Teil 1 EIN ENTSCHEIDENDER AUGENBLICK

Kapitel 1

1

Harry Dunning bestand mit Bravour. Auf seine Einladung hin ging ich zu der kleinen Zeremonie in der LHS-Turnhalle. Er hatte wirklich sonst niemanden, und ich tat ihm diesen Gefallen gern.

Nach dem Segen (von Pater Bandy gesprochen, der kaum eine LHS-Veranstaltung ausließ) arbeitete ich mich durch das Gedränge aus Freunden und Verwandten zu der Ecke vor, in der Harry in seinem wallenden, schwarzen Talar allein dastand – mit seinem Diplom in der einen und dem geliehenen quadratischen Barett in der anderen Hand. Ich nahm ihm das Barett ab, damit ich ihm die Hand schütteln konnte. Er grinste und ließ dabei ein Gebiss mit Lücken und mehreren schiefen Zähnen sehen. Aber es war trotzdem ein sonniges, gewinnendes Grinsen.

»Danke fürs Kommen, Mr. Epping. Vielen Dank!«

»War mir ein Vergnügen. Und Sie können ruhig Jake zu mir sagen. Das ist eine kleine Vergünstigung, die ich Schülern gewähre, die alt genug sind, um mein Vater zu sein.«

Harry verstand nicht gleich, aber dann lachte er. »Das bin ich wohl, stimmt’s? Schiet!« Ich lachte ebenfalls. Um uns herum lachten viele Leute. Und es gab natürlich Tränen. Was mir so schwerfällt, ist für sehr viele Menschen ganz leicht.

»Und dieses A plus! Schiet! Ich hab mein Leben lang noch kein A plus gekriegt! Hab auch keins erwartet!«

»Sie hatten es verdient, Harry. Was haben Sie als Highschool-Absolvent als Erstes vor?«

Sein Lächeln verblasste kurz – das war etwas, worüber er noch nicht nachgedacht hatte. »Ach, ich glaube, ich fahre heim. Ich wohne in der Goddard Street in einem gemieteten Häuschen.« Er hielt das Diplom vorsichtig zwischen den Fingerspitzen hoch, als hätte er Angst, die Tinte zu verwischen. »Das hier werde ich mir einrahmen und an die Wand hängen. Dann hole ich mir ein Glas Wein oder so und setze mich auf die Couch und bewundere es, bis es Zeit fürs Bett ist.«

»Klingt nach einem Plan«, sagte ich. »Aber wie wär’s, wenn Sie vorher einen Burger mit Fritten mit mir essen würden? Wir könnten zu Al’s fahren.«

Ich erwartete, dass er zusammenzucken würde, aber damit warf ich Harry natürlich fälschlicherweise in einen Topf mit meinen Kollegen. Ganz zu schweigen von den meisten unserer Schüler: Sie mieden das Al’s wie die Pest und bevorzugten das Dairy Queen gegenüber der Schule oder das Hi-Hat draußen an der 196, wo früher das Lisbon Drive-in gestanden hatte.

»Das wäre großartig, Mr. Epping. Danke!«

»Jake, okay?«

»Jake, klar doch.«

Also nahm ich Harry mit zu Al’s, wo ich als einziger Lehrer Stammgast war, und obwohl Al in diesem Sommer doch tatsächlich eine Kellnerin beschäftigte, bediente er uns selbst. Wie üblich hatte er eine Zigarette (in Esslokalen illegal, aber das hatte Al noch nie gekümmert) im linken Mundwinkel und kniff das Auge darüber wegen des Rauchs halb zu. Als er den zusammengelegten Talar sah und erkannte, aus welchem Anlass wir hier waren, bestand er darauf, uns einzuladen (für ihn kein großes Verlustgeschäft; die Mahlzeiten im Al’s waren immer erstaunlich billig, was zu Gerüchten über das Schicksal bestimmter streunender Tiere in der Nachbarschaft geführt hatte). Er machte auch ein Foto von uns, das er später an seine Wand mit Lokalprominenz pinnte. Zur sonstigen »Prominenz« gehörten der verstorbene Albert Dunton, Gründer von Dunton Jewelry; Earl Higgins, ein ehemaliger LHS-Direktor; John Crafts, Gründer von John Crafts Auto Sales, und natürlich Pater Bandy von St. Cyril’s. (Der Pater hing neben Papst Johannes XXIII., der kein Einheimischer war, aber von Al Templeton verehrt wurde, der sich rühmte, ein »guter Kattelick« zu sein.) Das Foto, das Al an jenem Tag machte, zeigt Harry Dunning mit breitem Grinsen im Gesicht. Ich stand neben ihm, und wir hielten beide sein Diplom hoch. Seine Krawatte saß ein bisschen schief. Daran erinnere ich mich, weil es mich an den kleinen Schnörkel erinnerte, den er unter jedes g setzte. Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich sehr gut.

2

Zwei Jahre später, am letzten Tag des Schuljahres, saß ich in genau demselben Lehrerzimmer und arbeitete einen Stapel Abschlussaufsätze ab, die mein Leistungskurs Amerikanische Lyrik geschrieben hatte. Die Kids selbst waren bereits fort, entlassen in einen weiteren Sommer, und bald würde auch ich gehen. Aber vorläufig war ich hier ganz zufrieden, weil ich die ungewohnte Stille genoss. Ich dachte sogar daran, den Schrank mit den Snacks auszuräumen, bevor ich ging. Irgendjemand sollte das tun, fand ich.

Früher an diesem Tag war Harry Dunning nach der ersten Stunde (in der es, wie am letzten Schultag in fast allen ersten Stunden und Freistunden, besonders laut zugegangen war) zu mir gehinkt gekommen und hatte mir die Hand hingestreckt.

»Ich möchte Ihnen nur für alles danken«, sagte er.

Ich grinste. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie das bereits getan.«

»Ja schon, aber heute ist mein letzter Tag. Ich gehe in den Ruhestand. Darum wollte ich nicht vergessen, Ihnen nochmals zu danken.«

Als ich ihm die Hand schüttelte, kam ein Junge vorbei – höchstens ein Zehntklässler, seinen frischen Pickeln und dem ernsthaft-komischen Gestrüpp an seinem Kinn, das ein Spitzbart sein wollte, nach zu urteilen – und murmelte spöttisch: »Hoptoad Harry, hoppin’ down the av-a-new

Ich wollte ihn mir schnappen und dafür sorgen, dass er sich entschuldigte, aber Harry hielt mich zurück. Sein Lächeln war ungezwungen, nicht gekränkt. »Schon gut, lassen Sie nur. Das bin ich gewohnt. Jungs sind eben so.«

»Richtig«, sagte ich. »Und es ist unser Job, ihnen etwas beizubringen.«

»Ich weiß, und Sie sind gut darin. Aber es ist nicht mein Job, jedermanns Dingsbums, wieheißtdasnochmal … lernfähiger Augenblick zu sein. Vor allem heute nicht. Ich hoffe, Sie passen gut auf sich auf, Mr. Epping.« Er mochte dem Alter nach mein Vater sein, aber zu Jake würde er sich wohl nie durchringen.

»Gleichfalls, Harry.«

»Dieses A plus werde ich nie vergessen. Das hab ich auch eingerahmt. Hängt jetzt gleich neben meinem Diplom.«

»Das freut mich.«

Und das war es. Alles war gut. Sein Aufsatz war naive Kunst gewesen – aber genauso kraftvoll und authentisch wie jedes Gemälde von Grandma Moses. Jedenfalls sehr viel besser als das Zeug, das ich jetzt gerade las. In Leistungskursaufsätzen war die Rechtschreibung größtenteils richtig, und der Ausdruck war klar (auch wenn meine vorsichtigen Geh-bloß-kein-Risiko-ein-Universitätsanwärter auf irritierende Weise dazu neigten, ins Passiv zu verfallen), aber der Stil war blass. Langweilig. Meine Schüler im Leistungskurs waren im vorletzten Jahr – die im letzten Jahr behielt Mac Steadman, der den Fachbereich leitete, für sich –, aber sie schrieben wie kleine alte Männer und kleine alte Damen, immer mit gespitzten Lippen und ohhh, rutsch nicht auf dieser Glatteisstelle aus, Mildred. Dagegen hatte Harry Dunning trotz aller Rechtschreibfehler und seiner mühsamen Schreibweise wie ein Held geschrieben. Zumindest dieses eine Mal.

Während ich über den Unterschied zwischen offensivem und defensivem Schreiben nachdachte, räusperte sich die Gegensprechanlage an der Wand. »Ist Mr. Epping im Lehrerzimmer im Westflügel? Sind Sie zufällig noch da, Jake?«

Ich stand auf, drückte die Sprechtaste und sagte: »Noch da, Gloria. Als Buße für meine Sünden. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie haben einen Anruf. Ein gewisser Al Templeton. Wenn Sie wollen, kann ich ihn durchstellen. Oder ich kann sagen, dass Sie für heute gegangen sind.«

Al Templeton, Eigentümer und Betreiber von Al’s Diner, in dem sich außer mir niemals jemand aus dem LHS-Lehrkörper blicken ließ. Sogar mein geschätzter Fachleiter – der wie ein Cambridge-Dozent zu reden versuchte und selbst kurz vor der Pensionierung stand – hatte Al’s Famous Fatburger, die Spezialität des Hauses, schon einmal als Al’s Famous Catburger bezeichnet.

Nun, natürlich ist das nicht wirklich Katze, pflegten die Leute zu sagen, oder wahrscheinlich nicht Katze, aber es kann kein Rind sein, nicht für einen Dollar neunzehn.

»Jake? Sind Sie mir eingeschlafen?«

»Nein, bin hellwach.« Außerdem war ich neugierig, warum Al mich in der Schule anrief. Oder warum er mich überhaupt anrief. Unsere Beziehung war stets nur ein Koch-und-Gast-Verhältnis gewesen. Ich schätzte sein Essen, und er schätzte meine Kundschaft. »Schön, stellen Sie ihn durch.«

»Warum sind Sie überhaupt noch da?«

»Ich geißele mich.«

»Oooh!«, sagte Gloria, und ich konnte mir vorstellen, wie sie mit ihren langen Wimpern klimperte. »Ich liebe es, wenn Sie schmutzige Sachen sagen. Bleiben Sie dran, und warten Sie auf das Klingelzeichen.«

Die Sprechanlage knackte. Dann klingelte das Telefon der Nebenstelle, und ich nahm den Hörer ab.

»Jake? Bist du das, Kumpel?«

Im ersten Augenblick dachte ich, dass Gloria den Namen falsch verstanden haben musste. Diese Stimme konnte unmöglich Al gehören. Nicht einmal die schwerste Erkältung der Welt hätte ein solches Krächzen hervorbringen können.

»Wer sind Sie?«

»Al Templeton, hat sie dir das nicht gesagt? Himmel, diese Warteschleifenmusik ist echt Scheiße. Was ist nur aus Connie Francis geworden?« Er begann so bellend laut zu husten, dass ich den Hörer ein wenig vom Ohr weghalten musste.

»Du klingst, als hättest du die Grippe.«

Er lachte. Und er hustete weiter. Die Kombination aus beidem war ziemlich gruselig. »Ich hab was, das stimmt.«

»Es muss dich von jetzt auf nachher erwischt haben.« Ich war erst gestern zu einem frühen Abendessen im Al’s gewesen. Ein Fatburger, Fritten und eine Erdbeermilch. Ich halte es für wichtig, dass man als Alleinstehender alle Hauptnahrungsgruppen berücksichtigt.

»Könnte man so sagen. Oder man könnte sagen, dass es eine Zeit lang gedauert hat. Beides wäre richtig.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. In den sechs oder sieben Jahren, die ich nun bei ihm aß, hatte ich mich oft mit Al unterhalten, und er konnte seltsam sein – zum Beispiel bestand er darauf, die New England Patriots als Boston Patriots zu bezeichnen, und sprach über Ted Williams, als hätte er ihn wie einen alten Kumpel gekannt –, aber ein so verrücktes Gespräch hatte ich mit ihm noch nie geführt.

»Jake, ich muss dich sprechen. Die Sache ist wichtig.«

»Darf ich fragen …«

»Ich rechne damit, dass du viel fragen wirst, und ich werde alles beantworten, aber nicht am Telefon.«

Ich wusste nicht, wie viele Antworten er würde geben können, bevor seine Stimme versagte, aber ich versprach ihm, in ungefähr einer Stunde vorbeizukommen.

»Danke. Lieber schon früher, wenn’s irgendwie geht. Die Zeit drängt, wie man so sagt.« Und damit legte er einfach auf, ohne sich auch nur zu verabschieden.

Ich arbeitete zwei weitere Leistungskursaufsätze durch, danach waren nur noch vier übrig, aber es war zwecklos. Ich war aus dem Takt gekommen. Also packte ich den zusammengeschrumpften Stapel in meine Aktentasche und ging. Ich überlegte, ob ich ins Büro hinaufgehen und Gloria einen schönen Sommer wünschen sollte, ließ es aber doch bleiben. Sie würde noch die ganze kommende Woche da sein, um das Schuljahr abzuschließen, und ich würde noch einmal vorbeischauen und den Schrank mit den Snacks ausräumen – das hatte ich mir selbst versprochen. Sonst würden die Ferienkurslehrer, die das Lehrerzimmer im Westflügel benutzten, ihn von Käfern wimmelnd vorfinden.

Hätte ich gewusst, was die Zukunft für mich bereithielt, wäre ich bestimmt zu ihr hinaufgegangen. Ich hätte ihr vielleicht sogar den Kuss gegeben, der in den letzten paar Monaten zwischen uns in der Luft hing. Aber das wusste ich natürlich nicht. Das Leben schlägt gern Kapriolen.

3

Der silbrige Trailer von Al’s Diner stand abseits der Main Street und jenseits der Bahngleise im Schatten der alten Worumbo-Weberei. Solche Lokale wirkten oft schäbig, aber Al hatte die Hohlblocksteine, auf denen sein Etablissement ruhte, mit hübschen Blumenbeeten getarnt. Es gab sogar ein ordentliches Rasenquadrat, das er persönlich mit einem altmodischen Handrasenmäher trimmte. Der Rasenmäher war so gut gepflegt wie die Blumen; seine leuchtend farbig lackierten surrenden Messer hatten keinen einzigen Rostfleck. Er hätte erst vor einer Woche in der benachbarten Western-Auto-Filiale gekauft worden sein können … das heißt, wenn es in The Falls noch eine Western-Auto-Filiale gegeben hätte. Die einzige in der Gegend war um die Jahrhundertwende ein Opfer der riesigen Einkaufskästen geworden.

Ich folgte dem gepflasterten Weg, stieg die wenigen Stufen hinauf und blieb stirnrunzelnd stehen. Das Schild WILLKOMMEN IN AL’S DINER, HEIMAT DES FATBURGERS! war verschwunden. An seiner Stelle hing ein Pappquadrat mit dem Text: WEGEN KRANKHEIT ENDGÜLTIG GESCHLOSSEN. DANKE FÜR EURE LANGJÄHRIGE KUNDSCHAFT & GOTT SEGNE EUCH.

Ich steckte noch nicht in dem Nebel des Irrealen, der mich bald verschlingen würde, aber seine ersten Ausläufer griffen nach mir, und ich spürte sie. An der Heiserkeit, die ich in Als Stimme gehört hatte, oder dem bellenden Husten war keine Sommergrippe schuld. Auch keine Erkältung. Diesem Schild nach musste es etwas Ernsteres sein. Aber welche schwere Krankheit brach in nur vierundzwanzig Stunden aus? Genau genommen sogar weniger. Jetzt war es halb drei. Als ich das Lokal gestern Abend um Viertel vor sechs verlassen hatte, war Al noch gesund und munter gewesen. Sogar fast hyperaktiv. Ich erinnerte mich, ihn gefragt zu haben, ob er zu viel von seinem eigenen Kaffee getrunken habe, und er hatte geantwortet, nein, er denke nur daran, Urlaub zu machen. Redeten Leute, die gerade krank wurden – und zwar schwer genug, um ein Lokal zu schließen, das sie über zwanzig Jahre lang allein geführt hatten –, von Urlaubsplänen? Manche vielleicht, aber vermutlich nicht viele.

Die Tür ging auf, bevor meine Hand die Klinke berührte, und Al stand vor mir. Er sah mich an, ohne zu lächeln. Ich erwiderte seinen Blick und spürte, wie der Nebel des Irrealen um mich herum dichter wurde. Der Tag war warm, aber der Nebel war kalt. An dieser Stelle hätte ich noch kehrtmachen und weggehen können, zurück in die Junisonne, und irgendwie wollte ich das auch. Hauptsächlich war ich jedoch durch Staunen und Bestürzung gelähmt. Auch durch Entsetzen, das kann ich gleich zugeben. Eine schwere Krankheit entsetzt uns nämlich immer, und Al war schwer krank. Das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Und todkrank traf es vermutlich noch besser.

Es waren nicht nur seine sonst so rosigen Wangen, die jetzt schlaff und fahl geworden waren. Nicht die wässrige Schicht auf seinen blauen Augen, die jetzt verwaschen aussahen und wie kurzsichtig blinzelten. Es waren nicht einmal seine zuvor fast schwarzen Haare, die jetzt fast weiß waren – schließlich konnte er sie sich aus Eitelkeit gefärbt und nun plötzlich beschlossen haben, die Farbe herauszuwaschen und die Haare wieder natürlich zu tragen.

Das Unmögliche daran war, dass Al Templeton in den zweiundzwanzig Stunden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, mindestens fünfzehn Kilo abgenommen zu haben schien. Vielleicht sogar zwanzig, was ein Fünftel seines früheren Körpergewichts gewesen wäre. Niemand verlor fünfzehn oder zwanzig Kilo in weniger als einem Tag, niemand. Aber ich sah Al direkt vor mir. Und das war der Augenblick, glaube ich, in dem der Nebel des Irrealen mich komplett verschluckte.

Al lächelte, und ich stellte fest, dass er nicht nur Gewicht, sondern auch viele Zähne verloren hatte. Sein Zahnfleisch sah blass und ungesund aus. »Wie gefällt dir mein neues Ich, Jake?« Und er begann zu husten – mit dumpf rasselnden Lauten, die tief aus seinem Inneren kamen.

Ich öffnete den Mund. Brachte kein Wort heraus. Irgendein feiger, angewiderter Teil meines Verstandes dachte noch einmal an Flucht, aber selbst wenn dieser Teil das Kommando gehabt hätte, wäre ich nicht dazu imstande gewesen. Ich stand wie angewurzelt da.

Al bekam den Husten unter Kontrolle und zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche. Damit wischte er sich erst den Mund, dann die Handfläche ab. Bevor er es wieder einsteckte, sah ich, dass es Blutflecken hatte.

»Komm rein«, sagte er. »Ich muss über vieles reden und glaube, dass du der Einzige bist, der mir vielleicht zuhört. Wirst du mir zuhören?«

»Al«, sagte ich. Meine Stimme war so leise und kraftlos, dass ich sie selbst kaum hören konnte. »Was ist mit dir passiert?«

»Wirst du zuhören?«

»Natürlich.«

»Du wirst Fragen haben, und ich werde dir so viele beantworten, wie ich kann, aber versuch sie auf ein Minimum zu beschränken. Ich habe nicht mehr viel Stimme. Teufel, ich habe nicht mehr viel Kraft. Komm rein.«

Ich kam rein. Der Diner war dunkel und kühl und leer. Die Theke glänzte fleckenlos sauber; die verchromten Hockerbeine blitzten; die Kaffeemaschine war auf Hochglanz poliert; das Schild WENN IHNEN UNSERE STADT NICHT GEFÄLLT, SEHEN SIE SICH NACH EINEM FAHRPLAN UM lehnte wie immer an der Sweda-Registrierkasse. Das Einzige, was hier fehlte, waren Gäste.

Und natürlich auch der kochende Besitzer. Al Templeton war durch ein gealtertes, dahinsiechendes Gespenst ersetzt worden. Als er die Tür von innen verriegelte, sodass wir eingesperrt waren, klang das Geräusch dabei sehr laut.

4

»Lungenkrebs«, sagte er nüchtern, nachdem er zu einer Sitznische im rückwärtigen Teil des Lokals vorausgegangen war. Er tippte sich auf die Hemdtasche, und ich sah, dass sie leer war. Das nie fehlende Päckchen filterloser Camels war verschwunden. »Keine große Überraschung. Ich hab mit elf angefangen und bis zu dem Tag gequalmt, an dem ich die Diagnose bekam. Über fünfzig verdammte Jahre. Drei Päckchen am Tag bis zu der großen Preiserhöhung im Jahr 2007. Ab da hab ich ein Opfer gebracht und mich auf zwei am Tag beschränkt.« Er lachte keuchend.

Ich überlegte, ob ich ihn darauf hinweisen sollte, dass er falsch gerechnet hatte, denn ich kannte sein wahres Alter. Am Ende des Winters war ich eines Tages reingekommen und hatte ihn gefragt, warum er mit einem Partyhütchen für Kindergeburtstage am Grill stehe, worauf er geantwortet hatte: Weil heute mein Siebenundfünfzigster ist, Kumpel. Womit ich ein offizieller Heinz bin. Aber er hatte mich gebeten, nur absolut unerlässliche Fragen zu stellen, und dazu gehörte sicher auch, dass ich ihn nicht unterbrach, um ihn zu korrigieren.

»Wäre ich an deiner Stelle – und ich wollte, das wäre ich, obwohl ich dir das nie wünschen würde, nicht in meinem jetzigen Zustand –, würde ich denken: Hier ist irgendwas faul, kein Mensch kriegt über Nacht Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Stimmt das ungefähr?«

Ich nickte. Das stimmte genau.

»Die Antwort ist ganz einfach. Es ist nicht über Nacht passiert. Ich habe damals im Mai – vor ungefähr sieben Monaten – angefangen, mir die Lunge aus dem Leib zu husten.«

Das war mir neu; falls er da schon gehustet hatte, hatte er es nicht in meiner Gegenwart getan. Und er hatte wieder mal falsch gerechnet. »Al, hallo? Wir haben Juni. Vor sieben Monaten war es Dezember.«

Er winkte ab – mit einer so abgemagerten Hand, dass der Marine-Corps-Ring nur noch lose am Ringfinger hing, statt ihn zu umschließen –, als wollte er sagen: Lass das jetzt mal beiseite, vergiss es einfach.

»Zuerst dachte ich, ich hätte eine Erkältung oder vielleicht die Asiatische Grippe – die grassierte damals. Aber ich hatte kein Fieber, und der Husten ist nicht weggegangen, sondern schlimmer geworden. Dann habe ich angefangen abzunehmen. Nun, ich bin nicht blöd, Kumpel, und hab immer gewusst, dass ich mal Krebs kriegen könnte … obwohl meine Eltern wie gottverdammte Schlote gequalmt haben und über achtzig geworden sind. Ich glaube, wir finden immer Ausreden, um unsere schlechten Angewohnheiten beibehalten zu können, nicht wahr?«

Er begann wieder zu husten und zog das Taschentuch heraus. Als das Keuchen aufhörte, sagte er: »Ich darf nicht abschweifen, aber das gewöhnt man sich schwer ab, wenn man’s sein Leben lang getan hat. Sogar schwerer, als mit dem Rauchen aufzuhören. Wenn ich nächstes Mal wieder vom Kurs abkomme, machst du mit dem Zeigefinger eine Art Sägebewegung vor deiner Kehle, okay?«

»Okay«, sagte ich ganz bereitwillig. Inzwischen war ich auf die Idee gekommen, dass das alles vielleicht nur ein Traum war. Dann allerdings ein äußerst lebensechter Traum, bis hin zu den von dem Deckenventilator geworfenen Schatten, die über die Tischsets mit der Aufschrift UNSER WERTVOLLSTES KAPITAL SIND SIE! marschierten.

»Um es kurz zu machen: Ich bin zum Arzt gegangen und hab mich röntgen lassen, und da waren sie, groß wie der Leibhaftige. Zwei Tumore. Fortgeschrittene Nekrose. Inoperabel.«

Röntgen, dachte ich – wird das noch gemacht, um Krebs zu diagnostizieren?

»Ich hab noch eine Zeit lang durchgehalten, aber zuletzt musste ich doch zurückkommen.«

»Woher? Aus dem Krankenhaus? Lewiston? Central Maine General?«

»Aus meinem Urlaub.« Seine Augen starrten mich aus den dunklen Höhlen an, in denen sie verschwanden. »Bloß war es kein Urlaub.«

»Al, ich verstehe das alles nicht. Gestern warst du hier, und du warst gesund.«

»Sieh dir mein Gesicht genau an. Fang beim Haaransatz an und arbeite dich weiter nach unten vor. Versuch zu ignorieren, wie der Krebs mich gerade zurichtet – er entstellt einen ziemlich, so viel steht fest –, und sag mir dann, dass ich derselbe Mensch bin, den du gestern gesehen hast.«

»Nun, du hast dir offenbar die Haarfarbe rausgewaschen …«

»Hab nie welche benutzt. Ich erspare es mir, dich auf die Zähne aufmerksam zu machen, die ich verloren habe, während ich … fort war. Ich weiß, dass dir das längst aufgefallen ist. Glaubst du, das kommt vom Röntgen? Oder von Strontium-90 in der Milch? Ich trinke nicht mal Milch, bis auf einen Spritzer in meinem letzten Kaffee am Tag.«

»Strontium was?«

»Schon gut. Nimm Kontakt mit deiner, wie sagt man gleich wieder, femininen Seite auf. Sieh mich an, wie Frauen andere Frauen ansehen, wenn sie ihr Alter schätzen.«

Ich versuchte zu tun, was er verlangte, und obwohl meine Beobachtungen niemals vor Gericht Bestand gehabt hätten, überzeugten sie mich. Von den Augenwinkeln ausgehend, spannten sich Spinnweben aus Falten, und die Lider wiesen die gekräuselten Fältchen auf wie bei Leuten, die an der Kasse eines Multiplexkinos nicht mehr ihre Seniorenkarte vorzeigen mussten. Tiefe Runzeln, die gestern Abend noch nicht da gewesen waren, gruben Sinuswellen in Als Stirn. Zwei noch viel tiefere Falten zogen sich an den Mundwinkeln vorbei nach unten. Das Kinn war spitzer, die Haut am Hals schlaff geworden. Das spitze Kinn und der Kehllappen konnten eine Folge seines katastrophalen Gewichtsverlusts sein, aber diese Falten … und wenn er nicht log, was seine Haare betraf …

Er lächelte schwach. Ein grimmiges Lächeln, aber nicht ganz humorlos. Was es irgendwie schlimmer machte. »Erinnerst du dich an meinen Geburtstag letzten März? ›Keine Sorge, Al‹, hast du gesagt, ›wenn dieses dämliche Partyhütchen Feuer fängt, während du am Grill stehst, schnappe ich mir den Feuerlöscher und lösche dich.‹ Erinnerst du dich daran?«

Das tat ich. »Du hast gesagt, nun wärst du ein offizieller Heinz.«

»Ja, das habe ich. Und jetzt bin ich zweiundsechzig. Ich weiß, dass der Krebs mich noch älter aussehen lässt, aber diese … und diese …« Er berührte seine Stirn, dann einen Augenwinkel. »Das sind authentische Alterstätowierungen. Gewissermaßen Ehrenzeichen.«

»Al … kann ich ein Glas Wasser haben?«

»Natürlich. Das ist ein ganz schöner Schock, was?« Er betrachtete mich mitfühlend. »Du denkst: ›Entweder bin ich verrückt, oder er ist’s, oder wir sind es beide.‹ Ich weiß, wie das ist. Ich hab’s selbst erlebt.«

Er stemmte sich mühsam hoch und griff sich dabei mit der rechten Hand unter die linke Achsel, als versuchte er sich irgendwie zusammenzuhalten. Dann führte er mich hinter die Theke. Dabei wurde mir ein weiterer Aspekt dieser irrealen Begegnung bewusst: Außer bei Gelegenheiten, bei denen ich mit ihm in der St. Cyril’s auf derselben Kirchenbank gesessen hatte (was selten genug vorkam, weil ich kein sehr gläubiger Kattelick bin) oder ihm auf der Straße begegnet war, hatte ich ihn nie ohne seine Kochschürze gesehen.

Er nahm ein blitzblankes Glas herunter und ließ es aus einem glänzend verchromten Wasserhahn volllaufen. Ich bedankte mich und wollte zu der Sitznische zurückgehen, aber er tippte mir auf die Schulter. Ich wollte, das hätte er nicht getan. Es war, als tippte einem S. T. Coleridges alter Seefahrer, der einen von dreien anhielt, auf die Schulter.

»Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst, bevor wir uns wieder setzen. So geht’s schneller. Nur ist sehen nicht das richtige Wort. Erleben trifft es besser, denke ich. Trink aus, Kumpel.«

Ich trank das Glas halb aus. Das Wasser war kühl und gut, aber ich ließ ihn nicht aus den Augen, während ich trank. Der Feigling in mir rechnete damit, überfallen zu werden wie das erste ahnungslose Opfer in einem dieser Wahnsinniger-auf-freiem-Fuß-Filme, die immer Zahlen im Titel zu haben scheinen. Al stand jedoch nur da, mit einer Hand auf die Theke gestützt. Die Hand mit den groben Knöcheln war runzlig. Sie sah nicht wie die Hand eines Mannes Ende fünfzig aus, selbst wenn er Krebs hatte, und …

»Kommt das von der Bestrahlung?«, fragte ich plötzlich.

»Was soll von ihr kommen?«

»Du bist sonnengebräunt. Von den schwarzen Flecken auf deinem Handrücken ganz zu schweigen. Die bekommt man von einer Bestrahlung oder von zu viel Sonne.«

»Tja, da ich keine Strahlentherapie gemacht habe, bleibt wohl nur die Sonne. Von der habe ich in den letzten vier Jahren ziemlich viel abbekommen.«

Meines Wissens hatte Al die letzten vier Jahre damit verbracht, bei Neonlicht Hamburger zu braten und Milchshakes zu mixen, aber das sagte ich nicht. Ich trank nur mein Wasser aus. Als ich das Glas auf die Resopalplatte zurückstellte, merkte ich, dass meine Hand leicht zitterte.

»Okay, was soll ich mir also ansehen? Oder erleben?«

»Komm mit.«

Er führte mich durch den langen, schmalen Bereich hinter der Theke, vorbei an dem Doppelgrill, den Fritteusen, dem Spülbecken, dem Kühlschrank von Frost-King und der summenden hüfthohen Tiefkühltruhe. Bei dem stummen Geschirrspüler blieb er stehen und zeigte auf die Tür in der Rückwand des Küchenbereichs. Sie war niedrig; Al würde den Kopf einziehen müssen, wenn er hindurchging, und er war nur etwa einen Meter siebzig groß. Ich war einen Meter fünfundneunzig groß – manche der Schüler nannten mich Helikopter-Epping.

»Dort«, sagte er. »Durch diese Tür.«

»Führt die nicht in den Vorratsraum?« Eine rein rhetorische Frage; ich hatte ihn im Lauf der Jahre mit genügend Konserven, Kartoffelsäcken und Flaschen herauskommen sehen, um verdammt genau zu wissen, was dahinter lag.

Al schien mich nicht gehört zu haben. »Hast du gewusst, dass ich diesen Laden ursprünglich in Auburn aufgemacht hatte?«

»Nein.«

Er nickte, und das schien einen weiteren Hustenanfall auszulösen, den er mit dem zunehmend gruseligeren Taschentuch erstickte. Als dieser letzte Anfall abklang, warf er das Taschentuch in den Mülleimer in der Nähe, dann schnappte er sich eine Handvoll Servietten aus dem Spender auf der Theke.

»Dies ist ein Aluminaire, in den Dreißigerjahren gebaut und ein Art-déco-Prachtstück. Ich wollte schon immer einen, seit mein Dad mich als kleinen Jungen ins Chat ’N Chew in Bloomington mitgenommen hat. Hab ihn voll eingerichtet gekauft und in der Pine Street aufgestellt. Dort war ich fast ein Jahr lang, bis ich gemerkt habe, dass ich in einem weiteren Jahr bankrott sein würde, wenn ich dort bliebe. In der näheren Umgebung gab’s zu viele Schnellimbisse, manche gut, manche nicht so gut, alle mit Stammgästen. Ich war wie ein Junganwalt, der seine Kanzlei in einer Kleinstadt aufmacht, in der es schon ein Dutzend gut etablierter Winkeladvokaten gibt. Außerdem hat Al’s Famous Fatburger damals zweieinhalb Dollar gekostet. Selbst in den Neunzigerjahren konnte ich nicht unter zweieinhalb gehen.«

»Wie zum Teufel kannst du ihn dann jetzt für weniger als die Hälfte verkaufen? Außer er ist wirklich aus Katze.«

Er schnaubte, ein Geräusch, das tief in seiner Brust ein schleimiges Echo seiner selbst erzeugte. »Kumpel, was ich verkaufe, ist hundertprozentig unverfälschtes amerikanisches Rindfleisch, das beste der Welt. Weiß ich, was die Leute reden? Und ob. Ich schere mich nicht darum. Was sollte ich sonst tun? Die Leute vom Reden abhalten? Da könnte man ebenso gut versuchen, den Wind am Wehen zu hindern.«

Ich fuhr mir mit dem Zeigefinger über die Kehle. Al lächelte.

»Stimmt, ich schweife wieder mal ab, ich weiß, aber diesmal gehört es zur Story. Ich hätte mich weiter in der Pine Street abrackern können, aber Yvonne Templeton hat keine Dummköpfe großgezogen. ›Lieber weglaufen und dafür ein andermal weiterkämpfen‹, hat sie uns Kindern gepredigt. Ich hab mein letztes Geld zusammengekratzt, hab die Bank beschwatzt, mir weitere fünf Riesen zu leihen – frag mich nicht, wie –, und bin hierher nach Lisbon Falls umgezogen. Das Geschäft läuft nicht besonders großartig, nicht in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten und nicht mit all dem dummen Gerede über Als Katzenburger oder Hundeburger oder Skunkburger oder was die Fantasie der Leute sonst noch reizt, aber wie sich gezeigt hat, bin ich nicht mehr von der Wirtschaftslage abhängig, wie es andere Leute sind. Und das kommt alles von dem, was hinter dieser Tür liegt. Es war nicht da, als ich in Auburn ansässig war, das könnte ich auf einen drei Meter hohen Bibelstapel schwören. Es hat sich erst hier gezeigt.«

»Wovon redest du eigentlich?«

Er sah mich mit seinen wässrigen, frisch gealterten Augen ruhig an. »Genug geredet. Das musst du selbst rauskriegen. Also los, mach sie auf.«

Ich sah ihn zweifelnd an.

»Sieh es einfach als letzten Wunsch eines Sterbenden«, sagte er. »Mach schon, Kumpel. Das heißt, wenn du wirklich mein Kumpel bist. Öffne die Tür.«

5

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mein Herz nicht einen Gang höher schaltete, als ich den Türknopf drehte und daran zog. Ich hatte keine Ahnung, was mich dahinter erwartete (obwohl ich mich zu erinnern scheine, dass mir kurz ein Bild von abgebalgten Katzen, die auf den elektrischen Fleischwolf warteten, vor Augen stand), aber als Al an meiner Schulter vorbeigriff und das Licht anknipste, sah ich …

Nun, einen Vorratsraum.

Er war klein und so ordentlich wie das übrige Lokal. An beiden Wänden standen Regale mit Großverbraucherdosen. An der Rückwand, wo das gekrümmte Dach niedriger wurde, stand einiges Putzzeug, obwohl Besen und Mopp hingelegt werden mussten, weil dieser Teil der kleinen Kammer kaum einen Meter hoch war. Der Boden war wie draußen im Gastraum aus grauem Linoleum, aber statt nach gebratenem Fleisch roch es hier drinnen nach Kaffee, Gemüse und Gewürzen. Dazu kam ein weiterer Geruch, schwach und nicht so angenehm.

»Okay«, sagte ich. »Das ist der Vorratsraum. Aufgeräumt und mit vollen Regalen. Du bekommst eine Eins in Vorratsverwaltung, falls es so was gibt.«

»Was riechst du?«

»Vor allem Gewürze. Kaffee. Vielleicht auch Raumspray, aber da bin ich mir nicht sicher.«

»Mhm, ich benutze Glade. Wegen dem anderen Geruch. Heißt das, dass du sonst nichts riechst?«

»Doch, da ist noch was. Irgendwie schweflig. Erinnert an abgebrannte Streichhölzer.« Außerdem erinnerte es mich an das Giftgas, das unsere ganze Familie früher ausstieß, wenn Mutter am Samstagabend wieder mal Bohnen gekocht hatte, aber das wollte ich lieber nicht sagen. Musste man von einer Krebstherapie furzen?

»Das ist Schwefel. Unter anderem, aber Chanel Nummer fünf ist nicht dabei. Es ist der Geruch der Fabrik, Kumpel.«

Noch mehr Verrücktheit, aber ich sagte nur (im Tonfall absurder Cocktailparty-Höflichkeit): »Wirklich?«

Er lächelte wieder und ließ dabei Lücken sehen, wo am Tag zuvor noch Zähne gewesen waren. »Was denn, du bist zu höflich, um zu sagen, dass Worumbo schon ewig lange außer Betrieb ist? Dass der größte Teil der Fabrik damals in den Achtzigerjahren niedergebrannt ist, und was jetzt dort draußen steht …« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter. »… ist nur ein Outlet Store. Ein Allerweltsziel für Touristen im Vacationland wie die Kennebec Fruit Company in der guten alten Moxie-Zeit. Außerdem denkst du, dass es langsam Zeit wird, dein Handy rauszuholen und die Männer in weißen Kitteln herzubestellen. Kommt das ungefähr hin, Kumpel?«

»Ich rufe niemand an. Weil du nicht verrückt bist.« Dabei war ich mir da keineswegs so sicher. »Aber das hier ist nur ein Vorratsraum, und es ist wahr, dass die Worumbo Mills and Weaving im letzten Vierteljahrhundert keinen einzigen Stoffballen mehr hergestellt hat.«

»Du wirst niemand anrufen, da hast du recht, weil ich möchte, dass du mir dein Handy, deine Geldbörse und alles Geld gibst, das du in den Taschen hast – auch die Münzen. Das ist kein Raubüberfall; du kriegst alles wieder. Wärst du so nett?«

»Wie lange wird das dauern, Al? Ich muss nämlich noch ein paar Leistungskursaufsätze korrigieren, damit ich meine Notenliste für dieses Schuljahr abschließen kann.«

»Es kann so lange dauern, wie du willst, aber hier dauert es nur zwei Minuten«, sagte er. »Es dauert immer zwei Minuten. Du kannst dir eine Stunde Zeit nehmen, wenn du willst, um dir alles in Ruhe anzusehen, aber ich tät’s nicht, nicht beim ersten Mal, weil es einen wirklichen Schock bedeutet. Du wirst schon sehen. Vertraust du mir in dieser Sache?« Etwas, was er auf meinem verängstigten Gesicht sah, straffte die Lippen über seinem lückenhaften Gebiss. »Bitte. Bitte, Jake. Der letzte Wunsch eines Sterbenden.«

Inzwischen war ich mir sicher, dass er verrückt war, aber ich wusste auch, dass »Sterbender« seinen Zustand treffend beschrieb. Schon in der kurzen Zeit unseres Gesprächs schienen seine Augen noch tiefer in ihren Höhlen versunken zu sein. Außerdem war Al erschöpft. Allein die zwei Dutzend Schritte von der Sitznische im rückwärtigen Teil des Diners bis zu dem Vorratsraum am anderen Ende hatten genügt, um ihn sichtbar schwanken zu lassen. Und das blutige Taschentuch, sagte ich mir. Vergiss das blutige Taschentuch nicht.

Außerdem … manchmal ist es einfacher mitzumachen, oder etwa nicht? »Loslassen und Gott überlassen«, sagen sie in den AA-Meetings, zu denen meine Exfrau geht, aber ich beschloss, dass dies ein Fall von Loslassen und Al Überlassen war. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Und he, sagte ich mir, heutzutage musste man einen größeren Zirkus mitmachen, nur um an Bord eines Flugzeugs gehen zu dürfen. Er hatte nicht mal verlangt, dass ich meine Schuhe auf ein Förderband stellte.

Ich hakte mein Mobiltelefon vom Gürtel und legte es auf einen Karton mit Thunfisch in Dosen. Dann legte ich meine Geldbörse, ein paar zusammengefaltete Geldscheine, ungefähr eineinhalb Dollar in Münzen und meinen Schlüsselring daneben.

»Behalt die Schlüssel, die spielen keine Rolle.«

Nun, mir waren sie wichtig, aber ich hielt den Mund.

Al griff in seine Tasche und brachte einen weit dickeren Packen Geldscheine zum Vorschein, als ich auf den Karton gelegt hatte. Er hielt ihn mir hin. »Zum Verjubeln. Falls du ein Andenken oder so was kaufen möchtest. Na los, nimm’s schon.«

»Wieso kann ich dafür nicht mein eigenes Geld nehmen?« Das klang durchaus vernünftig, fand ich. Als ergäbe dieses verrückte Gespräch irgendeinen Sinn.

»Lassen wir das jetzt«, sagte er. »Das Erlebnis wird die meisten deiner Fragen besser beantworten, als ich das könnte, selbst wenn mein Zustand tipptopp wäre, und im Augenblick ist er das genaue Gegenteil von tipptopp. Los, nimm das Geld.«

Ich nahm das Geld und blätterte den Packen durch. Obenauf lagen Eindollarscheine, die in Ordnung zu sein schienen. Dann kam ich zu einem Fünfer, der okay und doch wieder nicht okay aussah. Über Abe Lincolns Porträt stand SILVER CERTIFICATE, und links von ihm war eine große blaue Fünf aufgedruckt. Ich hielt den Schein ans Licht.

»Er ist nicht gefälscht, falls du das meinst.« Al klang müde amüsiert.

Vielleicht nicht – er fühlte sich so echt an, wie er aussah –, aber das Wasserzeichenbild fehlte.

»Wenn er echt ist, muss er alt sein«, sagte ich.

»Steck das Geld einfach ein, Jake.«

Ich tat, wie geheißen.

»Hast du einen Taschenrechner? Irgendein anderes elektronisches Gerät?«

»Nein.«

»Dann kann’s losgehen, denke ich. Dreh dich um, damit du mit dem Gesicht zur Rückwand stehst.« Bevor ich das tun konnte, schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn und sagte: »O Gott, wo ist bloß mein Hirn? Ich hab den Gelbe-Karte-Mann vergessen.«

»Den wen? Den was?«

»Den Mann mit der gelben Karte. So nenne ich ihn nur, seinen richtigen Namen weiß ich nicht. Hier, nimm das.« Er wühlte in seiner Tasche, dann gab er mir ein Fünfzigcentstück. Ich hatte schon seit vielen Jahren kein solches Geldstück mehr gesehen. Wahrscheinlich seit meiner Kindheit nicht mehr.

Ich wog es in der Hand. »Ich glaube nicht, dass du mir das geben willst. Es ist wertvoll.«

»Klar ist es wertvoll, es ist einen halben Dollar wert.«

Al begann wieder zu husten, und diesmal schüttelte der Husten ihn durch wie ein stürmischer Wind, aber er wehrte ab, als ich auf ihn zutreten wollte. Er lehnte an dem Kartonstapel, auf dem mein Zeug lag, spuckte in den Packen Servietten in seiner Hand, sah hin, zuckte leicht zusammen und umschloss ihn mit einer Faust. Über sein hageres Gesicht liefen jetzt Schweißbäche.

»Hitzewallungen oder so ähnlich. Zu allem übrigen Scheiß pfuscht der verdammte Krebs auch noch an meinem Thermostat herum. Aber zu dem Mann mit der Karte. Er ist ein Trinker und an sich harmlos, aber er ist nicht wie alle anderen. Es ist, als ob er etwas wüsste. Ich glaube, das ist nur ein Zufall – weil er nicht weit von der Stelle entfernt sitzt, an der du rauskommen wirst –, aber ich wollte dich nur schon mal über ihn informieren.«

»Also, sehr erfolgreich bist du damit nicht«, sagte ich. »Ich hab keine Scheißahnung, wovon du redest.«

»Er wird sagen: ›Ich hab ’ne gelbe Karte vom Greenfront, also gib mir ’nen Dollar, heute ist nämlich Zwei-für-eins-Tag.‹ Hast du das?«

»Ich hab’s.« Die Scheiße wurde immer tiefer.

»Und er hat tatsächlich eine gelbe Karte in seinem Hutband stecken. Womöglich nur die Karte eines Taxiunternehmens oder vielleicht ein Coupon von Red & White, den er im Rinnstein gefunden hat, aber sein Hirn ist hinüber von reichlich billigem Wein, und er scheint die Karte für so was wie Willy Wonkas Golden Ticket zu halten. Deshalb sagst du: ›Ich hab keinen Dollar übrig, aber hier ist ein halber‹, und gibst ihm das Geldstück. Dann sagt er vielleicht …« Al hob einen jetzt knochendürren Finger. »Er sagt möglicherweise etwas wie: ›Wieso bist du hier?‹ oder ›Woher kommst du?‹ Er sagt vielleicht sogar etwas wie: ›Du bist nicht derselbe Kerl.‹ Das glaube ich zwar eher nicht, aber möglich ist es. Da gibt’s einiges, was ich nicht weiß. Unabhängig davon, was er sagt, lässt du ihn einfach am Trockenschuppen zurück – dort sitzt er nämlich – und gehst zum Tor hinaus. Wenn du gehst, ruft er dir wahrscheinlich nach: ›Ich weiß, dass du ’nen Dollar übrig hättest, du geiziger Drecksack!‹, aber du achtest nicht darauf. Siehst dich nicht um. Du überquerst die Bahngleise und bist an der Kreuzung von Main und Lisbon.« Er bedachte mich mit einem ironischen Lächeln. »Danach gehört die Welt dir, Kumpel.«

»Trockenschuppen?« Ich meinte mich vage an etwas in der Nähe der Stelle zu erinnern, an der jetzt Al’s Diner stand, und vermutete, es könnte der alte Trockenschuppen von Worumbo gewesen sein, aber was immer einst dort gewesen war, jetzt war es nicht mehr da. Hätte der gemütliche kleine Vorratsraum des Aluminaire ein Fenster gehabt, hätte es nur auf einen mit Klinkersteinen gepflasterten Hof und einen Laden für Freizeitkleidung hinausgeführt, der Your Maine Snuggery hieß. Kurz nach Weihnachten hatte ich mir dort einen North-Face-Parka gegönnt, war ein echtes Schnäppchen gewesen.

»Lass den Trockenschuppen, merk dir bloß, was ich gesagt habe. Dreh dich jetzt wieder um – so ist’s recht –, und mach zwei oder drei Schritte vorwärts. Kleine Schritte. Babyschritte. Stell dir vor, du wolltest bei völliger Dunkelheit die oberste Stufe einer Treppe finden – so vorsichtig.«

Ich tat wie geheißen und kam mir dabei vor wie der größte Trottel der Welt. Ein Schritt … ich musste den Kopf einziehen, um nicht die Aluminiumdecke zu streifen … zweiter Schritt … jetzt tatsächlich schon leicht gebeugt. Noch ein paar Schritte, dann würde ich knien müssen. Das würde ich unter keinen Umständen tun, letzter Wunsch eines Sterbenden hin oder her.

»Al, das ist idiotisch. Wenn ich dir keinen Karton Obstsalat oder ein paar dieser kleinen Geleeschalen holen soll, kann ich hier hinten nichts …«

In diesem Augenblick ging mein rechter Fuß tiefer, als wäre ich dabei, eine Treppe hinabzusteigen. Nur stand er weiter fest auf dem grauen Linoleum. Ich konnte ihn sehen.

»Jetzt geht’s los«, sagte Al. Seine Stimme klang nicht mehr rau, zumindest vorübergehend, sondern ganz sanft vor Befriedigung. »Du hast es gefunden, Kumpel.«

Aber was hatte ich gefunden? Was genau erlebte ich gerade? Die Macht der Autosuggestion schien die plausibelste Antwort zu sein, denn unabhängig davon, was ich spürte, konnte ich weiter meinen Fuß auf dem Linoleum sehen. Abgesehen von …

Sie wissen, wie man an einem sonnenhellen Tag die Augen schließen und ein Nachbild dessen sehen kann, was man gerade betrachtet? So war es auch hier. Wenn ich meinen Fuß ansah, sah ich ihn auf dem Linoleum stehen. Aber wenn ich blinzelte, sah ich meinen Fuß ganz kurz – eine Millisekunde bevor ich die Augen schloss, vielleicht auch eine Millisekunde danach, das konnte ich nicht sagen – auf einer hölzernen Treppenstufe. Und auch nicht im trüben Licht einer Fünfundzwanzigwattfunzel, sondern in hellem Sonnenschein.

Ich erstarrte.

»Weiter«, sagte Al. »Keine Angst, dir passiert nichts, Kumpel. Geh einfach weiter.« Er hustete bellend, dann sagte er in einer Art verzweifeltem Knurren: »Du musst es für mich tun.«

Also tat ich es.

Gott, steh mir bei, ich tat es.

Kapitel 2

1

Ich machte einen weiteren Schritt vorwärts und stieg die nächste Stufe hinunter. Meine Augen sagten mir, dass ich auf dem Boden des Vorratsraums von Al’s Diner stand, aber ich stand aufrecht, und mein Scheitel streifte nicht mehr die Aluminiumdecke. Was natürlich unmöglich war. Als Reaktion auf meine Sinnesverwirrung verkrampfte mein Magen sich missvergnügt, und ich konnte spüren, wie das Eiersalatsandwich und das Stück Apfelkuchen vom Mittagessen sich darauf vorbereiteten, gleich die Auswurftaste zu drücken.

Hinter mir – aber aus einiger Entfernung, als stünde er nicht anderthalb, sondern fünfzehn Meter weit weg – sagte Al: »Mach die Augen zu, Kumpel, dann ist es leichter.«

Als ich das tat, verflog die Sinnesverwirrung schlagartig. Es war, als hörte man auf zu schielen. Oder noch eher, als setzte man in einem 3-D-Film die Spezialbrille auf. Ich bewegte meinen rechten Fuß und ging eine weitere Stufe hinunter. Ich war auf einer Treppe; daran hatte mein Körper bei geschlossenen Augen keinen Zweifel.

»Noch zwei, dann mach sie auf«, sagte Al. Seine Stimme klang weiter entfernt denn je. Als stünde er nicht an der Tür des Vorratsraums, sondern am anderen Ende des Diners.

Ich setzte den linken Fuß nach unten. Als ich den rechten folgen ließ, hatte ich plötzlich ein Knacken in den Ohren, wie im Flugzeug, wenn der Kabinendruck plötzlich abfällt. Die Dunkelheit vor meinen Augen verfärbte sich rot, und ich spürte Wärme auf der Haut. Ich war in der Sonne. Das stand außer Zweifel. Und dieser schwache Schwefelgeruch war stärker geworden, war auf der sensorischen Skala von kaum wahrnehmbar auf deutlich unangenehm angestiegen. Auch das stand außer Zweifel.

Ich öffnete die Augen.

Ich war nicht mehr in dem Vorratsraum. Ich war auch nicht mehr in Al’s Diner. Obwohl der Vorratsraum keine Tür nach draußen hatte, war ich im Freien. Ich stand auf dem Hof. Aber er war nicht mehr gepflastert, nicht von Outlet Stores umgeben. Ich stand auf rissigem, schmutzigem Beton. An der kahlen, weißen Wand, wo Your Maine Snuggery hätte sein sollen, standen mehrere riesige Stahlbehälter. Sie waren mit etwas vollgepackt, was mit Planen aus grobem Sackleinen abgedeckt war.

Ich drehte mich nach dem großen silbrigen Trailer von Al’s Diner um, aber das Lokal war verschwunden.

2

Wo es hätte stehen sollen, ragte die gewaltige dickenssche Masse der Worumbo Mills & Weaving auf, und sie war in vollem Betrieb. Ich konnte das Rumpeln der Färber und Trockner, das Schat-USCH-schat-USCH der gewaltigen Webstühle hören, die früher den ersten Stock ausgefüllt hatten (Bilder dieser Maschinen, die von Kopftuch tragenden Frauen in Overalls bedient wurden, hatte ich in dem winzigen Gebäude der Lisbon Historical Society in der Upper Main Street gesehen). Weiß-grauer Rauch quoll aus den drei hohen Fabrikkaminen, die in den Achtzigerjahren bei einem großen Sturm eingestürzt waren.

Ich stand neben einem großen, grün gestrichenen Gebäudewürfel, dem Trockenschuppen, wie ich vermutete. Er füllte den halben Hof aus und ragte ungefähr sechs Meter hoch auf. Ich war eine Treppe herabgekommen, aber hier gab es keine Treppe. Keinen Weg zurück. Panik durchflutete mich.

»Jake?« Das war Als Stimme, aber sie klang sehr schwach. Sie schien meine Ohren nur durch einen akustischen Trick zu erreichen – wie eine Stimme, die sich meilenweit durch einen schmalen Canyon wand. »Zurück kommst du, wie du hingekommen bist. Du musst nach den Stufen tasten.«

Ich hob den linken Fuß, brachte ihn leicht nach vorn und ertastete eine Stufe. Meine Panik ließ nach.

»Geh jetzt.« Schwach. Eine Stimme, die ihre Energie aus ihren Echos zu beziehen schien. »Sieh dich ein bisschen um, dann komm zurück.«

Anfangs ging ich nirgends hin, sondern stand bloß da und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. Meine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Meine Kopfhaut und ein schmaler Hautstreifen entlang meinem Rückgrat kribbelten. Ich war ängstlich – vor Angst fast gelähmt –, aber das wurde durch starke Neugier ausgeglichen, die auch meine Panik (vorerst) zurückdrängte. Ich konnte meinen Schatten auf dem Beton so klar sehen, als wäre er aus schwarzem Stoff ausgeschnitten. Ich konnte Rostflocken an der Kette sehen, die den Trockenschuppen vom Rest des Hofs absperrte. Ich konnte den beißenden Rauch aus den drei Kaminen riechen, von dem mir die Augen brannten. Ein Inspektor der Umweltschutzbehörde hätte diesen Scheiß nur zu riechen brauchen, um den ganzen Laden sofort dichtzumachen. Nur … ich glaubte nicht, dass es hier in der Umgebung EPA-Inspektoren gab. Ich wusste nicht mal, ob die Environmental Protection Agency schon erfunden war. Aber ich wusste, wo ich war: Lisbon Falls, Maine, tief in der Androscoggin County.

Die eigentliche Frage lautete: Wann war ich?

3

An der Kette hing ein Schild, das ich nicht lesen konnte – der Text stand auf der Vorderseite. Ich wollte darauf zugehen, blieb dann aber stehen. Ich schloss die Augen, schlurfte vorwärts und ermahnte mich, Babyschritte zu machen. Als mein linker Fuß wieder gegen die Treppe stieß, die zu Al’s Diner hinaufführte (zumindest hoffte ich das sehnlichst), griff ich in die Gesäßtasche und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus – ein Briefchen von dem erhabenen Chef meines Fachbereichs: »Einen schönen Sommer, und vergessen Sie unseren Planungstag im Juli nicht.« Ich fragte mich, wie er reagieren würde, wenn Jake Epping im kommenden Schuljahr einen sechswöchigen Block »Zeitreisen in der Literatur« unterrichten würde. Dann riss ich oben einen Streifen Papier ab, faltete ihn zusammen und ließ ihn auf die erste Stufe der unsichtbaren Treppe fallen. Er landete natürlich auf dem Beton, markierte aber auch so die richtige Stelle. An diesem warmen, stillen Nachmittag würde das Papier nicht weggeweht werden, aber ich fand einen kleinen Betonbrocken, den ich vorsichtshalber als Briefbeschwerer benutzte. Er landete auf der Stufe, aber auch auf dem gefalteten Papierstreifen. Weil es keine Stufe, keine Treppe gab. Mir ging ein Fetzen aus einem alten Popsong durch den Kopf: First there is a mountain, then there is no mountain, then there is.

Sieh dich ein bisschen um, hatte Al gesagt, und ich beschloss, genau das zu tun. Wenn ich bisher nicht den Verstand verloren hatte, konnte ich vermutlich noch eine Weile durchhalten. Es sei denn, ich sah eine Parade von rosa Elefanten oder ein Ufo, das über John Crafts Auto Sales schwebte. Ich versuchte mir einzureden, dass dies alles nicht wirklich passierte, nicht passieren konnte, aber das zog nicht. Philosophen und Psychologen stritten vielleicht darüber, was real und was irreal war, aber die meisten von uns Normalsterblichen kannten und akzeptierten die Beschaffenheit der Welt um uns herum. Das hier passierte wirklich. Außerdem stank es viel zu sehr, um eine Halluzination zu sein.

Ich ging zu der Kette, die in Hüfthöhe hing, und schlüpfte darunter hindurch. Vorn auf dem Schild stand in schwarzer Schablonenschrift: AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST. Ich sah mich wieder um, konnte kein Anzeichen für unmittelbar bevorstehende Reparaturarbeiten erkennen, ging um die Ecke des Trockenschuppens und stolperte fast über den Mann, der sich dort sonnte. Viel Sonnenbräune würde er allerdings nicht bekommen. Er trug einen alten, schwarzen Mantel, der ihn wie ein amorpher Schatten umgab. An beiden Ärmeln gab es angetrocknete Rotzspuren. Der Körper in dem Mantel war bis zur Auszehrung abgemagert. Das eisgraue, strähnige Haar hing ihm ins stoppelbärtige Gesicht. Hier war ein Trinker, wenn es jemals einen gegeben hatte.

Aus der Stirn zurückgeschoben, trug er einen schmutzigen Fedora, der geradewegs aus einem Film noir der Fünfzigerjahre hätte stammen können, in dem alle Frauen Riesenbrüste hatten und alle Männer schnell redeten, während ihnen eine Zigarette im Mundwinkel hing. Und ja, im Hutband des weichen Filzhuts steckte wie die Pressekarte eines Reporters aus alten Zeiten eine gelbe Karte. Sie mochte ursprünglich leuchtend gelb gewesen sein, aber häufiges Begrapschen mit schmutzigen Fingern hatten sie schmuddelig werden lassen.

Als mein Schatten über ihn fiel, drehte der Mann mit der gelben Karte sich um und musterte mich mit trüben Augen.

»Scheiße, wer bist du?«, fragte er, nur klang das eher wie Scheie bissu?

Al hatte mir keine genauen Anweisungen gegeben, wie ich Fragen beantworten sollte, deshalb sagte ich, was mir am sichersten vorkam. »Das geht dich einen Scheiß an.«

»Dann scheiß auch auf dich.«

»Fein«, sagte ich. »Wir stimmen überein.«

»Hä?«

»Schönen Tag noch.« Ich wollte in Richtung Stahlschienentor los, das offen stand. Draußen links lag ein Parkplatz, der dort niemals gewesen war. Er stand voller Autos, von denen die meisten verbeult und alle alt genug waren, um in ein Automuseum zu gehören. Dort standen Buicks mit Bullaugen und Fords mit Torpedobug. Sie gehörten heutigen Fabrikarbeitern, dachte ich. Heutigen Arbeitern, die jetzt da drin waren und für ihre Arbeit nach Stunden bezahlt wurden.

»Ich hab ’ne gelbe Karte vom Greenfront«, sagte der Säufer. Er wirkte streitsüchtig und verunsichert zugleich. »Also gib mir ’nen Dollar, heute ist nämlich Zwei-für-eins-Tag.«

Ich hielt ihm das Fünfzigcentstück hin, und während ich mir wie ein Schauspieler vorkam, der im ganzen Stück nur einen Satz zu sagen hatte, sagte ich: »Ich habe keinen Dollar übrig, aber hier ist ein halber.«

Dann gibst du ihm das Geldstück, hatte Al gesagt, aber das war nicht nötig. Der Gelbe-Karten-Mann riss es mir aus der Hand und hielt es sich dicht vors Gesicht. Im ersten Augenblick dachte ich, er würde tatsächlich hineinbeißen, aber er ballte seine langfingrige Hand nur zur Faust und ließ es verschwinden. Als er wieder zu mir aufsah, wirkte sein misstrauisches Gesicht fast schon komisch.

»Wer bist du? Was machst du hier?«

»Weiß der Teufel«, sagte ich und wandte mich wieder dem Tor zu. Ich erwartete, dass er mich weiter mit Fragen bombardieren würde, aber hinter mir herrschte Schweigen. Ich ging durchs Tor hinaus.

4

Der neueste Wagen auf dem Parkplatz war ein Plymouth Fury – Mitte bis Ende der Fünfzigerjahre, schätzte ich. Das Nummernschild sah wie eine unglaublich altmodische Version meines rückwärtigen Subaru-Nummernschilds aus; das war auf Wunsch meiner Exfrau mit aufgedrucktem rosa Brustkrebs-Band geliefert worden. Auf dem, das ich jetzt begutachtete, stand jedenfalls VACATIONLAND, aber es war nicht weiß, sondern orangerot. Wie in den meisten Bundesstaaten hatten Kennzeichen aus Maine jetzt auch Buchstaben – bei meinem Subaru beispielsweise 23383 IY –, aber das Kennzeichen am Heck des fast neuen weiß-roten Furys lautete 90-811. Keine Buchstaben.

Ich berührte den Kofferraumdeckel. Er war hart und von der Sonne ganz warm. Er war real.

Du überquerst die Bahngleise und bist an der Kreuzung von Main und Lisbon. Danach gehört die Welt dir, Kumpel.

Vor der alten Weberei führten keine Bahngleise vorbei – zumindest nicht in meiner Zeit –, aber hier gab es sie wirklich. Auch keineswegs nur als übrig gebliebene Artefakte. Ihre Oberfläche glänzte wie poliert. Und irgendwo in der Ferne konnte ich das Wuff-tschuff eines richtigen Zuges hören. Wann waren zuletzt Züge durch Lisbon Falls gefahren? Vermutlich nicht mehr, seit die Fabrik zugemacht hatte und U.S. Gypsum (bei den Einheimischen als U.S. Gyp ’Em bekannt) noch Tag und Nacht in Betrieb gewesen war.

Nur war sie bestimmt Tag und Nacht in Betrieb, dachte ich. Darauf hätte ich gewettet. Und die Weberei auch. Weil das hier nämlich nicht mehr das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war.

Ich war weitergegangen, ohne es richtig zu merken – hatte mich wie ein Schlafwandler bewegt. Jetzt stand ich an der Ecke Main Street und Route 196, die auch als Old Lewiston Road bekannt war. Nur hatte sie gar nichts Altes an sich. Und schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Kreuzung …

Dort stand die Kennebec Fruit Company, was wirklich ein grandioser Name für einen Laden war, der meinem Eindruck nach in den zehn Jahren, die ich an der LHS unterrichtete, immer am Rand der Pleite gestanden hatte. Sein unwahrscheinlicher Daseinszweck und einziges Überlebensmittel war Moxie, diese irrste aller Limonaden. Der Besitzer der Fruit Company, ein älterer, liebenswürdiger Mann namens Frank Anicetti, hatte mir einmal erklärt, die Weltbevölkerung zerfalle auf natürliche (und vermutlich genetisch bedingte) Weise in zwei Gruppen: die sehr wenigen, aber gesegneten Auserwählten, die Moxie mehr als jedes andere Getränk schätzten … und alle anderen. Frank nannte alle anderen »die leider behinderte Mehrheit«.

Zu meiner Zeit war die Kennebec Fruit Company ein verblichener gelb-grüner Kasten mit einem schmutzigen Schaufenster, in dem nichts ausgestellt war … es sei denn, die Katze, die manchmal in der Auslage schlief, stünde zum Verkauf. Der Dachfirst war nach vielen schneereichen Wintern eingesunken. Drinnen gab es außer Moxie-Souvenirs nicht viel zu verkaufen: leuchtend orangerote T-Shirts mit dem Aufdruck I’VE GOT MOXIE!, leuchtend orangerote Mützen, alte Kalender und auf alt getrimmte Blechschilder, die vermutlich letztes Jahr in China hergestellt worden waren. Kunden fehlten fast das ganze Jahr über, und die meisten Warenregale waren leer … obwohl man noch ein paar süße Snacks oder einen Beutel Kartoffelchips kaufen konnte (das heißt, wenn man die Sorte mit Salz und Essig mochte). Im Limonadenkühlschrank stand nichts als Moxie. Der Bierkühlschrank war leer.

Jedes Jahr im Juli fand in Lisbon Falls das Maine Moxie Festival statt. Dabei gab es Musikkapellen, ein Feuerwerk und einen Festzug mit – ungelogen – Moxie-Festwagen und einheimischen Schönheitsköniginnen in moxiefarbenen einteiligen Badeanzügen in einem so grellen Orange, dass es Verbrennungen auf der Netzhaut zurücklassen konnte. Zeremonienmeister des Festzugs war immer der Moxie Doc, dessen weißer Arztkittel durch ein Stethoskop und einen dieser irren Spiegel mit Stirnband ergänzt wurde. Vorletztes Jahr war diese Rolle von LHS-Direktorin Stella Langley gespielt worden, was ihr ewig anhängen wird.

Während des Festivals erwachte die Kennebec Fruit Company vorübergehend zu neuem Leben und machte gute Umsätze – vor allem mit neugierigen Touristen, die auf der Fahrt zu Urlaubszielen im Westen Maines waren. Für den Rest des Jahres war sie nur wenig mehr als eine leere Hülle, in der ein schwacher Moxie-Geruch hing: ein Geruch, der mich – vermutlich weil ich zu der leider behinderten Mehrheit gehörte – immer an Musterole erinnerte, jenes unglaublich stark riechende Mittel, mit dem meine Mutter mir unweigerlich Brust und Hals eingerieben hatte, wann immer ich erkältet gewesen war.

Was ich jetzt auf der anderen Seite der Old Lewiston Road vor mir hatte, war ein florierendes Geschäft auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Das Schild über der Ladentür (oben FRESH UP WITH 7-UP, darunter WELCOME TO THE KENNEBEC FRUIT CO.) glänzte im Sonnenschein. Der Lack war frisch, der Dachfirst noch nicht eingesunken. Kunden betraten und verließen den Laden. Und im Schaufenster sah ich statt einer Katze …

Bei Gott: Orangen. Die Kennebec Fruit Company hatte früher wirklich Obst verkauft. Wer wusste das noch?

Ich wollte die Straße überqueren, blieb dann aber stehen, weil ein Überlandbus herangeschnaubt kam. Auf der Zielanzeige über der geteilten Windschutzscheibe stand LEWISTON EXPRESS. Als der Bus an dem Stoppschild am Bahnübergang hielt, sah ich, dass die meisten Fahrgäste rauchten. Die Luft dort drinnen musste große Ähnlichkeit mit der Atmosphäre des Saturns haben.

Als der Bus weitergefahren war (in einer Qualmwolke aus schlecht verbranntem Dieseltreibstoff, die sich mit dem nach verfaulten Eiern riechenden Gestank vermischte, den die Worumbo-Schornsteine ausstießen), überquerte ich die Straße und fragte mich dabei kurz, was passieren würde, wenn ich von einem Auto überfahren würde. Würde ich einfach zu existieren aufhören? Würde ich auf dem Boden von Als Vorratsraum aufwachen? Wahrscheinlich keines von beidem. Wahrscheinlich würde ich einfach hier sterben – in einer Vergangenheit, nach der sich bestimmt viele Menschen zurücksehnten. Vermutlich weil sie vergessen hatten, wie schlecht die Vergangenheit roch, oder auch nur, weil sie diesen Aspekt der Flotten Fünfziger niemals in Erwägung gezogen hatten.

Draußen vor der Fruit Company stand ein Jugendlicher, der einen Fuß samt schwarzem Stiefel hinter sich an die Bretterverschalung stemmte. Sein Hemdkragen war hinten hochgeschlagen, und er trug eine Frisur, die ich (vor allem aus alten Filmen) als frühen Elvis erkannte. Im Gegensatz zu den Jungen, die ich aus meinem Unterricht kannte, trug er keinen Kinnbart, nicht mal eine Andeutung davon. Mir wurde klar, dass er in der Welt, die ich jetzt besuchte (hoffentlich nur besuchte), von der LHS geflogen wäre, wenn er auch nur versucht hätte, sich einen Bart wachsen zu lassen. Augenblicklich.

Ich nickte ihm zu. James Dean sagte: »Hi-ho, Daddy-O.«

Ich ging hinein. Wobei eine kleine Glocke über der Tür bimmelte. Statt Moder und Staub roch ich Orangen, Äpfel, Kaffee und duftenden Tabak. An der rechten Wand stand ein Regal mit Comics, deren Umschläge abgerissen waren: Archie, Batman, Captain Marvel, Plastic Man, Tales from the Crypt. Auf dem handgeschriebenen Schild über diesem Schatz, der jeden E-Bay-Liebhaber entzückt hätte, stand: COMIX 5  PRO STÜCK, DREI FÜR 10 , NEUN FÜR 25  BITTE NUR ANFASSEN, WENN SIE WELCHE KAUFEN WOLLEN.

Links daneben stand ein Zeitungsständer. Keine New York Times, aber mehrere Exemplare des Portland Press-Herald und ein übrig gebliebenes Exemplar des Boston Globe. Die Schlagzeile des Globe trompetete: DULLES DEUTET ZUGESTÄNDNISSE AN, WENN ROTCHINA AUF GEWALT GEGEN FORMOSA VERZICHTET. Auf beiden Zeitungen stand als Datum: Dienstag, 9. September 1958.

5

Ich nahm den Globe, der acht Cent kostete, und trat an eine Getränketheke mit Marmorplatte, die es in meiner Zeit nicht mehr gab. Hinter ihr stand Frank Anicetti. Er war’s wirklich – bis hin zu den distinguierten eisgrauen Haarschwingen über seinen Ohren. Nur war diese Version – nennen wir sie Frank 1.0 – schlank statt rundlich und trug eine rahmenlose Bifokalbrille. Er war auch größer. Ich fühlte mich wie ein Fremder im eigenen Körper, als ich auf einen der Hocker vor der Theke glitt.

Sein Nicken galt meiner Zeitung. »Reicht Ihnen die, oder darf’s noch ein Getränk sein?«

»Irgendwas Kaltes, das kein Moxie ist«, hörte ich mich sagen.

Darüber lächelte Frank 1.0. »Schon gut, junger Mann. Wie wär’s stattdessen mit einem Root Beer?«

»Klingt gut.« Und das stimmte. Meine Kehle war trocken, mein Kopf heiß. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber.

»Fünf oder zehn?«

»Wie bitte?«

»Bier für fünf oder für zehn Cent?« Er sprach das Wort wie in Maine üblich aus: Biejah.

»Oh. Zehn, würde ich sagen.«

»Nun, ich glaube, damit liegen Sie richtig.« Er öffnete einen Gefrierschrank und nahm ein bereiftes Glas fast von der Größe eines Limonadenkrugs heraus. Er ließ es aus einem Zapfhahn volllaufen, und ich konnte den kräftigen, aromatischen Geruch von Root Beer riechen. Er streifte den Schaum mit dem Stiel eines Holzlöffels ab, dann schenkte er nach und stellte das Glas vor mich auf die Theke. »Bitte sehr. Mit der Zeitung macht das achtzehn Cent. Plus einen für den Gouverneur.«

Ich legte ihm einen von Als Dollarscheinen hin, und Frank 1.0 gab mir heraus.

Ich kostete einen kleinen Schluck von dem Root Beer unter dem Schaum und war verblüfft. Das Zeug hatte … Körper. Es schmeckte durch und durch. Ich kann’s nicht besser ausdrücken. Diese Welt vor fünfzig Jahren roch schlimmer, als ich je erwartet hätte, aber sie schmeckte auch verdammt viel besser.

»Schmeckt wundervoll«, sagte ich.

»Ayuh? Freut mich, dass es Ihnen schmeckt. Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«

»Nein.«

»Aus einem anderen Staat?«

»Wisconsin«, sagte ich. Das war nicht völlig gelogen; wir hatten bis zu meinem elften Lebensjahr in Milwaukee gelebt, bevor mein Vater, der Englisch lehrte, einen Ruf an die University of Maine erhalten hatte. Seit damals hatte ich mal hier, mal dort, aber immer in Maine gelebt.

»Nun, Sie haben sich für Ihren Besuch die beste Zeit ausgesucht«, sagte Anicetti. »Die meisten Sommergäste sind weg, und damit gehen die Preise runter. Zum Beispiel für das, was Sie gerade trinken. Nach dem Labor Day kostet ein Root Beer für zehn Cent nur noch einen Dime.«

Die Türglocke bimmelte; dann knarrten die Fußbodenbretter. Das waren gesellige Geräusche. Als ich das letzte Mal in der Kennebec Fruit gewesen war, weil ich auf eine Rolle Tums gegen Sodbrennen gehofft hatte (übrigens vergebens), hatten sie geächzt.

Ein Junge von ungefähr siebzehn Jahren schlüpfte hinter die Theke. Er trug seine dunklen Haare kurz, hatte aber nicht ganz einen Bürstenhaarschnitt. Seine Ähnlichkeit mit dem Mann, der mich bedient hatte, war unübersehbar, und ich erkannte, dass dies mein Frank Anicetti war. Der Kerl, der den Schaum von meinem Root Beer abgestreift hatte, war sein Vater. Frank 2.0 würdigte mich keines Blickes; für ihn war ich nur irgendein Gast.

»Titus hat den Truck auf der Hebebühne«, berichtete er seinem Vater. »Bis fünf ist er fertig, sagt er.«

»Nun, das ist gut«, sagte Anicetti senior und zündete sich eine Zigarette an. Mir fiel erstmals auf, dass auf der Marmorplatte der Theke kleine Porzellanaschenbecher aufgereiht waren. WINSTON TASTES GOOD LIKE A CIGARETTE SHOULD! stand auf ihren Seiten. Er sah wieder zu mir herüber und fragte: »Möchten Sie einen Klacks Vanilleeis in Ihr Root Beer? Auf Kosten des Hauses. Wir behandeln Touristen gern zuvorkommend, vor allem wenn sie in der Nachsaison auftauchen.«

»Danke, so ist’s gut«, sagte ich, und auch das stimmte. Noch mehr Süße hätte meinen Kopf explodieren lassen, fürchtete ich. Und das Zeug war stark – als würde man einen mit Kohlensäure versetzten Espresso trinken.

Der Junge bedachte mich mit einem Grinsen, das so süß wie das Zeug in meinem bereiften Glas war – es hatte nichts von der amüsierten Verachtung, die mir der Möchtegern-Elvis draußen entgegengebracht hatte. »In der Schule haben wir eine Geschichte gelesen«, sagte er, »in der die Einheimischen die Touristen, die in der Nachsaison kommen, aufessen.«

»Frankie, das ist keine Geschichte, die man einem Gast erzählt«, sagte Mr. Anicetti. Aber er lächelte dabei.

»Lassen Sie nur«, sagte ich. »Ich hab diese Kurzgeschichte schon selbst im Unterricht behandelt. Shirley Jackson, stimmt’s? ›Die Sommerleute‹.«

»Richtig«, bestätigte Frankie. »Ich hab sie nicht ganz verstanden, aber sie hat mir gefallen.«

Ich trank einen weiteren Schluck von meinem Root Beer, und als ich das Glas abstellte (mit einem befriedigend dumpfen Klicken auf der Marmortheke), sah ich ohne sonderliche Überraschung, dass es schon fast leer war. Von diesem Zeug konnte man süchtig werden, dachte ich. Es schmeckte verdammt viel besser als Moxie.

Der ältere Anicetti blies eine Rauchfahne in Richtung Decke, wo der Ventilator sie in dünne blaue Schwaden zerteilte. »Unterrichten Sie draußen in Wisconsin, Mr. …?«

»Epping«, sagte ich. Ich war zu überrascht, als dass ich auch nur daran dachte, einen falschen Namen anzugeben. »Ja, das tue ich. Aber ich befinde mich gerade in meinem Sabbatjahr.«

»Das bedeutet, dass er sich ein Jahr freinimmt«, sagte Frank.

»Ich weiß, was das bedeutet«, sagte Anicetti. Er versuchte ärgerlich zu klingen, was ihm ziemlich misslang. Ich kam zu dem Schluss, dass ich diese beiden so gern mochte wie das Root Beer. Ich mochte sogar den aufstrebenden Teenagerganoven draußen, wenn auch nur, weil er nicht wusste, dass er bereits ein Klischee war. Hier hatte man ein Gefühl von Sicherheit, ein Gefühl von – schwierig auszudrücken – Vorherbestimmung. Es war bestimmt unberechtigt, denn diese Welt war so gefährlich wie jede andere, aber ich verfügte über Wissen, von dem ich bis heute Nachmittag gedacht hatte, es wäre für Gott reserviert: Ich wusste, dass der lächelnde Junge, dem die Geschichte von Shirley Jackson gefallen hatte (auch wenn er sie »nicht ganz verstanden« hatte), diesen Tag und weitere fünfzig Jahre überleben würde. Er würde weder bei einem Verkehrsunfall umkommen noch an einem Herzschlag sterben noch sich von der Qualmerei seines Vaters als Passivraucher Lungenkrebs holen. Frank Anicetti würde seinen Weg gehen.

Ich sah auf die Wanduhr (BEGINNE DEINEN TAG MIT EINEM LÄCHELN stand auf dem Zifferblatt, TRINK CHEER-UP COFFEE). Die Zeiger standen auf 12.22 Uhr. Das war mir zwar egal, aber ich tat überrascht. Ich trank mein Biejah aus und erhob mich. »Muss jetzt weiter, wenn ich mich rechtzeitig mit meinen Freunden in Castle Rock treffen will.«

»Nun, sehen Sie sich auf der Route 117 vor«, sagte Anicetti. »Die Straße ist echt beschissen.« Die Straße kam als Strahse heraus. Einen so deutlichen Maine-Akzent hatte ich seit Jahren nicht mehr gehört. Dann wurde mir klar, dass das wirklich stimmte, und ich hätte beinahe laut gelacht.

»Mach ich«, sagte ich. »Danke. Und wegen dieser Geschichte von Shirley Jackson …«

»Ja, Sir?« Auch noch Sir. Und keineswegs sarkastisch gemeint. Allmählich gelangte ich zu der Einschätzung, dass 1958 ein ziemlich gutes Jahr gewesen sein musste. Das heißt, bis auf den Gestank der Weberei und den Zigarettenrauch.

»An der gibt’s nichts zu verstehen.«

»Nein? Mr. Marchant sagt da was andres.«

»Bei allem Respekt vor Mr. Marchant, bestellen Sie ihm, dass Jake Epping sagt, dass eine Zigarre manchmal nur ein Glimmstängel ist – und eine Story nur eine Story.«

Er lachte. »Das tue ich! Gleich morgen in der dritten Stunde!«

»Gut.« Ich nickte dem Vater zu und wünschte mir, ich dürfte ihm sagen, dass sein Laden dank Moxie (das er nicht führte … noch nicht) noch an der Kreuzung Main Street und Old Lewiston Road stehen würde, wenn er längst nicht mehr war. »Danke für das Root Beer.«

»Kommen Sie gern wieder, junger Mann. Ich denke an eine Preissenkung für Großabnehmer.«

»Auf einen Dime?«

Er grinste. Sein Lächeln war wie das seines Sohns ungezwungen und offen. »Jetzt kochen Sie mit Gas!«

Die Türglocke bimmelte. Drei Ladys kamen herein. Nicht in Hosen; sie trugen Kleider, die gut eine Handbreit unter dem Knie endeten. Und Hüte! Zwei mit aufgesteckten kleinen, weißen Schleiern. Sie fingen an, die Obstkisten auf der Suche nach Vollkommenheit zu durchwühlen. Ich wandte mich von der Theke ab, aber dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich noch einmal um.

»Können Sie mir sagen, was ein Greenfront ist?«

Vater und Sohn wechselten einen amüsierten Blick, der mich an einen alten Witz erinnerte. Ein Tourist aus Chicago hält mit seinem Luxussportwagen weit draußen auf dem Land vor einem Farmhaus. Auf der Veranda sitzt der Farmer und raucht eine Maiskolbenpfeife. Der Tourist beugt sich aus dem Jaguar und fragt: »He, Alter, können Sie mir sagen, wie ich nach East Machias komme?« Der alte Farmer pafft sekundenlang nachdenklich seine Pfeife, dann sagt er: »Fahrn Sie keinen gottverdammten Zentimeter weiter.«

»Sie sind wirklich nicht aus Maine, stimmt’s?«, fragte Frank. Sein Akzent war weniger stark ausgeprägt als der seines Vaters. Wahrscheinlich saß er mehr vor dem Fernseher, dachte ich. Nichts ließ Dialekte schneller erodieren als das Fernsehen.

»Stimmt«, sagte ich.

»Komisch, ich könnte nämlich schwören, einen kleinen Yankee-Anklang herauszuhören.«

»Da haben die Yoopers abgefärbt«, sagte ich. »Sie wissen schon, die Upper Peninsula.« Allerdings – verflixt! – lag die U. P. in Michigan.

Aber keiner der beiden schien das zu merken. Der junge Frank wandte sich sogar ab und fing an, Geschirr zu spülen. Per Hand, wie mir gleich auffiel.

»Das Greenfront ist der Spirituosenladen«, sagte Anicetti. »Gleich gegenüber, wenn Sie eine Flasche von irgendwas mitnehmen wollen.«

»Root Beer genügt mir vollauf«, sagte ich. »Ich war nur neugierig. Schönen Tag noch.«

»Ihnen auch, mein Freund. Kommen Sie bald wieder.«

Ich umrundete das Trio, das die Orangen begutachtete, und murmelte im Vorbeigehen: »Ladys.« Und wünschte mir, ich hätte einen Hut, den ich dazu lüften könnte. Vielleicht einen Fedora.

Wie die, die man in alten Filmen sah.

6

Der aufstrebende junge Ganove hatte seinen Posten verlassen, und ich spielte mit dem Gedanken, die Main Street entlangzugehen, um zu sehen, was sonst noch anders war – aber nur eine Sekunde lang. Ich durfte nicht übermütig werden. Was war, wenn jemand nach meiner Kleidung fragte? Ich fand, dass mein Sportsakko und meine Slacks mehr oder weniger alltäglich aussahen, aber wusste ich das bestimmt? Und dazu kamen meine Haare, die ich kragenlang trug. In meiner Zeit galt das als völlig normal für einen Highschool-Lehrer – eher sogar konservativ –, aber in einem Jahrzehnt, in dem zu einem gewöhnlichen Haarschnitt das Ausrasieren des Nackens gehörte und Koteletten für Rockabilly-Typen reserviert waren wie den Jüngling, der mich Daddy-O genannt hatte, zog es womöglich neugierige Blicke auf sich. Ich konnte mich natürlich als Tourist ausgeben und behaupten, in Wisconsin trügen alle Männer die Haare etwas länger, diese Mode sei schwer im Kommen, aber Frisur und Kleidung – dieses Gefühl, wie ein Alien in einem unvollkommenen Menschenkostüm aufzufallen – waren nur ein Teil davon.

Im Wesentlichen war ich einfach verängstigt. Nicht kurz vor einem Nervenzusammenbruch, denn ich glaube, dass ein einigermaßen gut justierter menschlicher Verstand viel Seltsames vertragen kann, bevor er tatsächlich ins Wanken gerät, aber verängstigt, ja. Ich musste immer wieder an die Frauen in ihren langen Kleidern und Hüten denken: Frauen, denen es peinlich gewesen wäre, auch nur den Rand eines BH-Trägers in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Und an den Geschmack des Root Beer. Wie gehaltvoll es gewesen war.

Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite sah ich eine bescheidene Ladenfront mit einem kleinen Schaufenster, über dem in erhabenen Buchstaben MAINE STATE LIQUOR STORE stand. Und ja, die Fassade war in blassem Hellgrün gehalten. Drinnen konnte ich eben noch meinen Freund vom Trockenschuppen erkennen. Sein langer, schwarzer Mantel hing von seinen Kleiderbügelschultern herab; er hatte den Hut abgenommen, und seine Haare standen ihm vom Kopf ab wie einem Cartoonnebbich, der gerade Finger A in Steckdose B gesteckt hatte. Er gestikulierte beim Sprechen mit beiden Händen, und in einer davon steckte seine kostbare gelbe Karte. Ich war mir sicher, dass er in der anderen Hand Al Templetons Fünfzigcentstück hielt. Der Verkäufer, dessen kurzer, weißer Kittel an den erinnerte, den der Moxie Doc beim jährlichen Festzug trug, wirkte einzigartig unbeeindruckt.

Ich ging zur Straßenecke, wartete auf eine Lücke im Verkehr und ging auf die Worumbo-Seite der Old Lewiston Road zurück. Mehrere Männer schoben rauchend und lachend einen mit Stoffballen beladenen Transportwagen über den Hof. Ich fragte mich, ob sie eine Vorstellung davon hatten, was die Kombination von Zigarettenrauch und Fabrikqualm in ihrem Körper bewirkte, und vermutete, dass dem nicht so war. Vermutlich war das ein Segen, obwohl diese Frage eher zu einem Philosophielehrer passte als zu einem Kerl, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er Sechzehnjährigen die Wunder von Shakespeare, Steinbeck und Shirley Jackson nahebrachte.

Als sie ihren Wagen durch ein zwei Stockwerke hohes, rostiges Stahltor geschoben hatten und im Fabrikgebäude verschwunden waren, überquerte ich den Hof bis zu der Kette, an der das Warnschild AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST hing. Ich ermahnte mich, nicht zu schnell zu gehen und mich nicht dauernd umzusehen – nichts zu tun, was Aufmerksamkeit erregen musste –, aber das war schwer. Weil ich fast wieder an meinem Ausgangspunkt war, war der Drang zur Eile fast unwiderstehlich. Mein Mund war trocken, und das große Root Beer, das ich getrunken hatte, rumorte in meinem Magen. Was, wenn ich nicht wieder zurückkonnte? Wenn der kleine Betonbrocken, mit dem ich die unsichtbare Treppe markiert hatte, verschwunden war? Oder wenn er noch da war, aber die Treppe nicht mehr?

Ruhig, ermahnte ich mich. Ganz ruhig.

Ich konnte nicht anders: Ich musste mich rasch umsehen, bevor ich unter der Kette hindurchschlüpfte. Der Hof gehörte mir allein. Wie in einem Traum konnte ich irgendwo in der Ferne das leise Wuff-tschuff einer Diesellok hören. Es erinnerte mich an eine Zeile aus einem anderen Song: This train has got the disappearing railroad blues.

Ich ging mit aufgeregt hämmerndem Herzen die grüne Flanke des Trockenschuppens entlang. Der abgerissene Papierstreifen, den ich mit einem Betonbrocken beschwert hatte, lag noch da; so weit, so gut. Ich trat leicht gegen den Brocken und dachte dabei: Bitte, lieber Gott, lass die Treppe noch da sein; bitte, lieber Gott, lass mich zurückkommen.

Meine Schuhspitze traf den kleinen Betonbrocken – ich sah ihn wegrutschen –, aber zugleich auch das senkrechte Brett unter der letzten Stufe. Diese Dinge schlossen einander aus, aber sie passierten trotzdem. Ich blickte mich noch einmal um, obwohl mich in diesem schmalen Durchgang nur jemand sehen konnte, der an einem der beiden Enden vorbeikam. Aber das tat niemand.

Ich stieg eine Stufe höher. Das spürte mein Fuß, obwohl meine Augen mir sagten, dass ich weiter auf dem rissigen Beton des Fabrikhofs stand. Das Root Beer in meinem Magen machte sich erneut warnend bemerkbar. Ich schloss die Augen und bildete mir ein, dass es so etwas besser war. Ich nahm die zweite Stufe, dann die dritte. Sie waren flach, diese Stufen. Als ich die vierte erklomm, verschwand die Sommerhitze in meinem Nacken, und die Schwärze hinter meinen Lidern wurde tiefer. Ich versuchte die fünfte Stufe zu nehmen, nur gab es keine fünfte. Stattdessen stieß ich mit dem Kopf an die niedrige Aluminiumdecke des Vorratsraums. Jemand packte mich am Arm, was mich fast aufschreien ließ.

»Entspann dich«, sagte Al. »Entspann dich, Jake. Du bist wieder da.«

7

Er bot mir eine Tasse Kaffee an, aber ich schüttelte den Kopf. Mein Magen rumorte immer noch. Er goss sich selbst einen ein, und wir gingen zu der Sitznische zurück, in der diese verrückte Reise begonnen hatte. Meine Geldbörse, mein Handy und mein Wechselgeld lagen in der Tischmitte. Al setzte sich mit einem schmerzhaften Seufzer, der aber auch erleichtert klang. Er wirkte etwas weniger abgehärmt, etwas entspannter.

»So«, sagte er. »Du bist hingegangen und zurückgekommen. Was hältst du davon?«

»Al, ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich bin in meinen Grundfesten erschüttert. Hast du das alles zufällig entdeckt?«

»Ganz und gar zufällig. Kaum einen Monat nachdem ich hier sesshaft geworden bin. Ich muss den Staub der Pine Street noch an den Schuhen gehabt haben. Beim ersten Mal bin ich die Treppe sogar richtig runtergefallen – wie Alice in den Kaninchenbau. Ich hab gedacht, ich wär übergeschnappt.«

Das konnte ich mir vorstellen. Ich war wenigstens in den Genuss einer gewissen Vorbereitung gekommen, auch wenn sie unzulänglich gewesen war. Aber war es überhaupt möglich, jemand ausreichend auf eine Reise in die Vergangenheit vorzubereiten?

»Wie lange war ich weg?«

»Zwei Minuten. Ich hab dir doch gesagt, dass es immer zwei Minuten sind. Ganz gleich, wie lange man bleibt.« Er hustete, spuckte in mehrere frische Servietten, faltete sie zusammen und steckte sie ein. »Und wenn du die Treppe hinuntergehst, ist es immer 11.58 Uhr am 9. September 1958. Jeder Trip ist der erste Trip. Wo warst du?«

»In der Kennebec Fruit. Ich habe ein Root Beer getrunken. Es war fantastisch.«

»O ja, dort drüben schmeckt alles besser. Weniger Konservierungsmittel und so.«

»Kennst du Frank Anicetti? Ich habe ihn als Siebzehnjährigen kennengelernt.«

Irgendwie erwartete ich trotz allem, dass Al darüber lachen würde, aber er nahm das als selbstverständlich hin. »Klar, ich bin Frank schon oft begegnet. Aber er lernt mich nur ein Mal kennen – damals, meine ich. Für Frank ist jedes Mal das erste Mal. Er kommt rein, stimmt’s? Von der Chevron-Tankstelle. ›Titus hat den Truck auf der Hebebühne‹, erzählt er seinem Dad. ›Bis fünf ist er fertig‹, sagt er. Das habe ich schon fünfzigmal gehört, mindestens. Ich gehe nicht immer in die Fruit, wenn ich dort bin, aber wenn, höre ich genau das. Dann kommen die Frauen herein, um den Inhalt der Obstkisten zu begutachten. Mrs. Symonds und ihre Freundinnen. Alles ist so, als ginge man wieder und immer wieder in denselben Film.«

»Jedes Mal ist das erste Mal.« Das sagte ich langsam, mit deutlichen Pausen zwischen den Wörtern. Damit sie vielleicht wirklich einen Sinn ergaben.

»Richtig.«

»Und jeder, dem du begegnest, lernt dich erstmals kennen, auch wenn ihr euch womöglich schon oft begegnet seid?«

»Richtig.«

»Ich könnte also zurückgehen und dieselbe Unterhaltung mit Frank und seinem Dad führen, ohne dass die beiden von meinem vorigen Besuch wüssten?«

»Wieder richtig. Oder du könntest etwas ändern – indem du beispielsweise kein Root Beer, sondern ein Bananensplit bestellst –, und ab dann würde eure Unterhaltung eine andere Richtung nehmen. Der Einzige, der zu ahnen scheint, dass irgendwas nicht stimmt, ist der Mann mit der gelben Karte, und der hat sich so dumm gesoffen, dass er keinen Schimmer hat, was er empfindet. Das heißt, wenn ich recht habe und er überhaupt etwas empfindet. Falls ja, liegt das nur daran, dass er zufällig in der Nähe des Kaninchenbaus hockt. Oder was immer das ist. Vielleicht ist es von einer Art Kraftfeld umgeben, das …«

Er fing wieder an zu husten und konnte nicht weiterreden. Beobachten zu müssen, wie er sich zusammenkrümmte, sich die Seiten hielt und mich nicht merken lassen wollte, wie schmerzhaft sein Husten war – wie der Husten ihn innerlich zerriss –, war schmerzlich für mich. So konnte er nicht weitermachen, dachte ich. Er war keine Woche mehr vom Krankenhaus entfernt, vielleicht nur Tage. Und hatte er mich nicht deswegen zu sich gerufen? Weil er dieses erstaunliche Geheimnis an jemand weitergeben musste, bevor der Krebs ihn für immer zum Schweigen brachte?

»Ich dachte, ich könnte dir die ganze Geschichte an einem Nachmittag erzählen, aber das kann ich nicht«, sagte Al, als er sich wieder im Griff hatte. »Ich muss heimfahren, etwas von meinem Dope schlucken und die Füße hochlegen. Ich habe mein Leben lang nichts Stärkeres als Aspirin genommen, und von diesem Oxy-Scheiß bin ich sofort weg. Ich schlafe ungefähr sechs Stunden lang und fühle mich dann eine Zeit lang besser. Ein bisschen stärker. Kannst du so gegen halb zehn zu mir kommen?«

»Wenn ich wüsste, wo du wohnst«, sagte ich.

»In einem Häuschen in der Vining Street. Nummer neunzehn. Du erkennst es an dem Gartenzwerg im Vorgarten. Gar nicht zu übersehen. Er schwenkt eine Fahne.«

»Worüber sollen wir noch reden, Al? Ich meine … du hast es mir demonstriert. Ich glaube dir jetzt.« Das tat ich … aber wie lange würde ich das tun? Mein Kurzbesuch im Jahr 1958 hatte bereits die verblassende Struktur eines Traums angenommen. In ein paar Stunden (oder ein paar Tagen) würde ich mir vermutlich einreden können, alles tatsächlich nur geträumt zu haben.

»Wir müssen vieles besprechen, Kumpel. Du kommst doch?« Er sprach nicht wieder vom letzten Wunsch eines Sterbenden, aber ich las ihn in seinem Blick.

»Also gut. Soll ich dich nach Hause fahren?«

Daraufhin blitzten seine Augen auf. »Ich habe meinen Truck, außerdem sind es nur fünf Straßen. So weit kann ich locker noch fahren.«

»Klar kannst du das«, sagte ich, was hoffentlich überzeugter klang, als ich es war. Ich stand auf und fing an, meine Sachen wieder einzustecken. Dabei stieß ich auf den Packen Geldscheine, den Al mir mitgegeben hatte, und zog ihn aus der Tasche. Jetzt verstand ich, weshalb die Fünfer sich von der heutigen Ausführung unterschieden. Wahrscheinlich wiesen alle Scheine kleine Veränderungen auf.

Ich hielt ihm das Geld hin, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, behalt das, ich hab reichlich.«

Ich legte es trotzdem auf den Tisch. »Wie kommt es, dass man das mitgebrachte Geld behalten darf, wenn jedes Mal das erste Mal ist? Warum löst es sich beim nächsten Besuch nicht in Luft auf?«

»Keine Ahnung, Kumpel. Wie ich schon gesagt habe, gibt es ziemlich viel, was ich nicht weiß. Es gelten bestimmte Regeln. Ein paar davon hab ich rausgekriegt, obwohl nicht allzu viele.« Ein schwaches, aber ehrlich belustigtes Lächeln hellte seine Miene auf. »Du hast auch dein Root Beer mitgebracht, stimmt’s? Es schwappt noch in deinem Magen herum, oder?«

Das tat es allerdings.

»Nun, da hast du’s. Wir sehen uns heute Abend, Jake. Dann bin ich ausgeruht, und wir können alles besprechen.«

»Noch eine Frage?«

Er machte eine knappe Handbewegung, die mich zum Sprechen aufforderte. Mir fiel auf, dass seine Fingernägel, die er immer sorgfältig gepflegt hatte, gelb und rissig waren. Ein weiteres schlechtes Zeichen. Nicht so gravierend wie die zwanzig Kilo Gewichtsverlust, aber trotzdem schlecht. Mein Vater hatte immer behauptet, die Fingernägel eines Menschen würden viel über seinen Gesundheitszustand verraten.

»Was den Famous Fatburger betrifft …«

»Was ist mit dem?« Um seine Mundwinkel spielte jedoch ein schwaches Lächeln.

»Den kannst du so günstig anbieten, weil du günstig einkaufst, hab ich recht?«

»Hackfleisch aus dem Red and White«, sagte er. »Vierundfünfzig Cent das Pfund. Ich gehe jede Woche hin. Oder ich hab’s bis zu meinem letzten Abenteuer getan, das mich weit von The Falls weggeführt hat. Ich wende mich an Mr. Warren, den Fleischer. Wenn ich zehn Pfund Hackfleisch verlange, sagt er: ›Kommt sofort.‹ Will ich zwölf oder fünfzehn, sagt er: ›Augenblick, ich mache es Ihnen frisch. Sie haben wohl eine Familienfeier?‹«

»Immer das Gleiche.«

»Ja.«

»Weil’s immer das erste Mal ist.«

»Korrekt. Eigentlich wie bei der Speisung der Fünftausend in der Bibel, wenn man’s recht überlegt. Ich kaufe Woche für Woche dasselbe Hackfleisch. Trotz allen dämlichen Gerüchten über Katzenburger serviere ich es Dutzenden oder Hunderten von Menschen, und es erneuert sich immer wieder.«

»Du kaufst also immer wieder dasselbe Fleisch.« Ich hatte Mühe, das in meinen Kopf hineinzubekommen.

»Dasselbe Fleisch, zur selben Zeit und von demselben Fleischer. Der immer dasselbe sagt – außer wenn ich etwas anderes sage. Ich gebe zu, Kumpel, dass es mich gelegentlich gejuckt hat, mich hinzustellen und ihn zu fragen: ›Wie geht’s immer, Mr. Warren, Sie alter Bastard? Haben Sie in letzter Zeit wieder Hühner gefickt?‹ Daran würde er sich nie erinnern. Aber ich hab’s nie getan. Weil er ein netter Kerl ist. Die meisten Leute, die ich dort kennengelernt habe, waren nett.« Das sagte er mit leicht wehmütiger Miene.

»Ich verstehe nicht, wie du dort Hackfleisch kaufen … es hier servieren … und noch mal dort kaufen kannst.«

»Willkommen im Club, Kumpel. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du noch hier bist – ich hätte dich längst vergraulen können. Du hättest gar nicht ans Telefon zu gehen brauchen, als ich in der Schule angerufen habe.«

Irgendwie wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan, aber das sagte ich nicht. Das war vermutlich auch nicht nötig. Er war krank, nicht blind.

»Komm heute Abend zu mir. Ich erzähle dir, was ich vorhabe, und du kannst dann tun, was du für richtig hältst. Aber du wirst dich sehr schnell entscheiden müssen, weil die Zeit drängt. Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, wohin die unsichtbare Treppe aus meinem Vorratsraum führt, oder nicht?«

Langsamer als je zuvor sagte ich: »Jedes … Mal … ist … das … erste Mal.«

Er lächelte abermals. »Das hast du verinnerlicht, glaub ich. Wir sehen uns heute Abend, okay? Vining Street neunzehn. Achte auf den Gartenzwerg mit der Fahne.«

8

Ich verließ Al’s Diner um halb vier. Die sechs Stunden bis halb neun waren nicht so unheimlich wie mein Besuch im Lisbon Falls vor dreiundfünfzig Jahren, aber doch beinahe. Die Zeit schien sich dahinzuschleppen und gleichzeitig beschleunigt abzulaufen. Ich fuhr zu dem Haus zurück, das ich in Sabbatus abstotterte (Christy und ich hatten unser Haus in Lisbon Falls verkauft und uns den Erlös geteilt, als unsere Ehe in die Brüche gegangen war). Ich wollte ein Nickerchen machen, konnte aber natürlich nicht schlafen. Nachdem ich zwanzig Minuten lang stocksteif auf dem Rücken gelegen und die Zimmerdecke angestarrt hatte, ging ich zum Pinkeln ins Bad. Während ich zusah, wie der Urin in die Kloschüssel plätscherte, sagte ich mir: Das da war mal Root Beer aus dem Jahr 1958. Aber zugleich dachte ich, dass das alles Blödsinn war. Al hatte mich irgendwie hypnotisiert.

Diese Sache mit dem Verdoppeln, schon komisch.

Ich versuchte die letzten Leistungskursaufsätze zu lesen und war kein bisschen überrascht, als das nicht ging. Mr. Eppings gefürchteten Rotstift einsetzen? Kritische Urteile fällen? Eine lächerliche Vorstellung. Ich schaffte es nicht einmal, den Sinn der Wörter zu erkennen. Also hockte ich mich vor die Röhre (ein atavistischer Begriff aus den flotten Fünfzigern; Röhren haben Fernseher schon längst nicht mehr) und zappte eine Zeit lang herum. Auf TMC kam ein alter Film, der Dragstrip Girl hieß. Ich merkte, dass ich die alten Autos und von Angst beherrschten Teenager so gebannt anstarrte, dass ich davon Kopfschmerzen bekam, und schaltete aus. Ich machte mir im Wok ein halbes Hähnchen mit Gemüse und bekam es dann nicht hinunter, obwohl ich hungrig war. Ich saß da, starrte den Teller an und dachte darüber nach, wie Al Templeton Jahr für Jahr dieselben zwölf, fünfzehn Pfund Hackfleisch serviert hatte. Das war ein wirkliches Wunder, wie die Speisung der Fünftausend, und was machte es da schon, wenn wegen seiner Tiefstpreise von Hunde- und Katzenburgern gemunkelt wurde? Bei seinem Einkaufspreis für Hackfleisch musste jeder verkaufte Fatburger einen absurd hohen Gewinn abgeworfen haben.

Als ich merkte, dass ich in meiner Küche auf und ab marschierte – außerstande zu schlafen, nicht imstande zu lesen, außerstande fernzusehen, ein völlig gutes Wokgericht in das Mahlwerk im Ausguss gekippt habend –, setzte ich mich ins Auto und fuhr in die Stadt zurück. Inzwischen war es Viertel vor sieben, und entlang der Main Street gab es überall freie Parkplätze. Ich parkte gegenüber der Kennebec Fruit, blieb am Steuer sitzen und starrte die Bruchbude mit der abblätternden Farbe an, die früher ein florierendes Geschäft in einer Kleinstadt gewesen war. Das nach Ladenschluss unbeleuchtete Gebäude sah wie ein Fall für die Abrissbirne aus. Die einzigen Anzeichen menschlicher Behausung waren ein paar Moxie-Schilder in dem staubigen Schaufenster (MOXIE TRINKEN HÄLT GESUND! stand auf dem größten), die so altmodisch waren, dass sie seit vielen Jahren dort hätten stehen können.

Der über die Straße fallende Schatten des alten Hauses berührte eben noch meinen Wagen. Rechts neben mir, wo früher das Spirituosengeschäft gestanden hatte, stand jetzt der gepflegte Klinkerbau einer Filiale der Key Bank. Wer brauchte ein Greenfront, wenn man in ganz Maine in jedes Lebensmittelgeschäft gehen und mit einer kleinen Flasche Jack Daniel’s oder einem Flachmann mit Kaffeelikör rauskommen konnte? Und nicht etwa in einer dürftigen Papiertüte; moderne Menschen von heute verwendeten Plastiktüten, mein Sohn. Hielten ein Jahrtausend lang. Und weil wir gerade bei Geschäften sind: Ich hatte noch nie von einem gehört, das sich Red & White nannte. Wenn man in The Falls Lebensmittel einkaufen wollte, fuhr man zum IGA, das eine Straße entfernt von hier an der 196 lag. Genau gegenüber dem alten Bahnhof, der jetzt eine Kombination aus T-Shirt-Laden und Tattoo-Studio war.

Trotzdem erschien mir die Vergangenheit in diesem Augenblick sehr nahe – aber das lag womöglich nur an dem goldenen Schimmer des vergehenden Sommerlichts, das mir wieder einmal übernatürlich vorkam. Es war, als wäre 1958 immer noch da, nur bedeckt von einer dünnen Schicht inzwischen vergangener Jahre. Und falls ich mir die Ereignisse dieses Nachmittags nicht nur eingebildet hatte, stimmte das sogar.

Er will, dass ich etwas tue. Etwas, was er selbst getan hätte, wenn der Krebs ihn nicht daran gehindert hätte. Er hat gesagt, er sei zurückgegangen und vier Jahre lang geblieben (zumindest glaubte ich, dass er das gesagt hatte), aber vier Jahre waren nicht lange genug gewesen.

War ich bereit, diese Treppe hinabzusteigen und über vier Jahre lang in der Vergangenheit zu bleiben? Im Prinzip dort ansässig zu werden? Zwei Minuten später zurückzukehren … nur dann als Übervierzigjähriger und mit einzelnen grauen Strähnen im Haar? Ich konnte mir nicht vorstellen, das zu tun – aber ebenso wenig konnte ich mir vorstellen, was Al dort so Wichtiges entdeckt haben mochte. Ich wusste nur, dass nicht einmal ein Sterbender das Recht hatte, von mir zu verlangen, vier oder sechs oder acht Jahre meines Lebens zu opfern.

Mir blieben immer noch über zwei Stunden bis zu meinem Termin bei Al. Ich beschloss, nach Hause zu fahren, mir noch etwas zu kochen und es diesmal wirklich zu essen. Danach würde ich mich erneut daranmachen, die letzten Aufsätze zu korrigieren. Ich mochte zu den ganz wenigen Menschen gehören, die je in die Vergangenheit zurückgereist waren – vielleicht waren Al und ich sogar die einzigen, die das jemals getan hatten –, aber die Schüler meines Leistungskurses würden trotzdem ihre endgültigen Noten wollen.

Ich hatte das Radio nicht eingeschaltet, als ich in die Stadt gefahren war, aber jetzt stellte ich es an. Wie mein Fernseher bezog es seine Programme von computergesteuerten Raumfahrzeugen, die in 35800 Kilometern Höhe die Erde umkreisten – eine Vorstellung, die der Teenager, der Frank Anicetti damals gewesen war, bestimmt mit vor Staunen geweiteten Augen (aber vermutlich nicht ganz ungläubig) aufgenommen hätte. Ich stellte Sixties on Six ein und bekam Danny & the Juniors rein, die sich an »Rock and Roll Is Here to Stay« abarbeiteten: drei oder vier drängende, harmonische Stimmen, die zu einem laut hämmernden Klavier sangen. Ihnen folgten Little Richard, der »Lucille« kreischte, so laut er konnte, und Ernie K-Doe, der »Mother-in-Law« mehr oder weniger jammerte: She thinks her advice is a contribution, but if she would leave that would be the solution. Alles klang frisch und süß wie die Orangen, die Mrs. Symonds und ihre Freundinnen erst mittags begutachtet hatten.

Es klang neu.

Wollte ich Jahre in der Vergangenheit verbringen? Nein. Aber ich wollte dorthin zurück. Und wenn auch nur, um zu hören, wie Little Richard geklungen hatte, als er noch Top of the Pops gewesen war. Oder um an Bord einer Maschine der Trans World Airlines zu gehen, ohne meine Schuhe ausziehen und durch einen Ganzkörperscanner und einen Metalldetektor gehen zu müssen.

Und ich wollte noch ein Root Beer.

Kapitel 3

1

Der Gartenzwerg schwenkte tatsächlich eine Fahne, allerdings nicht die amerikanische. Auch nicht die Flagge von Maine, die mit dem Elch. Seine Fahne hatte links einen breiten, blauen, senkrechten Streifen und daneben einen weißen und einen roten Querstreifen: Mitten in dem blauen Streifen leuchtete ein einzelner weißer Stern. Ich tätschelte dem Zwerg im Vorbeigehen die Zipfelmütze, stieg die wenigen Stufen zum Eingang von Als Häuschen hinauf und musste dabei an Ray Wylie Hubbards amüsanten Song denken: »Screw You, We’re from Texas«.

Die Tür ging auf, bevor ich klingeln konnte. Al trug einen Bademantel über einem Pyjama, und sein neuerdings weißes Haar war ganz zerzaust – ein schwerer Fall von Bettspuren, wenn ich je welche gesehen hatte. Aber der Schlaf (und natürlich das Schmerzmittel) hatten ihm geholfen. Er sah nach wie vor krank aus, aber die Linien um seinen Mund waren nicht mehr ganz so tief, und als er mich jetzt durch einen kurzen Flur ins Wohnzimmer führte, bewegte er sich sicherer. Er drückte nicht mehr die rechte Hand unter die linke Achsel, als würde er versuchen, sich zusammenzuhalten.

»Ich sehe wieder ein bisschen mehr wie früher aus, was?«, sagte er mit seiner heiseren Stimme, als er sich in den Sessel vor dem Fernseher setzte. Nur setzte er sich nicht wirklich, sondern brachte sich sozusagen in Position und ließ sich dann fallen.

»Das tust du. Was haben die Ärzte dir erzählt?«

»Der, bei dem ich in Portland war, meint, dass es keine Hoffnung gibt – auch mit Chemo- und Strahlentherapie nicht. Genau das, was der Arzt, bei dem ich in Dallas war, gesagt hat. Das war im Jahr 1962. Schön zu wissen, dass manche Dinge sich nicht ändern, findest du nicht auch?«

Ich öffnete den Mund, dann machte ich ihn wieder zu. Manchmal gab es nichts zu sagen. Manchmal war man einfach sprachlos.

»Hat keinen Zweck, um die Sache herumzureden«, sagte er. »Ich weiß, dass der Tod den Leuten peinlich ist, vor allem wenn jemand an seinen eigenen Lastern stirbt, aber ich kann keine Zeit damit vergeuden, feinfühlig zu sein. Ich muss bestimmt bald ins Krankenhaus – und wenn’s nur deshalb ist, weil ich nicht mehr allein auf die Toilette gehen kann. Der Teufel soll mich holen, bevor ich hier hüfttief in der eigenen Scheiße hocke und mir das Gehirn raushuste.«

»Was wird aus dem Diner?«

»Das ist erledigt, Kumpel. Auch wenn ich kerngesund wäre, wäre er Ende des Monats fort. Du weißt, dass ich den Standplatz nur gepachtet habe, nicht wahr?«

Das wusste ich zwar nicht, aber es klang vernünftig. Obwohl Worumbo weiter Worumbo hieß, war es jetzt ein schickes Einkaufszentrum, was bedeutete, dass Al irgendeiner Betreiberfirma Miete gezahlt hatte.

»Mein Pachtvertrag müsste verlängert werden, aber Mill Associates will den Platz, um einen – das wird dir gefallen – L. L. Bean Express hinzustellen. Außerdem behaupten sie, mein kleiner Aluminaire wäre ein Schandfleck.«

»Lächerlich!«, sagte ich so ehrlich empört, dass Al leise glucksend lachte. Das Glucksen versuchte, sich zu einem Hustenanfall auszuweiten, den er jedoch unterdrückte. Hier in seinen eigenen vier Wänden benutzte er für seinen Husten keine Papier- oder Stofftaschentücher oder Servietten; dafür stand auf dem Tischchen neben seinem Sessel ein Karton Papierwindeln. Er zog meinen Blick geradezu magisch an. Ich wandte ihn immer wieder ab, zum Beispiel um das gerahmte Foto an der Wand zu betrachten, das Al mit einer gut aussehenden Frau zeigte, der er einen Arm um die Schultern gelegt hatte, aber mein Blick kehrte unweigerlich zurück. Das war eine der großen Wahrheiten des menschlichen Schicksals: Wenn man Papierwindeln brauchte, um das aufzusaugen, was der eigene Körper absonderte, saß man echt in der Scheiße.

»Danke, dass du das sagst, Kumpel. Darauf sollten wir einen trinken. Alkohol vertrage ich keinen mehr, aber im Kühlschrank steht Eistee. Vielleicht bist du so nett und spielst den Gastgeber.«

2

In seinem Restaurant gab es robuste Allerweltsgläser, der Krug mit dem Eistee hingegen schien von Waterford zu sein. Obenauf schwamm friedlich eine ganze Zitrone, die mehrfach eingeschnitten war, damit sie ihr Aroma abgab. Ich füllte zwei Gläser halb mit Eiswürfeln, goss Tee darüber und trug sie ins Wohnzimmer. Al nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und schloss dankbar seufzend die Augen.

»Mann, das tut gut! In diesem Augenblick ist in Als Welt alles gut. Dieser Stoff ist wundervoll. Natürlich macht der stark süchtig, aber er ist wundervoll. Er unterdrückt sogar den Husten ein bisschen. Gegen Mitternacht setzen dann zwar wieder allmählich Schmerzen ein, aber bis dahin sollten wir alles durchgesprochen haben.« Er trank noch einen Schluck und warf mir dann einen wehmütig belustigten Blick zu. »Diese menschlichen Dinge sind anscheinend bis zuletzt große Klasse. Das hätte ich nie vermutet.«

»Al, was wird aus diesem … diesem Zugang zur Vergangenheit, wenn dein Trailer abgeschleppt und auf seinem Standplatz ein Outlet Store errichtet wird?«

»Das weiß ich so wenig, wie ich weiß, wie ich dasselbe Fleisch immer wieder kaufen kann. Ich vermute allerdings, dass er verschwinden wird. Ich halte ihn für eine Laune der Natur wie den Old Faithful oder diesen verrückten auf der Kippe stehenden Fels, den sie in Westaustralien haben, oder einen Fluss, der in bestimmten Mondphasen rückwärts fließt. Solche Dinge sind empfindlich, Kumpel. Eine kleine tektonische Verschiebung, ein Temperaturwechsel, ein paar Stangen Dynamit, und schon sind sie weg.«

»Du glaubst also nicht, dass es … ich weiß nicht … eine Katastrophe geben wird?« Was mir vor Augen stand, war das Zerbersten der Kabine eines Verkehrsflugzeugs in 36000 Fuß Höhe, bei dem alles hinausgesaugt wurde, auch die Passagiere. Das hatte ich einmal in einem Film gesehen.

»Ich glaub’s nicht, aber wer könnte das voraussagen? Ich weiß nur, dass ich so oder so nichts dagegen tun kann. Das heißt, außer wenn du willst, dass ich dir den Diner vermache. Das könnte ich durchaus tun. Dann könntest du zur Nationalen Gesellschaft für Denkmalschutz gehen und sagen: ›He, Jungs, ihr dürft nicht zulassen, dass im Hof der alten Worumbo-Weberei ein Outlet Store gebaut wird. Dort befindet sich ein Zeittunnel. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber ich kann ihn euch zeigen.‹«

Einen Augenblick lang dachte ich ernsthaft über diesen Vorschlag nach, weil Al vermutlich recht hatte: Die in die Vergangenheit führende Spalte war mit einiger Sicherheit fragil. Soviel ich wusste (oder er wusste), konnte sie wie eine Seifenblase zerplatzen, wenn an dem Aluminaire auch nur kräftig gerüttelt wurde. Dann dachte ich daran, dass Washington auf den Trichter käme, dass es Spezialeinheiten in die Vergangenheit entsenden konnte, um alles ändern zu lassen, was es wollte. Ich wusste nicht, ob das möglich war, aber falls ja, waren die Leute, die uns so lustiges Zeug wie Biowaffen und computergesteuerte intelligente Bomben beschert hatten, die letzten Leute, denen ich Gelegenheit verschaffen wollte, ihre verdeckten Strategien in lebende, wehrlose Geschichte einzuführen.

In der Minute, in der mir dieser Gedanke kam – nein, in der Sekunde –, wusste ich, was Al beabsichtigte. Nur die Einzelheiten waren noch unklar. Ich stellte meinen Eistee ab und stand auf.

»Nein. Auf keinen Fall. Kommt nicht infrage.«

Al nahm das gelassen auf. Weil er vom Oxycontin stoned war, könnte ich behaupten, aber ich wusste es besser. Er konnte sehen, dass ich nicht einfach gehen würde, unabhängig davon, was ich sagte. Meine Neugier – ganz zu schweigen von meiner Faszination – umgab mich vermutlich wie die aufgestellten Stacheln eines Stachelschweins. Irgendwas in mir wollte nämlich unbedingt die näheren Einzelheiten erfahren.

»Ich merke, dass ich den einleitenden Teil überspringen und gleich zur Sache kommen kann«, sagte Al. »Das ist gut. Setz dich, Jake, dann verrate ich dir den einzigen Grund, der mich daran hindert, meinen ganzen Vorrat an kleinen, rosa Pillen auf einmal zu schlucken.« Und als ich stehen blieb: »Du weißt, dass du das hören willst, und was kann es schon schaden? Selbst wenn ich dich dazu bringen könnte, hier im Jahr 2011 etwas zu tun – was ich nicht kann –, hätte ich keinen Einfluss darauf, was du in der Vergangenheit tust. Sobald du dort anlangst, ist Al Templeton ein Vierjähriger in Bloomington, Indiana, der mit einer Lone-Ranger-Maske im Garten herumrennt und noch gewisse Defizite in der Sauberkeitserziehung hat. Setz dich also ruhig. Damit gehst du keinerlei Verpflichtung ein, wie’s in der Werbung heißt.«

Richtig. Andererseits hätte meine Mutter gesagt: Der Teufel spricht mit süßer Stimme.

Aber ich setzte mich.

3

»Du kennst den Ausdruck an einer Wasserscheide stehen, Kumpel, oder?«

Ich nickte. Man brauchte kein Englischlehrer zu sein, um ihn zu kennen; man musste nicht einmal lesen können. Er gehörte zu den ärgerlichen Schlagworten, mit denen man in den Nachrichten der Kabelsender tagaus, tagein bombardiert wurde. Dazu gehörten auch gut aufgestellt sein und der aktuelle Stand der Dinge. Am ärgerlichsten waren absolute Leerformeln (über die ich vor meinen sichtlich gelangweilten Schülern immer wieder hergezogen bin) à la manche Leute sagen oder viele Leute glauben.

»Weißt du, woher der Ausdruck kommt? Welchen Ursprung er hat?«

»Nein.«

»Kartografie. Eine Wasserscheide bezeichnet einen Gebirgs- oder Höhenzug, der die Einzugsgebiete zweier Flüsse voneinander trennt. Auch die Geschichte ist ein Fluss. Findest du das nicht auch?«

»Ja, das stimmt wohl.« Ich trank einen Schluck von meinem Tee.

»Manchmal sind es großflächige Ereignisse, die Geschichte machen – wie lange, starke Niederschläge im gesamten Einzugsgebiet eines Flusses, die ihn über die Ufer treten lassen. Aber Flüsse können selbst an sonnigen Tagen Hochwasser führen. Dafür genügen lange, starke Niederschläge in einem kleinen Teil des Einzugsgebiets. Auch in der Geschichte gibt es Sturzfluten. Willst du Beispiele dafür? Wie wär’s mit dem 11. September 2001? Oder mit Bushs Wahlsieg über Gore?«

»Eine Präsidentenwahl kannst du nicht mit einer Sturzflut vergleichen, Al.«

»Vielleicht nicht jede, aber die im Jahr 2000 war eine Klasse für sich. Nehmen wir mal an, du könntest im Herbst null-null nach Florida zurückkehren und zugunsten von Al Gore ungefähr zweihunderttausend Dollar ausgeben.«

»Da gäb’s ein paar Probleme«, sagte ich. »Erstens habe ich keine zweihunderttausend Dollar. Zweitens bin ich von Beruf Lehrer. Ich kann dir zwar alles über Thomas Wolfes krankhafte Mutterbindung erzählen, aber in Sachen Politik bin ich völlig ahnungslos.«

Er winkte so ungeduldig ab, dass sein Marine-Corps-Ring fast von seinem abgezehrten Finger geflogen wäre. »Geld ist kein Problem. Das musst du mir vorläufig einfach glauben. Und Vorauswissen ist jeder Art von Erfahrung weit überlegen. Der Unterschied in Florida soll weniger als sechshundert Stimmen betragen haben. Glaubst du, dass du am Wahltag mit zweihundert Riesen sechshundert Stimmen hättest kaufen können, wenn die Sache auf Stimmenkauf hinausgelaufen wäre?«

»Vielleicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich. Ich glaube, ich würde mir ein paar Gemeinden aussuchen, in denen viel Apathie herrscht und die Wahlbeteiligung traditionell niedrig ist – die ließen sich relativ leicht ermitteln –, und dort mit dem guten alten Cash reingehen.«

Al grinste und entblößte dabei Zahnlücken und ungesundes Zahnfleisch. »Warum nicht? In Chicago hat das jahrzehntelang funktioniert.«

Die Vorstellung, dass sich die Präsidentschaft für weniger Geld kaufen ließ, als zwei Mercedes-Limousinen kosteten, ließ mich schweigen.

»Aber wenn es um den Fluss der Geschichte geht, sind Attentate – erfolgreiche wie fehlgeschlagene – entscheidende Augenblicke, die sich am leichtesten beeinflussen lassen. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ist von einem mental labilen Würstchen namens Gavrilo Princip erschossen worden, und das hat den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Aber nachdem Claus von Stauffenbergs Attentat auf Hitler 1944 fehlgeschlagen war – knapp vorbei ist auch daneben –, ist der Krieg weitergegangen und hat noch Millionen Opfer gefordert.«

Diesen Film hatte ich auch gesehen.

»Wegen Erzherzog Franz Ferdinand oder Hitler können wir nichts unternehmen«, sagte Al. »Die sind außerhalb unserer Reichweite.«

Ich überlegte, ob ich mich dagegen verwahren sollte, dass er von »wir« sprach, hielt dann aber doch den Mund. Ich kam mir ein wenig vor wie jemand, der ein sehr düsteres Buch las. Vielleicht einen Roman von Thomas Hardy. Man wusste, wie alles enden würde, aber das war nicht etwa ein Pointenkiller, sondern es erhöhte die Faszination des Lesers sogar irgendwie. Als würde man zusehen, wie ein Junge seine Modelleisenbahn immer schneller fahren ließ, und darauf warten, dass sie in einer der Kurven entgleiste.

»Wenn du den 11. September verhindern wolltest, müsstest du dreiundvierzig Jahre lang warten. Dann wärst du fast achtzig, wenn du überhaupt noch am Leben wärst.«

Jetzt verstand ich, was die Lone-Star-Flagge bedeutete, die der Gartenzwerg schwenkte. Sie war ein Andenken an Als letzte Reise in die Vergangenheit. »Du hast es nicht mal bis 1963 geschafft, stimmt’s?«

Er gab keine Antwort, sondern sah mich nur an. Seine Augen, die vernebelt gewirkt hatten, als er mich am Nachmittag empfangen hatte, glänzten jetzt. Sie wirkten fast jung.

»Weil du nämlich genau davon redest, hab ich recht? Dallas im Jahr 1963.«

»Stimmt«, sagte er. »Ich musste aussteigen. Aber du bist nicht krank, Kumpel. Du bist gesund, im besten Mannesalter. Du kannst dorthin zurückgehen, und du kannst es verhindern.«

Er beugte sich nach vorn. Seine Augen glänzten nicht mehr nur; sie brannten förmlich.

»Du kannst die Geschichte verändern, Jake. Begreifst du das? John Kennedy muss nicht sterben.«

4

Ich kenne die Grundlagen spannender Romane – das sollte ich auch, ich habe in meinem Leben nämlich genügend Thriller gelesen –, und die wichtigste Regel lautet, den Leser im Ungewissen zu lassen. Aber wenn Sie von den ungewöhnlichen Ereignissen dieses Tages ausgehend ein wenig Gespür für meinen Charakter entwickelt haben, werden Sie wissen, dass ich überzeugt werden wollte. Christy Epping war Christy Thompson geworden (Mann trifft Frau auf dem AA-Campus, wissen Sie noch?), und ich war mein eigener Herr. Wir hatten nicht einmal Kinder, um die wir uns hätten streiten können. Ich hatte einen Job, in dem ich gut war, aber zu behaupten, er wäre spannend, wäre gelogen. Eine Anhaltertour durch Kanada, die ich nach dem College mit einem Freund gemacht hatte, war mein bisher größtes Abenteuer gewesen, und wegen der freundlichen, hilfsbereiten Art der meisten Kanadier war das Abenteuer nicht besonders abenteuerlich gewesen. Jetzt bot sich mir plötzlich die Chance, nicht nur in der amerikanischen Geschichte, sondern in der Weltgeschichte eine Hauptrolle zu spielen. Ja, ja, ja, ich wollte überzeugt werden!

Aber ich hatte auch Angst.

»Was, wenn es schlecht ausgeht?« Ich trank meinen Tee mit vier großen Schlucken aus, bei denen die Eiswürfel gegen meine Zähne klickten. »Was, wenn ich den Anschlag irgendwie – Gott weiß, wie – verhindern kann, und dadurch wird alles nur schlimmer? Was, wenn ich zurückkomme und feststellen muss, dass in Amerika ein faschistisches Regime herrscht? Oder dass die Umweltverschmutzung so schlimm geworden ist, dass alle Leute mit Gasmasken herumlaufen?«

»Dann würdest du wieder zurückgehen«, sagte er. »Und am 9. September 1958 um zwei Minuten vor zwölf ankommen. Denk daran: Jeder Trip ist der erste Trip.«

»Klingt gut, aber was ist, wenn die Veränderungen so radikal sind, dass dein kleiner Schnellimbiss überhaupt nicht mehr da ist?«

Er grinste. »Dann würdest du den Rest deiner Tage in der Vergangenheit zubringen müssen. Aber wäre das so schlimm? Als Englischlehrer könntest du immer Arbeit finden, obwohl du eigentlich überhaupt nicht arbeiten müsstest. Ich war vier Jahre dort, Jake, und habe in dieser Zeit ein kleines Vermögen verdient. Weißt du, womit?«

Ich hätte es wohl erraten können, aber ich schüttelte den Kopf.

»Mit Wetten. Ich bin vorsichtig gewesen – ich wollte keinen Verdacht erwecken und vor allem vermeiden, dass irgendein Buchmacher seine Knochenbrecher auf mich hetzt –, aber wenn man auswendig gelernt hat, wer die großen sportlichen Ereignisse zwischen Sommer 1958 und Herbst 1963 gewonnen hat, kann man es sich leisten, zurückhaltend zu sein. Ich will nicht sagen, dass du leben kannst wie ein König, denn das hieße, gefährlich zu leben. Aber nichts spricht gegen ein behagliches Leben ohne Geldsorgen. Und ich glaube, dass der Diner noch hier stehen wird. Für mich war er noch da, obwohl ich in der Vergangenheit viel verändert habe. Das tut jeder. Um den Block zu gehen, um einen Laib Brot und einen Liter Milch zu kaufen, ändert bereits die Zukunft. Schon mal vom Schmetterlingseffekt gehört? Das ist eine extravagante wissenschaftliche Theorie, die im Prinzip auf die Idee hinausläuft, dass …«

Al begann wieder zu husten. Es war der erste lange Hustenanfall, seit ich bei ihm war. Er zog eine der Papierwindeln aus der Box, drückte sie sich wie einen Knebel an den Mund und hustete vornübergebeugt. Aus seiner Brust stiegen grausige Würgelaute auf. Sie klangen, als hätten große Teile seiner Innereien sich losgerissen und prallten dort drinnen aufeinander wie Skooter auf dem Jahrmarkt. Endlich ließ der Anfall nach. Er sah in die Windel, erschrak leicht, faltete sie zusammen und warf sie in den Mülleimer neben dem Tischchen.

»Entschuldige, Kumpel. Diese orale Menstruation ist echt Scheiße.«

»Herrgott, Al!«

Er zuckte die Achseln. »Was bringt’s, wenn man darüber keine Witze mehr reißen darf? Also, wo war ich gleich wieder?«

»Schmetterlingseffekt.«

»Richtig. Er besagt, dass auch kleine Ereignisse weitreichende, wie ist das Wort, Konsequenzen haben können. Dahinter steckt folgender Gedanke: Erschlägt ein Kerl in China einen Schmetterling, kann das vierzig – oder vierhundert – Jahre später ein Erdbeben in Peru auslösen. Klingt das in deinen Ohren ebenso verrückt wie in meinen?«

Das tat es, aber ich erinnerte mich an ein altehrwürdiges Zeitreisenparadoxon und kramte es hervor. »Ja gut, aber was würde passieren, wenn du zurückgehen und deinen Großvater ermorden würdest?«

Al starrte mich verwundert an. »Scheiße, wozu sollte ich das tun?«

Das war eine gute Frage, also sagte ich nur: »Bitte weiter.«

»Schon indem du heute Nachmittag in der Kennebec Fruit warst, hast du die Vergangenheit in vielen kleinen Punkten verändert … aber die in den Vorratsraum und ins Jahr 2011 hinaufführenden Stufen waren immer noch da, oder nicht? Und Lisbon Falls ist nicht anders, als du’s verlassen hast.«

»So sieht’s aus, ja. Aber wir reden hier von etwas, was eine Nummer größer wäre. Nämlich davon, JFK das Leben zu retten.«

»Oh, ich rede von weit mehr, denn hier geht es nicht um einen Schmetterling in China, Kumpel. Ich rede auch davon, RFK das Leben zu retten. Robert dürfte 1968 nicht als Präsident kandidieren, wenn John 1963 in Dallas überlebt. Das Land wäre nicht bereit gewesen, einen Kennedy durch einen anderen zu ersetzen.«

»Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen.«

»Nein, aber hör zu. Nehmen wir mal an, es gelänge dir, John Kennedy das Leben zu retten … Glaubst du, dass sein Bruder Robert dann am 5. Juni 1968 um Viertel nach zwölf im Hotel Ambassador ist? Oder dass Sirhan Sirhan immer noch dort in der Küche arbeitet?«

Schon möglich, aber die Wahrscheinlichkeit dafür war bestimmt äußerst gering. Wenn man in eine Gleichung eine Million Variablen einführte, musste das Ergebnis zwangsläufig anders ausfallen.

»Oder was ist mit Martin Luther King? Hält er sich im April 1968 immer noch in Memphis auf? Und steht er im genau richtigen Augenblick auf dem Balkon des Motels Lorraine, damit James Earl Ray ihn erschießen kann? Was glaubst du?«

»Falls die Schmetterlingstheorie zutrifft, wohl eher nicht.«

»Das glaube ich auch. Und wenn MLK am Leben bleibt, fallen die Rassenunruhen nach seiner Ermordung vermutlich aus. Dann wäre vielleicht auch Fred Hampton nicht in Chicago erschossen worden.«

»Wer?«

Er ignorierte mich. »Dann gäbe es vielleicht auch keine Symbionese Liberation Army. Keine SLA, keine Patty-Hearst-Entführung. Dafür vielleicht aber aufseiten des weißen Mittelstands etwas weniger Angst vor Schwarzen.«

»Langsam komme ich nicht mehr mit. Denk daran, dass mein Hauptfach Englisch war.«

»Du kommst nicht mehr mit, weil du mehr über den Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert weißt als über den zweiten Krieg, der Amerika nach der Ermordung Kennedys in Dallas zerrissen hat. Würde ich wissen wollen, wer die Hauptrolle in dem Film Die Reifeprüfung gespielt hat, könntest du’s mir bestimmt sagen. Aber wenn ich dich fragen würde, wen Lee Oswald nur wenige Monate vor seinem Anschlag auf Kennedy erschießen wollte, würdest du nur ›Hä?‹ sagen. Weil all dieses Wissen irgendwie untergegangen ist.«

»Oswald wollte schon vor Kennedy jemand ermorden?« Das war mir allerdings neu, aber was ich über das Attentat auf Kennedy wusste, stammte größtenteils aus einem Film von Oliver Stone. Al ging jedoch nicht darauf ein, Al war groß in Fahrt.

»Oder was ist mit Vietnam? Johnson war der Kerl, der die ganze irrsinnige Eskalation in Gang gesetzt hat. Kennedy war ohne Zweifel ein Kalter Krieger, aber Johnson hat den Konflikt auf die nächsthöhere Ebene gehoben. Er hatte denselben Meiner-ist-größer-Komplex, den Bush junior an den Tag gelegt hat, als er sich vor den Kameras aufbaute und sagte: ›Nur her damit!‹ Kennedy hätte sich die Sache vielleicht anders überlegt. Dazu waren Johnson und Nixon nicht imstande. Ihnen haben wir’s zu verdanken, dass in Vietnam fast sechzigtausend G.I.s gefallen sind. Die Vietnamesen im Norden und Süden haben Millionen Menschen verloren. Wäre die Schlachtbilanz auch so hoch, wenn Kennedy seinen Besuch in Dallas überlebt hätte?«

»Das weiß ich nicht. Und du weißt es auch nicht, Al.«

»Richtig, aber ich habe mich ziemlich ausführlich mit der neueren Geschichte Amerikas beschäftigt und glaube, dass die Chancen auf bessere Zeiten im Fall seiner Rettung recht hoch wären. Und die Sache hat eigentlich keine Nachteile. Sollten sich die Dinge beschissen entwickeln, machst du einfach alles rückgängig. Das ist so einfach, wie ein unanständiges Wort von einer Schultafel zu wischen.«

»Oder ich kann nicht wieder hin, um das Ergebnis zu kontrollieren.«

»Unsinn. Du bist jung. Solange du nicht von einem Taxi überfahren wirst oder einem Herzschlag erliegst, lebst du lange genug, um zu erfahren, wie alles ausgegangen ist.«

Ich saß schweigend da, starrte in meinen Schoß und überlegte. Al ließ mir Zeit. Schließlich hob ich den Kopf wieder.

»Du scheinst viel über Oswald und das Attentat gelesen zu haben.«

»Alles, was ich mir beschaffen konnte, Kumpel.«

»Wie sicher weißt du, dass er es war? Schließlich gibt es ungefähr tausend Verschwörungstheorien. Das weiß sogar ich. Was wäre, wenn ich zurückgehen und ihn stoppen würde, und dann knallt irgendein anderer Kerl JFK vom Grassy Hill aus ab – oder von wo aus das war?«

»Grassy Knoll. Und ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass es Oswald war. Die meisten Verschwörungstheorien waren von Anfang an ziemlich verrückt, und fast alle sind im Lauf der Jahre widerlegt worden. Zum Beispiel die Idee, der Schütze wäre nicht Oswald, sondern jemand gewesen, der ihm sehr ähnlich sah. Sein Leichnam ist 1981 exhumiert worden, damit ein DNA-Test vorgenommen werden konnte. Er war’s, das steht fest. Dieser bösartige kleine Scheißer.« Al machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Ich hab ihn selbst kennengelernt, weißt du.«

Ich starrte ihn an. »Willst du mich verarschen?«

»Von wegen. Er hat mich angesprochen. Das war in Fort Worth. Er und Marina – seine Frau, eine Russin – haben dort Oswalds Bruder besucht. Falls Lee jemals einen Menschen geliebt hat, war das sein Bruder Bobby. Ich habe an dem Lattenzaun um Bobby Oswalds Grundstück gestanden, rauchend an einen Telefonmast gelehnt und so getan, als läse ich die Zeitung. Mein Herz hat gehämmert, als schlüge es zweihundertmal in der Minute. Lee und Marina sind gemeinsam rausgekommen. Sie hat ihre Tochter June getragen – ein niedliches kleines Ding, noch kein Jahr alt. Die Kleine hat geschlafen. Ozzie hatte eine Khakihose und ein Ivy-League-Hemd mit Button-down-Kragen an, der ziemlich ausgefranst war. Die Hose hatte eine messerscharfe Bügelfalte, aber sie war schmutzig. Den Bürstenhaarschnitt aus seiner Marine-Corps-Zeit hatte er aufgegeben, aber seine Haare waren immer noch sehr kurz. Marina … Himmel, sie ist echt umwerfend! Dunkle Haare, leuchtend blaue Augen, makelloser Teint. Sieht wie ein gottverdammter Filmstar aus. Wenn du die Aufgabe übernimmst, wirst du sie selbst sehen. Als sie den Gehsteig entlanggekommen sind, hat sie auf russisch etwas zu ihm gesagt. Er hat ihr geantwortet und dabei gelächelt, aber dann hat er ihr einen derben Stoß versetzt. Sie wäre fast hingefallen. Die Kleine ist aufgewacht und hat angefangen zu weinen. Und Oswald hat die ganze Zeit weitergelächelt.«

»Das hast du gesehen. Mit eigenen Augen. Du hast ihn gesehen.« Trotz meiner eigenen Reise in die Vergangenheit war ich mindestens halb davon überzeugt, dass das Ganze eine Wahnvorstellung oder eine glatte Lüge war.

»Das habe ich. Sie ist durchs Gartentor herausgekommen, hat June schützend an sich gedrückt und ist mit gesenktem Kopf an mir vorbeigegangen. Als ob ich nicht da wäre. Aber er hat sich vor mir aufgebaut – dicht genug, dass ich das Old Spice riechen konnte, mit dem er seinen Schweißgeruch zu überdecken versucht hat. Seine ganze Nase war voller Mitesser. An seiner Kleidung – und an seinen Schuhen, die zerschrammt und hinten eingerissen waren – konnte man sehen, dass er bettelarm war, aber ein Blick in sein Gesicht genügte, um einem zu zeigen, dass das keine Rolle spielte. Nicht für ihn. Er hielt sich für einen tollen Kerl.«

Al überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, das nehme ich zurück. Er wusste, dass er ein toller Kerl war. Er brauchte nur noch abzuwarten, bis auch der Rest der Welt das erkannte. Da stand er also dicht vor mir … ich hätte die Hände ausstrecken und ihn erwürgen können … glaub bloß nicht, dass mir das nicht durch den Kopf gegangen ist …«

»Warum hast du’s nicht getan? Oder ihn erschossen, um’s kurz zu machen?«

»Vor seiner Frau und seinem Baby? Könntest du das, Jake?«

Darüber brauchte ich nicht lange nachzudenken. »Vermutlich nicht.«

»Ich auch nicht. Außerdem hatte ich weitere Gründe. Einer davon war meine Aversion gegen Staatsgefängnisse … oder den elektrischen Stuhl. Denk dran, wir waren auf offener Straße.«

»Ah.«

»Ah ist richtig. Auf seinem Gesicht stand weiter das kleine Lächeln, als er sich vor mir aufgebaut hat. Arrogant und duckmäuserisch zugleich. Dieses Lächeln ist auf fast allen Fotos zu sehen, die jemals von ihm gemacht wurden. Er trägt es auf dem Polizeirevier in Dallas zur Schau, nachdem er verhaftet wurde, weil er den Präsidenten und einen Motorradpolizisten, der ihm auf der Flucht in die Quere gekommen war, erschossen hatte. Er sagt zu mir: ›Was interessiert Sie hier, Sir?‹ Ich sage: ›Nichts, Kumpel.‹ Und er sagt: ›Dann kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß.‹

Marina hat ungefähr zehn Schritte weiter auf ihn gewartet und sich inzwischen bemüht, das Baby wieder in den Schlaf zu lullen. Obwohl es ein höllisch heißer Tag war, trug sie ein Kopftuch, wie es damals noch viele Russinnen getan haben. Er ist zu ihr gegangen, hat sie am Ellbogen gepackt – wie ein grober Polizeibeamter, nicht wie ein Ehemann – und sie aufgefordert: ›Idi! Idi!‹ Sie hat daraufhin etwas zu ihm gesagt, ihn vielleicht gefragt, ob er die Kleine nicht auch einmal tragen wolle. Das vermute ich wenigstens. Aber er hat sie bloß weggestoßen und gesagt: ›Idi, suka!‹ Geh, Schlampe. Das hat sie dann auch getan. Sie ist in Richtung Bushaltestelle weitergegangen. Und das war’s dann.«

»Du kannst russisch sprechen?«

»Nein, aber ich habe ein gutes Gehör und einen Computer. Zumindest hier habe ich einen.«

»Du hast ihn mehrmals gesehen?«

»Nur aus der Entfernung. Inzwischen war ich richtig krank geworden.« Er grinste. »In ganz Texas gibt’s kein besseres Barbecue als in Fort Worth, und ich konnt es nicht mehr essen. Das Leben kann grausam sein. Ich bin zum Arzt gegangen, erhielt eine Diagnose, die ich inzwischen selbst hätte stellen können, und bin ins 21. Jahrhundert zurückgekehrt. Im Prinzip gab es dort ohnehin nichts mehr zu sehen. Nur einen mageren kleinen Kerl, der seine Frau schlecht behandelt und darauf wartet, berühmt zu werden.«

Er beugte sich nach vorn.

»Weißt du, wie der Mann war, der die amerikanische Geschichte geändert hat? Er war der Typ Junge, der andere Kinder mit Steinen bewirft und dann wegrennt. Als er zu den Marines gegangen ist – um wie sein Bruder Bobby zu sein, den er vergöttert hat –, hatte er an fast zwei Dutzend Orten von New Orleans bis New York gewohnt. Er hatte große Ideen und konnte nicht verstehen, warum niemand sie sich anhören wollte. Das hat ihn geärgert – wütend gemacht –, aber sein falsches Duckmäuserlächeln hat er nie abgelegt. Weißt du, wie William Manchester ihn genannt hat?«

»Nein.« Ich wusste nicht mal, wer William Manchester war.

»Ein erbärmliches verwahrlostes Kind. Manchester hat von all den Verschwörungstheorien gesprochen, die nach dem Attentat Hochkonjunktur hatten … und nachdem Oswald selbst erschossen worden war. Ich meine, darüber weißt du doch Bescheid, oder?«

»Natürlich«, sagte ich leicht ärgerlich. »Von einem Kerl namens Jack Ruby.« Aber angesichts meiner schon demonstrierten Wissenslücken war er vermutlich berechtigt, das zu fragen.

»Manchester hat gesagt, wenn man den ermordeten Präsidenten in eine Waagschale stellen würde und Oswald – das verwahrloste Kind – in die andere, wäre die Waage nicht im Gleichgewicht. Unter keinen Umständen. Wollte man Kennedys Tod etwas Bedeutung verleihen, müsste man etwas Gewichtigeres hinzufügen. Was die Vielzahl von Verschwörungstheorien erklärt. Zum Beispiel sollte die Mafia dahinterstecken – Carlos Marcello den Anschlag angeordnet haben. Oder der KGB. Oder Castro, um sich an der CIA zu rächen, die versucht hatte, ihm vergiftete Zigarren unterzuschieben. Und bis heute glauben manche Leute, Lyndon B. Johnson hätte JFK ermorden lassen, um selbst Chancen auf das Präsidentenamt zu haben. Aber letzten Endes …« Al schüttelte den Kopf. »Letztlich war’s mit ziemlicher Sicherheit Oswald. Schon mal was von Ockams Rasiermesser gehört?«

Es war nett, einmal etwas genau zu wissen. »Das ist eine auch als Ökonomieprinzip bekannte Binsenweisheit. ›Unter sonst gleichen Voraussetzungen ist meist die einfachste Erklärung richtig.‹ Warum hast du ihn also nicht umgebracht, als er nicht mit Frau und Kind auf der Straße unterwegs war? Du warst mal bei den Marines, oder? Warum hast du den arroganten kleinen Scheißer nicht selbst umgelegt, sobald du wusstest, dass du todkrank bist?«

»Weil fünfundneunzig Prozent Sicherheit nicht hundert sind. Weil er – Scheißkerl hin oder her – Familienvater war. Weil Oswald nach seiner Festnahme behauptet hat, er sei nur ein Sündenbock – und ich erst sichergehen wollte, dass das gelogen war. Ich glaube nicht, dass es in unserer schlechten Welt hundertprozentige Sicherheit geben kann, aber ich wollte auf achtundneunzig Prozent kommen. Allerdings hatte ich nicht vor, bis zum 22. November zu warten und ihn dann in dem texanischen Schulbuchlager zu stoppen – aus einem wichtigen Grund, den ich dir gleich erklären werde, wäre das viel zu knapp gewesen.«

Seine Augen glänzten nicht mehr so hell, und die Falten in seinem Gesicht schienen wieder tiefer zu werden. Mich erschreckte, wie wenig Kraftreserven er noch besaß.

»Dieses ganze Zeug habe ich aufgeschrieben. Ich möchte, dass du meine Notizen liest. Ich will sogar, dass du sie wie der letzte Blödmann auswendig lernst. Sieh mal auf dem Fernseher nach, Kumpel. Tust du mir den Gefallen?« Müde lächelnd fügte er hinzu: »Ich komme so schlecht aus dem Sessel hoch.«

Dort lag ein dickes, blaues Notizbuch mit Spiralbindung. Dem Preisschild nach hatte es 25 Cent gekostet. Die Marke kannte ich allerdings nicht. »Was ist Kresge’s?«

»Die jetzt als K-Mart bekannte Ladenkette. Aber lass den Umschlag, kümmere dich nur um den Inhalt. Hier findest du den gesamten Zeitablauf bezüglich Oswalds Tun und sämtliche Beweise, die ich gegen ihn zusammengetragen habe … Obwohl du die eigentlich nicht zu lesen brauchst, wenn du das tust, was ich dir vorschlage, nämlich den kleinen Scheißer im April 1963 zu stoppen – über ein halbes Jahr vor Kennedys Besuch in Dallas.«

»Wieso im April?«

»Weil damals jemand versucht hat, General Edwin Walker zu erschießen … Nur war er kein General mehr. Er ist 1961 von JFK persönlich kassiert worden. General Eddie hatte segregationistische Literatur an Untergebene verteilt und ihnen befohlen, das Zeug zu lesen.«

»Und Oswald hat versucht, ihn zu erschießen?«

»Davon musst du dich überzeugen. Das verdammte Gewehr war identisch, daran besteht kein Zweifel, das hat die ballistische Untersuchung bewiesen. Ich habe darauf gewartet, ihn schießen zu sehen. Ich konnte es mir leisten, nicht einzugreifen, weil Oswald damals danebengeschossen hat. Die Kugel ist durch eine Sprosse von Walkers Küchenfenster abgelenkt worden. Nicht erheblich, aber ausreichend. Das Geschoss hat dem ehemaligen General buchstäblich einen neuen Scheitel gezogen, und herumfliegende Holzsplitter verletzten ihn leicht am Arm. Das war seine einzige Wunde. Ich sage nicht, dass der Mann den Tod verdient hatte – nur sehr wenige Männer sind so böse, dass sie’s verdienen, aus einem Hinterhalt erschossen zu werden –, aber ich hätte Walker jederzeit gern gegen Kennedy eingetauscht.«

Ich achtete kaum mehr darauf, was Al sagte. Stattdessen blätterte ich sein Oswald-Buch durch, dessen Seiten eng mit Notizen beschrieben waren. Anfangs waren sie völlig leserlich geschrieben, aber gegen Ende wurde seine Schrift stetig unleserlicher. Die letzten Seiten waren mit dem Gekritzel eines Todkranken bedeckt. Ich klappte das Notizbuch zu und sagte: »Wären deine Zweifel beseitigt gewesen, wenn eindeutig festgestanden hätte, dass Oswald auf General Walker geschossen hat?«

»Ja. Ich wollte ganz sichergehen, dass er zu so etwas imstande ist. Ozzie ist ein übler Kerl, Jake – eine Ratte, wie die Leute 1958 sagen würden –, aber dass jemand seine Frau schlägt und sie praktisch als Gefangene hält, weil sie kein Englisch kann, heißt nicht, dass er auch zu einem Mord fähig ist. Und dazu kommt noch etwas andres: Selbst ohne den Krebs hätte ich vielleicht keine zweite Chance bekommen, wenn ich Oswald umgelegt hätte und der Präsident trotzdem von irgendeinem anderen Kerl erschossen worden wäre. Ist man erst mal über sechzig, ist die Garantie so ziemlich abgelaufen, falls du weißt, was ich damit meine.«

»Hättest du ihn wirklich ermorden müssen? Hättest du … ich weiß nicht … ihm nicht irgendwas anhängen können?«

»Vielleicht, aber da war ich schon krank. Ich weiß nicht mal, ob ich’s als gesunder Mann geschafft hätte. Insgesamt kam es mir einfacher vor, ihn umzulegen, sobald ich mir meiner Sache sicher war. Wie man eine Wespe erschlägt, bevor sie einen stechen kann.«

Ich schwieg nachdenklich. Auf der Wanduhr war es halb elf. Al hatte eingangs behauptet, er werde wohl bis Mitternacht durchhalten, aber ich brauchte ihn mir nur anzusehen, um zu wissen, dass das übertrieben optimistisch gewesen war.

Ich nahm unsere Gläser mit in die Küche, spülte sie ab und stellte sie auf die Abtropffläche. Hinter meiner Stirn schien der Saugrüssel eines Tornados am Werk zu sein. Statt Kühen und Zäunen und Papierfetzen saugte er kreiselnd Namen ein: Lee Oswald, Bobby Oswald, Marina Oswald, Edwin Walker, Fred Hampton, Patty Hearst. Dieser Mahlstrom enthielt auch glitzernde Akronyme, die in ihm wie abgerissene verchromte Kühlerfiguren von Luxuswagen kreisten: JFK, RFK, MLK, SLA. Der Wirbelsturm hatte sogar eine Stimme, die mit ausdruckslosem, gedehntem Südstaatenakzent immer und immer wieder zwei russische Wörter sagte: Idi, suka.

Geh, Schlampe.

5

»Bis wann muss ich mich entscheiden?«, fragte ich.

»Ziemlich bald. Der Diner kommt Ende des Monats weg. Ich habe mit einem Anwalt besprochen, wie sich etwas Zeit schinden ließe – durch ein Gerichtsverfahren oder dergleichen –, aber er war nicht sehr optimistisch. Du weißt, womit Möbelgeschäfte manchmal werben: Mietvertrag gekündigt, alles muss raus!«

»Klar.«

»In neun von zehn Fällen ist das nur ein Werbegag, aber dies ist der zehnte Fall. Und ich rede nicht davon, dass dort irgendein Discounter einziehen will; ich rede von Bean, und was den Einzelhandel in Maine angeht, ist L. L. Bean nun mal der Platzhirsch. Am 1. Juli verschwindet der Diner wie einst Enron. Aber das ist nicht das Entscheidende. Vielleicht bin ich am 1. Juli schon nicht mehr da. Ich könnte mir eine Erkältung holen und binnen drei Tagen an einer Lungenentzündung sterben. Ich könnte einen Herz- oder Gehirnschlag erleiden. Oder ich könnte mich versehentlich mit diesen verdammten Oxycontin-Tabletten umbringen. Die Krankenpflegerin, die jeden Tag vorbeikommt, ermahnt mich immer, die Höchstdosis nicht zu überschreiten, und ich bin vorsichtig, aber ich merke, dass sie befürchtet, sie könnte mich eines Morgens tot auffinden, weil ich stoned war und den Überblick verloren habe. Außerdem behindert das Zeug die Atmung, und meine Lunge ist ohnehin nichts mehr wert. Und noch dazu habe ich ziemlich abgenommen.«

»Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Niemand mag Klugscheißer, Kumpel – das wirst du noch erfahren, wenn du mal in meinem Alter bist. Jedenfalls möchte ich, dass du außer dem Notizbuch den hier mitnimmst.« Er hielt einen Schlüssel hoch. »Der gehört zum Diner. Solltest du mich morgen anrufen und von der Pflegerin erfahren, dass ich in der Nacht gestorben bin, wirst du schnell handeln müssen. Immer unter der Voraussetzung, dass du überhaupt handeln willst, versteht sich.«

»Al, du hast nicht etwa vor …«

»Ich versuche nur, vorsichtig zu sein. Weil diese Sache wichtig ist, Jake. Aus meiner Sicht ist sie wichtiger als alles andere. Falls du jemals die Welt verändern wolltest … hier ist deine Chance. Rette Kennedy, rette seinen Bruder. Rette Martin Luther King. Verhindere die Rassenunruhen. Verhindere vielleicht sogar den Vietnamkrieg.« Er beugte sich nach vorn. »Indem du ein erbärmliches verwahrlostes Kind erledigst, Kumpel, kannst du vielleicht Millionen Menschenleben retten.«

»Das ist eine verdammt gute Verkaufsmasche, aber ich brauche den Schlüssel nicht«, sagte ich. »Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, bist du weiter unter den Lebenden.«

»Mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig Prozent. Aber das genügt nicht. Nimm den gottverdammten Schlüssel.«

Ich nahm den gottverdammten Schlüssel und steckte ihn ein. »Ich lasse dich jetzt ein bisschen ausruhen.«

»Noch etwas, bevor du gehst. Ich muss dir von Carolyn Poulin und Andy Cullum erzählen. Setz dich wieder, Jake. Das dauert nur ein paar Minuten.«

Ich blieb stehen. »Nichts da. Du bist ganz erschöpft. Du musst schlafen.«

»Schlafen kann ich im Grab. Setz dich!«

6

Nach der Entdeckung des von ihm so genannten Kaninchenbaus, erzählte mir Al, habe er sich anfangs damit begnügt, Lebensmittel zu kaufen, gelegentlich bei einem Buchmacher in Lewiston zu wetten und mehr Cash aus den Fünfzigerjahren zu horten. An manchen Werktagen unternahm er einen Ausflug zum Sebago Lake, in dem es von Fischen wimmelte, die wohlschmeckend und gesundheitlich völlig unbedenklich waren. Die Leute machten sich zwar Sorgen wegen des Fallouts von Atombombenversuchen, aber die Angst, von Fisch eine Quecksilbervergiftung zu bekommen, lag noch in weiter Ferne. Diese Ausflüge (meistens dienstags und mittwochs, aber manchmal auch bis Freitag) nannte er seine Miniurlaube. Das Wetter war immer gut (weil es stets das gleiche Wetter war) und das Angeln immer höchst erfolgreich (wahrscheinlich fing er den einen oder anderen Fisch immer wieder).

»Ich weiß genau, wie dir bei alledem zumute ist, Jake, weil ich in den ersten Jahren fast dauernd unter Schock gestanden habe. Weißt du, was mich am meisten verblüfft hat? Bei eisigem Nordoststurm im Januar die Stufen hinunterzugehen und dort in helle Septembersonne hinauszutreten. Richtiges Hemdsärmelwetter, hab ich recht?«

Ich nickte ihm zu, er solle weitersprechen. Das bisschen Farbe auf seinen Wangen hatte sich längst verflüchtigt, und er hustete wieder beständig.

»Aber wenn man einem Mann Zeit lässt, kann er sich an alles gewöhnen, und als der Schock endlich abzuklingen begann, habe ich mir überlegt, ob ich den alten Kaninchenbau vielleicht aus einem bestimmten Grund entdeckt hatte. Dann fing ich an, an Kennedy zu denken. Aber deine Frage hat ihr hässliches Haupt erhoben: Kann man die Vergangenheit ändern? Die möglichen Folgen waren mir zumindest anfangs egal; mich hat nur interessiert, ob das möglich wäre. Bei einem Ausflug zum Sebago habe ich mein Messer genommen und in die Rinde eines Baums in der Nähe meines gemieteten Blockhauses AL T. 2007 geschnitten. Als ich wieder hier war, habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin zum See rausgefahren. Die Blockhäuser gibt es nicht mehr; sie sind durch eine Ferienanlage ersetzt worden. Aber der alte Baum steht noch. Mit der Inschrift von damals. Alt und verblasst, aber noch lesbar: AL T. 2007. Jetzt wusste ich, dass es möglich war. Erst danach habe ich angefangen, über den Schmetterlingseffekt nachzudenken.

In The Falls gab es damals eine Zeitung – The Lisbon Weekly Enterprise –, und die Bücherei hat 2005 alle ihre Mikrofilme eingescannt. Das macht Recherchen einfacher. Ich war auf der Suche nach einem Unfall im Herbst oder Frühwinter 1958. Nach einem ganz bestimmten Unfall. Ich wäre notfalls auch bis ins Frühjahr 1959 gegangen, aber dann habe ich das Gesuchte am 15. November 1958 gefunden. Eine Zwölfjährige namens Carolyn Poulin war mit ihrem Vater jenseits des Flusses auf der Jagd – am Bowie Hill, der schon zu Durham gehört. Gegen zwei Uhr an diesem Samstagnachmittag wollte ein gewisser Andrew Cullum aus Durham im selben Gebiet einen Weißwedelhirsch schießen. Er hat den Hirsch verfehlt und stattdessen das Mädchen getroffen. Obwohl Carolyn eine Viertelmeile von ihm entfernt war, hat er sie getroffen.

Darüber habe ich viel nachgedacht, ehrlich. Bei Oswalds Attentat auf General Walker betrug die Schussentfernung weniger als hundert Meter, aber das Geschoss hat eine Fenstersprosse gestreift und sein Ziel verfehlt. Das Geschoss, das die kleine Poulin gelähmt hat, ist vierhundert Meter weit geflogen – um einiges weiter als die für Kennedy tödliche Kugel –, ohne einen Ast oder Baumstamm zu treffen. Hätte sie auch nur den kleinsten Zweig gestreift, hätte sie das Mädchen bestimmt verfehlt. Und genau deshalb hab ich viel darüber nachgedacht.«

Dies war der Moment, in dem mir zum ersten Mal der Ausdruck das Leben schlägt Kapriolen in den Sinn kam. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben. Al schnappte sich eine weitere Papierwindel, hustete, spuckte, warf sie in den Mülleimer. Dann holte er tief Luft, so gut er konnte, und sprach mühsam weiter. Ich machte keine Anstalten, ihn daran zu hindern. Ich war wieder ganz fasziniert.

»Ich habe ihren Namen in der Enterprise-Datenbank eingegeben und ein paar weitere Meldungen über sie gefunden. Sie hat 1965 die Lisbon High School abgeschlossen – ein Jahr später als ihre ehemalige Klasse, aber sie hat es geschafft – und dann an der University of Maine studiert. Betriebswirtschaft. Ist Buchhalterin geworden. Wohnt in Gray, keine zehn Meilen von dem See entfernt, an dem ich meine Miniurlaube verbracht habe, und arbeitet auch heute noch freiberuflich. Willst du raten, wer einer ihrer wichtigsten Mandanten ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»John Crafts, hier in The Falls. Squiggy Wheaton, einer seiner Verkäufer, isst oft bei mir, und als er eines Tages erwähnt hat, sie hätten Inventur und die Zahlenlady sei dabei, die Bücher zu prüfen, bin ich wie zufällig dort aufgekreuzt, um sie mir selbst anzusehen. Sie ist jetzt fünfundsechzig und … Du weißt, dass manche Frauen in diesem Alter wirklich schön sein können, oder?«

»Ja«, sagte ich. Ich dachte dabei an Christys Mutter, die eigentlich erst ab fünfzig attraktiv geworden war.

»Zu denen gehört auch Carolyn Poulin. Sie hat ein klassisch schönes Gesicht, das die Maler vor zwei-, dreihundert Jahren begeistert hätte, und trägt ihr silbergraues Haar zu einem eleganten Nackenknoten zusammengefasst.«

»Klingt richtig verliebt, Al.«

Er hatte noch genügend Kraft, um mir den Stinkefinger zu zeigen.

»Sie ist auch körperlich top in Form – tja, das sollte man ja wohl fast erwarten, wenn eine unverheiratete Frau sich jeden Tag in ihren und aus ihrem Rollstuhl, in ihren und aus ihrem speziell ausgerüsteten Van stemmen muss. Ganz zu schweigen von ins und aus dem Bett, in die und aus der Dusche und so weiter. Und das tut sie – Squiggy sagt, dass sie völlig autark ist. Das hat mir imponiert.«

»Also hast du beschlossen, sie zu retten. Als Testfall.«

»Ich bin wieder zurückgegangen, aber diesmal über zwei Monate lang in dem Blockhaus am Sebago geblieben. Ich hab dem Vermieter erzählt, mein Onkel hätte mir etwas Geld hinterlassen. Das solltest du dir merken, Kumpel – der reiche Erbonkel ist altbewährt. Den glaubt einem jeder, weil jeder gern einen hätte. Und endlich war der Tag da: der 15. November 1958. Mit den Poulins hab ich mich gar nicht erst abgegeben. Wegen meiner Idee, Oswald zu stoppen, hat Cullum, der Schütze, mich viel mehr interessiert. Ich hatte auch über ihn recherchiert und festgestellt, dass er ungefähr eine Meile vom Bowie Hill entfernt in Durham in der Nähe des alten Bürgerhauses wohnte. Ich wollte dort ankommen, bevor er zur Jagd aufbrach. Aber das hat nicht so ganz geklappt.

Ich bin sehr rechtzeitig vom Sebago losgefahren, was nur gut war, weil mein Hertz-Mietwagen nämlich nach kaum einer Meile einen Platten hatte. Ich habe den Reifen gewechselt, und obwohl der Reservereifen wie neu aussah, war ich noch keine Meile weit gekommen, da war der ebenfalls platt.

Ich bin per Anhalter zur Esso-Tankstelle in Naples gefahren, wo mir der Kerl in der Werkstatt erklärt hat, er hätte zu verdammt viel zu tun, um rauszufahren und bei einem Chevrolet von Hertz einen Reifen zu wechseln. Ich glaube, der war sauer, weil er an diesem Samstag nicht mitjagen durfte. Zwanzig Dollar Trinkgeld haben ihn umgestimmt, aber ich war trotzdem erst nach Mittag in Durham. Ich habe die alte Runaround Pond Road genommen, weil die Strecke am kürzesten war, aber weißt du, was passiert ist? Die Brücke über den Chuckle Brook war ins verdammte Wasser gestürzt. Große rot-weiße Absperrgitter, qualmende Rauchpötte und ein riesiges orangerotes Straße-gesperrt-Schild. Inzwischen glaubte ich zu wissen, was gegen mich arbeitete, und hatte das bedrückende Gefühl, meine Absicht, mit der ich morgens weggefahren war, nicht verwirklichen zu können. Du musst bedenken, dass ich um acht Uhr morgens weggefahren war, um ganz sicherzugehen, und für achtzehn Meilen über vier Stunden gebraucht hatte. Aber ich hab nicht aufgegeben. Ich hab stattdessen die Methodist Church Road benutzt, das Letzte aus der alten Klapperkiste rausgeholt und eine endlos lange Staubfahne hinter mir hergezogen – alle Straßen dort draußen waren damals noch unbefestigt.

Okay, ich hab also Personenwagen und Trucks gesehen, die hier und da am Straßenrand oder an Einmündungen von Forststraßen geparkt waren, und natürlich Jäger, die ihre Gewehre mit abgeknickten Läufen über dem Arm trugen. Jeder einzelne hat grüßend die Hand gehoben – im Jahr 1958 waren die Leute freundlicher, das steht fest. Ich habe zurückgewinkt, aber in Wirklichkeit habe ich auf einen weiteren Platten gewartet. Oder darauf, dass ein Reifen platzt. Dabei wäre ich vermutlich von der Straße abgekommen und im Graben gelandet, weil ich mit mindestens sechzig Sachen unterwegs war. Ich weiß noch, wie einer der Jäger mir mit beiden Händen bedeutet hat, langsamer zu fahren, aber ich bin nicht drauf eingegangen.

Ich bin den Bowie Hill raufgerast und hab kurz nach dem Meetinghaus der Quäker an der Friedhofsmauer einen Pick-up stehen sehen. Auf den Türen stand Poulin Maurer- und Holzarbeiten. Der Truck war leer. Poulin und seine Tochter waren im Wald, saßen vielleicht auf irgendeiner Lichtung, aßen ihren Lunch und redeten miteinander, wie’s Väter und Töchter tun. Oder wie ich, der nie Kinder hatte, mir das vorstelle …«

Ein weiterer langer Hustenanfall, der mit einem schrecklichen feuchten Würgen endete.

»Ah, Scheiße, das tut vielleicht weh«, stöhnte er.

»Al, du musst aufhören.«

Er schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handballen blutigen Schleim von der Unterlippe.

»Nein, ich muss zu Ende erzählen, also halt die Klappe und lass mich weiterreden. Ich hab mir den Truck also gründlich angesehen, während ich weiter mit sechzig Meilen die Stunde durch die Gegend bretterte, und als ich wieder nach vorn sah, war die Straße durch einen Baum blockiert. Ich konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Der Baum war nicht sehr groß, und bevor der Krebs mir zugesetzt hat, war ich ja auch noch ziemlich kräftig. Und ich war fuchsteufelswild. Also bin ich ausgestiegen und hab versucht, ihn wegzuziehen. Während ich mich abgemüht und dabei gotteslästerlich geflucht habe, kam aus der Gegenrichtung ein Wagen auf mich zu. Ausgestiegen ist ein Mann mit orangeroter Jägerweste. Ich wusste nicht sicher, ob er mein Mann war oder nicht – die Enterprise hatte nie ein Bild von ihm gebracht –, aber er schien im richtigen Alter zu sein.

Er sagt: ›Lassen Sie mich Ihnen helfen, Oldtimer.‹

›Oh, sehr freundlich‹, sage ich und strecke die Hand aus. ›Bill Laidlaw.‹

Er schüttelt sie und sagt dabei: ›Andy Cullum.‹ Also war er’s. Nach all den Mühen auf der Fahrt nach Durham konnte ich das kaum glauben. Es war ein Gefühl, als hätte ich in der Lotterie gewonnen. Wir haben den Baum gemeinsam von der Fahrbahn gezogen. Als wir fertig waren, hab ich mich an den Straßenrand gesetzt und mir ans Herz gefasst. Er wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung war. ›Tja, das weiß ich nicht‹, sage ich. ›Ich hab noch keinen Herzanfall gehabt, aber das hier fühlt sich echt wie einer an.‹ Deshalb konnte Mr. Andy Cullum an diesem Novembernachmittag nicht auf die Jagd gehen, Jake, und hat folglich auch kein kleines Mädchen angeschossen. Er war damit beschäftigt, den armen alten Bill Laidlaw ins Central Maine General in Lewiston zu fahren.«

»Du hast es geschafft? Du hast es wirklich geschafft?«

»Darauf kannst du Gift nehmen. Im Krankenhaus habe ich behauptet, zum Lunch einen Hero-Sandwich gegessen zu haben – damals noch als italienischer Sandwich bezeichnet –, und die Diagnose lautete: akute Verdauungsstörungen. Ich hab fünfundzwanzig Dollar in bar gelöhnt und wurde entlassen. Cullum, der gewartet hatte, hat mich zu meinem Leihwagen zurückgefahren. War das nicht echte Nachbarschaftshilfe? Ich bin noch am selben Abend ins Jahr 2011 zurückgekehrt … wo inzwischen natürlich nur zwei Minuten vergangen waren. Von solchem Scheiß kann man einen Jetlag bekommen, ohne je in einem Flugzeug gewesen zu sein.

Mein erstes Ziel war die Stadtbücherei, in der ich mir den Bericht über die Abschlussfeier der Highschool im Jahr 1965 noch mal angesehen habe. Zuvor hatte die Enterprise ihn mit einem Foto von Carolyn Poulin illustriert. Der damalige Direktor – Earl Higgins, der nun schon lange tot ist – hat sich über sie gebeugt, um ihr das Diplom zu überreichen, während sie mit Talar und quadratischem Barett angetan im Rollstuhl saß. Die Bildunterschrift lautete: Carolyn Poulin erreicht wichtiges Etappenziel auf ihrem langen Weg zur Genesung.«

»War er noch da?«

»Der Bericht über die Abschlussfeier? Aber natürlich! Kleinstadtzeitungen bringen solche Berichte immer auf Seite eins, Kumpel. Aber als ich aus dem Jahr 1958 zurückkam, zeigte das dazugehörige Foto einen Jungen mit einer etwas eigentümlichen Beatles-Frisur am Rednerpult, und darunter stand: Trevor ›Buddy‹ Briggs hält die Abschiedsrede seines Jahrgangs. Die ungefähr hundert Absolventen waren alle namentlich aufgeführt – und Carolyn Poulin war nicht darunter. Also habe ich mir den Bericht über die Abschlussfeier 1964 angesehen, denn in diesem Jahr hätte sie den Abschluss geschafft, wenn sie nicht damit beschäftigt gewesen wäre, sich von ihrer schweren Verletzung zu erholen. Und ich bin fündig geworden. Kein Foto, keine besondere Erwähnung, aber sie stand in der Liste zwischen David Platt und Stephanie Routhier.«

»Nur eine von vielen Absolventen, die zu ›Pomp and Circumstance‹ einmarschiert sind, richtig?«

»Richtig. Ich habe ihren Namen in die Suchfunktion der Enterprise-Datenbank eingegeben und auch nach 1964 ein paar Treffer erzielt. Nicht viele, drei oder vier. Was man bei einer gewöhnlichen Frau, die ein gewöhnliches Leben führt, erwarten würde. Sie hat an der University of Maine Betriebswirtschaft studiert und ein Aufbaustudium in New Hampshire angeschlossen. Ein weiterer Bericht war aus dem Jahr 1979, kurz bevor die Enterprise eingegangen ist: Ehemalige LHS-Schülerin gewinnt nationalen Taglilien-Wettbewerb. Das dazugehörige Foto hat sie auf zwei gesunden Beinen mit der siegreichen Lilie in den Händen gezeigt. Sie lebt … hat gelebt … weiß nicht, was zutrifft, vielleicht beides … in einem Vorort von Albany, New York.«

»Verheiratet? Kinder?«

»Anscheinend nicht. Auf dem Foto trägt sie an der linken Hand keinen Ring. Ich weiß, was du jetzt denkst: Keine große Veränderung, außer dass sie gehen kann. Aber wer könnte das wirklich beurteilen? Sie hat an einem anderen Ort gewohnt und das Leben weiß Gott wie vieler Menschen beeinflusst. Die sie nie kennengelernt hätte, wenn sie in The Falls geblieben wäre, nachdem Cullum sie angeschossen hatte. Verstehst du, was ich meine?«

Ich verstand vor allem, dass es wirklich unmöglich war, darüber zu spekulieren, aber ich stimmte ihm trotzdem zu. Vor allem weil ich Schluss machen wollte, bevor er zusammenklappte. Und ich würde ihn noch sicher zu Bett bringen, bevor ich ging.

»Damit will ich sagen, Jake, dass man die Vergangenheit zwar ändern kann – aber nicht so leicht, wie man vielleicht denkt. An dem bewussten Vormittag kam ich mir vor, als müsste ich mich aus einem Nylonstrumpf herauskämpfen. Er hat immer mal ein bisschen nachgegeben, war danach aber wieder so eng wie zuvor. Aber zum Schluss ist es mir gelungen, ihn zu zerreißen.«

»Wieso war das so schwierig? Weil die Vergangenheit nicht verändert werden will?«

»Irgendetwas will nicht verändert werden, davon bin ich überzeugt. Aber Veränderungen sind möglich. Wenn man diesen Widerstand berücksichtigt, kann man auch das verändern.« Seine Augen glitzerten in dem eingefallenen Gesicht. »Insgesamt endet Carolyn Poulins Geschichte mit ›und lebte glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende‹, findest du nicht auch?«

»Ja.«

»Sieh mal hinten in das Notizbuch, das ich dir gegeben habe, Kumpel, dann änderst du vielleicht deine Meinung. Dort steckt etwas, was ich heute ausgedruckt habe.«

Die hintere Umschlagseite hatte innen ein Kartonfach. Wohl für Visitenkarten und Notizzettel. Jetzt steckte ein zusammengefaltetes Blatt darin. Ich zog es heraus, faltete es auf und starrte es lange an. Vor mir lag ein Computerausdruck einer Titelseite von The Weekly Lisbon Enterprise. Unter dem Titel stand das Datum: 18. Juni 1965. Die Schlagzeile verkündete: LHS-JAHRGANG ’65 VERABSCHIEDET SICH LACHEND UND WEINEND. Auf dem Foto beugte sich ein kahlköpfiger Mann (der sich sein Barett unter den Arm geklemmt hatte, damit es ihm nicht vom Kopf fiel) über ein lächelndes Mädchen im Rollstuhl. Gemeinsam hielten sie ein Abschlussdiplom in die Kamera. Carolyn Poulin erreicht wichtiges Etappenziel auf ihrem langen Weg zur Genesung lautete die Bildunterschrift.

Ich sah verwirrt zu Al auf. »Wie kannst du das hier haben, wenn du die Zukunft verändert und sie gerettet hast?«

»Jeder Trip bedeutet einen Neustart, Kumpel. Hast du das vergessen?«

»O Gott! Als du zurückgekehrt bist, um Oswald zu stoppen, ist alles gelöscht worden, was du für Poulin getan hattest.«

»Ja … und nein.«

»Was soll das heißen, ja und nein?«

»Der Trip zurück, um Kennedy zu retten, sollte mein letzter Trip sein, aber ich hatte es nicht eilig, nach Texas zu kommen. Wozu auch? Im September 1958 war Ozzie Rabbit – das war sein Spitzname bei den Marines – nicht mal in Amerika. Er war mit seiner Einheit im Südpazifik unterwegs, um Japan und Formosa für die Demokratie zu sichern. Also hab ich mich wieder in den Shadyside Cabins am Sebago eingemietet und bin bis Mitte November dort geblieben. Nochmals. Am 15. November bin ich noch früher weggefahren, was sich als verdammt gute Entscheidung rausgestellt hat, weil ich diesmal nicht nur eine Reifenpanne hatte. Bei meinem beschissenen Miet-Chevy ist ein Stößel aus dem Motorblock geflogen. Also musste ich dem Kerl an der Tankstelle in Naples sechzig Dollar Tagesmiete für seinen Wagen zahlen und meinen Marine-Corps-Ring als Sicherheit hinterlegen. Ich hatte noch einige weitere Abenteuer zu bestehen, die ich hier nicht ausbreiten will …«

»War die Brücke in Durham immer noch eingestürzt?«

»Weiß ich nicht, Kumpel, weil ich nicht mal versucht habe, diese Strecke zu fahren. Wer nicht aus der Vergangenheit lernt, ist meiner Einschätzung nach ein Idiot. Was ich mir gemerkt hatte, war die Richtung, aus der Andrew Cullum kommen würde, und ich verlor keine Zeit, dort hinzufahren. Der Baum lag genau wie zuvor über der Straße, und bei Cullums Eintreffen habe ich mich genau wie zuvor mit ihm abgemüht. Dann hatte ich ziemlich bald Brustschmerzen – genau wie zuvor. Wir haben die ganze Komödie durchgespielt, Carolyn Poulin hatte ihren Samstag im Wald mit ihrem Dad, und zwei Wochen später bin ich – juhu – in einen Zug nach Texas gestiegen.«

»Wie kannst du dann ein Pressefoto von ihrer Abschlussfeier haben?«

»Weil jeder Trip in den Kaninchenbau hinunter einen Neustart bedeutet.« Al musterte mich prüfend, um zu sehen, ob ich die Sache kapiert hatte.

»Ich …?«

»Richtig, Kumpel. Du hast dir heute Nachmittag ein Root Beer für ’nen Dime gekauft. Und du hast Carolyn Poulin wieder in den Rollstuhl befördert.«

Kapitel 4

1

Al ließ sich von mir in sein Schlafzimmer bringen und murmelte sogar »Danke, Kumpel«, als ich mich hinkniete, um ihm die Schuhe auszuziehen. Er sträubte sich erst, als ich ihm helfen wollte, zur Toilette zu kommen.

»Die Welt zu verbessern ist wichtig, aber ebenso wichtig ist es, allein aufs Klo zu gehen.«

»Ich will nur hoffen, dass du das auch wirklich kannst.«

»Ich weiß, dass ich’s heute Abend kann, und wegen morgen mache ich mir Sorgen, wenn’s so weit ist. Fahr nach Hause, Jake. Fang an, in dem Notizbuch zu lesen – da steht eine Menge drin. Schlaf darüber. Komm morgen früh wieder, und sag mir, wofür du dich entschieden hast. Ich bin dann noch da.«

»Mit fünfundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit?«

»Mindestens siebenundneunzig. Insgesamt fühle ich mich ganz munter. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es so weit schaffen würden. Dass ich das alles erzählen konnte – und dafür sorgen, dass du mir glaubst –, ist eine Erleichterung für mich.«

Ich war mir – selbst nach den Erlebnissen dieses Nachmittags – nicht sicher, ob ich ihm glaubte, aber das sagte ich nicht. Ich wünschte Al eine gute Nacht, ermahnte ihn, seine Tabletten genau zu zählen (»jaja«), und verließ das Haus. Draußen blieb ich kurz stehen, um den Gartenzwerg mit seiner Lone-Star-Fahne zu betrachten, bevor ich zu meinem Auto ging.

Don’t mess with Texas, dachte ich … aber vielleicht würde ich das doch tun. Und angesichts der Hindernisse, die Al hatte überwinden müssen, um die Vergangenheit ändern zu können – Reifenpannen, ein schwerer Motorschaden, eine eingestürzte Brücke –, drängte sich mir der Verdacht auf, dass Texas sich mit mir anlegen würde, wenn ich weitermachte.

2

Nach all dieser Aufregung sah ich kaum Chancen, vor zwei oder drei Uhr morgens einschlafen zu können, und hielt es sogar für wahrscheinlich, dass ich gar keinen Schlaf finden würde. Aber manchmal setzte der Körper seine Bedürfnisse einfach durch. Als ich mir zu Hause einen schwachen Drink mixte (wieder Alkohol im Haus haben zu können gehörte zu den kleinen Pluspunkten meiner Rückkehr in den Ledigenstand), wurden mir bereits die Augen schwer; bis ich den Scotch getrunken und die ersten neun oder zehn Seiten von Als Oswald-Aufzeichnungen gelesen hatte, konnte ich sie kaum noch offen halten.

Ich spülte mein Glas im Ausguss aus, ging ins Schlafzimmer (wobei ich eine Spur aus abgelegten Kleidungsstücken hinterließ, was Christy scharf gerügt hätte) und ließ mich in das Doppelbett fallen, in dem ich jetzt allein schlief. Ich wollte eine Hand ausstrecken und die Nachttischlampe ausknipsen, aber mein Arm fühlte sich schwer, sehr schwer an. Leistungskursaufsätze in einem seltsam stillen Lehrerzimmer zu korrigieren erschien mir jetzt wie etwas sehr weit Zurückliegendes. Andererseits war das nicht befremdlich; wie jeder wusste, war die Zeit, so unversöhnlich sie auch war, einzigartig formbar.

Du hast dieses Mädchen zum Krüppel gemacht. Sie wieder in den Rollstuhl befördert.

Als du heute Nachmittag die Stufen aus dem Vorratsraum hinuntergegangen bist, hast du nicht mal gewusst, wer Carolyn Poulin war, also sei kein Esel. Außerdem ist sie vielleicht anderswo noch auf den Beinen. Vielleicht erschafft jede Benutzung dieser Stufen parallele Realitäten oder Zeitströme oder irgendwas gottverdammt anderes.

Carolyn Poulin, die im Rollstuhl sitzend ihr Diplom erhält. Damals im Jahr 1965, in dem »Hang On, Sloopy« von den McCoys der große Hit war.

Carolyn Poulin, die durch ihren Garten mit Taglilien geht – im Jahr 1979, als »Y.M.C.A.« von den Village People der große Hit war; die sich manchmal auf ein Knie niederlässt, um irgendein Unkraut auszurupfen, und dann wieder aufspringt und weitergeht.

Carolyn Poulin, kurz bevor sie zum Krüppel wird, mit ihrem Dad im Wald.

Carolyn Poulin, der eine ganz gewöhnliche Kleinstadtjugend bevorsteht, mit ihrem Dad im Wald. Wo war sie in jenem Zeitstrom gewesen, fragte ich mich, als Radio und Fernsehen in Sondermeldungen berichteten, dass der 35. Präsident der Vereinigten Staaten in Dallas erschossen worden sei?

John Kennedy kann am Leben bleiben. Du kannst ihn retten, Jake.

Und würde das wirklich eine Verbesserung bedeuten? Dafür gab es keine Garantie.

Ich kam mir vor, als müsste ich mich aus einem Nylonstrumpf herauskämpfen.

Ich schloss die Augen und sah Blätter von einem Wandkalender wegfliegen – die abgedroschene Methode alter Filme, einen Zeitsprung zu symbolisieren. Ich sah sie wie Vögel aus meinem Schlafzimmerfenster fliegen.

Bevor ich doch einschlief, stand mir ein anderes Bild vor Augen: der dämliche Zehntklässler mit dem noch dämlicheren kümmerlichen Spitzbart, der grinsend Hoptoad Harry, hoppin’ down the av-a-new murmelte. Und Harry, der mich zurückhielt, als ich mir den Jungen deswegen schnappen wollte. Lassen Sie nur, hatte er gesagt. Das bin ich gewohnt.

Dann war ich weg, ausgeknockt.

3

Ich wachte im Morgenlicht bei Vogelgezwitscher auf und fuhr mir übers Gesicht, weil ich davon überzeugt war, kurz vor dem Aufwachen geweint zu haben. Ich hatte einen Traum gehabt, und obwohl ich mich nicht an den Inhalt erinnern konnte, musste er sehr traurig gewesen sein, weil ich ja sonst nie eine Heulsuse war.

Trockene Wangen. Keine Tränen.

Ich drehte den Kopf auf meinem Kissen zur Seite, um auf den Wecker zu sehen, und stellte fest, dass es zwei Minuten vor sechs war. Das Licht deutete darauf hin, dass ein herrlicher Junimorgen bevorstand, und ich hatte keine Schule mehr. Im Allgemeinen war der erste Ferientag für die Lehrer so erfreulich wie für die Schüler, aber ich fühlte mich irgendwie traurig. Traurig. Und das nicht nur, weil ich eine schwierige Entscheidung treffen musste.

Auf halbem Weg unter die Dusche kamen mir drei Wörter in den Sinn: Kowabunga, Buffalo Bob!

Ich blieb nackt stehen und betrachtete im Spiegel über der Kommode mein Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. Nun erinnerte ich mich an den Traum, und es war kein Wunder, dass ich beim Aufwachen traurig gewesen war. Ich hatte geträumt, ich wäre im Lehrerzimmer und würde Aufsätze aus einem Englischkurs für Erwachsene lesen, während in der Sporthalle am Ende des Korridors ein weiteres Basketballspiel zweier Schülermannschaften auf die Schlusssirene zusteuerte. Meine Frau war gerade erst aus der Entziehungskur zurückgekehrt. Ich hoffte, sie würde zu Hause sein, wenn ich heimkam, damit ich nicht eine Stunde lang herumtelefonieren musste, um sie aufzuspüren und aus einer der örtlichen Kneipen rauszuholen.

In dem Traum hatte ich Harry Dunnings Aufsatz oben auf den Stapel gelegt und zu lesen begonnen: Es war kein Tag sondern ein Ahmd. Der Ahmd der mein Leben veränderte, war der Ahmd an dem mein Vater meine Mutter und meine zwei Brüder erschlagen und mich schwer verletzt hat.

Das hatte sofort meine volle Aufmerksamkeit erregt. Nun, es hätte jedermanns Aufmerksamkeit erregt, nicht wahr? Aber meine Augen fingen erst an zu brennen, als ich zu der Stelle kam, wo beschrieben wurde, was er angehabt hatte. Auch sein Kostüm war völlig logisch gewesen. Wenn die Kinder in dieser speziellen Herbstnacht mit leeren Taschen loszogen, die sie mit süßer Beute gefüllt zurückzubringen hofften, spiegelten ihre Kostüme stets die aktuelle Manie wider. Vor fünf Jahren hatte es so ausgesehen, als trüge jeder zweite Junge, der an meiner Tür erschien, eine Harry-Potter-Brille und das Abziehbild einer gezackten Narbe auf der Stirn. Bei meiner eigenen Premiere als Bonbonbettler war ich vor vielen Monden als Schneemonster aus Das Imperium schlägt zurück den Gehsteig hinuntergestapft (mit meiner Mutter auf meine dringende Bitte hin drei Meter hinter mir). War es also überraschend, dass Harry Dunning Wildleder getragen hatte?

»Kowabunga, Buffalo Bob«, sagte ich zu meinem Spiegelbild und rannte dann in mein Arbeitszimmer. Ich hebe nicht alle Schüleraufsätze auf, das tut kein Lehrer – man würde darin ertrinken! –, aber ich habe mir angewöhnt, die besten zu fotokopieren. Sie lassen sich wunderbar als Unterrichtsmaterial verwenden. Harrys Aufsatz wäre für diesen Zweck viel zu persönlich gewesen, trotzdem hatte ich ihn mir kopiert, weil er mich so stark angerührt hatte. Ich zog eine Schublade nach der anderen auf und wühlte mich durch den Wust aus losen und zusammengehefteten Blättern. Nach einer schweißtreibenden Viertelstunde fand ich ihn endlich. Ich setzte mich, wie ich war, in den Schreibtischsessel und begann zu lesen.

4

Es war kein Tag sondern ein Ahmd. Der Ahmd der mein Leben veränderte, war der Ahmd an dem mein Vater meine Mutter und meine zwei Brüder erschlagen und mich schwer verletzt hat. Er hat auch meine Schwester verletzt, so schwer dass sie in ein Komah fiel. Nach drei Jahren ist sie gestorm ohne noch mahl aufzuwachen. Ihr Name war Ellen und ich hatt sie sehr lieb. Sie hat gern Blumen geflüggt und in Wasen gestellt. Alles war wie in eim Horrafilm. Ich geh nie in Horrafilme, weil ich an Hallowien 1958 einen erlebt hab.

Mein Bruder Troy war zu alt für Süßes oder Saures (15). Er hat mit meiner Mutter Fernsehn gekuckt und gesagt, das er uns hilft, die Süssigkeiten zu essen, wenn wir zurückkommen. Und Ellen, die hat gesagt, nein, das tust du nicht, verkleid dich und zieh selber los, und alle haben gelacht, weil wir alle Ellen lieb hatten, sie war erst 7, aber eine richtige Lucile Ball, sie konnte jeden zum Lachen bringen, sogar mein Vater (das heißt, wenn er nüchtern war, wenn er getrunken hatte, war er immer zornig). Sie wollt als Prinzessin Summerfall Winterspring gehen (ich hab extra nachgesehn, wie mans schreibt), und ich würd als Buffalo Bob gehen, beide aus der HOWDY DOODY SHOW die wir gern sehn. »He, Kinder, wie spät ists?« und »Jetzt noch mahl von der Penut-Galerie!« und »Kowabunga, Buffalo Bob!!!«. Ich und Ellen, wir lieben diese Sendung. Sie liebt die Prinzessin, ich liebe Buffalo Bob, wir beide lieben Howdy! Wir wollten, das mein Bruder Tugga (eigentlich heißt er Arthur, aber alle sagen Tugga zu ihm, weiß nicht mehr warum) als »Bürgermeister Fineus T. Bluster« geht, aber er wollt nicht, er hat gesagt Howdy Doody ist eine Babyshow und er als »Frankenstine« gehen will, obwohl Ellen gesagt hat, dass die Maske gruslig ist. Außerdem hat Tugga mich blöd angeredet, weil ich mein Daisy Luftgewehr mitnehmen wollte, auch wenn Buffalo Bob im Fernsehn unbewaffnet ist, und meine Mutter, die hat gesagt: »Nimms mit, Harry wenn du willst, es ist kein richtiges Gewehr und verschießt nicht mahl Knallpatronen also würde Buffalo Bob sich nicht daran stören.« Das waren ihre letzten Worte an mich und ich bin froh, das sie nett waren weil sie konnte streng sein.

Wie wir losziehn wollten, hab ich gesagt Augenblick, ich muss noch mahl, weil ich so aufgeregt war. Alle haben über mich gelacht, auch Mama und Troy auf der Kautsch – aber das ich noch mahl pinkeln war, hat mir das Leben gerettet weil inzwischen ist mein Dad mit dem Hammer reingekommen. Mein Dad war bösartig wenn er getrunken hatte und hat meine Mama dann oft geschlagen. Als Troy mahl versucht hat, ihm gut zuzuredn, hat er ihm den Arm gebrochen. Jedenfalls warn meine Mama und mein Dad zu Hallowien schon »getrennt« und sie hat an eine Scheidung gedacht, aber das war 1958 nicht so einfach wie heute.

Jedenfalls ist er zur Tür reingekommen und ich hab im Klo gestanden und gepinkelt und hab meine Mutter sagen gehört: »Mach das du mit dem Ding rauskommst, du hast hier nix zu suchen.« Als Nächstes hat sie zu schreien angefangen. Danach haben sie alle geschrieen.

Es gab noch mehr – drei schreckliche Seiten –, aber die brauchte ich zum Glück nicht zu lesen.

5

Es war noch einige Minuten vor halb sieben, aber ich fand Al im Telefonbuch und tippte, ohne zu zögern, seine Nummer ein. Er antwortete nach dem ersten Klingeln, aber seine Stimme war so rau und heiser, dass sie schwer zu verstehen war – mehr wie Hundegebell als menschliche Sprache.

»He, Kumpel, bist wohl ein Frühaufsteher?«

»Ich habe etwas, was ich dir zeigen muss. Einen Schüleraufsatz. Du weißt sogar, wer ihn geschrieben hat. Solltest du jedenfalls; sein Bild hängt an deiner Wand für Lokalprominenz.«

Er hustete, dann sagte er: »An dieser Wand hängen viele Fotos, Kumpel. Vielleicht sogar eins von Frank Anicetti aus der Zeit des ersten Moxie-Festivals. Hilf mir ein bisschen auf die Sprünge.«

»Ich möchte ihn dir lieber zeigen. Kann ich so früh zu dir rüberkommen?«

»Wenn du mich im Bademantel erträgst, kannst du meinetwegen rüberkommen. Aber ich will dich jetzt gleich fragen, nachdem du Zeit gehabt hast, darüber zu schlafen. Hast du dich schon entschieden?«

»Ich muss vorher noch mal ins Jahr 1958 zurück, glaube ich.«

Ich legte auf, bevor er weitere Fragen stellen konnte.

6

In dem Morgenlicht, das durch die Wohnzimmerfenster einfiel, sah er schlimmer aus als je zuvor. Sein weißer Frotteebademantel hing an ihm wie ein leerer Fallschirm. Die verweigerte Chemotherapie hatte sein Haar gerettet, aber es war schütter und dünn wie das eines Babys. Seine Augen schienen noch weiter in ihre Höhlen zurückgewichen zu sein. Er las Harry Dunnings Aufsatz zweimal, wollte ihn schon weglegen und las ihn dann doch ein drittes Mal. Schließlich sah er zu mir auf und sagte: »Jesus H. Christus auf seinem Himmelswagen!«

»Als ich ihn damals zum ersten Mal gelesen habe, habe ich geweint.«

»Das kann ich dir nicht verdenken. Der Teil mit dem Daisy-Luftgewehr hat mir am meisten zugesetzt. Damals in den Fünfzigerjahren strahlte einem praktisch von der Rückseite jedes gottverdammten Comichefts eine Anzeige für Daisy-Luftgewehre entgegen. Jeder Junge in meiner Straße wollte nur zwei Dinge: ein Daisy-Luftgewehr und eine Waschbärenmütze à la Davy Crockett. Er hat recht, es hat nicht mal Knallpatronen dafür gegeben, aber wir haben manchmal etwas Babyöl in den Lauf gekippt. Wenn man dann Luft reingepumpt und den Abzug betätigt hat, kam aus der Mündung eine kleine, blaue Rauchwolke.« Er sah wieder auf die fotokopierten Seiten hinunter. »Der Dreckskerl hat seine Frau und drei seiner Kinder mit einem Hammer erschlagen? Jee-sus.«

Er hat einfach angefangen damit zuzuschlagen, hatte Harry geschrieben. Ich bin zurück ins Wonzimmer gelaufen. Da war überall Blut an den Wänden und weißes Zeug auf der Kautsch. Das war das Gehirn meiner Mutter. Ellen, die hat unter dem Schaukelstul auf dem Boden gelegen und aus Ohren und Haaren geblutet. Der Fernseher war noch an, es lief die Sendung die meine Mama so gern gesehn hat, die über Elerie Queen, der Verbrechen aufklährt.

Das an diesem Abend verübte Verbrechen hatte keine Ähnlichkeit mit den blutlos-eleganten Problemen gehabt, die Ellery Queen löste; es war ein Massaker gewesen. Der Zehnjährige, der noch mal aufs Klo gegangen war, bevor er an Halloween losziehen wollte, kam eben rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie sein betrunkener, wild brüllender Vater Arthur »Tugga« Dunning den Schädel spaltete, als Tugga in die Küche zu kriechen versuchte. Dann warf der Tobende sich herum und sah Harry, der sein Daisy-Luftgewehr hob und ängstlich sagte: »Lass mich in Ruhe, Daddy, sonst erschieß ich dich.«

Dunning stürmte, seinen blutigen Hammer schwingend, auf den Jungen zu. Harry schoss mit dem Luftgewehr auf ihn (obwohl ich selbst noch keines abgefeuert hatte, konnte ich das Ka-tschau hören, das es gemacht haben musste), dann ließ er es fallen und rannte in das Zimmer, das er sich mit dem jetzt toten Tugga teilte. Sein Vater hatte es versäumt, beim Hereinkommen die Haustür zu schließen, und irgendwo – »wie 1000 Meilen weit entfernt«, hatte der Hausmeister geschrieben – schrien Nachbarn und kreischten Halloween-Kinder.

Dunning hätte bestimmt auch seinen zweiten Sohn erschlagen, wenn er nicht über den umgestürzten »Schaukelstul« gefallen wäre. Er knallte hin, rappelte sich auf und rannte hinter dem Jungen her. Harry versuchte gerade, unters Bett zu kriechen. Sein Vater zerrte ihn darunter hervor und traf seine Kopfseite mit einem Schlag, der sicher tödlich gewesen wäre, wenn seine Hand nicht an dem blutigen Hammergriff abgerutscht wäre; statt Harry den Schädel zu spalten, zertrümmerte der Hammerkopf ihn nur über dem rechten Ohr.

Ich bin nicht bewustlos geworden, aber fast. Bin weiter unters Bett gekrabbelt und hab kaum gemerkt das er mein Bein trifft, aber er hats getan und es an 4 verschiednen Stellen gebrochen.

Dann kam ein Nachbar aus ihrer Straße hereingestürmt, der seine verkleidete Tochter auf ihrer Halloween-Tour begleitete. Trotz des Blutbads im Wohnzimmer war der Mann aus der Nachbarschaft geistesgegenwärtig genug, sich die Ascheschaufel aus dem Eimer neben dem Küchenherd zu schnappen. Die zog er Dunning über den Hinterkopf, während der Rasende dabei war, das Bett umzukippen, um an seinen blutenden, halb bewusstlosen Sohn heranzukommen.

Danach bin ich bewustlos geworden wie Ellen, blos hab ich Glück gehabt und bin wieder aufgewacht. Die Ärzte wollten mir vielleicht das Bein abnehm aber zuletzt wars doch nicht nötig.

Ja, er hatte das Bein behalten und war später – Generationen von Schülern als Hoptoad Harry bekannt – einer der Hausmeister der Lisbon High School geworden. Wären die Schüler netter zu ihm gewesen, wenn sie gewusst hätten, weshalb er hinkte? Wahrscheinlich nicht. Obwohl Teenager emotional sensibel und verletzlich sind, ist Mitgefühl nicht ihre Stärke. Das entwickelt sich, wenn überhaupt, erst später.

»Oktober 1958«, sagte Al mit seiner rau bellenden Stimme. »Soll ich glauben, dass das ein Zufall ist?«

Ich dachte daran, was ich zu dem noch jungen Frank Anicetti über Shirley Jacksons Geschichte gesagt hatte, und lächelte. »Manchmal ist eine Zigarre nur ein Glimmstängel und ein Zufall nur ein Zufall. Ich weiß nur, dass wir von einem weiteren entscheidenden Augenblick reden.«

»Und ich habe diese Geschichte nicht in der Enterprise gefunden, weil …?«

»Weil sie nicht hier passiert ist. Sie ist weiter nördlich in Derry passiert. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ist Harry zu seinem Onkel und seiner Tante in Haven gezogen – ungefähr fünfundzwanzig Meilen südlich von Derry. Sie haben ihn adoptiert und auf ihrer Farm arbeiten lassen, als klar wurde, dass er in der Schule nicht mitkam.«

»Klingt wie Oliver Twist oder so ähnlich.«

»Nein, sie waren gut zu ihm. Du musst bedenken, dass es damals keine Förderklassen gab und der Ausdruck ›geistig behindert‹ noch nicht erfunden war …«

»Ich weiß«, sagte Al trocken. »Damals bedeutete geistig behindert, dass man dumm, schwachsinnig oder regelrecht irre war.«

»Aber das war er nie, ist er auch heute nicht«, sagte ich. »Nicht richtig. Falls er je neuronale Schäden hatte, haben sie sich ausgewachsen. Ich glaube, dass daran hauptsächlich der Schock schuld war. Das Trauma. Er hat jahrelang gebraucht, um sich von diesem Abend zu erholen, und als er das Trauma verarbeitet hatte, lag die Schulzeit schon hinter ihm.«

»Zumindest bis er wieder die Schulbank gedrückt hat, um seinen Erwachsenenabschluss zu machen – und da war er im mittleren Alter, eher sogar darüber hinaus.« Al schüttelte den Kopf. »Was für eine Vergeudung!«

»Unsinn«, sagte ich. »Ein gutes Leben ist nie vergeudet. Hätte es besser sein können? Vermutlich. Kann ich dafür sorgen? Meine gestrigen Erfahrungen scheinen das nahezulegen. Aber das ist nicht der springende Punkt.«

»Worum geht’s sonst? Ich erkenne zum Fall Carolyn Poulin nur Parallelen, und dieser Fall ist längst bewiesen. Ja, die Vergangenheit lässt sich ändern. Und nein, die Welt platzt nicht wie ein Ballon, sobald man das tut. Gießt du mir noch einen Kaffee ein, Jake? Und nimm dir selbst auch einen, wenn du schon dabei bist. Er ist heiß, und du siehst aus, als könntest du dringend einen brauchen.«

Während ich den Kaffee eingoss, fiel mein Blick auf eine Packung Rosinenbrötchen. Als ich Al eines anbot, schüttelte er den Kopf. »Feste Nahrung tut beim Schlucken weh. Aber wenn ich unbedingt Kalorien zu mir nehmen muss, steht im Kühlschrank ein Sechserpack Ensure. Wenn du mich fragst, schmeckt das Zeug wie gekühlter Rotz, aber ich würge es irgendwie runter.«

Als ich ihm die Trinknahrung in einem Kelchglas aus dem Küchenschrank servierte, lachte er laut.

»Glaubst du, dass es so besser schmeckt?«

»Vielleicht. Wenn du dir vorstellst, es wäre Pinot noir.«

Er leerte das halbe Glas in einem Zug, und ich sah ihm an, dass er zu kämpfen hatte, um den Brechreiz zu überwinden. Diesen Kampf gewann er, aber dann schob er das Glas weg und griff wieder nach seinem Kaffeebecher. Er trank jedoch nicht daraus, sondern umschloss ihn nur mit beiden Händen, wie um sich daran zu wärmen. Als ich das sah, berechnete ich die Zeit neu, die ihm vermutlich noch blieb.

»Also«, sagte er. »Worin liegt der Unterschied?«

Wäre er nicht so krank gewesen, hätte er ihn selbst erkannt. Er war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. »Vor allem darin, dass Carolyn Poulin nie ein guter Testfall war. Du hast ihr nicht das Leben gerettet, Al, nur ihre Beine. Sie hat auf beiden Gleisen – nach dem Unfall, an dem Cullum schuld war, beziehungsweise nach deinem Eingreifen – ein gutes, aber völlig normales Leben geführt. Sie hat auf beiden Gleisen nicht geheiratet. Ist auf beiden kinderlos geblieben. Das ist, als hättest du …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Nichts für ungut, Al, aber du warst wie ein Arzt, der einen entzündeten Blinddarm rettet. Toll für den Blinddarm, aber er wird nie eine lebenswichtige Funktion haben, auch wenn er gesund bleibt. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja.« Aber er schien leicht sauer zu sein. »Mehr als Carolyn Poulin hab ich mir nicht zugetraut, Kumpel. In meinem Alter hat man nur begrenzt Zeit, auch wenn man gesund ist. Ich hatte etwas Wichtigeres im Visier.«

»Das sollte keine Kritik sein, Al. Aber die Familie Dunning wäre ein besserer Testfall, denn hier geht es nicht nur um ein querschnittsgelähmtes Mädchen, so schrecklich das für die Kleine und ihre Angehörigen gewesen sein muss. Wir reden von vier Ermordeten und einem lebenslänglich Verkrüppelten. Außerdem kennen wir ihn. Als er sein Zeugnis hatte, habe ich ihn auf einen Burger mit zu dir mitgenommen, und beim Anblick von Barett und Talar hast du uns eingeladen. Weißt du noch?«

»O ja. Dabei hab ich ihn für meine Wand fotografiert.«

»Glaubst du, dass dieses Bild noch dort ist, wenn ich das schaffe – wenn ich seinen Alten daran hindern kann, den Hammer zu schwingen?«

»Weiß nicht«, sagte Al. »Vermutlich nicht. Vielleicht weiß ich dann nicht mal mehr, dass es überhaupt je dort hing.«

Das war mir etwas zu theoretisch, deshalb ging ich nicht darauf ein. »Und denk an die anderen drei Kinder – Troy, Ellen und Tugga. Bestimmt heiraten einige von denen, wenn sie am Leben bleiben und erwachsen werden. Und Ellen wird vielleicht eine berühmte Comedian. Steht in dem Aufsatz nicht, dass sie komisch wie Lucille Ball war?« Ich beugte mich nach vorn. »Ich will nur ein besseres Beispiel dafür, was geschieht, wenn man ein wirklich wichtiges Ereignis manipuliert. Das muss ich wissen, bevor ich mich an etwas so Großes wie das Attentat auf Kennedy heranwage. Was sagst du dazu, Al?«

»Ich sage, dass mir deine Argumentation einleuchtet.« Al stemmte sich hoch. Das war jämmerlich anzusehen, aber als ich aufstehen wollte, um ihm zu helfen, winkte er ab. »Schon gut, bleib sitzen. Ich hab was für dich. Es ist nebenan. Ich hol’s.«

7

Das Etwas war eine Stahlblechkassette. Al gab sie mir und forderte mich auf, sie in die Küche mitzunehmen. Er sagte, es sei einfacher, den Inhalt auf dem Küchentisch auszubreiten. Als wir dort saßen, sperrte er die Kassette mit einem Schlüssel auf, den er an einer dünnen Kette um den Hals trug. Als Erstes nahm er einen dicken braunen Umschlag heraus. Er öffnete ihn und kippte einen großen Haufen unsortierter Dollarscheine auf den Tisch. Ich fischte einen Schein aus dem ganzen Salat heraus und betrachtete ihn staunend: Auf dem Zwanziger war nicht Andrew Jackson, sondern Grover Cleveland abgebildet, den vermutlich niemand auf die Liste der zehn größten US-Präsidenten gesetzt hätte. Auf der Rückseite schienen unter den Worten FEDERAL RESERVE NOTE eine Lokomotive und ein Dampfer auf Kollisionskurs zu sein.

»Sieht aus wie Monopoly-Geld.«

»Ist aber echt. Und es ist weniger, als du vielleicht denkst, weil kein Schein größer als ein Zwanziger ist. Heutzutage, wo einmal volltanken dreißig, fünfunddreißig Dollar kosten kann, zieht niemand die Augenbrauen hoch, wenn man in einem Tankstellenshop mit einem Fünfziger bezahlt. Das war damals anders, und hochgezogene Augenbrauen kannst du nicht brauchen.«

»Ist das dein Wettgeld?

»Teilweise. Hauptsächlich meine Ersparnisse. Von 1958 bis 1962 habe ich genau wie hier als Koch gearbeitet, und als Alleinstehender kann man viel zurücklegen, wenn man nicht mit teuren Frauen rumhängt. Was ich nicht getan habe. Übrigens auch nicht mit billigen. Ich war zu jedermann freundlich und habe mich niemand wirklich angeschlossen. Das würde ich dir auch empfehlen. In Derry wie in Dallas, falls du dort hinkommst.« Er fuhr mit einem dünnen Finger durch die Scheine. »Soweit ich mich erinnere, sind das etwas über neuntausend. Die sind so viel wert wie heute sechzig.«

Ich starrte den grünen Haufen an. »Geld kommt also mit hierher. Es bleibt einem auch bei mehreren Trips in die Vergangenheit.« Darüber hatten wir zwar bereits gesprochen, aber ich hatte immer noch Mühe, es zu begreifen.

»O ja, obwohl es auch dort weiterexistiert, weil’s einen kompletten Neustart gibt.«

»Ist das nicht ein Paradoxon?«

Al sah mich an, ausgezehrt, allmählich ungeduldig. »Das weiß ich nicht. Unbeantwortbare Fragen zu stellen ist aber Zeitverschwendung, und ich habe nicht mehr viel Zeit.«

»’tschuldigung. Was hast du sonst noch da drin?«

»Nicht viel. Aber das Gute daran ist, dass man nicht viel braucht. Das war eine ganz andere Zeit, Jake. Man kann darüber in den Geschichtsbüchern nachlesen, aber um sie wirklich zu verstehen, muss man eine Zeit lang dort leben.« Er gab mir eine Sozialversicherungskarte mit der Nummer 005-52-0223. Sie lautete auf den Namen George T. Amberson. Er nahm einen Kugelschreiber aus der Kassette und legte ihn mir hin. »Unterschreib.«

Ich griff nach dem Kugelschreiber, der ein Werbegeschenk war. Der Aufdruck lautete: VERTRAU DEINEN WAGEN DEM MANN MIT DEM STERN AN TEXACO. Als ich unterschrieb, fühlte ich mich ein bisschen wie Daniel Webster, der seinen Pakt mit dem Teufel schloss. Al schüttelte den Kopf, als ich ihm den Kugelschreiber zurückgeben wollte.

Als Nächstes folgte George T. Ambersons Führerschein aus Maine mit den üblichen Angaben – Größe: 1,95 Meter, Augenfarbe: blau, Haarfarbe: braun, Gewicht: 86 Kilo. Ich war am 22. April 1923 geboren und wohnte in der Bluebird Lane 19 in Sabbatus, was zufällig meine Adresse im Jahr 2011 war.

»Stimmt ein Meter fünfundneunzig ungefähr?«, fragte Al. »Ich musste raten.«

»Das kommt hin.« Ich unterschrieb den Führerschein, der eigentlich nur ein Stück Pappe war. Farbe: bürokratenbeige. »Kein Foto?«

»Davon ist der Staat Maine noch Jahre entfernt, Kumpel. Die anderen achtundvierzig übrigens auch.«

»Achtundvierzig?«

»Hawaii wird erst nächstes Jahr ein Bundesstaat.«

»Oh.« Ich war leicht außer Atem, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen verpasst. »Nehmen wir mal an, man würde angehalten, weil man zu schnell gefahren ist … dann glaubt der Cop einfach, dass man der ist, als den einen dieses Stück Pappe ausweist?«

»Warum nicht? Wenn du im Jahr 1958 von einem Terroranschlag sprichst, denken die Leute, dass du Teenager meinst, die Kühe umwerfen. Hier, unterschreib die auch.«

Er legte mir eine Kundenkarte von Hertz, eine Tankkarte von Cities Service und zwei Kreditkarten – Diners Club und American Express – hin. Die Amex-Karte war aus Zelluloid, die Diners-Karte aus Pappe. Auf beiden stand George Ambersons Name. Nicht gedruckt, sondern mit der Schreibmaschine geschrieben.

»Wenn du willst, hat Amex nächstes Jahr eine echte Plastikkarte für dich.«

Ich lächelte. »Kein Scheckbuch?«

»Ich hätte dir eins besorgen können, aber was hättest du davon? Aller Papierkram, der auf George T. Amberson lautet, würde beim nächsten Neustart verschwinden. Auch das auf dein Konto eingezahlte Geld.«

»Oh.« Ich kam mir dumm vor. »Natürlich.«

»Mach dir deswegen keine Vorwürfe, schließlich ist alles noch neu für dich. Trotzdem wirst du dir ein Bankkonto einrichten wollen. Mit nicht mehr als tausend Dollar, schlage ich vor. Behalt die meiste Knete in bar, damit du jederzeit Zugriff auf sie hast.«

»Für den Fall, dass ich eilig zurückkehren muss.«

»Richtig. Und die Kreditkarten sind nur dazu da, deine Identität zu untermauern. Die tatsächlichen Konten, die ich eröffnen musste, um sie zu erhalten, werden gelöscht, wenn du wieder zurückkommst. Trotzdem könnten sie sich als nützlich erweisen – das weiß man nie.«

»Kriegt George seine Post in die Bluebird Lane 19?«

»Im Jahr 1958 ist die Bluebird Lane nichts als eine Adresse im Bebauungsplan von Sabbatus, Kumpel. Die Siedlung, in der du wohnst, ist noch gar nicht gebaut. Sollte dich jemand danach fragen, sagst du einfach, dass es sich um etwas Geschäftliches handelt. Das wird man dir abnehmen. Im Jahr 1958 ist Business wie ein Gott – jeder verehrt es, aber keiner versteht es. Deine Post bekommst du auf dem Postamt Lisbon Center. Hier.«

Er warf mir eine luxuriöse Geldbörse zu. Ich glotzte sie an. »Ist das Straußenleder?«

»Ich wollte, dass du wohlhabend wirkst«, sagte Al. »Such ein paar Fotos zusammen, die du mit Führerschein und Kreditkarten reinstecken kannst. Ich hab noch ein paar Kleinigkeiten für dich. Mehrere Kugelschreiber, einer davon eine Novität mit Brieföffner und Lineal am Ende. Einen Drehbleistift von Scripto. Eine Schutzhülle für die Hemdtasche. Im Jahr 1958 gelten sie noch als zweckmäßig, nicht als streberhaft. Eine Bulova-Uhr mit einem verchromten Elastoflex-Armband von Speidel – darauf werden alle coolen Cats abfahren, Daddy. Den Rest kannst du dir selbst ansehen.« Er hustete lange und so heftig, dass er sich dabei zusammenkrümmte. Als er fertig war, standen große Schweißperlen auf seinem Gesicht.

»Al, wann hast du das alles zusammengetragen?«

»Als ich gemerkt habe, dass ich nicht bis 1963 durchhalten würde, bin ich aus Texas heimgekommen. Ich hatte dich bereits im Auge, obwohl ich dich vier Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Geschieden, kinderlos, clever und vor allem jung. Oh, das hier hätte ich fast vergessen: das Saatkorn, aus dem alles andere entstanden ist. Hab den Namen von einem Grabstein auf dem St.-Cyril-Friedhof abgeschrieben und die Ausstellung beim Innenministerium von Maine beantragt.«

Er übergab mir meine Geburtsurkunde. Ich ließ die Fingerspitzen sanft über das Prägesiegel gleiten. Es fühlte sich amtlich an.

Als ich aufsah, hatte er ein beidseitig eng bedrucktes Blatt Papier auf den Tisch gelegt. Die Überschrift lautete SPORTRESULTATE 1958-63. »Verlier es nicht. Nicht nur weil es deine Einnahmequelle ist, sondern auch weil du verdammt viel erklären müsstest, wenn es in die falschen Hände fiele. Vor allem wenn die Tipps anfangen, sich zu bewahrheiten.«

Ich fing an, alles wieder in die Schachtel zu legen, aber er schüttelte nur den Kopf. »Ich habe eine an den Ecken hübsch abgenutzte Aktentasche von Lord Buxton für dich im Kleiderschrank.«

»Die brauche ich nicht – ich nehme meinen Rucksack. Der liegt bei mir im Kofferraum.«

Al betrachtete mich amüsiert. »Wo du hingehst, trägt niemand einen Rucksack außer Pfadfindern – und auch die nur auf Wanderungen und zu Zeltlagern. Du hast noch viel zu lernen, Kumpel, aber wenn du dich vorsichtig bewegst und kein Risiko eingehst, müsste alles klappen.«

Mir wurde bewusst, dass ich das Ganze ernstlich vorhatte – und dass es gleich jetzt fast ohne Vorbereitungen passieren würde. Ich kam mir wie ein Mensch im 17. Jahrhundert vor, der bei einer Besichtigung der Londoner Docks plötzlich merkte, dass er schanghait werden sollte.

»Aber was tue ich?« Es klang fast wie ein Blöken.

Er zog die Augenbrauen hoch – buschig und nun so weiß wie sein schütteres Haupthaar. »Du rettest die Familie Dunning. Haben wir davon nicht die ganze Zeit geredet?«

»Das meine ich nicht. Was tue ich, wenn die Leute mich fragen, wovon ich lebe? Was sage ich dann?«

»Erzähl ihnen, dass dein reicher Onkel gestorben ist. Erzähl ihnen, dass du deine zufällige Erbschaft lange genug streckst, um ein Buch schreiben zu können. Steckt nicht in jedem Englischlehrer ein frustrierter Schriftsteller? Oder täusche ich mich da?«

Damit lag er sogar sehr richtig.

Er saß da und sah mich an: ausgezehrt, erbärmlich dünn, aber nicht ohne Mitgefühl. Vielleicht sogar mitleidsvoll. Schließlich fragte er sehr leise: »Die Sache ist groß, nicht wahr?«

»Das ist sie«, sagte ich. »Und, Al … Mann … ich bin bloß ein kleiner Kerl.«

»Das könntest du auch von Oswald sagen. Ein Würstchen, das aus dem Hinterhalt geschossen hat. Und wie Harry Dunning in seinem Aufsatz schreibt, ist sein Vater nur ein bösartiger Trinker mit einem Hammer.«

»Das ist er längst nicht mehr. Er ist im Shawshank State Prison an einer Vergiftung gestorben. Vermutlich an schlechtem Squeeze, sagte Harry. Das ist …«

»Ich weiß, Brennspiritus. Ich hab das Zeug auf den Philippinen kennengelernt, als ich dort stationiert war. Hab leider sogar etwas davon getrunken. Aber wo du hingehst, ist er nicht tot. Oswald auch nicht.«

»Al … ich weiß, dass du krank bist, und ich weiß, dass du Schmerzen hast. Aber kannst du mich zum Diner begleiten? Ich …« Zum ersten und einzigen Mal benutzte ich seine übliche Anrede. »Kumpel, ich will diese Sache nicht allein angehen. Ich habe Angst.«

»Oh, ich komme unbedingt mit.« Er schob die rechte Hand unter die linke Achsel und stand mit einer Grimasse auf, bei der er den Zahnfleischrand sehen ließ. »Hol dir die Aktentasche. Ich ziehe mich inzwischen an.«

8

Es war Viertel vor acht, als Al die Tür des silbrigen Trailers aufschloss, den die Berühmten Fatburger ihre Heimat nannten. Die verchromten Armaturen hinter der Theke schimmerten gespenstisch. Die Hocker schienen zu flüstern: Niemals mehr wird jemand auf uns sitzen. Die altmodischen großen Zuckerstreuer schienen flüsternd zu antworten: Niemals mehr wird jemand Zucker aus uns rieseln lassen – die Party ist vorbei.

»Macht Platz für L. L. Bean«, sagte ich.

»Genau«, sagte Al. »Der gottverdammte Fortschritt.«

Er war außer Atem, keuchte schwer, aber er gönnte sich keine Ruhepause. Er führte mich hinter der Theke vorbei zur Tür des Vorratsraums. Ich folgte ihm und nahm dabei die Aktentasche, die mein neues Leben enthielt, von der rechten in die linke Hand. Die Tasche mit ihren Schnallen war schrecklich altmodisch. Hätte ich sie an der LHS in mein Klassenzimmer mitgebracht, hätten die meisten Schüler gelacht. Einige wenige – die mit erwachendem Stilbewusstsein – hätten vielleicht ihren Retrochic gewürdigt.

Al öffnete die Tür zu den Düften von Gemüse, Gewürzen und Kaffee. Dann griff er wieder an meiner Schulter vorbei, um Licht zu machen. Ich betrachtete das graue Linoleum wie ein Mann, der in ein Wasserbecken starrte, in dem hungrige Haie lauern könnten, und fuhr zusammen, als Al mir auf die Schulter tippte.

»Sorry«, sagte er, »aber das hier solltest du mitnehmen.« Er hielt mir ein Fünfzigcentstück hin. Einen halben Dollar. »Der Gelbe-Karte-Mann, du erinnerst dich?«

»Klar doch«, sagte ich. Tatsächlich hatte ich ihn ganz vergessen. Mein Herz hämmerte so sehr, dass meine Augäpfel in ihren Höhlen zu pulsieren schienen. Meine Zunge schmeckte wie ein altes Stück Teppich, und als Al mir das Geldstück gab, hätte ich es beinahe fallen lassen.

Er musterte mich ein letztes Mal prüfend. »Die Jeans sind fürs Erste in Ordnung, aber bevor du nach Norden weiterreist, solltest du dir bei Mason’s Menswear in der Upper Main Street Slacks kaufen. Pendletons und Khaki-Twill sind für den Alltag in Ordnung, Ban-Lon für festliche Anlässe.«

»Ban-Lon?«

»Frag einfach danach, die wissen dann schon. Außerdem brauchst du ein paar Oberhemden. Irgendwann einen Anzug. Außerdem ein paar Krawatten und eine Krawattenspange. Kauf dir auch einen Hut. Keine Baseballmütze, sondern einen hübschen Strohhut für den Sommer.«

Aus seinen Augenwinkeln quollen Tränen. Sie erschreckten mich mehr als alles, was er gesagt hatte.

»Al? Was ist los?«

»Ich hab nur Angst, genau wie du. Trotzdem müssen wir jetzt nicht gerührt voneinander Abschied nehmen. Wenn du zurückkommst, bist du unabhängig von der Dauer deines Aufenthalts im Jahr 1958 in genau zwei Minuten wieder hier. Bis dahin habe ich gerade Zeit, die Kaffeemaschine anzuwerfen. Wenn alles klappt, trinken wir zusammen eine schöne Tasse Kaffee, und du kannst mir davon erzählen.«

Wenn. Ein großes Wort.

»Du könntest auch ein Gebet sprechen. Dafür wäre doch genug Zeit, oder?«

»Klar. Ich werde dafür beten, dass alles glattgeht. Vergiss vor lauter Verwirrung über deine neue Umgebung nicht, dass du es mit einem gefährlichen Mann zu tun hast. Vielleicht sogar gefährlicher als Oswald.«

»Ich sehe mich vor.«

»Okay. Halt möglichst die Klappe, bis du genug vom Dialekt der Leute und der damaligen Atmosphäre aufgeschnappt hast. Mach langsam. Schlag keine Wellen.«

Ich gab mir Mühe zu lächeln, bin mir aber nicht sicher, ob es mir gelungen ist. Die Aktentasche fühlte sich bleischwer an, so als enthielte sie Steine statt Geld und gefälschte Ausweise. Ich fürchtete, ich könnte ohnmächtig werden. Und trotzdem, Gott steh mir bei, wollte ich irgendwie nach drüben. Konnte ich es kaum erwarten hinüberzukommen. Ich wollte die USA in meinem Chevrolet sehen; Amerika lud mich zu einem Besuch ein.

Al streckte mir seine abgemagerte, zitternde Hand hin. »Alles Gute, Jake. Und Gottes Segen.«

»George, meinst du.«

»George, richtig. Jetzt aber los! Jetzt wird’s Zeit, wie sie damals sagen, die Fliege zu machen.«

Ich wandte mich ab, ging langsam in den Vorratsraum und bewegte mich dabei wie ein Mensch, der ohne Licht die oberste Stufe einer Treppe ertastet.

Beim dritten Schritt fand ich sie.

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