

»Dann leg dich hin, mit einem feuchten Waschlappen über den Augen.«

»Ja, das tue ich.« In Wirklichkeit dachte ich gar nicht daran.

»Ist dir irgendwas eingefallen?«

Diese Frage hätte ich bejahen können. Mir war eingefallen, dass es nicht genügen würde, Lee das Gewehr zu stehlen. Und ihn im Haus der Paines zu erschießen war eine schlechte Alternative. Und das nicht nur, weil ich vermutlich geschnappt werden würde. Zusammen mit denen von Ruth Paine gab es in dem Haus vier Kinder. Ich hätte es vielleicht versucht, wenn Lee zur nächsten Bushaltestelle gegangen wäre. Aber er würde mit Buell Frazier fahren – dem Nachbarn, der ihm auf Ruth Paines Bitte den Job im Schulbuchlager besorgt hatte.

»Nein«, sagte ich. »Immer noch nicht.«

»Uns fällt schon noch was ein. Wart’s nur ab.«

12

Ich fuhr (immer noch langsam, aber zunehmend sicherer) quer durch die Stadt zur West Neely Street und fragte mich unterwegs, was ich tun würde, wenn die Erdgeschosswohnung vermietet war. Mir wohl eine neue Waffe kaufen … aber ich wollte unbedingt den .38er Police Special, und wenn auch nur deshalb, weil ich in Derry mit diesem Modell erfolgreich gewesen war.

Wie der Nachrichtensprecher Frank Blair in Today berichtete, war Kennedy nach Miami weitergereist, wo er von zahlreichen Cubanos empfangen wurde. Manche hielten Schilder mit VIVA JFK hoch, während andere ein Spruchband entrollten, auf dem KENNEDY VERRÄT UNSERE SACHE stand. Wenn sich nichts mehr änderte, hatte er noch zweiundsiebzig Stunden zu leben. Oswald, dessen Lebenserwartung nur geringfügig höher war, würde im Texas School Book Depository sein, vielleicht Bücherkartons in einem der Lastenaufzüge stapeln oder im Aufenthaltsraum Kaffee trinken.

Denkbar war, dass ich ihn dort erledigte – indem ich einfach hinging und ihn durchsiebte –, aber ich würde festgehalten und niedergerungen werden. Nach dem tödlichen Schuss, wenn ich Glück hatte. Davor, wenn ich keines hatte. In beiden Fällen würde ich Sadie Dunhill das nächste Mal durch eine Drahtglasscheibe sehen. Falls ich so viel riskieren musste, um Oswald aufzuhalten – im Heldenjargon: mich opfern –, traute ich mir das zu. Aber ich wollte nicht, dass die Sache so ausging. Ich wollte weder Sadie noch meinen Napfkuchen verlieren.

Auf dem Rasen des Hauses West Neely Street 214 stand ein Gartengrill, und auf der Veranda entdeckte ich einen neuen Schaukelstuhl, aber die Vorhänge waren zugezogen, und in der Einfahrt stand kein Auto. Ich parkte vor dem Haus, sagte mir: Frechheit siegt, und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Ich stand dort, wo Marina Oswald am 10. April gestanden hatte, und klopfte an, wie sie angeklopft hatte. Falls jemand aufmachte, würde ich Frank Anderson sein, der im Auftrag der Encyclopædia Britannica unterwegs sei (für Grit war ich zu alt). Sollte die Dame des Hauses sich dafür interessieren, würde ich versprechen, morgen mit meinem Musterkoffer wiederzukommen.

Niemand kam an die Tür. Vielleicht arbeitete die Dame des Hauses ebenfalls. Vielleicht war sie in der Nähe unterwegs und besuchte eine Nachbarin. Vielleicht lag sie in dem Schlafzimmer, das vor nicht allzu langer Zeit meines gewesen war, und schlief ihren Rausch aus. Das war mir piepegal, wie wir im Land des Einst sagten. In der Wohnung war niemand, nur darauf kam es an, und der Gehsteig war menschenleer. Auch Mrs. Alberta Hitchinson, die Nachbarschaftsspionin mit der Gehhilfe, war nirgends zu sehen.

Ich stieg die Verandatreppe in meinem hinkenden Krebsgang hinunter, ging ein paar Schritte den Gehsteig entlang, kehrte um, als hätte ich etwas vergessen, und warf einen Blick unter die Treppe. Mein .38er lag dort halb mit Herbstlaub bedeckt, nur der kurze Lauf ragte heraus. Ich ließ mich auf mein gesundes Knie nieder, griff ihn mir und steckte ihn in die Seitentasche meines Sportsakkos. Ein Blick in die Runde zeigte, dass mich niemand beobachtete. Ich hinkte zu meinem Chevy, legte den Revolver ins Handschuhfach und fuhr davon.

13

Statt ins Eden Fallows zurückzukehren, fuhr ich in die Innenstadt, wo ich unterwegs bei einem Sportgeschäft haltmachte, um ein Waffenreinigungs-Set und eine Schachtel frische Munition zu kaufen. Ich wollte auf keinen Fall, dass die Waffe versagte oder mir um die Ohren flog.

Mein nächstes Ziel war das Adolphus. Es sei bis nächste Woche restlos ausgebucht, sagte mir der Portier – alle Hotels in Dallas seien wegen des Präsidentenbesuchs voll –, aber für einen Dollar Trinkgeld war er sehr gern bereit, meinen Wagen auf dem Hotelparkplatz abzustellen. »Aber spätestens um vier Uhr muss er weg sein. Da kommen viele Gäste an.«

Inzwischen war es Mittag. Zur Dealey Plaza waren es nur drei oder vier Straßen, dennoch brauchte ich sehr lange, um hinzukommen. Ich war erschöpft, und meine Kopfschmerzen waren trotz Goody’s Powder schlimmer geworden. Der texanische Autofahrer hupte gern, und jeder gellende Hupton bohrte sich in mein Gehirn. Ich machte viele Pausen, in denen ich an Hauswände gelehnt wie ein Reiher auf meinem gesunden Bein stand. Ein Taxifahrer, der gerade keinen Dienst hatte, erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei; ich versicherte ihm, dass mir nichts fehle. Aber das war gelogen. Ich war beunruhigt und fühlte mich elend. Ein Halbinvalide mit geschädigtem Knie sollte wirklich nicht das Schicksal der Welt schultern müssen.

Ich ließ meinen dafür dankbaren Hintern auf der Bank nieder, auf der ich schon 1960 – nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Dallas – gesessen hatte. Die Ulme, die mir Schatten gespendet hatte, raschelte heute mit unbelaubten Zweigen. Ich streckte mein schmerzendes Knie, seufzte erleichtert und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf den hässlichen Klinkerwürfel des Schulbuchlagers. Die auf die Houston Street und Elm Street hinausführenden Fenster glitzerten in der frostigen Nachmittagssonne. Wir kennen ein Geheimnis, sagten sie. Wir werden berühmt werden, vor allem das in der Südostecke im fünften Stock. Wir werden berühmt werden, und du kannst es nicht verhindern. Eine Aura dumpfer Bedrohlichkeit umgab das Gebäude. Und gab es noch jemand andres, der sie spürte? Ich beobachtete mehrere Fußgänger, die die Elm Street überquerten, und hatte das Gefühl, dass dem nicht so war. Lee war jetzt in diesem Würfel, und bei ihm war ich mir sicher, dass viele seiner Gedanken meinen ganz ähnlich waren. Kann ich es schaffen? Will ich es tun? Bin ich dazu bestimmt?

Robert ist nicht mehr dein Bruder, dachte ich. Jetzt bin ich dein Bruder, Lee, dein Waffenbruder. Du weißt es nur noch nicht.

Auf dem Ladegleis hinter dem Lagergebäude pfiff eine Lokomotive. Ein Taubenschwarm flog auf. Die Wildtauben umkreisten kurz die Hertz-Reklame auf dem Dach des Lagergebäudes, dann drehten sie in Richtung Fort Worth ab.

Wenn ich ihn vor dem Zweiundzwanzigsten ermordete, war Kennedy gerettet, aber ich musste mich ziemlich sicher auf zwanzig bis dreißig Jahre Haft oder Psychiatrie gefasst machen. Aber wenn ich ihn am Zweiundzwanzigsten umlegte? Vielleicht während er sein Gewehr zusammensetzte?

Bis fast zum Ende der Partie zu warten würde ein schreckliches Risiko sein, eines, das ich mit all meiner Macht zu vermeiden versucht hatte, aber ich hielt es für machbar – und vielleicht war es meine beste Chance. Es wäre sicherer gewesen, dabei mit einem Partner zusammenzuarbeiten, aber es gab nur Sadie, und die wollte ich auf keinen Fall mit hineinziehen. Nicht einmal, machte ich mir trübsinnig bewusst, wenn Kennedy deswegen sterben musste oder ich hinter Gitter wanderte. Sie hatte genug gelitten.

Ich machte mich langsam auf den Rückweg zum Hotel, um meinen Wagen abzuholen. Über die Schulter warf ich noch einmal einen Blick auf das Schulbuchlager. Es beobachtete mich. Daran bestand kein Zweifel. Und selbstverständlich würde alles dort enden; es war töricht von mir gewesen, etwas anderes zu glauben. Ich war zu diesem Klinkerwürfel getrieben worden wie eine Kuh zur Schlachtbank.

14

20. 11. 63 (Mittwoch)

Ich schrak mit Herzrasen aus irgendeinem Traum auf, an den ich mich nicht erinnern konnte.

Sie weiß es.

Weiß was?

Dass du sie in Bezug auf all die Dinge, an die du dich angeblich nicht erinnern kannst, belogen hast.

»Nein«, sagte ich. Meine Stimme klang vom Schlafen ganz eingerostet.

Doch. Sie hat absichtlich gesagt, dass sie nach der sechsten Stunde kommt, weil du nicht wissen sollst, dass sie viel früher wegfahren will. Das sollst du erst merken, wenn sie aufkreuzt. Vielleicht ist sie sogar schon unterwegs. Wenn du mitten bei deiner morgendlichen Krankengymnastik bist, wird sie plötzlich hereinschneien.

Das wollte ich nicht glauben, trotzdem erschien es mir so gut wie ausgemacht.

Wohin sollte ich also verschwinden? Als ich im Morgengrauen dieses Mittwochs in meinem Bett saß, schien auch das eine ausgemachte Sache zu sein. Als hätte mein Unterbewusstsein das schon immer gewusst. Die Vergangenheit hatte ein Echo, sie hallte wider.

Aber zuvor musste ich noch etwas auf meiner bewährten alten Schreibmaschine tippen. Etwas Unerfreuliches.

15

20. November 1963

Liebe Sadie,

ich habe Dich belogen. Ich glaube, dass Du diesen Verdacht nun schon seit einiger Zeit hast. Ich denke, dass Du morgen früh hier aufkreuzen willst. Deshalb wirst Du mich erst wiedersehen, nachdem JFK übermorgen Dallas besucht hat.

Wenn alles klappt wie erhofft, werden wir an einem anderen Ort lange und glücklich zusammenleben. Das neue Leben wird Dir anfangs ungewohnt erscheinen, aber ich glaube, dass Du Dich daran gewöhnen wirst. Ich werde Dir dabei helfen. Ich liebe Dich, deshalb kann ich es nicht zulassen, dass Du in diese Sache verwickelt wirst.

Bitte glaub mir, bitte hab Geduld und bitte sei nicht überrascht, wenn Du meinen Namen in den Zeitungen liest und mein Bild siehst – wenn alles wie geplant klappt, dürfte dieser Fall eintreten. Versuche vor allem nicht, mich zu finden.

Ich liebe Dich

Jake

PS: Das hier solltest Du verbrennen.

16

Ich packte mein Leben als George Amberson in den Kofferraum meines Heckflossen-Chevys, befestigte an der Haustür eine Mitteilung an die Krankengymnastin und fuhr dann bedrückt und krank vor Heimweh davon. Sadie fuhr in Jodie noch früher los, als ich nachts vermutet hatte – schon vor Tagesanbruch. Ich verließ das Eden Fallows um neun Uhr. Sie parkte ihren Käfer um Viertel nach neun am Randstein, las die Mitteilung, dass die Krankengymnastik leider ausfallen müsse, und schloss mit dem Schlüssel auf, den ich ihr gegeben hatte. An der Walze meiner Schreibmaschine lehnte ein Umschlag mit ihrem Namen. Sie riss ihn auf, las meinen kurzen Brief, setzte sich aufs Sofa vor dem Fernseher, dessen Bildschirm schwarz war, und weinte. Als dann die Krankengymnastin kam, weinte sie immer noch … aber sie hatte meine Aufforderung befolgt und die Mitteilung verbrannt.

17

Unter dem bedeckten Himmel lag die Mercedes Street überwiegend still da. Die Springseilmädchen waren nirgends zu sehen – sie würden in der Schule sein, vielleicht gespannt zuhören, während ihre Lehrerin ihnen vom bevorstehenden Besuch des Präsidenten erzählte –, aber an dem wackeligen Verandageländer hing wie erwartet wieder das Zu-vermieten-Schild. Darunter stand eine Telefonnummer. Ich fuhr auf den Parkplatz des Montgomery-Ward-Lagerhauses und rief von der Telefonzelle in der Nähe der Ladebuchten aus die Nummer an. Ich bezweifelte nicht, dass der Mann, der sich mit einem lakonischen »Ja, Merritt hier« meldete, der gleiche Kerl war, der die Nummer 2703 an Lee und Marina vermietet hatte. Ich sah seinen Stetson und die protzigen, bestickten Stiefel noch vor mir.

Als ich ihm erzählte, was ich wolle, lachte er ungläubig. »Ich vermiete nicht wochenweise. Das ist ein schönes Haus, Partner.«

»Es ist eine Bruchbude«, sagte ich. »Ich war drin. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Jetzt hören Sie mal zu …«

»Nein, Sie hören zu. Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar, nur um übers Wochenende dort hausen zu dürfen. Das ist fast eine ganze Monatsmiete, und am Montag können Sie Ihr Schild wieder an die Veranda hängen.«

»Wieso wollen Sie …«

»Weil Kennedy kommt und sämtliche Hotels in Dallas/Fort Worth ausgebucht sind. Ich bin weit gefahren, um ihn zu sehen, und habe keine Lust, im Fair Park oder auf der Dealey Plaza zu campieren.«

Ich hörte ein Feuerzeug klicken, während Merritt sich die Sache durch den Kopf gehen ließ.

»Die Zeit läuft ab, Kumpel«, sagte ich. »Tick-tack.«

»Wie heißen Sie, Partner?«

»George Amberson.« Ich wünschte mir fast, ich wäre eingezogen, ohne überhaupt anzurufen. Das hätte ich auch beinahe getan, aber einen Besuch der hiesigen Polizei konnte ich am allerwenigsten brauchen. Ich bezweifelte, dass die Anwohner einer Straße, die manche Feiertage damit begingen, dass sie Hühner in die Luft jagten, sich viel um Hausbesetzer scheren würden, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Ich schlich nicht mehr um das Kartenhaus herum; ich lebte darin.

»Wir treffen uns in einer halben bis Dreiviertelstunde vor dem Haus.«

»Ich bin drinnen«, sagte ich. »Ich habe einen Schlüssel.«

Erneutes Schweigen. Dann: »Wo haben Sie den her?«

Ich wollte Ivy nicht verpetzen, auch wenn sie noch in Mozelle war. »Von Lee. Lee Oswald. Er hat ihn mir mal gegeben, damit ich reingehen und seine Blumen gießen konnte.«

»Der kleine Scheißer hatte Blumen?«

Ich hängte ein und fuhr zur Nummer 2703 zurück. Mein Vermieter auf Zeit kam, vielleicht getrieben von seiner Neugier, keine Viertelstunde später mit seinem Chrysler angefahren. Er trug wieder den Stetson und die protzigen Stiefel. Ich saß im Wohnzimmer und hörte den streitbaren Geistern von noch lebenden Menschen zu. Sie hatten eine Menge zu sagen.

Merritt wollte mich über Oswald aushorchen – ob er wirklich ein verdammter »Kommanist« sei. Nein, sagte ich, nur ein waschechter Louisiana-Knabe, der in einem Gebäude arbeite, von dem aus man die Autokolonne des Präsidenten am Freitag gut sehen könne. Und ich sagte, dass er seinen Logenplatz hoffentlich mit mir teilen werde.

»Scheiß-Kennedy!«, schrie Merritt fast. »Der ist todsicher ein Kommanist! Auf den Hundesohn sollte man schießen, bis er sich nicht mehr rührt!«

»Schönen Tag noch«, sagte ich und öffnete die Haustür.

Er ging, aber das machte ihm offenbar zu schaffen. Er war es gewohnt, dass Mieter vor ihm buckelten und kuschten. Auf dem rissigen, abbröckelnden Betonplattenweg drehte er sich noch einmal um. »Sie lassen das Haus so hübsch zurück, wie Sie’s vorgefunden haben, ist das klar?«

Ich sah mich im Wohnzimmer mit dem schimmeligen Teppich, dem rissigen Verputz und dem Sessel mit dem wackeligen Rücken um. »Gar kein Problem«, sagte ich.

Dann setzte ich mich und bemühte mich, wieder mit den Geistern zu kommunizieren: Lee und Marina, Marguerite und de Mohrenschildt. Es kam nicht dazu, weil ich wieder einen meiner Schlafanfälle hatte. Als ich aufwachte, ordnete ich den Singsang, den ich hörte, zunächst einem verblassenden Traum zu.

»Charlie Chaplin went to FRANCE! Just to see the ladies DANCE!«

Die Stimmen waren noch zu hören, als ich die Augen öffnete. Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Die Springseilmädchen waren etwas älter und größer, aber sie waren es tatsächlich, das Teuflische Trio. Das mittlere Mädchen hatte rote Flecken im Gesicht, obwohl sie für Adoleszenzakne noch mindestens vier Jahre zu jung war. Vielleicht hatte sie die Röteln.

»Salute to the Cap’n!«

»Salute to the Queen«, murmelte ich und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Das stoßweise aus dem Hahn kommende Wasser war rostig, aber kalt genug, um mich ganz aufzuwecken. Ich hatte meine kaputte Uhr durch eine billige Timex ersetzt, auf der es halb drei war. Ich war nicht hungrig, aber ich musste etwas essen, also fuhr ich zu Mr. Lee’s Bar-B-Q. Auf der Rückfahrt ging ich in einen Drugstore, um noch eine Packung Kopfschmerzpulver zu kaufen. Außerdem nahm ich zwei Taschenbücher von John D. MacDonald mit.

Die Springseilmädchen waren fort. Auf der sonst so lauten Mercedes Street war es eigenartig still. Wie im Theater, bevor der Vorhang sich zum letzten Akt hebt, dachte ich. Ich ging hinein, um mein Essen zu verzehren, aber obwohl die Spareribs würzig und zart waren, warf ich schließlich das meiste weg.

18

Ich versuchte im Elternschlafzimmer zu schlafen, aber dort waren die Geister von Lee und Marina zu lebendig. Kurz vor Mitternacht zog ich in das kleinere Schlafzimmer um. Rosette Templetons Kreidemädchen waren noch an den Wänden, und irgendwie fand ich die identischen Trägerkleider (Tannengrün musste Rosettes Lieblingsfarbe sein) und ihre großen, schwarzen Schuhe beruhigend. Ich stellte mir vor, wie Sadie über sie lächeln würde, vor allem über die mit dem Krönchen einer Miss America.

»Ich liebe dich, Schatz«, sagte ich und schlief ein.

19

21. 11. 63 (Donnerstag)

Auf ein Frühstück hatte ich nicht mehr Appetit als auf das Abendessen tags zuvor, aber gegen elf Uhr brauchte ich dringend Kaffee. Zwei, drei Liter kamen mir genau richtig vor. Ich schnappte mir einen meiner neuen Taschenbuchromane – Der letzte Ausweg war der Titel – und fuhr zum Happy Egg am Braddock Highway. Der Fernseher hinter der Theke lief, und ich sah einen Bericht über Kennedys bevorstehende Ankunft in San Antonio, wo Lyndon und Lady Bird Johnson ihn begrüßen würden. Ebenfalls im Empfangskomitee: Gouverneur John Connally und seine Frau Nellie.

Zu Filmaufnahmen von der Andrews Air Force Base in Washington, die Kennedy und seine Frau auf dem Weg zur blau-weißen Präsidentenmaschine auf dem Vorfeld zeigten, sprach eine Korrespondentin in einem Ton, als würde sie sich gleich in die Hose machen, über Jackies neue »sanfte« Frisur, die eine »kesse, schwarze Baskenmütze« unterstrich, und die schlichte Eleganz ihres »zweiteiligen Hemdkleids mit Gürtel von Oleg Cassini, ihrem offiziellen Modeschöpfer«. Das mochte Cassini sein, aber ich wusste, dass Mrs. Kennedy auch ein von Coco Chanel entworfenes Kostüm im Gepäck hatte. Zu dem rosa Wollkostüm mit schwarzem Kragen gehörte als i-Tüpfelchen natürlich ein rosa Pillbox-Hütchen. Das Kostüm würde gut zu den Rosen passen, die sie bald auf dem Flughafen Love Field überreicht bekam; nicht so gut zu dem Blut, das auf ihren Rock und ihre Strümpfe und Schuhe spritzen würde.

20

Ich fuhr in die Mercedes Street zurück und las meine Taschenbücher. Ich wartete darauf, dass die unerbittliche Vergangenheit mich wie eine lästige Fliege erschlagen würde – indem das Dach einstürzte oder ein sich plötzlich öffnender Krater die Nummer 2703 verschlang. Ich reinigte meinen .38er, lud ihn, entlud ihn dann wieder und reinigte ihn erneut. Ich hoffte fast auf einen meiner jähen Schlafanfälle – der hätte die Zeit rascher vergehen lassen –, aber ich hatte keinen. Die Minuten schleppten sich dahin und wurden zögernd zu einem Stapel Stunden, von denen jede Kennedy näher an die Kreuzung von Houston und Elm Street heranführte.

Heute gibt’s keine Schlafanfälle, dachte ich. Die kommen morgen. Wenn der entscheidende Augenblick naht, werde ich einfach bewusstlos. Wenn ich dann wieder die Augen öffne, hat die Vergangenheit sich geschützt, und das Attentat ist verübt worden.

Das könnte passieren. Dessen war ich mir bewusst. Sollte es dazu kommen, musste ich mich entscheiden: Sadie finden und sie heiraten … oder zurückgehen und alles noch einmal von vorn beginnen. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass es eigentlich keine Entscheidung zu treffen gab. Mir fehlte die Kraft, zurückzugehen und von vorn anzufangen. So oder so war dies mein letztes Aufbäumen.

An diesem Abend speisten die Kennedys, Johnsons und Connallys in Houston bei einer Veranstaltung der Liga Lateinamerikanischer Bürger. Es gab argentinischen ensalada rusa und das als guiso bekannte Schmorgericht. Jackie hielt die Rede nach dem Dinner – auf spanisch. Ich aß Hamburger und Fritten aus einem Schnellrestaurant … oder versuchte es zumindest. Nach ein paar Bissen wanderte auch diese Mahlzeit in die Mülltonne hinter dem Haus.

Ich hatte die beiden Romane von MacDonald ausgelesen. Ich überlegte, ob ich mein eigenes, unvollendetes Buch aus dem Kofferraum meines Wagens holen sollte, aber die Vorstellung, es zu lesen, war deprimierend. Stattdessen blieb ich einfach in dem halb demolierten Sessel sitzen, bis es draußen dunkel war. Dann ging ich in das kleine Schlafzimmer, in dem Rosette Templeton und June Oswald geschlafen hatten. Ich streckte mich ohne Schuhe, aber sonst vollständig bekleidet auf dem Bett aus und benutzte das lose Sitzpolster des Wohnzimmersessels als Kopfkissen. Ich hatte die Tür nicht zugemacht und die Lampe im Wohnzimmer brennen lassen. In ihrem Widerschein konnte ich die Kreidemädchen in ihren grünen Trägerkleidern sehen. Ich wusste, dass mir die Art Nacht bevorstand, die den langen Tag, der hinter mir lag, kurz erscheinen lassen würde; während meine Beine über das untere Bettende bis fast zum Fußboden hinunterhingen, würde ich hellwach daliegen, bis endlich das erste Tageslicht des 22. November durchs Fenster hereinsickerte.

Sie war lang. Ich wurde von Was-wäre-wenn-, Du-hättest-sollen- und Gedanken an Sadie gequält. Letztere waren am schlimmsten. Sie fehlte mir sehr, und die Sehnsucht nach ihr reichte so tief, dass sie sich wie eine körperliche Krankheit anfühlte. Irgendwann, wahrscheinlich weit nach Mitternacht (ich hatte es aufgegeben, auf die Uhr zu sehen; das langsame Vorrücken der Zeiger war zu deprimierend), versank ich in einen Schlaf ohne Träume. Der Himmel mochte wissen, wie lange ich am Morgen geschlafen hätte, wenn ich nicht geweckt worden wäre. Jemand rüttelte mich sanft an der Schulter.

»Komm schon, Jake. Mach die Augen auf.«

Ich tat wie geheißen, aber als ich sah, wer da auf der Bettkante saß, war ich zunächst der festen Überzeugung, noch zu träumen. Ich streckte jedoch eine Hand aus, berührte ein Bein ihrer verblichenen Jeans und spürte das Gewebe unter meiner Handfläche. Ihre Haare waren zu einem Nackenknoten zusammengefasst, sie trug fast kein Make-up, und die entstellende Narbe auf der linken Wange trat klar und deutlich hervor. Dort saß Sadie. Sie hatte mich gefunden.

Kapitel 28

1

22. 11. 63 (Freitag)

Ich setzte mich auf und umarmte sie, ohne auch nur darüber nachzudenken. Sie drückte mich ihrerseits an sich, so fest sie nur konnte. Dann küsste ich sie, schmeckte ihre Realität: eine Mischung aus Tabak und Avon. Der Geschmack des Lippenstifts war schwächer; in ihrer Nervosität hatte sie ihn größtenteils abgeknabbert. Ich roch ihr Shampoo, ihr Deodorant, darunter den öligen Dunst von Nervositätsschweiß. Vor allem berührte ich sie: Hüfte und Brust und die Furche ihrer vernarbten Wange. Sie war wirklich da.

»Wie spät ist es?« Meine treue Timex war stehen geblieben.

»Viertel nach acht.«

»Soll das ein Witz sein? Unmöglich!«

»Doch, es ist aber so. Und im Gegensatz zu dir überrascht mich das nicht. Wie lange ist es her, dass du richtig geschlafen hast, statt nachts nur für ein paar Stunden das Bewusstsein zu verlieren?«

Ich konnte immer noch kaum begreifen, dass Sadie hier war – in dem Haus in Fort Worth, in dem Lee und Marina gewohnt hatten. Wie war das möglich? Um Himmels willen, wie? Und das war nicht das einzige Erstaunliche. Auch Kennedy war in Fort Worth: Er sprach in diesem Augenblick bei einem Frühstück der hiesigen Handelskammer im Hotel Texas.

»Mein Koffer liegt in meinem Auto«, sagte sie. »Fahren wir mit dem Käfer dorthin, wo immer du hinmusst, oder nehmen wir den Chevy? Vielleicht lieber den Käfer. Er ist leichter zu parken. Trotzdem, die Parkplätze werden immer teurer, wenn wir nicht gleich fahren. Es sind schon überall Parkwächter auf der Straße und schwenken ihre Fähnchen. Ich hab sie gesehen.«

»Sadie …« Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und schnappte mir meine Schuhe. Mein Kopf war voller Gedanken, übervoll, aber sie drehten sich wie Papierfetzen in einem Wirbelwind, und ich bekam keinen einzigen zu fassen.

»Ich bin hier«, sagte sie.

Ja. Das war das Problem. »Du kannst nicht mitkommen. Das wäre zu gefährlich. Ich dachte, ich hätte es dir erklärt, aber anscheinend habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Wenn man die Vergangenheit ändern will, beißt sie zu. Sie reißt einem die Kehle auf, wenn man ihr die Gelegenheit dazu gibt.«

»Du hast dich klar ausgedrückt. Aber du kommst nicht allein zurecht. Sieh der Wahrheit ins Auge, Jake. Du hast zwar etwas zugenommen, aber du bist immer noch eine Vogelscheuche. Beim Gehen hinkst du – sogar sehr stark. Du musst alle zwei- bis dreihundert Schritte haltmachen, um dein Knie auszuruhen. Was tätest du, wenn du rennen müsstest?«

Ich schwieg. Aber ich hörte zu. Während ich das tat, zog ich meine Armbanduhr auf und stellte sie.

»Und das ist noch nicht das Schlimmste. Du bist … Huch! Was tust du da?« Meine Hand lag auf ihrem Oberschenkel.

»Ich überzeuge mich davon, dass du real bist. Ich kann’s immer noch kaum glauben.« Die Air Force One würde in etwas über drei Stunden auf dem Love Field Airport landen. Und irgendjemand würde Jackie Rosen überreichen. In den anderen texanischen Städten hatte sie gelbe bekommen, aber in Dallas würde der Strauß rot sein.

»Ich bin real, und ich bin hier. Hör mir jetzt zu, Jake. Das Schlimmste ist nicht deine nach wie vor schlechte Verfassung. Das Schlimmste ist, dass du manchmal urplötzlich einschläfst. Hast du das nicht bedacht?«

Darüber hatte ich schon oft nachgedacht.

»Wenn die Vergangenheit so bösartig ist, wie du behauptest, und wenn es dir gelingt, an den Mann heranzukommen, den du verfolgst, was, glaubst du, wird passieren, bevor er abdrücken kann?«

Die Vergangenheit war nicht eigentlich bösartig, das war der falsche Ausdruck, aber ich verstand, was sie meinte, und wusste nichts dagegen einzuwenden.

»Du weißt wirklich nicht, worauf du dich einlässt.«

»Doch, das weiß ich durchaus. Und du vergisst etwas sehr Wichtiges.« Sie ergriff meine Hände und sah mir in die Augen. »Ich bin nicht nur deine Liebste, Jake … wenn ich das immer noch für dich bin …«

»Genau deshalb ist es ja so gottverdammt beängstigend, dich plötzlich hier zu haben!«

»Du sagst, dass jemand den Präsidenten erschießen wird, und ich habe gute Gründe, dir zu glauben, weil so viele von dir vorausgesagte Dinge eingetroffen sind. Sogar Deke ist halb überzeugt. ›Er hat gewusst, dass Kennedy kommen würde, noch bevor Kennedy sich darüber im Klaren war‹, hat er gesagt. ›Auf Tag und Stunde genau. Und er hat gewusst, dass seine Frau mit von der Partie sein würde.‹ Aber du redest, als wärst du der Einzige, dem das wichtig ist. Das stimmt nicht. Deke ist es wichtig. Er wäre jetzt hier, wenn er nicht immer noch hohes Fieber hätte. Und mir ist es wichtig. Ich habe ihn nicht gewählt, aber ich bin nun mal Amerikanerin, und somit ist er nicht nur der Präsident, sondern mein Präsident. Findest du, dass das abgedroschen klingt?«

»Nein.«

»Gut.« Ihre Augen blitzten. »Ich habe nicht die Absicht, irgendeinen Verrückten auf ihn schießen zu lassen, und ich habe nicht die Absicht einzuschlafen.«

»Sadie …«

»Lass mich ausreden. Die Zeit drängt, also musst du die Ohren spitzen. Sind sie gespitzt?«

»Ja, Ma’am.«

»Also gut. Mich wirst du nicht los. Ich wiederhole: nicht. Ich komme mit. Wenn du mich nicht in deinem Chevy mitfahren lässt, folge ich dir mit dem Käfer.«

»Herr im Himmel!«, sagte ich, ohne zu wissen, ob ich fluchte oder betete.

»Sollten wir jemals heiraten, tue ich, was du willst, solange du gut zu mir bist. Ich habe gelernt, dass das die Bestimmung der Frau ist. (O du Kind der Sechziger, dachte ich.) Ich bin bereit, alles hinter mir zu lassen und dir in die Zukunft zu folgen. Weil ich dich liebe, weil ich glaube, dass es die Zukunft, von der du sprichst, wirklich gibt. Ich werde dir vermutlich nie mehr ein Ultimatum stellen, aber das hier ist eines: Du machst diese Sache zusammen mit mir oder überhaupt nicht.«

Ich dachte sorgfältig über alles nach. Ich fragte mich, ob das wirklich ihr Ernst war. Die Antwort war so deutlich wie die Narbe auf ihrer Wange.

Sadie betrachtete inzwischen die Kreidemädchen. »Wer mag die gezeichnet haben? Sie sind wirklich ziemlich gut.«

»Das war Rosette«, sagte ich. »Rosette Templeton. Nachdem ihr Daddy einen Unfall hatte, ist sie mit ihrer Mama nach Mozelle zurückgegangen.«

»Und dann bist du eingezogen?«

»Nein, ins Haus gegenüber. Hier ist eine kleine Familie namens Oswald eingezogen.«

»Ist das sein Name, Jake? Oswald?«

»Ja. Lee Oswald.«

»Nimmst du mich mit?«

»Bleibt mir eine andere Wahl?«

Sie lächelte und legte eine Hand auf meine Wange. Erst als ich dieses erleichterte Lächeln sah, wurde mir bewusst, wie ängstlich sie gewesen sein musste, als sie mich wach rüttelte. »Nein, Schatz«, sagte sie. »Ich kann keine erkennen. Daher nennt man es ja Ultimatum.«

2

Sie legte ihren Koffer in den Chevrolet. Falls es uns gelang, Oswald aufzuhalten (und nicht verhaftet zu werden), konnten wir ihren Käfer später holen, und sie konnte damit nach Jodie zurückfahren, wo er in ihrer Einfahrt einen normalen, zugehörigen Eindruck machen würde. Wenn etwas schiefging – indem wir entweder erfolglos blieben oder zwar Erfolg hatten, aber anschließend wegen Lees Ermordung gesucht wurden –, würden wir flüchten müssen. Mit einem Chevy mit V8-Motor konnten wir schneller, weiter und unauffälliger flüchten als mit einem VW Käfer.

Sie sah den Revolver, als ich ihn in die Innentasche meines Sportsakkos steckte, und sagte: »Nein. Außentasche.«

Ich zog die Augenbrauen hoch.

»Wo ich ihn erreichen kann, wenn du plötzlich müde wirst und beschließt, ein Nickerchen zu machen.«

Sadie nahm ihre Umhängetasche über die Schulter, und wir gingen auf dem Gehsteig nach vorn. Für heute war Regen vorhergesagt, aber mir kam es vor, als würden sich die Wetterfrösche damit eine Verwarnung verdienen. Es klarte allmählich auf.

Bevor Sadie rechts vorn einsteigen konnte, fragte jemand hinter mir: »Ist das Ihre Freundin, Mister?«

Ich drehte mich um und sah das Springseilmädchen mit der Akne. Nur hatte sie keine Akne, auch keine Röteln, und ich brauchte nicht zu fragen, warum sie nicht in der Schule war. Sie hatte Windpocken. »Ja, das ist sie.«

»Sie ist hübsch. Bis auf die …« Sie brachte ein Gicksen heraus, das auf groteske Weise reizend war. »… auf ihrem Gesicht.«

Sadie lächelte. Meine Bewunderung für ihren Mut stieg weiter … und nahm nie mehr ab. »Wie heißt du, Schätzchen?«

»Sadie«, sagte das Springseilmädchen. »Sadie Van Owen. Und Sie?«

»Nun, du wirst es nicht glauben, aber ich heiße auch Sadie.«

Die Kleine betrachtete sie mit dem misstrauischen Hohn eines Riot Grrrls aus der Mercedes Street. »Nein, das tun Sie nicht!«

»Doch, doch … Sadie Dunhill.« Sie wandte sich an mich. »Ein toller Zufall, findest du nicht auch, George?«

Das fand ich nicht, aber ich hatte keine Zeit, darüber zu diskutieren. »Ich muss dich was fragen, Miss Sadie Van Owen. Du weißt doch, wo die Busse an der Winscott Road halten, oder?«

»Klar.« Sie verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich? »He, habt ihr zwei schon die Windpocken gehabt?«

Sadie nickte.

»Ich auch, also kann uns da nichts passieren«, sagte ich. »Weißt du, welcher Bus in die Innenstadt fährt?«

»Die Nummer drei.«

»Und wie oft fährt der Dreier?«

»Alle halbe Stunde oder so, aber vielleicht sogar alle Viertelstunde. Was wollen Sie mit dem Bus, wenn Sie ein Auto haben? Wenn Sie zwei Autos haben?«

Big Sadies Gesichtsausdruck zeigte mir, dass sie sich das ebenfalls schon gefragt hatte. »Ich habe meine Gründe dafür. Und übrigens: ›My old man drives a submarine.‹«

Sadie Van Owen grinste breit. »Den kennen Sie?«

»Seit Jahren«, sagte ich. »Steig ein, Sadie. Wir müssen los.«

Ich sah auf meine neue Uhr. Es war zwanzig vor neun.

3

»Erzähl mir, wieso du dich eigentlich für den Bus interessierst«, sagte Sadie.

»Erzähl mir erst, wie du mich gefunden hast.«

»Als ich dich im Eden Fallows nicht mehr angetroffen habe, habe ich deine Mitteilung verbrannt, wie du es verlangt hattest, und bin dann zu dem Alten nebenan gegangen.«

»Mr. Kenopensky.«

»Genau. Aber der wusste auch nichts. Inzwischen hat die Krankengymnastin vor deiner Tür gesessen. Sie war ziemlich sauer, weil du fort warst. Sie hat gesagt, sie hätte extra mit Doreen getauscht, damit Doreen heute Kennedy sehen kann.«

Vor uns lag die Bushaltestelle Winscott Road. Ich fuhr langsamer, um zu sehen, ob es in dem Wartehäuschen einen Aushangfahrplan gab, aber es gab keinen. Fünfzig Meter nach der Haltestelle fand ich einen Parkplatz.

»Was machst du?«

»Ich gehe auf Nummer sicher. Wenn bis neun Uhr kein Bus kommt, fahren wir weiter. Erzähl deine Geschichte zu Ende.«

»Ich habe angefangen, Innenstadthotels anzurufen, aber niemand wollte auch nur mit mir reden. Sie sind alle so ausgelastet. Also habe ich Deke angerufen, und der wiederum hat die Polizei angerufen. Hat gesagt, dass er aus zuverlässiger Quelle wüsste, dass jemand auf den Präsidenten schießen wird.«

Ich hatte bisher im Rückspiegel nach einem Bus Ausschau gehalten, aber jetzt starrte ich Sadie entsetzt an. Trotzdem empfand ich widerstrebend Bewunderung für Deke. Ich hatte keine Ahnung, wie viel er von dem, was Sadie ihm erzählt hatte, tatsächlich glaubte, aber er hatte sich trotzdem mutig aus dem Fenster gehängt. »Was ist passiert? Musste er seinen Namen angeben?«

»Dazu ist es nie gekommen. Sie haben einfach aufgelegt. Ich glaube, dass Deke in diesem Augenblick angefangen hat, dir zu glauben, dass die Vergangenheit sich schützt. Du siehst das alles wie ein lebendig gewordenes Geschichtsbuch, oder?«

»Längst nicht mehr.«

Ein grün-gelber Bus rollte schwerfällig heran. In der Fahrzielanzeige stand: 3 MAIN STREET DALLAS 3. Er hielt, und die vordere und die hintere Tür öffneten sich zischend. Nur wenige Leute stiegen zu, aber sie würden ganz sicher keinen Sitzplatz ergattern; als der Bus dann langsam an uns vorbeirollte, stellte ich fest, dass tatsächlich alle besetzt waren. Ich sah eine Frau, die an ihrer Mütze eine ganze Reihe Kennedy-Anstecker trug. Sie winkte mir fröhlich zu, und obwohl unsere Blicke sich nur eine Sekunde lang begegneten, konnte ich ihre Aufregung, Begeisterung und Vorfreude spüren.

Ich ließ den Motor an und folgte dem Bus. Auf seinem Heck verkündete ein häufig von braunem Auspuffqualm verdecktes Clairol-Mädchen mit strahlendem Lächeln, wenn sie nur ein einziges Leben hätte, würde sie es als Blondine leben wollen. Sadie machte eine theatralische Abwehrbewegung. »Puh! Mehr Abstand! Er stinkt!«

»Für eine Ein-Päckchen-am-Tag-Mieze ist das eine ziemlich kritische Bemerkung«, sagte ich, aber sie hatte recht: Der Dieselgestank war lästig. Ich ließ mich zurückfallen. Seit ich jetzt wusste, dass Sadie Springseil mir die richtige Nummer genannt hatte, brauchte ich nicht mehr am Heck des Busses zu kleben. Vermutlich hatte sie auch recht, was die Abfahrtszeiten betraf. An gewöhnlichen Tagen verkehrten die Busse wahrscheinlich alle halbe Stunde, aber heute war eben kein gewöhnlicher Tag.

»Ich habe ziemlich viel geweint, weil ich dachte, du wärst für immer fort. Ich hatte Angst um dich, aber ich habe dich auch gehasst.«

Das konnte ich verstehen, trotzdem war ich weiter davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, deshalb hielt ich lieber den Mund.

»Dann habe ich noch mal Deke angerufen. Er hat gefragt, ob du jemals von einem weiteren Schlupfwinkel erzählt hast – vielleicht in Dallas, aber eher in Fort Worth. Ich habe ihm erklärt, dass ich nichts Bestimmtes von dir gehört hatte. Worauf er nachhakte, das könnte am ehesten im Krankenhaus gewesen sein, wo du noch ganz durcheinander warst. Ich sollte angestrengt nachdenken. Als ob ich das nicht schon getan hätte! Ich bin noch mal zu Mr. Kenopensky gegangen, um herauszubekommen, ob er zufällig irgendwas weiß. Inzwischen war es fast Abendessenszeit und schon ziemlich dunkel. Er hat nein gesagt, aber in dieser Minute ist sein Sohn mit einem Schmorbraten gekommen und hat mich eingeladen, mit ihnen zu essen. Mr. K. hat angefangen zu erzählen – er weiß alle möglichen Geschichten aus der guten alten Zeit …«

»Ja, ich weiß.« Vor uns bog der Bus nach Osten auf den Vickery Boulevard ab. Ich setzte den Blinker und folgte ihm mit so großem Abstand, dass wir keinen Dieselqualm einatmen mussten. »Ich habe mindestens drei Dutzend gehört. Blut-am-Sattel-Zeug.«

»Ich hätte gar nichts Besseres tun können, als ihm zuzuhören, denn so habe ich mir nicht weiter den Kopf zerbrochen, und wenn man das tut, gelangen oft Dinge, die sonst verschüttet bleiben würden, an die Oberfläche. Auf dem Rückweg zu deinem Häuschen ist mir plötzlich eingefallen, dass du einmal gesagt hast, du hättest eine Zeit lang in der Cadillac Street gelebt. Aber du hast selbst gewusst, dass das nicht ganz richtig war.«

»Du lieber Himmel! Das hatte ich ganz vergessen.«

»Das war mein letzter Versuch. Ich hab noch mal Deke angerufen. Er hatte keine detaillierten Stadtpläne, aber ich wusste, dass es in der Schulbücherei welche gibt. Er ist gleich hingefahren – bestimmt schrecklich hustend, weil er noch ziemlich krank ist –, hat sie durchgesehen und mich aus dem Sekretariat angerufen. Er hat in Dallas eine Ford Avenue, einen Chrysler Park und mehrere Dodge Streets gefunden. Aber die haben alle nicht nach einem Cadillac geklungen, wenn du weißt, was ich meine. Dann hat er in Fort Worth eine Mercedes Street gefunden. Ich wäre am liebsten sofort hingefahren, aber Deke hat mich überzeugt, dass die Chance, deinen Wagen zu entdecken, bei Tageslicht viel höher sein würde.«

Sie umklammerte meinen Arm. Ihre Hand war kalt.

»Die längste Nacht meines Lebens, du Quälgeist. Ich habe kaum ein Auge zugetan.«

»Ich habe für dich mitgeschlafen, obwohl ich erst nach Mitternacht weg war. Wärst du nicht gekommen, hätte ich das verdammte Attentat leicht verschlafen können.«

Was für ein trostloses Ende wäre das gewesen?

»Die Mercedes Street ist endlos lang. Ich bin gefahren und gefahren. Dann konnte ich ihr Ende sehen, neben dem Parkplatz eines großen Gebäudes, das die Rückseite eines Kaufhauses sein konnte.«

»Beinahe. Es ist ein Lagerhaus von Montgomery Ward.«

»Und immer noch keine Spur von dir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie niedergeschlagen ich war. Aber dann …« Ihr Lächeln war trotz der Narbe strahlend. Vielleicht auch wegen ihr. »Dann habe ich deinen roten Chevy mit den lächerlichen Heckflossen entdeckt, die wie die Augenbrauen einer Frau aussehen. Auffällig wie eine Neonreklame. Ich habe geschrien und gelacht und mit der Hand aufs Armaturenbrett meines Käfers geschlagen, bis sie wehgetan hat. Und jetzt bin ich hier und …«

Vorn rechts unter dem Chevy war ein dumpfer Knall zu hören, und wir steuerten plötzlich auf einen Laternenmast zu. Unter dem Wagen polterte etwas dumpf. Ich kurbelte wie verrückt am Lenkrad. Der Lenker fühlte sich in meinen Händen abscheulich lose an, aber ich schaffte es gerade noch, den Mast nicht frontal zu treffen. Stattdessen streifte ihn die Beifahrerseite mit einem schaurigen, metallischen Kreischen. Die Tür wurde eingedellt, und ich riss Sadie auf der Sitzbank zu mir herüber. Wir kamen mit der Motorhaube über dem Gehsteig und nach rechts hängendem Vorderteil zum Stehen. Das war nicht nur ein geplatzter Reifen, dachte ich. Damit ist die Scheißkiste erledigt.

Sadie starrte mich benommen an. Ich lachte. Wie ich bereits erwähnte, konnte man manchmal einfach nicht anders.

»Willkommen in der Vergangenheit, Sadie«, sagte ich. »So leben wir hier.«

4

Sie konnte auf ihrer Seite nicht aussteigen; um die Beifahrertür aufzustemmen, hätte man ein Brecheisen gebraucht. Sie rutschte auf der Sitzbank ganz nach links und stieg auf meiner Seite aus. Es gab ein paar Gaffer, aber nicht viele.

»Meine Güte, was ist passiert?«, fragte eine junge Frau, die einen Kinderwagen schob.

Das war offensichtlich, nachdem ich vorn um den Chevy herumgegangen war. Das rechte Vorderrad war abgefallen. Es lag sechs oder sieben Meter hinter uns am Anfang einer bogenförmigen Furche im Asphalt. Der gerillte Stumpf der Steckachse glänzte in der Sonne.

»Kaputtes Rad«, erklärte ich der Frau mit dem Kinderwagen.

»Du lieber Himmel«, sagte sie.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Sadie halblaut.

»Wir haben eine Versicherung abgeschlossen, jetzt nehmen wir sie in Anspruch. Nächste Bushaltestelle.«

»Mein Koffer …«

Ja, dachte ich, und Als Notizbuch. Meine Manuskripte – der beschissene Roman, der unwichtig ist, und meine Aufzeichnungen, die wichtig sind. Dazu der größte Teil meines Bargelds. Ich sah auf meine Uhr. Viertel nach neun. Im Hotel Texas würde Jackie jetzt ihr rosa Kostüm anziehen. Nach ungefähr einer weiteren Stunde Politik würde die Autokolonne zur Carswell Air Force Base hinausfahren, wo das große Flugzeug bereitstand. Auf der kurzen Strecke von Fort Worth nach Dallas würden die Piloten kaum Zeit haben, das Fahrwerk einzufahren.

Ich dachte angestrengt nach.

»Möchten Sie mein Telefon benutzen, um jemand anzurufen?«, fragte die Frau mit dem Kinderwagen. »Ich wohne ganz in der Nähe.« Sie musterte uns und registrierte mein Hinken und Sadies vernarbte Wange. »Sind Sie verletzt?«

»Nein, nein«, sagte ich und nahm Sadies Arm. »Würden Sie bei der nächsten Tankstelle anrufen und dort jemand bitten, den Wagen abzuschleppen? Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber wir haben es ziemlich eilig.«

»Ich hab ihm gesagt, dass der Wagen vorn unruhig ist«, sagte Sadie. Sie kehrte ihren Georgia-Akzent hervor. »Ein Glück, dass wir nicht auf dem Highway waren.« Ha-way.

»Ungefähr zwei Straßen von hier gibt’s eine Esso-Tankstelle.« Sie zeigte nach Norden. »Ich könnte mit dem Baby einen Spaziergang dorthin machen …«

»Oh, damit würden Sie uns das Leben retten, Ma’am«, sagte Sadie. Sie zog ihre Geldbörse aus der Umhängetasche und nahm einen Zwanziger heraus. »Geben Sie ihnen das bitte als Anzahlung. Tut mir leid, Sie damit zu belästigen, aber wenn ich Kennedy nicht sehe, ist das mein Toood.« Darüber musste die junge Mutter lächeln.

»Du meine Güte, das reicht für zweimal Abschleppen. Wenn Sie ein Stück Papier dabeihaben, könnte ich Ihnen eine Quittung schreiben …«

»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Wir vertrauen Ihnen. Aber ich klemme vielleicht lieber einen Zettel unter den Scheibenwischer.«

Sadie sah mich fragend an … aber sie hielt mir auch einen Notizblock mit einer Cartoonfigur – einem Jungen mit Silberblick – und einen Kugelschreiber hin. SKOOL DAZE (und nicht etwa SCHOOL DAYS) stand unter seinem schiefen Grinsen. DEAR OLE GOLDEN SNOOZE DAZE.

Von dieser kurzen Mitteilung hing sehr viel ab, aber ich hatte keine Zeit, über Formulierungen nachzudenken. Ich schrieb in fliegender Eile und schob den zusammengefalteten Zettel dann unters Wischerblatt. Im nächsten Augenblick waren wir um die Ecke verschwunden.

5

»Jake? Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht’s gut. Und dir?«

»Ich hab mir die Schulter an der Tür angeschlagen und bekomme vermutlich einen blauen Fleck, aber sonst … ja. Hätten wir den Mast getroffen, säh’s schlimmer aus. Bei dir auch. Für wen war der Zettel?«

»Für irgendwen, der den Chevy abschleppt.« Und ich konnte nur hoffen, dass Mr. Irgendwer tun würde, worum ihn die Mitteilung bat. »Darüber machen wir uns Sorgen, wenn wir zurückkommen.«

Falls wir zurückkamen.

Der nächste Telefonmast mit Haltestelle war einen halben Block weit entfernt. Dort standen zwei schwarze Frauen, zwei weiße Frauen und ein Hispano: eine so ausgewogene Rassenmischung, dass sie wie eine Besetzungsprobe für Law and Order SVU aussah. Wir gesellten uns zu ihnen. Ich setzte mich auf die Bank unter dem Wetterschutz zu der sechsten Frau, einer Afroamerikanerin, deren heroische Körperproportionen in eine weiße Viskoseuniform verpackt waren, die praktisch »Haushälterin bei reichen Weißen« schrie. An ihrem üppigen Busen trug sie einen Anstecker, auf dem ALL THE WAY WITH JFK IN ’64 stand.

»Schlimmes Bein, Sir?«, fragte sie mich.

»Ja.« In einer Tasche meines Sportsakkos hatte ich vier kleine Tüten Kopfschmerzpulver. Ich tastete an dem Revolver vorbei, holte zwei heraus, riss oben einen Streifen ab und kippte mir das Pulver in den Mund.

»Das Zeug so zu nehmen setzt Ihren Nieren echt zu«, sagte meine Nachbarin.

»Ja, ich weiß. Aber das Bein hier muss so lange durchhalten, dass ich den Präsidenten sehen kann.«

Sie lächelte strahlend. »Das hört man gern!«

Sadie stand am Bordstein, sah besorgt die Straße entlang und hielt Ausschau nach dem Dreier.

»Busse fahrn heut unregelmäßig, aber bald kommt einer«, sagte die Haushälterin. »Ich werd Kennedy auf kein Fall verpassn, ä-äh!«

Halb zehn kam und ging, ohne dass ein Bus aufkreuzte, aber der Schmerz in meinem Knie war zu einem dumpfen Pochen abgeflaut. Gott segne Goody’s Powder.

Sadie kam zu mir. »Jake, vielleicht sollten wir …«

»Da kommt ein Dreier«, sagte die Haushälterin und stand auf. Sie war eine eindrucksvolle Lady: schwarz wie Ebenholz, eine halbe Handbreit größer als Sadie, mit glänzend schwarzen, glatten Haaren. »Ju-huu, ich such mir ’nen Platz gleich auf der Dealey Plaza. Hab Samwichs dabei. Und wird er mich hörn, wenn ich schrei?«

»Ich wette, das tut er«, sagte ich.

Sie lachte. »Das will ich hoffn! Er und Jackie auch!«

Der Bus war voll, aber die mit uns Wartenden zwängten sich trotzdem hinein. Sadie und ich waren die Letzten, und der Fahrer, der so gestresst aussah wie ein Börsenmakler am Schwarzen Freitag, streckte uns abwehrend die Handfläche entgegen. »Niemand mehr! Ich bin voll! Mein Bus ist keine Sardinenbüchse! Warten Sie auf den nächsten!«

Sadie warf mir einen verzweifelten Blick zu, aber bevor ich etwas sagen konnte, mischte die große Schwarze sich zu unseren Gunsten ein. »Ä-äh, lassn Se die rein. Der Mann, der hat ein kaputtes Bein, und die Lady hat ihre eignen Probleme, wie Sie sehn. Außerdem is sie mager und er noch dünner. Lassn Sie die rein, sonst schmeiß ich Sie raus und fahr den Bus selbst. Das kann ich nämlich. Hab’s auf meim Daddy sein Bulldog gelernt.«

Der Busfahrer sah zu der über ihm aufragenden imposanten Gestalt auf, dann verdrehte er die Augen und winkte uns an Bord. Als ich Münzen für den Ticketautomaten suchte, bedeckte er ihn mit seiner Pranke. »Sparen Sie sich das verdammte Fahrgeld, stellen Sie sich einfach hinter die weiße Linie. Wenn Sie können.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sie heute keine zusätzlichen Busse einsetzen, weiß ich auch nicht.« Er riss an dem verchromten Griff. Die Türen vorn und hinten klappten zu. Die Druckluftbremse löste sich zischend, und wir rollten langsam, aber sicher dahin.

Meine Beschützerin war noch nicht fertig. Sie nahm sich zwei Arbeiter vor, einer schwarz, der andere weiß, die mit Lunchboxen auf dem Schoß hinter dem Fahrer saßen. »Los, steht auf, und lasst diese Lady und den Gentleman sitzn! Könnt ihr nich sehn, dass er ’n schlimmes Bein hat? Und trotzdem will er Kennedy sehn!«

»Bemühen Sie sich nicht, Ma’am«, sagte ich.

Sie achtete nicht auf mich. »Na los, steht auf, wo sind eure Maniern?«

Die beiden standen auf und drängten sich in den schon übervollen Mittelgang. Der schwarze Arbeiter warf der Haushälterin einen bösen Blick zu. »1963, und ich geb dem weißen Mann immer noch meinen Sitzplatz.«

»Ach, heul doch«, sagte sein weißer Freund.

Der Schwarze betrachtete stutzend mein Gesicht. Ich weiß nicht, was er dort sah, aber er deutete auf die jetzt freien Plätze. »Setzen Sie sich, bevor Sie zusammenklappen, Jackson.«

Ich setzte mich ans Fenster. Sadie murmelte ihren Dank und nahm neben mir Platz. Der Bus rumpelte dahin wie ein alter Elefant, der noch galoppieren konnte, wenn man ihm genug Zeit ließ. Die Haushälterin schwebte beschützend über uns, hielt sich an einem Haltegriff fest und wiegte in den Kurven die Hüften. Da gab es einiges zu wiegen. Ich sah wieder auf meine Armbanduhr. Die Zeiger schienen auf zehn Uhr zuzurasen; bald würden sie diese Marke überschreiten.

Sadie beugte sich so weit zu mir herüber, dass ihre Haare mich an Wange und Hals kitzelten. »Wohin wollen wir – und was tun wir, wenn wir dort hinkommen?«

Ich wollte mich ihr zuwenden, sah aber stattdessen weiter nach vorn, um Ausschau nach Gefahr zu halten. Wartete auf den nächsten Tiefschlag. Wir waren jetzt auf der West Division Street, die zugleich der Highway 180 war. Bald würden wir in Arlington sein, dem späteren Zuhause von George W. Bushs Texas Rangers. Wenn alles gut ging, würden wir die Stadtgrenze von Dallas um 10.30 Uhr erreichen – zwei Stunden bevor Oswald sein verdammtes italienisches Gewehr durchlud. Versuchte man jedoch, die Vergangenheit zu ändern, ging selten alles gut.

»Tu einfach, was ich mache«, sagte ich. »Und bleib hellwach.«

6

Wir fuhren südlich an Irving vorbei, wo Lees Frau sich gegenwärtig von der erst einen Monat zurückliegenden Geburt ihrer zweiten Tochter erholte. Die Fahrt war heiß und stickig. Die Hälfte der Fahrgäste unseres überfüllten Busses rauchte. Draußen (wo die Luft vermutlich etwas reiner war) waren die Straßen stadteinwärts verstopft. Wir sahen ein Auto, auf dessen Heckscheibe jemand mit Seife WIR LIEBEN DICH JACKIE geschrieben hatte, und ein anderes, auf dem an gleicher Stelle VERSCHWINDE AUS TEXAS DU LINKE RATTE stand. Der Bus ruckelte und schwankte. An den Haltestellen standen immer größere Gruppen von Leuten; sie reckten die Fäuste, wenn unser überfüllter Bus vorbeifuhr, ohne langsamer zu werden.

Um Viertel nach zehn erreichten wir den Harry Hines Boulevard und fuhren an einem Wegweiser zum Love Field Airport vorbei. Der Unfall ereignete sich drei Minuten später. Obwohl ich gehofft hatte, dass er ausbleiben würde, hatte ich ihn andererseits auch erwartet, und als der Muldenkipper die rote Ampel an der Kreuzung von Harry Hines Boulevard und Inwood Avenue überfuhr, war ich zumindest halbwegs darauf gefasst. Ein ähnliches Fahrzeug hatte ich auf meiner Fahrt zum Longview-Friedhof in Derry gesehen.

Ich legte Sadie eine Hand in den Nacken und drückte ihren Kopf nach unten. »Runter!«

Im nächsten Augenblick knallten wir gegen die Trennwand zwischen Fahrersitz und Fahrgastbereich. Glas zersplitterte. Metall kreischte. Die Stehenden schossen in einem kreischenden Knäuel aus schlenkernden Gliedmaßen, Handtaschen und verlorenen Sonntagshüten nach vorn. Der weiße Arbeiter, der heul doch gesagt hatte, hing über dem Ticketautomaten im vorderen Teil des Mittelgangs. Die große Schwarze war einfach unter der Menschenlawine verschwunden.

Sadie blutete aus der Nase, und unter ihrem rechten Auge ging eine Beule auf wie Hefeteig. Der Fahrer war seitlich über dem Lenkrad zusammengesackt. Die breite Frontscheibe war zersplittert, und der Blick nach vorn wurde durch Stahl mit Rostflecken blockiert. Ich konnte IEFBAUAMT DALLA lesen. Der Gestank des heißen Asphalts, den der Kipper transportiert hatte, erfüllte die Luft.

Ich drehte Sadie zu mir her. »Alles in Ordnung? Bist du klar im Kopf?«

»Mir fehlt nichts, bin nur durchgeschüttelt. Ohne deine Warnung wär’s mir schlecht ergangen.«

Aus dem Menschenknäuel im vorderen Teil des Busses kamen Stöhnlaute und Schreie. Ein Mann, der anscheinend einen gebrochenen Arm hatte, befreite sich aus dem Gewirr und rüttelte an der Schulter des Fahrers, der daraufhin von seinem Sitz kippte. Mitten in seiner Stirn steckte ein dolchartiger Glassplitter.

»Gottverdammt!«, sagte der Mann mit dem gebrochenen Arm. »Ich glaub, der Mann ist echt tot.«

Sadie erreichte den Kerl, der über dem Ticketautomaten hing, und half ihm auf den Sitz, den er uns abgetreten hatte. Er war kreidebleich und stöhnte laut. Ich vermutete, dass er mit den Kronjuwelen voraus an den Apparat geknallt war; er hatte genau die richtige Höhe. Sein schwarzer Freund half mir, die Haushälterin auf die Beine zu stellen, aber wenn sie nicht bei vollem Bewusstsein und handlungsfähig gewesen wäre, hätten wir vermutlich nicht viel ausrichten können. Ich taxierte ihr Lebendgewicht auf drei Zentner. Sie hatte eine stark blutende Platzwunde an der Schläfe, und ich nahm an, dass sie diese weiße Uniform das letzte Mal anhatte. Ich fragte sie, ob sonst alles in Ordnung mit ihr sei.

»Ich denk schon, aber ich hab ’nen kräftigen Schlag über den Schädel abgekriegt. Himmel!«

Hinter uns befand sich der Bus in hellem Aufruhr. Bald würde daraus eine Massenpanik werden. Ich stellte mich vor Sadie und ließ sie ihre Arme um meine Taille legen. Mit meinem lädierten Knie hätte eher ich mich an sie klammern sollen, aber Instinkt war Instinkt.

»Wir müssen die Leute aus dem Bus lassen«, sagte ich zu dem schwarzen Arbeiter. »Ziehen Sie den Hebel.«

Er versuchte es, aber der Hebel ließ sich nicht bewegen. »Verklemmt!«

Das hielt ich für Unsinn; ich war überzeugt, dass die Vergangenheit die Türen zuhielt. Ich konnte ihm auch nicht helfen, daran zu reißen. Ich hatte nur einen gesunden Arm. Die Haushälterin, deren Kleid jetzt auf einer Seite mit Blut getränkt war, rempelte mich fast um, als sie sich an mir vorbeidrängte. Ich spürte, wie Sadies Griff sich lockerte, aber sie umklammerte mich sofort wieder. Der kleine Hut der Haushälterin saß schief, und die Gaze seines Schleiers war mit Bluttropfen benetzt. Die roten Tropfen waren grotesk dekorativ, wie winzige Stechpalmenbeeren. Die Dame rückte ihren Hut zurecht, dann griff auch sie nach dem verchromten Türhebel. »Ich zähl bis drei, dann ziehn wir an dem Scheißding«, erklärte sie dem schwarzen Arbeiter. »Kann’s losgehn?«

Er nickte.

»Eins … zwei … drei!«

Die beiden rissen daran … oder vielmehr riss sie daran – mit solcher Gewalt, dass ihr Kleid unter einem der Ärmel aufplatzte, aber die Türen klappten auf. Hinter uns erklang schwacher Jubel.

»Vielen Dank, dass …«, begann Sadie, aber ich war schon in Bewegung.

»Schnell. Bevor sie uns niedertrampeln. Lass mich nicht los.« Wir waren als Erste aus dem Bus. Ich drehte Sadie in Richtung Dallas. »Komm jetzt.«

»Jake, diese Leute brauchen Hilfe!«

»Und die ist sicher schon unterwegs. Dreh dich nicht um. Sieh nach vorn, denn von dort kommt der nächste Ärger.«

»Was für Ärger? Wie viel noch?«

»So viel, wie die Vergangenheit gegen uns aufbieten kann«, sagte ich.

7

Wir brauchten zwanzig Minuten, um von der Kreuzung aus, an der unser Bus Nummer drei verunglückt war, vier Straßen weit zu kommen. Ich konnte spüren, wie mein Knie anschwoll. Es pochte bei jedem Herzschlag. Schließlich kamen wir zu einer Bank, und Sadie forderte mich auf, mich zu setzen.

»Nein, wir müssen weiter.«

»Hinsetzen, Mister.« Sie schubste mich unerwartet, sodass ich auf die Bank plumpste. An ihrer Rückenlehne wurde ein hiesiges Beerdigungsinstitut beworben. Sadie nickte knapp wie eine Frau, die eine unangenehme Aufgabe erledigt hatte, dann trat sie auf den Harry Hines Boulevard hinaus, öffnete ihre Umhängetasche und wühlte darin herum. Das schmerzhafte Pochen in meinem Knie hörte vorübergehend auf, als das Herz mir bis zum Hals schlug und dann stehen zu bleiben schien.

Ein Wagen wich ihr hupend aus. Er verfehlte sie um weniger als Armeslänge Der Fahrer drohte ihr beim Weiterfahren mit der Faust und zeigte ihr anschließend den Stinkefinger. Als ich ihr nachrief, sie solle zurückkommen, sah sie nicht einmal zu mir herüber. Während Autos an ihr vorbeiflitzten, zog sie ihre Geldbörse heraus und blies sich die Haare aus dem vernarbten Gesicht. Sie wirkte so kühl wie ein Frühlingsmorgen. Als sie hatte, was sie wollte, ließ sie die Geldbörse in die Tasche zurückfallen und hielt einen Dollarschein hoch über ihren Kopf. So sah sie aus wie eine Cheerleaderin, die den Beifall für eine Highschool-Mannschaft dirigierte.

»Fünfzig Dollar!«, rief sie laut. »Fünfzig Dollar für eine Fahrt nach Dallas! Main Street! Main Street! Muss Kennedy sehen! Fünfzig Dollar!«

Das klappt nie, dachte ich. Damit erreicht sie nur, dass die unerbittliche Vergangenheit sie überfährt oder …

Ein verrosteter Studebaker hielt mit kreischenden Bremsen dicht vor ihr. Der Motor rüttelte und klopfte. Wo einer der Scheinwerfer hätte sitzen sollen, gähnte ein leeres Loch. Ein Mann in Trägerhemd und sackartiger Hose stieg aus. Auf dem Kopf (und bis zu den Ohren hinuntergezogen) hatte er einen grünen Cowboyhut mit einer Indianerfeder im Hutband. Er grinste breit. Das Grinsen ließ erkennen, dass ihm ein halbes Dutzend Zähne fehlten. Nach dem ersten Blick stand für mich fest: Hier ist Ärger im Anmarsch.

»Lady, Sie sind verrückt«, sagte der Studebaker-Cowboy.

»Wollen Sie fünfzig Dollar oder nicht? Nur dafür, dass Sie uns nach Dallas fahren.«

Der Mann betrachtete den Schein mit zusammengekniffenen Augen, ohne sich mehr als Sadie um die Autos zu kümmern, die hupend um sie herumfuhren. Er nahm seinen Hut ab, klatschte ihn gegen die Stoffhose, die an seinen dürren Hüften hing, setzte ihn wieder auf und zog ihn tief herunter, bis die Krempe auf seinen Segelohren aufsaß. »Lady, das sind keine fünfzig, das ist ’n Zehner.«

»Den Rest hab ich in meiner Geldbörse.«

»Warum nehm ich sie mir dann nicht einfach?« Er griff nach ihrer großen Tasche und bekam einen der Trageriemen zu fassen. Ich trat auf die Fahrbahn, aber ich fürchtete, dass er Sadie die Tasche entreißen würde, bevor ich sie erreichen konnte. Und wenn ich sie erreichte, würde er mich vermutlich niederschlagen. Obwohl er so dürr war, wog er mehr als ich. Und er hatte zwei gesunde Arme.

Sadie hielt eisern fest. In entgegengesetzte Richtungen gezerrt, klaffte die Tasche auf wie ein schmerzverzerrter Mund. Sadie griff mit der freien Hand hinein und zog ein Fleischermesser heraus, das mir bekannt vorkam. Sie stieß damit zu und schlitzte dem Kerl den Unterarm auf. Der Schnitt begann über dem Handgelenk und endete in der schmuddeligen Armbeuge. Er schrie vor Schmerz und Überraschung auf, ließ den Trageriemen los, wich einen Schritt zurück und starrte sie an. »Du verrückte Schlampe, du hast mich geschnitten!«

Er wollte mit einem Sprung zur offenen Tür seines Wagens, der immer noch dabei war, sich totzuschütteln. Sadie versperrte dem Mann den Weg und fuchtelte mit dem Messer vor seinem Gesicht herum. Die Haare hingen ihr in die Augen. Ihre Lippen waren zu einer grimmigen schmalen Linie zusammengepresst. Blut aus dem verletzten Arm des Studebaker-Cowboys tropfte auf den Asphalt. Autos flitzten weiter rechts und links an ihnen vorbei. Unglaublicherweise hörte ich jemand rufen: »Machen Sie ihn fertig, Lady!«

Der Studebaker-Cowboy zog sich in Richtung Gehsteig zurück, wobei er das Messer keine Sekunde aus den Augen ließ. Ohne mich anzusehen, sagte Sadie: »Übernimm du ihn, Jake.«

Ich wusste nicht gleich, was sie meinte, aber dann fiel mir meine Waffe ein. Ich zog den Revolver aus der Tasche und zielte damit auf ihn. »Sehen Sie den, Tex? Er ist geladen.«

»Sie sind genauso verrückt wie sie.« Er hielt den verletzten Arm jetzt an die Brust gedrückt, sodass sein Trägerhemd Blutflecken bekam. Sadie lief um den Studebaker herum und riss die Beifahrertür auf. Sie starrte mich übers Autodach hinweg an und machte mit einer Hand eine ungeduldige Bewegung, die mich zur Eile aufforderte. Ich hätte nicht geglaubt, sie jemals noch mehr lieben zu können als ohnehin schon, aber in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich mich getäuscht hatte.

»Sie hätten einfach das Geld nehmen oder weiterfahren sollen«, sagte ich. »Jetzt will ich sehen, wie Sie rennen können. Also los, sonst schieße ich Ihnen ins Bein, damit Sie gar nicht mehr laufen können.«

»Du bist ’n Scheißkerl«, sagte er.

»Ja, das bin ich. Und du bist ein dreckiger kleiner Dieb, der sich gleich ’ne Kugel einfängt.« Ich zog den Hammer zurück. Der Studebaker-Cowboy stellte mich nicht auf die Probe. Er machte kehrt und rannte den Harry Hines Boulevard entlang nach Westen davon: mit gesenktem Kopf, den verletzten Arm an die Brust gedrückt, schimpfend und eine Blutspur hinter sich herziehend.

»Weiter so, bis zum Love Field Airport!«, rief ich ihm nach. »Drei Meilen weit immer geradeaus! Und grüß mir schön den Präsidenten!«

»Steig ein, Jake. Wir müssen weg, bevor die Polizei kommt.«

Ich glitt hinters Lenkrad des Studebakers und verzog dabei das Gesicht, weil mein geschwollenes Knie protestierte. Die Karre hatte Handschaltung, was bedeutete, dass ich mit meinem verletzten Bein die Kupplung treten musste. Ich fuhr den Sitz möglichst weit zurück, wobei der Müll hinter mir knisterte und knackte, und fuhr los.

»Dieses Messer«, sagte ich. »Ist das …«

»Ja. Das Messer, mit dem Johnny mich verletzt hat. Sheriff Jones hat es mir nach der gerichtlichen Feststellung der Todesursache zurückgegeben. Er dachte, es gehört mir, und vermutlich liegt er damit richtig. Aber es stammt nicht aus meinem Haus in der Bee Tree Lane. Ich weiß ziemlich sicher, dass Johnny es aus unserem Haus in Savannah mitgebracht hat. Ich habe es seither in meiner Tasche, um mich verteidigen zu können. Nur für den Fall, dass …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Und dieser Fall ist jetzt eingetreten, oder? Aber ich bin froh, dass ich’s getan habe.«

»Steck’s wieder ein.« Ich trat die Kupplung, was schrecklich viel Kraft erforderte, und schaffte es, den zweiten Gang einzulegen. Das Wageninnere stank wie ein Hühnerstall, der seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr ausgemistet worden war.

»Aber dann ist alles voller Blut.«

»Steck’s trotzdem ein. Du kannst nicht mit einem Messer in der Hand durch die Gegend laufen – vor allem nicht, wenn der Präsident kommt. Schatz, du warst unglaublich tapfer.«

Sie steckte das Messer weg, dann wischte sie sich mit zu Fäusten geballten Händen die Tränen aus den Augen wie ein kleines Mädchen, das sich das Knie aufgeschürft hat. »Wie spät ist es?«

»Zehn vor elf. Kennedy landet in vierzig Minuten auf dem Love Field Airport.«

»Alles ist gegen uns«, sagte sie. »Hab ich recht?«

Ich sah zu ihr hinüber und sagte: »Jetzt hast du’s kapiert.«

8

Wir schafften es bis zur North Pearl Street, bevor der Motor des Studebakers platzte. Unter der Motorhaube quoll Dampf hervor. Irgendetwas Metallisches schepperte auf die Straße. Sadie schrie frustriert auf, hämmerte sich mit der Faust auf den Oberschenkel und gebrauchte mehrere Ausdrücke, die sie nicht auf dem Schoß ihrer Mutter gelernt hatte, aber ich war fast erleichtert. Wenigstens musste ich mich jetzt nicht mehr mit der Kupplung abplagen. Ich kuppelte aus und ließ den dampfenden Wagen an den Straßenrand rollen. Zum Stehen kam er genau vor einem Tor, vor dem EINFAHRT FREI HALTEN aufs Pflaster gemalt war, aber dieses spezielle Vergehen erschien mir geringfügig im Vergleich zu Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe und Autodiebstahl.

Ich stieg aus und hinkte zum Bordstein, wo Sadie bereits stand. »Wie spät ist es jetzt?«, fragte sie.

»Zwanzig nach elf.«

»Wohin müssen wir?«

»Zum Texas School Book Depository, einem Lagergebäude an der Ecke Houston und Elm Street. Drei Meilen. Vielleicht mehr.« Ich hatte kaum ausgesprochen, als über uns pfeifender Triebwerkslärm zu hören war. Wir hoben den Kopf und sahen die Air Force One im Landeanflug.

Sadie strich sich müde die Haare aus der Stirn. »Was machen wir jetzt?«

»Jetzt marschieren wir«, sagte ich.

»Leg deinen Arm um meine Schultern. Damit ich dich etwas entlasten kann.«

»Nicht nötig, Schatz.«

Aber eine Straße weiter tat ich es doch.

9

Der Kreuzung North Pearl Street und Ross Avenue näherten wir uns um 11.30 Uhr, genau zu dem Zeitpunkt, an dem Kennedys Boeing 707 vor dem Begrüßungskomitee – darunter natürlich die Frau mit dem Strauß roter Rosen – ausrollen würde. Die Straßenecke vor uns wurde von der Kathedrale Santuario de Guadalupe beherrscht. Auf den Stufen, unter einer Statue der Heiligen mit ausgestreckten Armen, saß ein Mann mit hölzernen Krücken links und einem emaillierten Kochtopf rechts neben sich. An dem Topf lehnte ein Pappschild, auf dem stand: BIN SCHLIMM VERKRÜPPEL! BITTE GIB WAS DU KANNST SEI EIN BARMHERZIGER SAMARIER GOTT LIEBT DICH.

»Wo sind deine Krücken, Jake?«

»Im Eden Fallows, im Kleiderschrank im Schlafzimmer.«

»Du hast deine Krücken vergessen?«

Frauen waren schon ziemlich gut darin, rhetorische Fragen zu stellen.

»Ich habe sie in letzter Zeit nicht mehr oft benutzt. Auf kurzen Strecken komme ich ganz gut ohne zurecht.« Das klang marginal besser, als wenn ich zugegeben hätte, dass ich vor allem darauf bedacht gewesen war, verdammt schnell aus der kleinen Rehasiedlung abzuhauen, bevor Sadie eintraf.

»Na, jetzt könntest du ein Paar brauchen.«

Sie rannte beneidenswert leichtfüßig voraus und sprach mit dem Bettler auf der Kirchentreppe. Als ich herangehinkt kam, feilschte sie bereits mit ihm. »Ein Paar Krücken dieser Art kostet neun Dollar, und Sie wollen fünfzig für eine?«

»Ich brauche mindestens eine, um heimzukommen«, führte er an. »Und Ihr Freund sieht so aus, als bräuchte er eine, um nach irgendwo zu kommen.«

»Was ist mit dem ganzen Gott-liebt-dich-sei-ein-barmherziger-Samariter-Zeug?«

»Tja«, sagte der Bettler und rieb sich nachdenklich das stoppelbärtige Kinn. »Gott liebt euch wirklich, aber ich bin bloß ein armer alter Krüppel. Wenn Ihnen mein Angebot nicht gefällt, machen Sie’s wie der Pharisäer und gehen auf der anderen Seite vorbei. Das täte ich.«

»Das kann ich mir vorstellen. Was wäre, wenn ich sie mir einfach schnappen würde, Sie geldgieriger Kerl?«

»Das könnten Sie, schätze ich, aber dann würde Gott Sie nicht mehr lieben«, sagte er und lachte dann schallend. Für einen Menschen, der schlimm verkrüppelt war, war das ein bemerkenswert fröhlicher Laut. In der Kategorie Zahnhygiene war es bei ihm etwas besser bestellt als beim Studebaker-Cowboy, aber nicht viel.

»Gib ihm das Geld«, sagte ich. »Ich brauche nur eine.«

»Klar, gebe ich ihm das Geld. Ich kann’s nur nicht leiden, aufs Kreuz gelegt zu werden.«

»Lady, für den männlichen Teil der Erdbevölkerung ist das ein Jammer, wenn ich das mal sagen darf.«

»Werden Sie nicht ordinär«, sagte ich. »Sie reden von meiner Verlobten.« Inzwischen war es 11.40 Uhr.

Der Bettler ignorierte mich. Er betrachtete Sadies Geldbörse. »Da ist Blut dran. Haben Sie sich beim Rasieren geschnitten?«

»Bewerben Sie sich lieber nicht gleich für die Sullivan-Show, Schätzchen, Alan King sind Sie nicht.« Sadie zog den Zehner heraus, den sie auf dem Harry Hines Boulevard hochgehalten hatte, und legte zwei Zwanziger darauf. »Da«, sagte sie, als er sie nahm. »Jetzt bin ich blank. Zufrieden?«

»Sie haben einem armen Krüppel geholfen«, sagte der Bettler. »Sie sollten zufrieden sein.«

»Nein, das bin ich nicht!«, schrie Sadie. »Und ich hoffe, dass Ihnen die verdammten alten Augen aus Ihrem hässlichen Kopf fallen!«

Der Bettler warf mir einen wissenden Blick unter Männern zu. »Bringen Sie sie lieber nach Hause, Sunny Jim, ich glaube, sie kriegt ihre Tage.«

Ich klemmte mir die Krücke unter den rechten Arm – Leute, die mit ihren Knochen bisher immer Glück gehabt haben, würden annehmen, dass man eine einzelne Krücke auf der verletzten Seite einsetzte, aber das war nicht der Fall – und umfasste mit der linken Hand Sadies Ellbogen. »Komm jetzt. Keine Zeit.«

Als wir weitergingen, klatschte Sadie sich auf ihren in Jeans steckenden Hintern, sah sich um und forderte ihn auf: »Küss den!«

Der Bettler rief: »Schaff ihn her, und beug ihn in meine Richtung, Liebste, das kriegst du umsonst!«

10

Wir gingen die North Pearl Street entlang … oder vielmehr ging Sadie, und ich krückte. Dank der Krücke kam ich hundertmal besser voran, aber die Kreuzung von Houston und Elm Street konnten wir unmöglich vor halb eins erreichen.

Vor uns war ein Gebäude eingerüstet. Für Fußgänger gab es einen Tunnel unter dem Gerüst. Ich dirigierte Sadie auf die andere Straßenseite.

»Jake, wieso in aller Welt …«

»Weil es über uns einstürzen würde. Verlass dich darauf.«

»Wir brauchen ein Auto. Wir brauchen wirklich … Jake? Warum bleibst du stehen?«

Ich blieb stehen, weil das Leben ein Lied war und die Vergangenheit harmonisierte. Meistens hatten diese Harmonien nichts zu bedeuten (glaubte ich damals), aber manchmal konnte ein unerschrockener Besucher im Land des Einst eine zu seinem Vorteil nutzen. Ich hoffte inständig, dass dies einer dieser Augenblicke war.

An der Ecke North Pearl und San Jacinto Street parkte ein 1954er Ford Sunliner Cabrio. Meines war rot gewesen, und das hier war mitternachtsblau, aber trotzdem … vielleicht …

Ich hastete darauf zu und versuchte die Beifahrertür zu öffnen. Abgeschlossen. Natürlich. Manchmal bekam man eine Chance, aber etwas gratis? Niemals.

»Willst du die Zündung kurzschließen?«

Ich hatte keine Ahnung, wie man das machte, vermutete allerdings, dass es schwieriger war, als es in New Orleans, Bourbon Street hingestellt wurde. Aber ich verstand genug, um die Krücke zu heben und mit der Achselstütze gegen die Verbundglasscheibe zu schlagen, bis sie zerspringen und nach innen sacken würde. Niemand beachtete uns, weil niemand auf dem Gehsteig unterwegs war. Der ganze Trubel fand im Südosten statt. Von dort konnten wir das Brandungsrauschen der Menge hören, die sich jetzt in Erwartung von President Kennedys Ankunft entlang der Main Street versammelte.

Das Saf-T-Glas gab nach. Ich drehte die Holzkrücke um und stieß sie mit dem Laufgummi voran nach innen. Einer von uns beiden würde hinten sitzen müssen. Das heißt, wenn diese Sache klappte. In Derry hatte ich mir einen zweiten Zündschlüssel für den Sunliner machen lassen und ihn mit Klebstreifen auf den Boden des Handschuhfachs geklebt, verborgen unter dem Papierkram. Vielleicht hatte das auch der Besitzer dieses Wagens getan. Vielleicht reichte diese spezielle Harmonie so weit. Das war eine dünne Chance … aber die Chance, dass Sadie mich in der Mercedes Street fand, war so dünn gewesen, dass man durch sie eine Zeitung hätte lesen können, und doch hatte es geklappt. Ich drückte den verchromten Knopf des Sunliner-Handschuhfachs und tastete darin herum.

Her mit der Harmonie, du Hundesohn. Bitte sorg für Harmonie. Hilf mir wenigstens ein einziges Mal ein bisschen.

»Jake? Wieso glaubst du, dass …«

Ich stieß mit den Fingerspitzen auf etwas und holte schließlich ein Sucrets-Döschen hervor. Als ich es öffnete, fand ich darin statt Halspastillen nicht etwa nur einen, sondern gleich vier Schlüssel. Ich hatte keine Ahnung, wofür die drei anderen bestimmt waren, aber der eine, den ich brauchte, war unverkennbar. Wegen seiner typischen Form hätte ich ihn auch im Dunkeln identifizieren können.

Mann, ich liebte diesen Wagen.

»Treffer!«, sagte ich und verlor fast das Gleichgewicht, als sie mich umarmte. »Du fährst, Schatz. Ich sitze hinten und schone mein Knie.«

11

Wir hüteten uns, auch nur versuchsweise die Main Street zu nehmen; sie würde mit Barrikaden und Streifenwagen abgesperrt sein. »Bleib möglichst lange auf der Pacific Avenue. Danach auf Seitenstraßen weiter. Fahr einfach so, dass der Lärm links von uns bleibt, dann müsste es klappen.«

»Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Halbe Stunde.« Eigentlich waren es neunundzwanzig Minuten, aber ich fand, dass eine halbe Stunde beruhigender klang. Außerdem sollte sie sich nicht als Stuntfahrer versuchen und dabei einen Unfall riskieren. Wir hatten noch Zeit – zumindest theoretisch –, aber wenn uns eine weitere Panne ereilte, waren wir erledigt.

Sie versuchte keine Stunts, aber sie fuhr beherzt. Als vor uns ein umgestürzter Baum die Straße blockierte (natürlich tat er das), holperte sie über den Randstein und fuhr ein Stück weit auf dem Gehsteig, um daran vorbeizukommen. Wir schafften es bis zur Kreuzung von North Record und Havermill Street. Dort kamen wir nicht weiter, weil die beiden letzten Blocks der Havermill Street bis zur Kreuzung mit der Elm Street nicht mehr existierten. Sie waren in einen Parkplatz umgewandelt worden. Ein Mann mit einer orangeroten Flagge winkte uns zu sich heran.

»Fünf Dollar«, sagte er. »Zu Fuß nur zwei Minuten zur Main Street, ihr habt also reichlich Zeit.« Das sagte er allerdings mit einem zweifelnden Blick auf meine Krücke.

»Ich bin echt pleite«, sagte Sadie. »Das war nicht gelogen.«

Ich zückte meine Geldbörse und gab dem Mann einen Fünfer. »Hinter dem Chrysler dort drüben«, sagte er. »Hübsch dicht ranfahren.«

Sadie warf ihm den Schlüssel zu. »Sie fahren hübsch dicht ran. Komm jetzt, Schatz.«

»He, nicht dorthin!«, schrie der Parkwächter. »Da geht’s zur Elm! Sie wollen rüber zur Main! Dort kommt er vorbei!«

»Wir wissen, was wir tun!«, rief Sadie. Ich hoffte, dass sie recht hatte. Mit Sadie voraus schlängelten wir uns zwischen dicht geparkten Autos hindurch. Ich verdrehte den Oberkörper und fuchtelte mit meiner Krücke, darum bemüht, keine Außenspiegel zu rammen und mit ihr Schritt zu halten. Jetzt konnten wir auf den Ladegleisen hinter dem Schulbuchlager Rangierloks und scheppernde Güterwagen hören.

»Jake, wir hinterlassen eine verdammt auffällige Fährte.«

»Ich weiß. Ich habe einen Plan.« Eine gigantische Übertreibung, die aber gut klang.

Wir erreichten die Elm Street, und ich zeigte auf das zwei Seitenstraßen entfernte Gebäude auf der anderen Seite. »Da! Dort ist er.«

Sie betrachtete den würfelförmigen Klinkerbau mit seinen starr blickenden Fenstern, dann wandte sie mir ihr Gesicht zu. Die Augen hatte sie vor Verzweiflung weit aufgerissen. Ich stellte mit irgendwie nüchternem Interesse fest, dass sie am Hals eine Gänsehaut mit großen weißen Pickeln bekommen hatte. »Jake, es ist grauenerregend!«

»Ich weiß.«

»Aber … was stimmt damit nicht?«

»Alles. Sadie, wir müssen uns beeilen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

12

Wir überquerten die Elm Street diagonal, wobei ich fast im Laufschritt mitkrückte. Der größte Teil der Menge stand entlang der Main Street, aber immer mehr Leute kamen auf die Dealey Plaza und säumten die Elm Street vor dem Lagergebäude. Sie füllten den Gehsteig bis hinunter zur Dreifachunterführung. Junge Mädchen saßen auf den Schultern ihrer jugendlichen Freunde. Kinder, die vielleicht bald in Panik schreien würden, schmierten sich fröhlich das Gesicht mit Eiscreme voll. Ich sah einen Mann, der Sno-Cones-Eistüten verkaufte, und eine Frau mit riesiger Afrofrisur, die mit billigen Fotos von Jack und Jackie, beide in Abendkleidung, hausieren ging.

Als wir den Schatten des Lagergebäudes erreichten, war ich in Schweiß gebadet, meine Achsel schmerzte vom ungewohnten Druck durch die Krücke, und mein linkes Knie wurde durch einen feurigen Ring abgeschnürt. Ich konnte es kaum noch beugen. Bei einem Blick nach oben sah ich, dass aus einigen der Fenster Angestellte des Schulbuchlagers lehnten. An dem Fenster in der Südostecke des fünften Stocks war niemand zu sehen, aber Lee würde dort oben sein.

Ich sah auf meine Uhr. Zwanzig nach zwölf. Wir konnten die Fortbewegung der Autokolonne anhand der anschwellenden Begeisterung entlang der Lower Main Street verfolgen.

Sadie versuchte die Tür aufzuziehen und warf mir dann einen gequälten Blick zu. »Abgeschlossen!«

Drinnen sah ich einen Schwarzen mit einer Schiebermütze, die verwegen schräg auf seinem Kopf saß. Er rauchte eine Zigarette. Al hatte seine Aufzeichnungen gern durch Randnotizen angereichert, und gegen Ende hatte er – scheinbar gedankenlos hingekritzelt – die Namen mehrerer Kollegen Lees notiert. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, sie mir zu merken, weil ich mir nicht hatte vorstellen können, was um Himmels willen ich damit anfangen sollte. Neben einem dieser Namen – bestimmt der des Schiebermützenmannes – hatte Al vermerkt: Als Erster verdächtigt (vermutlich weil schwarz). Obwohl der Name ungewöhnlich gewesen war, konnte ich mich nicht an ihn erinnern, weil Roth und seine Schläger ihn mir aus dem Kopf geprügelt hatten (mit einer Menge anderer Dinge) oder weil ich von Anfang an nicht gut genug aufgepasst hatte.

Oder nur, weil die Vergangenheit unerbittlich war. Aber war er wichtig? Er wollte mir einfach nicht einfallen. Der Name war nirgends zu finden.

Sadie hämmerte ans Glas der Türfüllung. Der Schwarze mit der Schiebermütze stand da und beobachtete sie gleichmütig. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und machte dann eine Bewegung mit dem Handrücken, als wollte er sie wegscheuchen: Weitergehn, Lady, gehn Sie weiter.

»Jake, lass dir was einfallen! BITTE!«

12.21 Uhr.

Ein ungewöhnlicher Name, ja, aber warum war er ungewöhnlich gewesen? Zu meiner Überraschung stellte sich das als etwas heraus, was ich tatsächlich wusste.

»Weil er einem Mädchen gehört«, sagte ich.

Sadie drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war bis auf die Narbe, die sich weiß über ihre Wange schlängelte, hektisch gerötet. »Wie bitte?«

Plötzlich hämmerte ich an die Türfüllung. »Bonnie!«, rief ich. »He, Bonnie Ray! Lassen Sie uns rein! Wir kennen Lee! LEE OSWALD!«

Er registrierte den Namen und durchquerte mit quälend langsamen Schlurfschritten die Eingangshalle

»Wusst gar nicht, dass der dürre kleine Scheißer Freunde hat«, sagte Bonnie Ray Williams, als er die Tür öffnete. Er trat zur Seite, und wir stürmten hinein. »Bestimmt ist er mit den Kollegen im Aufenthaltsraum und wartet drauf, dass der Präsident …«

»Passen Sie auf«, sagte ich. »Ich bin nicht sein Freund, und er ist nicht im Aufenthaltsraum. Er ist im fünften Stock. Ich glaube, dass er President Kennedy erschießen will.«

Der große Mann lachte fröhlich. Er ließ seine Zigarette zu Boden fallen und trat sie mit seinem Arbeitsstiefel aus. »Der kleine Scheißer hätt nicht mal den Mumm, einen Wurf Katzen in ’nem Sack zu ertränken. Der hockt bloß immer in der Ecke und liest Bücher.«

»Ich sage Ihnen …«

»Ich geh jetzt in den Ersten rauf. Wenn Sie mitkomm wolln, können Sie’s von mir aus tun, denk ich. Aber erzählen Sie kein Blödsinn mehr über Leela. So nennen wir ihn, Leela. Den Präsidenten erschießn! Jesses!« Er winkte ab und schlenderte davon.

Du gehörst nach Derry, Bonnie Ray, dachte ich. Die sind darauf spezialisiert, nicht zu sehen, was direkt vor ihrer Nase abläuft.

»Treppe«, sagte ich zu Sadie.

»Der Aufzug wäre …«

Das Ende jeglicher Chance, die wir vielleicht noch hatten, das wäre er.

»Der Aufzug würde zwischen zwei Stockwerken stecken bleiben. Treppe.«

Ich nahm sie an der Hand und zog sie mit. Das Treppenhaus war ein enger Schacht mit in vielen Jahren ausgetretenen Holzstufen. Links wurden die Treppen von einem rostigen Eisengeländer begleitet. Sadie drehte sich zu mir um. »Gib mir den Revolver.«

»Nein.«

»Du schaffst es nie rechtzeitig. Ich schon. Gib mir den Revolver.«

Fast hätte ich ihn hergegeben. Ich bildete mir nicht ein, ich hätte es verdient, ihn behalten zu dürfen; nachdem der entscheidende Augenblick nun gekommen war, spielte es keine Rolle, wer Oswald aufhielt, wenn es nur irgendjemand tat. Aber wir waren nur noch einen Schritt von der tosenden Maschine der Vergangenheit entfernt, und der Teufel sollte mich holen, wenn ich zuließ, dass Sadie diesen Schritt vor mir machte, nur um in ihr röhrendes Gewirbel eingesaugt zu werden.

Ich lächelte, dann beugte ich mich vor und küsste sie. »Mal sehen, wer eher oben ist«, sagte ich und nahm die Treppe in Angriff. Über die Schulter hinweg rief ich: »Falls ich einschlafe, gehört er dir!«

13

»Ihr seid verrückt, Leute«, hörte ich Bonnie Ray Williams halbwegs belustigt sagen. Die leicht polternden Schritte danach sagten mir, dass Sadie mir folgte. Inzwischen hing ich fast schon über der Krücke, statt mich nur darauf zu stützen, und zog mich mit der Linken kräftig am Treppengeländer hoch. Der Revolver in meiner Sakkotasche schwang hin und her und schlug an meine Hüfte. Mein Knie schrie vor Schmerz. Ich ließ es schreien.

Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock warf ich einen raschen Blick auf meine Armbanduhr. Es war 12.25 Uhr. Nein, 12.26 Uhr. Ich konnte hören, wie das Gebrüll auf der Straße sich weiter näherte: eine Welle, die bald brechen würde. Die Autokolonne hatte die Kreuzungen der Main Street mit der Ervay Street, der Akard Street und der South Field Street passiert. In zwei Minuten – spätestens in drei – würde sie die Houston Street erreichen, dort rechts abbiegen und mit fünfzehn Meilen in der Stunde am alten Gerichtsgebäude vorbeirollen. Ab diesem Augenblick würde der Präsident der Vereinigten Staaten ein potenzielles Ziel sein. In dem auf das Mannlicher-Carcano aufgesetzten Zielfernrohr mit vierfacher Vergrößerung würden die Ehepaare Kennedy und Connally so groß erscheinen wie Filmstars auf der Leinwand des Autokinos in Lisbon. Aber Lee würde noch etwas länger warten. Er war kein Selbstmordattentäter; er wollte unerkannt entkommen. Wenn er zu früh schoss, würden die Jungs vom Personenschutz im ersten Wagen der Kolonne das Mündungsfeuer sehen und zurückschießen. Er würde warten, bis das Führungsfahrzeug – und der offene Wagen des Präsidenten – auf die links abknickende Elm Street abbog. Nicht nur ein Heckenschütze, sondern auch ein gottverdammter Feigling, der von hinten schoss.

Mir blieben noch drei Minuten.

Oder vielleicht nur zweieinhalb.

Ich nahm die Treppe vom ersten in den zweiten Stock in Angriff, ignorierte weiterhin mein schmerzendes Knie und zwang mich zum Treppensteigen wie ein Marathonläufer gegen Ende eines langen Rennens. Der ich natürlich war.

Unter uns konnte ich Bonnie Ray etwas rufen hören, in dem verrückter Kerl und Leela ihn erschießn will vorkamen.

Bis zur halben Höhe der Treppe in den zweiten Stock konnte ich spüren, wie Sadie mir wie ein Reiter, der sein Pferd antreiben wollte, auf den Rücken schlug, aber dann fiel sie etwas zurück. Ich hörte sie keuchen und dachte: Zu viele Zigaretten, Darling. Mein Knie spürte ich nicht mehr; der Schmerz wurde durch einen Adrenalinschub vorübergehend unterdrückt. Ich hielt das linke Bein möglichst steif und benutzte vor allem die Krücke, um voranzukommen.

Um den Treppenabsatz herum. Weiter zum dritten Stock hinauf. Nun keuchte auch ich, und die Treppe kam mir steiler vor. Wie ein Bergpfad. Die Unterarmstütze der Bettlerkrücke war schweißnass. Mein Kopf dröhnte; von dem Jubel unter mir auf der Straße klangen mir die Ohren. Das Auge meiner Vorstellungskraft war weit geöffnet und zeigte mir die heranrollende Autokolonne: vorn das Security-Fahrzeug, dahinter der offene Wagen des Präsidenten, der von Motorradpolizisten aus Dallas, die Sonnenbrillen und weiße Helme mit Kinnriemen trugen, auf Harley-Davidsons eskortiert wurde.

Um die nächste Ecke. Die Krücke kurz davor, wegzurutschen, dann wieder brauchbarer Halt. Jetzt nahm ich süßlichen Sägemehlgeruch aus dem fünften Stock wahr, wo Handwerker die alten Fußbodenbretter durch neue ersetzten. Nicht jedoch auf Lees Seite. Die Südostecke hatte Lee ganz für sich allein.

Ich erreichte den Treppenabsatz im vierten Stock und bog um die letzte Kurve. Mit offenem Mund schnappte ich nach Luft. Mein durchgeschwitztes Hemd klebte mir an den Rippen. Salzig brennender Schweiß lief mir in die Augen, und ich blinzelte ihn weg.

Drei Bücherkartons, gestempelt mit UNSERE WELT und LESEBUCH FÜR 4. UND 5. KLASSE, blockierten die Treppe zum fünften Stock. Ich blieb auf dem rechten Fuß stehen und knallte das Laufgummi der Krücke gegen einen der Kartons, sodass er herunterpolterte. Hinter mir konnte ich Sadie hören, die jetzt zwischen dem dritten und vierten Stock war. Also war es vielleicht doch richtig gewesen, den Revolver zu behalten – aber wer wusste das schon genau. Aus eigener Erfahrung wusste ich nur, dass man schneller rannte, wenn einem klar war, dass man die Hauptverantwortung für die Veränderung der Zukunft trug.

Ich quetschte mich durch die von mir geschaffene Lücke. Dazu musste ich eine Sekunde lang mein volles Gewicht auf das linke Bein verlagern. Ich stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Dabei hielt ich mich stöhnend am Geländer fest, um nicht nach vorn auf die Stufen zu fallen. Wieder ein Blick auf die Armbanduhr. Sie zeigte 12.28 Uhr an – aber was war, wenn sie nachging? Die Menge brüllte.

»Jake … beeil dich um Himmels willen …« Das war Sadie, noch unterwegs zum vierten Stock.

Als ich die letzte Treppe in Angriff nahm, wurde das Gebrüll der Menge scheinbar leiser und ging in tiefe Stille über. Als ich oben ankam, hörte ich nur noch meine keuchenden Atemzüge und die brennenden Hammerschläge meines überanstrengten Herzens.

14

Der fünfte Stock im Texas School Book Depository war ein halbdunkles Quadrat, gesprenkelt mit Inseln aus gestapelten Bücherkartons. Wo der Fußboden erneuert wurde, brannte die Deckenbeleuchtung. Ausgeschaltet war sie auf der Seite, auf der Lee Harvey Oswald in hundert oder weniger Sekunden Geschichte machen wollte. Auf die Elm Street führten sieben Fenster hinaus: fünf große Bogenfenster in der Mitte, je ein quadratisches Fenster an den Enden. An der Treppe war es im fünften Stock düster, aber durch die Fenster zur Elm Street fiel trübes Licht ein. Wegen des in der Luft hängenden Sägemehls von der Bodenrenovierung wirkten die dort einfallenden Sonnenstrahlen zum Schneiden dick. Der durch das Fenster in der Südostecke einfallende Sonnenstrahl wurde jedoch durch eine Barrikade aus aufgestapelten Bücherkartons blockiert. Das Schützennest lag genau auf der anderen Seite des Raums, auf der Diagonale von Nordwest nach Südost.

Hinter der Barrikade, im Sonnenlicht, stand ein Mann mit einem Gewehr am Fenster. Er stand leicht gebeugt da und spähte hinaus. Das Fenster war offen. Eine leichte Brise zerzauste sein Haar und spielte mit seinem Hemdkragen. Er hob das Gewehr.

Ich verfiel in schwerfälligen Trab, schlängelte mich zwischen den Kartonstapeln hindurch und grub in meiner Sakkotasche nach dem Revolver.

»Lee!«, brüllte ich. »Stopp, du Hundesohn!«

Er drehte den Kopf zur Seite und starrte mich mit großen Augen und offenem Mund an. Sekundenlang war er nur Lee – der Kerl, der mit June in der Badewanne gespielt und gelacht hatte, der manchmal seine Frau umarmte und ihr zu ihm erhobenes Gesicht küsste –, aber dann verzog er den schmallippigen Mund zu einer affektierten Grimasse, die die oberen Zähne sehen ließ. Dadurch verwandelte er sich in etwas Monströses. Ich bezweifle, dass man mir das glauben wird, aber ich kann es beschwören. Er hörte auf, ein Mensch zu sein, und wurde das dämonische Gespenst, das Amerika ab diesem Tag heimsuchen, seine Macht untergraben und seine guten Absichten verderben würde.

Wenn ich das zuließe.

Der Lärm von der Straße herauf setzte wieder ein: Tausende von Menschen, die applaudierten und jubelten und sich die Lunge aus dem Leib schrien. Ich hörte sie, und Lee hörte sie auch. Er wusste, was der Lärm bedeutete: jetzt oder nie. Er drehte sich zum Fenster um und zog den Gewehrkolben in die rechte Schulter ein.

Ich hatte den Revolver, das gleiche Modell, mit dem ich Frank Dunning erschossen hatte. Nicht nur die gleiche Ausführung; in diesem Augenblick war es dieselbe Waffe. Das dachte ich damals, und das denke ich noch heute. Der Hammer wollte sich im Taschenfutter verhaken, aber ich riss den .38er heraus und hörte dabei Stoff zerreißen.

Ich drückte ab. Mein Schuss lag hoch und riss nur Holzsplitter aus dem oberen Fensterrahmen, aber das genügte, um John Kennedy das Leben zu retten. Oswald, den der Knall erschreckte, verriss sein Mannlicher-Carcano, und das 10,4 Gramm schwere Geschoss ging ebenfalls hoch und ließ eine Fensterscheibe des Gerichtsgebäudes zersplittern.

Unter uns waren Schreckensschreie und verwirrte Rufe zu hören. Oswald, dessen Gesicht eine Maske aus Wut, Hass und Enttäuschung war, wandte sich wieder mir zu. Er hob das Gewehr wieder, aber diesmal würde er nicht auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten zielen. Er betätigte den Kammerstängel – ratsch-ratsch –, und ich schoss ein zweites Mal auf ihn. Obwohl ich den Raum inzwischen zu drei Vierteln durchquert und die Entfernung auf weniger als zehn Meter verringert hatte, verfehlte ich ihn wieder. Ich sah, dass sein Hemd seitlich aufgeschlitzt wurde, aber das war alles.

Meine Krücke blieb an einem Bücherstapel hängen. Ich torkelte nach links und ruderte mit der rechten Hand, um das Gleichgewicht zu bewahren, aber das war aussichtslos. Ich dachte daran, wie Sadie mir an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten, buchstäblich in die Arme gefallen war. Ich wusste, was passieren würde. Die Geschichte wiederholte sich nicht, aber sie harmonisierte, und was dabei herauskam, war meistens die Musik des Teufels. Diesmal war ich derjenige, der stolperte, und das war der entscheidende Unterschied.

Ich konnte sie nicht länger auf der Treppe hören … aber nun kamen ihre raschen Schritte näher.

»Sadie, runter!«, rief ich, aber das ging im Bellen von Oswalds Gewehr unter.

Ich hörte, wie die Kugel über mich hinwegsauste. Ich hörte Sadie aufschreien.

Dann fielen weitere Schüsse, diesmal von draußen. Der offene Wagen des Präsidenten raste davon und fuhr in halsbrecherischem Tempo auf die Dreifachunterführung zu, während die beiden Paare, die er beförderte, sich tief geduckt aneinanderklammerten. Aber der Wagen der Sicherheitsbeamten hielt auf der anderen Seite der Elm Street an der Dealey Plaza. Auch die Motorradeskorte hatte mitten auf der Straße angehalten, und mindestens vier Dutzend Zuschauer zeigten aufgeregt zu dem Fenster im fünften Stock hinauf, an dem ein hagerer Mann in einem blauen Hemd deutlich sichtbar war.

Ich hörte ein nicht sehr lautes Prasseln, als klatschten Hagelkörner in Schlamm. Das waren die Kugeln, die das Fenster verfehlten und seitlich oder darüber in die Ziegel einschlugen. Viele trafen jedoch. Ich sah, wie Lees Hemd sich ausbeulte, als wäre unter ihm ein Wind aufgekommen – ein roter, der Löcher in den Stoff riss: eines über der rechten Brustwarze, eines über dem Brustbein, ein drittes ungefähr über dem Nabel. Eine vierte Kugel riss ihm den Hals auf. In dem gedämpften Licht voller Sägespäne tanzte er wie eine Marionette, und die schreckliche zähnefletschende Grimasse blieb auf seinem Gesicht. Er war zuletzt kein Mensch mehr, ehrlich; er war etwas anderes. Das, was auch immer in uns fuhr, wenn wir auf unsere schlimmsten Engel hörten.

Ein Geschoss traf eine der Deckenlampen. Die Glühbirne zersplitterte, und die Lampe schwankte. Dann riss eine Kugel dem Möchtegern-Attentäter die Schädeldecke weg, genau wie in meiner Welt eines von Lees Geschossen dem Präsidenten die Schädeldecke weggerissen hatte. Er fiel gegen seine Barrikade aus Bücherkartons und brachte sie zum Einsturz.

Schreie von unten. Jemand rief laut: »Mann am Boden, ich hab gesehen, wie er zu Boden gegangen ist!«

Auf der Treppe kamen Schritte heraufgetrampelt. Ich warf den .38er zu Lees Leiche hinüber. Ich war noch so geistesgegenwärtig, zu erkennen, dass die Heraufkommenden mich zusammenschlagen, vielleicht sogar abknallen würden, wenn sie mich mit einer Waffe in der Hand antrafen. Ich wollte aufstehen, aber mein Knie trug mich nicht mehr. Was vielleicht nur gut so war. Von der Elm Street aus war ich bislang wahrscheinlich nicht zu sehen gewesen, aber wenn das jetzt der Fall gewesen wäre, hätten sie das Feuer vielleicht auf mich eröffnet. Also kroch ich zu der Stelle hinüber, wo Sadie lag. Ich verlagerte mein Gewicht hauptsächlich auf die Hände und schleppte mein linkes Bein hinter mir her wie einen Anker.

Ihre Bluse war vorn mit Blut getränkt, aber ich konnte das Einschussloch trotzdem sehen. Es saß mitten im Oberkörper, knapp über der Brustwölbung. Auch aus dem Mund quoll Blut. Sie würgte, als würde sie daran ersticken. Ich schob die Arme unter sie und richtete sie auf. Ihr Blick ließ mich nicht mehr los. Ihre Augen schienen im Halbdunkel zu leuchten.

»Jake«, krächzte sie.

»Nein, Schatz, nicht reden.«

Sie hörte nicht auf mich – wann hatte sie das jemals getan? »Jake, der Präsident!«

»In Sicherheit.« Ich hatte nicht gesehen, dass Kennedy unverletzt war, als sein Wagen davonraste, aber ich hatte beobachtet, wie Lee bei seinem einzigen Schuss aus dem Fenster zusammengezuckt war, und das genügte mir. Und ich hätte Sadie auf jeden Fall versichert, dass er gerettet sei.

Ihre Augen schlossen sich, dann öffneten sie sich wieder. Das Getrappel war jetzt sehr nahe, verließ den Treppenabsatz im vierten Stock und kam die letzte Treppe herauf. Auf der Straße unter uns schrie die Menge ihre Erregung und Verwirrung heraus.

»Jake?«

»Was, Schatz?«

Sie lächelte. »Wie wir getanzt haben!«

Als Bonnie Ray und die anderen eintrafen, saß ich auf dem Boden und hielt Sadie an mich gedrückt. Sie stürmten an mir vorbei. Wie viele es waren, weiß ich nicht. Vielleicht vier. Oder acht. Oder ein Dutzend. Ich machte mir nicht die Mühe, sie anzusehen. Ich hielt Sadie an mich gedrückt, wiegte ihren Kopf an meiner Brust, ließ ihr Blut mein Hemd durchtränken. Tot. Meine Sadie. Schließlich war sie doch in die Maschine gefallen.

Ich bin nie eine Heulsuse gewesen, aber fast jeder Mann, der eine geliebte Frau verloren hat, würde weinen, oder etwa nicht? Doch. Aber nicht ich.

Weil ich wusste, was zu tun war.

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