Teil 4 SADIE UND DER GENERAL

Kapitel 14

1

Die Gedenkfeier fand am Ende des ersten Tages des neuen Schuljahrs statt, und wenn man Erfolg an feuchten Taschentüchern messen konnte, war die Show, die Sadie und ich zusammengestellt hatten, ein großer Erfolg. Für die Kids war sie bestimmt läuternd, und ich glaube, dass sie Miz Mimi gefallen hätte. Sarkastische Menschen sind unter dem Panzer oft weich wie Marshmallows, hatte sie mir einmal erklärt. Ich bin da keine Ausnahme.

Die Lehrer schafften es, während der meisten Trauerreden die Fassung zu bewahren. Es war Mike, der die Fassung mit seiner ruhigen, aus dem Herzen kommenden Rezitation von Kapitel 31 der Sprüche Salomos ins Wanken brachte. Und während der Diashow zu schmalziger Musik aus der West Side Story brachen auch die Lehrer in Tränen aus. Besonders unterhaltend fand ich Coach Borman. Mit den Tränen, die ihm über sein rotes Gesicht liefen, und dem quakenden Schluchzen, das aus seiner breiten Brust kam, erinnerte Denholms Football-Guru mich an Baby Huey, jedermanns zweitliebste Cartoon-Ente.

Diese Beobachtung flüsterte ich Sadie zu, als wir neben der großen Leinwand mit den darübermarschierenden Bildern von Miz Mimi standen. Auch sie weinte, musste aber die Bühne verlassen und in den Kulissen verschwinden, als ihre Tränen zuerst gegen das Lachen ankämpften und dann von ihm besiegt wurden. Aus dem sicheren Halbdunkel heraus funkelte sie mich vorwurfsvoll an … und zeigte mir dann den Finger. Den hatte ich wohl verdient. Ich fragte mich, ob Miz Mimi weiter der Ansicht wäre, dass Sadie und ich glänzend miteinander auskamen.

Vermutlich schon.

Als Theaterstück für den Herbst wählte ich Die zwölf Geschworenen, »vergaß« jedoch, der Samuel French Company mitzuteilen, dass unsere Version Die Jury heißen würde, damit ich einige Rollen mit Mädchen besetzen konnte. Ich wollte ab Ende Oktober vorsprechen lassen und am 13. November nach dem letzten Punktspiel der Lions mit den Proben beginnen. Ich liebäugelte mit Vince Knowles als dem Geschworenen Nr. 8 – dem Hartnäckigen, der im Film von Henry Fonda gespielt wurde – und Mike Coslaw in der meiner Ansicht nach dankbarsten Rolle als dem bulligen, aggressiven Geschworenen Nr. 3.

Aber ich hatte angefangen, mich auf eine wichtigere Show zu konzentrieren, im Vergleich zu der die Affäre Frank Dunning wie ein harmloser Varieté-Sketch wirkte. Man hätte sie Jake und Lee in Dallas nennen können. Klappte alles wie geplant, würde sie eine Tragödie in einem Akt sein. Ich musste mich bereithalten, zum richtigen Zeitpunkt auf die Bühne zu kommen, und das bedeutete, dass ich früh anfangen musste.

2

Am 6. Oktober gewannen die Denholm Lions ihr fünftes Footballspiel und waren damit auf dem Weg zu einer Saison ohne Niederlage, die sie Vince Knowles widmeten, dem Jungen, der in Von Mäusen und Menschen den George gespielt hatte und nie eine Chance bekommen würde, in George Ambersons Adaption von Die zwölf Geschworenen aufzutreten – doch davon später mehr. Damit begann ein dreitägiges Wochenende, weil der folgende Montag Columbus Day war.

Am Feiertag fuhr ich nach Dallas. Die meisten Geschäfte hatten geöffnet, und mein erstes Ziel war eines der Leihhäuser in der Greenville Avenue. Dem kleinen Mann hinter dem Ladentisch sagte ich, dass ich den billigsten Ehering wolle, den er vorrätig habe. Ich verließ das Leihhaus mit einem Goldreif (zumindest sah er wie Gold aus) für acht Dollar am Ringfinger meiner linken Hand. Dann fuhr ich in die Innenstadt zu einer Firma in der Lower Main Street, die ich im Branchenverzeichnis ausfindig gemacht hatte: Silent Mike’s Satellite Electronics. Dort empfing mich ein adretter kleiner Mann, der eine schwarze Hornbrille trug und einen seltsam futuristischen Button an seiner Weste hatte. TRAU NIEMAND stand darauf.

»Sind Sie Silent Mike?«, fragte ich.

»Ja.«

»Und sind Sie wirklich stumm?«

Er lächelte. »Kommt darauf an, wer zuhört.«

»Nehmen wir mal an, niemand«, sagte ich und erklärte ihm, was ich wollte. Wie sich zeigte, hätte ich mir die acht Dollar sparen können, denn er interessierte sich nicht im Geringsten für meine angeblich fremdgehende Ehefrau. Den Inhaber von Satellite Electronics interessierten nur die Geräte, die ich kaufen wollte. Bei diesem Thema war er der Redselige Mike.

»Mister, solches Zeug gibt’s vielleicht auf dem Planeten, von dem Sie kommen, aber bestimmt nicht hier.«

Das rief Erinnerungen an Miz Mimi wach, die mich mit dem außerirdischen Besucher in Der Tag, an dem die Erde stillstand verglichen hatte, aber ich schüttelte sie ab. »Ich habe keine Ahnung, was Sie damit meinen.«

»Sie wollen einen kleinen drahtlosen Empfänger? Okay, von denen habe ich ein paar in der Vitrine dort drüben. Man nennt sie Transistorradios. Ich führe welche von Motorola und von GE, aber die japanischen sind die besten.« Er streckte die Unterlippe vor und blies sich eine Haarlocke aus der Stirn. »Ist das nicht ein Tritt in den Hintern? Vor fünfzehn Jahren haben wir sie besiegt, indem wir zwei ihrer Großstädte in radioaktiven Staub verwandelt haben, aber sind sie danach etwa erledigt? Nein. Sie bleiben in ihren Löchern, bis der Staub sich gesetzt hat, dann kommen sie statt mit Nambu-MGs mit Platinen und Lötkolben bewaffnet herausgekrochen. Passen Sie auf, bis 1985 gehört denen die Welt. Zumindest der Teil, in dem ich lebe.«

»Sie können mir also nicht helfen?«

»Das soll wohl ein Witz sein. Klar kann ich das. Silent Mike McEachern erfüllt die elektronischen Bedürfnisse eines Kunden immer gern. Aber das kostet.«

»Ich bin bereit, einiges dafür auszugeben. Bestimmt spare ich weitaus mehr ein, wenn ich dieses betrügerische Miststück vor den Scheidungsrichter zerre.«

»Mhm. Warten Sie einen Augenblick hier, ich muss was aus dem Lager holen. Und drehen Sie das Schild an der Tür auf ›geschlossen‹ um, ja? Ich will Ihnen etwas zeigen, was wahrscheinlich nicht … nun, vielleicht ist es ja legal, aber wer weiß. Ist Silent Mike McEachern etwa Rechtsanwalt?«

»Vermutlich nicht.«

Mein privater Führer zu den elektronischen Errungenschaften der Sechzigerjahre kam mit einem merkwürdigen Gerät in der einen und einer kleinen Schachtel in der anderen Hand zurück. Die Schachtel war mit japanischen Schriftzeichen bedruckt. Das Gerät sah wie ein auf einer schwarzen Kunststoffscheibe montierter Dildo für Koboldmiezen aus. Die Scheibe vom Durchmesser eines Vierteldollars war sieben bis acht Zentimeter dick und mit Drähten gespickt. Er stellte sie auf den Ladentisch.

»Das ist ein Echo. Wird hier in dieser Stadt hergestellt, mein Sohn. Wenn jemand die Söhne Nippons auf ihrem eigenen Feld schlagen kann, dann sind wir das. Bis 1970 ist die Elektronikindustrie in Dallas bedeutender als die Banken. Denken Sie an meine Worte.« Er bekreuzigte sich, zeigte himmelwärts und fügte hinzu: »Gott segne Texas.«

Ich nahm das Gerät in die Hand. »Was ist ein Echo genau, wenn es zu Hause die Füße hochlegt?«

»Die beste Annäherung an die von Ihnen beschriebene Art Wanze, die Sie kriegen werden. Das Gerät ist klein, weil es ohne Vakuumröhren auskommt und keine Batterien braucht. Es funktioniert mit gewöhnlichem Wechselstrom.«

»Man steckt es einfach ein?«

»Klar, warum nicht? Ihre Frau und ihr Freund können es sich ansehen und sagen: ›Wie nett, jemand hat hier eine Wanze installiert, während wir weg waren … da wollen wir gleich lautstark bumsen und uns hinterher laut über intime Dinge unterhalten.‹«

Na gut, er war ein komischer Kauz. Trotzdem war Geduld eine Tugend. Und ich brauchte, was ich brauchte.

»Was macht man also damit?«

Er tippte auf die Scheibe. »Die hier kommt in einen Lampenfuß. Keine Stehlampe, außer Sie wollen damit aufzeichnen, wie die Mäuse unter dem Fußboden herumlaufen, kapiert? In eine Tischlampe, damit sie oben ist, wo die Leute reden.« Er berührte die Drähte. »Rot und Gelb werden mit dem Elektrokabel verbunden, das danach wieder in die Steckdose kommt. Die Wanze funktioniert erst, wenn jemand die Lampe einschaltet. Ab dann sind Sie im Geschäft.«

»Und das andere Ding da ist das Mikro?«

»Ja, und für ein amerikanisches ist es ziemlich gut. Also – sehen Sie die beiden anderen Drähte? Den blauen und den grünen?«

»Mhm.«

Er öffnete die mit japanischen Schriftzeichen bedruckte Schachtel und holte ein Tonbandgerät heraus. Das Gerät war größer als ein Päckchen von Sadies Winstons, aber nicht sehr viel.

»Die anderen Drähte werden mit diesem Kasten verbunden. Das Grundgerät kommt in die Lampe, das Aufnahmegerät in eine Schublade, vielleicht unter die Wäsche Ihrer Frau. Oder Sie bohren ein kleines Loch durch die Wand und verstecken es im Kleiderschrank.«

»Das Aufnahmegerät holt sich seinen Strom auch aus der Lampenschnur?«

»Natürlich.«

»Könnte ich auch zwei dieser Echos kaufen?«

»Ich kann Ihnen sogar vier beschaffen. Könnte allerdings eine Woche dauern.«

»Danke, zwei genügen. Wie viel?«

»Solcher Kram ist nicht billig. Ein Paar würde auf hundertvierzig kommen. Und der Deal müsste in bar abgewickelt werden.« Das Bedauern in seiner Stimme suggerierte, dass wir zusammen einen netten kleinen Techno-Traum gehabt hatten, der nun leider fast zu Ende war.

»Wie viel mehr würde es mich kosten, die Installation von Ihnen vornehmen zu lassen?« Ich sah seine Besorgnis und beeilte mich, sie zu zerstreuen. »Ich meine nicht die heimliche Aufstellung im Haus, nichts von der Art. Nur die Wanzen in die Lampen einbauen und die Tonbandgeräte anschließen – könnten Sie das übernehmen?«

»Natürlich könnte ich das, Mr. …«

»Sagen wir Mr. Doe. John Doe.«

Seine Augen funkelten wie in meiner Vorstellung die von E. Howard Hunt, wenn er erstmals vor der Herausforderung stehen würde, die das Hotel Watergate darstellte. »Guter Name.«

»Danke. Und es wäre gut, wenn es etwas Auswahl gäbe, was die Drähte betrifft. Kurze, wenn ich das Aufnahmegerät in der Nähe aufstellen kann, und längere für den Fall, dass es in einen Schrank oder auf die andere Seite einer Wand muss.«

»Das lässt sich machen, aber mehr als drei Meter sind nicht drin, sonst wird der Ton zu schlecht zum Mithören. Und je mehr Draht Sie nehmen, desto größer ist die Gefahr, dass er entdeckt wird.«

Das konnte sogar ein Englischlehrer verstehen.

»Wie viel für alles zusammen?«

»Mmmm … hundertachtzig?«

Er schien bereit zu sein, mit sich handeln zu lassen, aber dafür hatte ich weder Zeit noch Lust. Ich legte fünf Zwanziger auf den Ladentisch und sagte: »Den Rest gibt’s bei Abholung. Aber zuvor testen wir sie und stellen sicher, dass sie funktionieren, einverstanden?«

»Klar, geht in Ordnung.«

»Und noch was. Besorgen Sie mir gebrauchte Lampen. Ein bisschen schäbige.«

»Schäbige?«

»Als hätten sie bei einem Garagenverkauf oder auf dem Flohmarkt einen Vierteldollar das Stück gekostet.« Wenn man bei ein paar Bühnenstücken Regie geführt hatte – zählte man die an der LHS mit, war Von Mäusen und Menschen mein fünftes Theaterstück gewesen –, wusste man einiges über Requisiten. Ich wollte auf keinen Fall, dass jemand eine Lampe mitsamt eingebauter Wanze aus einer teilmöblierten Wohnung klaute.

Er wirkte einen Augenblick lang verwirrt, dann zog ein komplizenhaftes Lächeln über sein Gesicht. »Oh, ich verstehe. Realismus.«

»Das ist der Plan.« Ich ging zur Tür, kehrte dann noch einmal um, stützte die Unterarme auf die Vitrine mit den Transistorradios und sah ihm in die Augen. Ich kann nicht beschwören, dass er den Menschen vor sich sah, der Frank Dunning ermordet hatte, aber ich will auch nicht behaupten, dass er das nicht tat. »Sie reden mit niemand über diese Sache, in Ordnung?«

»Nein! Natürlich nicht!« Er zog mit zwei Fingern einen imaginären Reißverschluss vor seinen Lippen zu.

»So ist es recht«, sagte ich. »Wann?«

»Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.«

»Ich komme heute in einer Woche wieder. Um wie viel Uhr machen Sie zu?«

»Fünf.«

Ich schätzte die Entfernung zwischen Jodie und Dallas ab und sagte: »Einen Zwanziger extra für Sie, wenn Sie bis sieben Uhr offen haben. Früher kann ich nicht kommen. Einverstanden?«

»Yeah.«

»Gut. Sehen Sie zu, dass alles fertig ist.«

»Wird gemacht. Sonst noch was?«

»Ja. Wieso zum Teufel heißen Sie Silent Mike?«

Ich hoffte, er würde weil ich ein Geheimnis bewahren kann sagen, aber das tat er nicht. »Als kleiner Junge habe ich geglaubt, in dem Weihnachtslied ging’s um mich. Das ist irgendwie hängen geblieben.«

Ich fragte nicht weiter nach. Auf halbem Weg zu meinem Auto wurde mir klar, was er gemeint hatte, und ich fing an zu lachen.

Silent Mike, Holy Mike.

Manchmal war die Welt, in der wir lebten, wirklich ein verrückter Ort.

3

Wenn Lee und Marina in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, würden sie in einer tristen, billigen Wohnung nach der anderen wohnen, darunter auch in der, die ich mir schon in New Orleans angesehen hatte, aber auf der Grundlage von Als Notizen schien es nur zwei Wohnungen zu geben, auf die ich mich konzentrieren musste. Eine lag in Dallas in der West Neely Street 214. Die andere lag in Fort Worth, und dorthin fuhr ich nach meinem Besuch bei Silent Mike.

Ich hatte einen Stadtplan, musste aber trotzdem dreimal nach dem Weg fragen. Im Endeffekt war es eine ältere Schwarze hinter dem Ladentisch eines kleinen Lebensmittelgeschäfts, die mir erklärte, wie ich fahren musste. Als ich endlich fand, was ich suchte, war ich nicht überrascht, dass die Adresse so schwer zu finden gewesen war. Der hintere Teil der Mercedes Street bestand aus einer unbefestigten Fahrbahn zwischen baufälligen, kleinen Häusern, die kaum besser als Taglöhnerhütten waren. Die Straße mündete in einen riesigen, überwiegend leeren Parkplatz, auf dem Steppenläufer über den bröckelnden Asphalt geweht wurden. Dahinter ragte die Rückwand eines aus Hohlblocksteinen erbauten Lagerhauses auf. Auf dieser Wand stand in drei Meter hoher weißer Schablonenschrift EIGENTUM VON MONTGOMERY WARD und BETRETEN BEI STRAFE VERBOTEN und UNTER POLIZEIBEOBACHTUNG.

Aus Richtung Odessa-Midland stank es nach gekracktem Erdöl, aus der näheren Umgebung nach ungeklärtem Abwasser. Aus offenen Fenstern drang Rock ’n’ Roll. Ich hörte die Dovells, Johnny Burnette, Lee Dorsey, Chubby Checker … und das schon auf den ersten vierzig Metern oder so. Frauen hängten Wäsche auf rostige Wäschekarussells. Alle trugen Hauskittel, die sie vermutlich bei Zayre’s oder im Mammoth Mart gekauft hatten, und alle schienen schwanger zu sein. Ein schmutziger kleiner Junge und ein ebenso schmutziges kleines Mädchen standen auf dem von Rissen durchzogenen Lehmboden einer Einfahrt und beobachteten mich, als ich vorbeifuhr. Sie hielten sich an den Händen und sahen sich viel zu ähnlich, um keine Zwillinge zu sein. Der Junge, nackt bis auf eine einzelne Socke, hatte eine Zündplättchenpistole. Das Mädchen trug eine tief hängende Windel und ein T-Shirt des Mickey-Mouse-Clubs. Sie umklammerte eine Babypuppe aus Kunststoff, die ebenso schmutzig war wie sie selbst. Zwei Männer mit nacktem Oberkörper, beide mit einer Zigarette im Mundwinkel, warfen sich in ihren »Gärten« stehend einen Football zu. Hinter ihnen pickten ein Gockel und zwei schmuddelige Hennen neben einem mageren Hund, der schlief oder tot war, lustlos im Staub.

Ich hielt vor der Nummer 2703, dem Haus, in das Lee seine Frau und seine Tochter bringen würde, als er Marguerite Oswalds bösartige Form von Mutterliebe nicht länger ertragen konnte. Zwei Betonstreifen führten zu einem kahlen, ölbefleckten Stück Erde hinauf, auf dem in einem besseren Viertel eine Garage gestanden hätte. Die Wüste mit Fingerhirse, die ein Rasen sein sollte, war mit billigen Plastikspielsachen übersät. Ein kleines Mädchen in löchrigen, rosa Shorts kickte einen Fußball gegen die Hauswand. Immer wenn er an die Holzverkleidung knallte, sagte sie: »Tschumba!«

Eine Frau mit großen, blauen Lockenwicklern und einer in den Mundwinkel geklemmten Zigarette steckte den Kopf aus dem Fenster und kreischte: »Mach so weiter, Rosette, dann komm ich raus und brat dir eins über!« Dann sah sie mich. »Was wolln Se hier? Wenn’s wegen ’ner Rechnung is, kann ich Ihn nich helfn. Das macht alles mein Mann. Und der hat heut Arbeit.«

»Es geht um keine Rechnung«, sagte ich. Rosette kickte den Fußball in meine Richtung – mit einem Fauchen, das zu einem widerstrebenden Lächeln wurde, als ich ihn mit dem Innenrist stoppte und weich zurückspielte. »Ich wollte Sie nur einen Augenblick sprechen.«

»Dann müssn Sie warten. Bin nicht anständig angezogn.«

Ihr Kopf verschwand. Ich wartete. Rosette schoss wieder, diesmal hoch und weit (»Tschumba!«), aber ich schaffte es, den Ball mit einer Hand abzufangen, bevor er die Hauswand traf.

»Man darf keine Hand nich nehm, alter Drecksack«, sagte sie. »Das gibt ’nen Strafstoß.«

»Rosette, was hab ich dir wegen deim gottverdammtn Mundwerk gesagt?« Die Mutter trat auf das Podest vor der Haustür und zog ein schmuddeliges, gelbes Kopftuch über ihren Lockenwicklern fest. Damit sah sie wie ein verpupptes Insekt aus, das nach dem Schlüpfen möglicherweise giftig war.

»Alter beschissener Drecksack!«, kreischte Rosette, dann flitzte sie die Mercedes Street in Richtung des Lagerhauses von Montgomery Ward entlang, trieb ihren Fußball vor sich her und lachte wie verrückt.

»Was wolln Se?« Die Mutter war vielleicht zweiundzwanzig, schien aber deutlich auf die fünfzig zuzugehen. Ihr fehlten mehrere Zähne, sie hatte ein verblassendes Veilchen, und auch sie war schwanger.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte ich.

»Was macht mein Kram zu Ihrm Kram?«

Ich zückte meine Geldbörse und hielt ihr einen Fünfdollarschein hin. »Stellen Sie mir keine Fragen, dann erzähle ich Ihnen keine Lügen.«

»Sie sin nich von hier. Redn wie ’n Yankee.«

»Wollen Sie dieses Geld oder nicht, Missus?«

»Hängt von den Fragn ab. Meine gottverdammte BH-Größe erfahrn Se nich.«

»Als Erstes möchte ich wissen, wie lange Sie schon hier wohnen.«

»In diesm Haus? Sechs Wochn, schätz ich. Harry hat gedacht, er könnt im Lagerhaus unterkomm, aber die Ärsche stelln nich ein. Also is er zu Manpower gegang. Wissn Se, was das is?«

»Arbeit im Tagelohn?«

»Yeah, und er arbeitet mit ’ner Bande gottverdammter Nigger.« Nur klang arbeitet aus ihrem Mund wie abbeided. »Neun Dollar am Tag dafür, dass er mit ’ner Bande gottverdammte Nigger im Straßenbau schuftet. Ihm kommt’s vor, wie wenn er wieder im Strafvollzug in West Texas is.«

»Wie viel Miete zahlen Sie?«

»Fünfzig im Monat.«

»Möbliert?«

»Teils. Na ja, könnt man sagn. Wir ham ein gottverdammtes Bett und ’nen gottverdammten Gasherd, der uns bestimmt mal alle umbring wird. Und ich nehm Se nich als Untermieter, sparn Se sich die Frage. Ich hab keine gottverdammte Ahnung, wer Sie sind.«

»Gehören zu der Möblierung auch Lampen und solche Sachen?«

»Sie sind verrückt, Mister.«

»Ja oder nein?«

»Yeah, ein paar. Eine, die brennt, und eine, die’s nich tut. Ich bleib nich hier, will gottverdammt sein, wenn ich’s tu. Er sagt, dass er nich wieder bei meiner Mama untn in Mozelle einziehen will, aber da hat er eben Pech. Ich bleib auf kein Fall hier. Riechn Sie, wie’s hier stinkt?«

»Ja, Ma’am.«

»Das is nichts als Scheiße, Sohnemann. Keine Katznscheiße, keine Hundescheiße, das is Menschenscheiße. Mit Niggern arbeitn, das is die eine Sache, aber wie einer lebn? Nee, Sir. Sind Se fertig?«

Noch nicht ganz, obwohl ich mir wünschte, ich wäre fertig. Ich war von ihr angewidert – und von mir, weil ich mir anmaßte, über sie zu urteilen. Sie war eine Gefangene ihrer Zeit, ihrer Entscheidungen und dieser nach Scheiße riechenden Straße. Aber es waren die Lockenwickler unter dem gelben Kopftuch, die ich immer wieder anstarrte. Dicke, blaue Käfer, die darauf warteten, ihre Eier legen zu können.

»Hier bleibt wohl niemand lange?«

»Inner ’Cedes Street?« Sie wies mit ihrer Zigarette auf die unbefestigte Straße, die zu dem verlassenen Parkplatz und dem riesigen Lagerhaus führte, das voller hübscher Dinge war, die sie nie besitzen würde. Auf die dicht nebeneinander gebauten Bruchbuden mit Eingangsstufen aus bröckelnden Hohlblocksteinen und mit Pappe verschalten zerbrochenen Fensterscheiben. Auf die Kinder, von denen es hier wimmelte. Auf die alten, von Rost zerfressenen Fords und Hudsons und Studebaker Larks. Auf den unbarmherzigen texanischen Himmel. Dann ließ sie ein schreckliches Lachen hören, aus dem sowohl Belustigung als auch Verzweiflung sprachen.

»Mister, das hier is ’ne Bushaltestelle an ’ner Straße nach nirgendwo. Ich und das Balg da draußn segeln nach Mozelle zurück. Wenn Harry nich mitkomm will, segeln wir ohne den.«

Ich zog den Stadtplan aus meiner Gesäßtasche, riss einen Streifen ab und kritzelte meine Telefonnummer in Jodie darauf. Dann legte ich einen weiteren Fünfer hinzu und hielt ihr beide Geldscheine und den Papierstreifen hin. Sie sah sich alles an, griff aber nicht danach.

»Was soll ich mit Ihrer Telefonnummer? Ich hab kein gottverdammtes Telefon. Und das is gar keine Nummer von hier. Das is ’n gottverdammtes Ferngespräch.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie kurz vor dem Auszug sind. Mehr verlange ich gar nicht. Sie rufen mich an und sagen: ›Mister, hier ist Rosettes Mama – wir ziehen aus.‹ Das ist schon alles.«

Ich konnte sehen, wie sie rechnete. Dafür brauchte sie nicht lange. Zehn Dollar waren mehr, als ihr Mann an einem ganzen Arbeitstag unter der heißen texanischen Sonne verdiente. Weil Manpower nichts von Überstundenzuschlägen an Feiertagen hielt. Und dies hier würden zehn Dollar sein, von denen er nichts wusste.

»Macht noch fünfnsiebzich Cent«, sagte sie. »Fürs Ferngespräch.«

»Hier ist ein Dollar. Gönnen Sie sich was. Und vergessen Sie’s nicht.«

»Tu ich nich.«

»Das sollten Sie auch nicht. Denn wenn Sie’s vergessen, suche ich vielleicht Ihren Mann auf und erzähle ihm von unserer Vereinbarung. Diese Sache ist wichtig, Missus. Jedenfalls für mich. Wie heißen Sie überhaupt?«

»Ivy Templeton.«

Ich stand in Staub und Unkraut da und roch Scheiße, halb gekracktes Rohöl und den durchdringenden Furzgeruch von Erdgas.

»Mister? Was is los mit Ihn? Sie kuckn plötzlich ganz komisch.«

»Nichts«, sagte ich. Und vielleicht war es nichts. Templeton war durchaus kein ungewöhnlicher Name. Natürlich konnte man sich alles einreden, wenn man sich nur genug Mühe gab. Ich war der lebende, wandelnde Beweis dafür.

»Und wie heißn Sie?«

»Puddentane«, sagte ich. »Fragen Sie mich noch mal, dann sage ich dasselbe.«

Dieser Anflug von Grundschulneckerei entlockte ihr endlich ein Lächeln.

»Rufen Sie mich an, Missus.«

»Yeah, okay. Gehn Se jetzt. Und wenn Se beim Wegfahrn mein klein Teufelsbraten überfahrn, würden Se mir wahrscheinlich ’nen Gefalln tun.«

Ich fuhr nach Jodie zurück und fand dort einen Zettel an der Haustür.

George,

rufst Du mich bitte an? Du musst mir einen Gefallen tun.

Sadie (und eben das ist das Problem!!)

Was genau hatte das zu bedeuten? Ich ging hinein, um sie anzurufen und es herauszufinden.

4

Coach Bormans Mutter, die in Abilene im Pflegeheim lebte, hatte sich die Hüfte gebrochen, und am kommenden Samstag fand an der DCHS der Sadie Hawkins Dance statt. Ich konnte diese beiden Informationen nicht miteinander verknüpfen und sagte das Sadie auch.

»Der Coach hat mich dazu überredet, den Tanz mit ihm zu beaufsichtigen! Er hat gesagt, und ich zitiere: ›Wie können Sie nicht zu einem Tanz gehen, der praktisch nach Ihnen benannt ist?‹ Das war erst letzte Woche. Und ich dumme Gans habe zugesagt. Jetzt fährt er nach Abilene, und was heißt das für mich? Zweihundert sexbesessene Sechzehnjährige beaufsichtigen, die Twist und Philly tanzen? Unmöglich! Was ist, wenn welche von den Jungs Bier mitbringen?«

Ich dachte, dass es mich sehr wundern würde, wenn sie das nicht täten, sagte es aber lieber nicht.

»Oder wenn es eine Schlägerei auf dem Parkplatz gibt? Ellie Dockerty hat erzählt, dass letztes Jahr eine Gruppe von Jungs aus Henderson ungeladen zum Tanz erschienen ist, und zwei von denen und zwei von unseren mussten ins Krankenhaus! George, kannst du mir aushelfen? Bitte?«

»Bin ich eben von Sadie Dunhill gesadiehawkinst worden?« Ich grinste. Die Vorstellung, mit ihr zu dem Tanz zu gehen, erfüllte mich nicht gerade mit Trübsal.

»Mach keine Witze! Das ist nicht lustig!«

»Sadie, ich begleite dich sehr gern. Bringst du mir ein Anstecksträußchen mit?«

»Ich würde dir eine Flasche Champagner mitbringen, wenn das der Preis dafür wäre.« Sie überlegte. »Oder lieber nicht. Nicht bei meinem Gehalt. Aber eine Kalte Ente.«

»Einlass ist ab halb acht?« Eigentlich wusste ich das bereits. Die Plakate hingen überall in der Schule.

»Richtig.«

»Und es gibt nur Schallplatten. Keine Band. Das ist gut.«

»Warum?«

»Livebands können problematisch sein. Ich habe mal einen Tanz beaufsichtigt, bei dem der Schlagzeuger in der Pause kaltes selbst gebrautes Bier verkauft hat. Das war eine angenehme Erfahrung.«

»Hat es Schlägereien gegeben?« Sie war hörbar entsetzt. Aber auch fasziniert.

»Das nicht, aber eine Massenkotzerei. Das Zeug hatte es in sich.«

»Das war in Florida?«

Es war im Jahr 2009 an der Lisbon High gewesen, deshalb bestätigte ich, dass es in Florida gewesen sei. Ich erklärte ihr auch, dass ich gern bereit sei, gemeinsam mit ihr als Aufsichtsperson zu fungieren.

»Vielen Dank, George.«

»Ist mir ein Vergnügen, Ma’am.«

Und das war es absolut.

5

Der Förderverein war für den Sadie Hawkins Dance verantwortlich, und er hatte großartige Arbeit geleistet: massenhaft Kreppbänder (natürlich in Silber und Gold), die von den Dachbalken der Turnhalle wehten, reichlich Ginger-Ale-Punsch, Zitronenplätzchen und eingefärbte Muffins, die die Future Homemakers of America gebacken hatten. Der Fachbereich Kunst – klein, aber engagiert – hatte ein Karikaturwandgemälde beigesteuert, das die unsterbliche Miss Hawkins in Dogpatch auf der Jagd nach Junggesellen zeigte. Mattie Shaw und Mikes Freundin Bobbi Jill hatten es maßgeblich gestaltet und waren zu Recht stolz auf ihr Werk. Ich fragte mich, ob sie das in sieben oder acht Jahren auch noch sein würden, wenn die ersten Frauenrechtlerinnen anfingen, ihre Büstenhalter zu verbrennen und für das Recht auf selbstbestimmte Elternschaft zu demonstrieren. Ganz zu schweigen davon, dass sie T-Shirts mit Aufschriften wie ICH BIN NIEMANDES EIGENTUM und EINE FRAU BRAUCHT EINEN MANN WIE EIN FISCH EIN FAHRRAD trugen.

Discjockey und Moderator des Abends war Donald Bellingham aus der zwölften Klasse. Er kam mit einer echt coolen Plattensammlung, die nicht nur einen, sondern sogar zwei Samsonite-Koffer füllte. Mit meiner Erlaubnis (Sadie schaute nur bestürzt) verband er seinen Webcor-Plattenspieler und den Verstärker seines Dads mit der Lautsprecheranlage der Schule. Die Turnhalle war so groß, dass sie einen natürlichen Nachhall erzeugte, und nach einigem Experimentieren unter Rückkopplungskreischen bekam er einen eindrucksvoll dröhnenden Sound hin. Obwohl Donald in Jodie geboren war, hatte er seinen ständigen Wohnsitz in Rockville im Staate Daddy Cool. Er trug eine Brille mit rosa Gestell und dicken Gläsern, Slacks mit der Gürtelschnalle hinten und Schuhe aus hellem Leder mit andersfarbigem Einsatz, die so spießig waren, dass man nur sagen konnte: Echt crazy, Mann. Unter einem mit Unmengen von Brylcreem gestylten Entenbürzel à la Bobby Rydell war sein Gesicht mit Pickeln übersät. Er sah aus, als würde er seinen ersten richtigen Kuss mit ungefähr vierzig Jahren bekommen, aber am Mikrofon war er amüsant und witzig, und seine Plattensammlung (die er seine »Vinylbabys« und »Donny B.s runde Soundbomben« nannte) war wie schon erwähnt die coolste.

»Loslegen wollen wir mit ’nem Knaller von gestern, einer Rock-’n’-Roll-Reliquie vom Grooveyard der Coolness, einem goldenen Gassenhauer, einer Scheibe, die überhaupt nicht platt ist, bewegt eure Beine zu dem echt irren Beat von Danny … and the JOOONIERS!«

»At the Hop« verwandelte die Turnhalle in einen Hexenkessel. Wie bei den meisten solcher Veranstaltungen Anfang der Sechzigerjahre begann der Abend damit, dass nur Mädchen mit Mädchen Jitterbug tanzten. Füße in Slippers flogen. Petticoats wirbelten. Doch nach und nach füllte sich die Tanzfläche mit gemischten Paaren … zumindest bei schnellen Tänzen nach den moderneren Titeln »Hit the Road, Jack« und »Quarter to Three«.

Nicht viele der Kids hätten die Vorrunde von Dancing with the Stars überstanden, aber sie waren jung und begeistert und amüsierten sich offenbar gut. Es machte mich glücklich, sie zu sehen. Falls Donny B. nicht daran dachte, das Licht später etwas zu dimmen, würde ich es selbst tun. Sadie war anfangs nervös, auf Ärger gefasst, aber diese Kids waren nur gekommen, um Spaß zu haben. Es gab keine Invasion aus Henderson oder von irgendeiner anderen Schule. Als ihr das klar wurde, fing sie an, sich etwas zu entspannen.

Nach einer Dreiviertelstunde Nonstop-Musik (und vier kleinen roten Kuchen) beugte ich mich zu Sadie hinüber und sagte: »Wird Zeit, dass Aufseher Amberson seine erste Runde durchs Gebäude macht und sicherstellt, dass es auf dem Hof gesittet zugeht.«

»Soll ich mitkommen?«

»Ich möchte, dass du hierbleibst und die Punschschale im Auge behältst. Sollte sich ihr irgendein junger Mann mit einer Flasche nähern, auch wenn sie nur Hustensirup enthält, drohst du ihm mit dem elektrischen Stuhl oder mit Kastration – je nachdem, was du für wirkungsvoller hältst.«

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und lachte, bis Tränen in ihren Augenwinkeln glitzerten. »Geh jetzt, George, du bist schrecklich

Ich ging. Dass ich sie zum Lachen gebracht hatte, freute mich, aber selbst nach drei Jahren konnte man allzu leicht vergessen, wie viel stärker sexuell gefärbte Scherze im Land des Einst wirkten.

Ich erwischte auf der Ostseite der Turnhalle ein Paar, das im Schatten zwischen den Büschen knutschte – er mit einer Hand in ihrer Bluse forschend, sie wie festgesaugt an seinen Lippen. Als ich dem jungen Forscher auf die Schulter klopfte, fuhren sie erschrocken auseinander. »Das könnt ihr nach dem Tanz im Wäldchen machen«, sagte ich. »Jetzt geht erst mal wieder rein. Macht langsam. Kühlt ein bisschen ab. Trinkt ein Glas Punsch.«

Die beiden gingen. Sie knöpfte sich dabei ihre Bluse zu, und er bewegte sich leicht vornübergebeugt in der als Pralle-Eier-auf-Rückzug bekannten Gehweise pubertierender Jungs.

Hinter der Metallwerkstatt leuchteten zwei Dutzend rote Glühwürmchen. Ich winkte, und einige der Kids im Raucherbereich für Schüler erwiderten mein Winken. Ich steckte den Kopf um die Ostecke der Werkstatt und sah etwas, was mir gar nicht gefiel. Dort standen Mike Coslaw, Jim LaDue und Vince Knowles zusammen und ließen etwas zwischen sich herumgehen. Ich bekam es zu fassen und warf es über den Maschendrahtzaun, bevor sie überhaupt wussten, dass ich da war.

Jim wirkte im ersten Augenblick verblüfft, dann bedachte er mich mit dem lässigen Lächeln eines Footballhelden. »Auch Ihnen ein herzliches Hallo, Mr. A.«

»Spar dir die Anmache, Jim. Ich bin kein Mädchen, das du rumkriegen willst, und ganz bestimmt nicht dein Coach.«

Er wirkte verdattert und sogar ein wenig ängstlich, aber ich konnte nichts von gekränkter Rechthaberei auf seinem Gesicht feststellen. In einer der großen Schulen in Dallas hätte das wahrscheinlich anders ausgesehen. Vince war einen Schritt zurückgewichen. Mike behauptete seine Stellung, wirkte aber niedergeschlagen und verlegen. Nein, das war mehr als nur Verlegenheit. Er schämte sich regelrecht.

»Eine Flasche auf einem Schulball«, sagte ich. »Ich habe nicht erwartet, dass ihr euch an alle Regeln halten würdet – aber wie könnt ihr so dämlich sein, ausgerechnet gegen diese zu verstoßen? Jimmy, was wird aus deinem ’Bama-Stipendium, wenn du mit Alkohol erwischt wirst und aus dem Footballteam fliegst?«

»Wahrscheinlich darf ich nur noch mit der Mannschaft trainieren, aber nicht mitspielen«, sagte er. »Das ist alles.«

»Richtig, und wirst ein Jahr lang vom Unterricht ausgeschlossen, musst deine Zwischenprüfungen aber trotzdem machen. Das gilt auch für dich, Mike. Und du würdest aus der Theater-AG fliegen. Willst du das?«

»Nein, Sir.« Kaum mehr als ein Flüstern.

»Und du, Vince?«

»Äh, nein, Mr. A. Auf keinen Fall. Bleibt’s dieses Jahr eigentlich bei dem Stück mit der Jury? Dann möchte ich …«

»Weißt du nicht mal, dass man die Klappe hält, wenn ein Lehrer einem die Leviten liest?«

»Doch, Sir, Mr. A.«

»Nächstes Mal seid ihr dran, Jungs, aber heute Abend habt ihr Glück. Heute kriegt ihr nur einen guten Rat: Versaut euch eure Zukunft nicht. Nicht wegen einer Flasche Five Star bei einem Schultanz, an den ihr euch nächstes Jahr nicht mal mehr erinnern werdet. Kapiert?«

»Ja, Sir«, sagte Mike. »Tut mir leid.«

»Mir auch«, sagte Vince. »Absolut.« Dabei bekreuzigte er sich grinsend. Manche waren einfach so. Wer weiß, vielleicht brauchte die Welt ja einen gewissen Prozentsatz Klugscheißer als Mittel gegen Langeweile.

»Jim?«

»Ja, Sir«, sagte er. »Bitte erzählen Sie’s nicht meinem Daddy.«

»Nein, das bleibt unter uns.« Ich musterte sie prüfend. »Nächstes Jahr im College werdet ihr genügend Kneipen finden, in denen ihr trinken könnt, Jungs. Aber nicht an unserer Schule. Habt ihr gehört?«

Diesmal sagten alle drei: »Ja, Sir.«

»Geht jetzt wieder rein. Trinkt etwas Punsch, damit euer Atem nicht mehr nach Whiskey riecht.«

Sie trabten davon. Ich ließ ihnen etwas Vorsprung, dann folgte ich ihnen: mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, tief in Gedanken. Nicht an unserer Schule, hatte ich gesagt. Unserer.

Sie müssen bleiben und unterrichten, hatte Mimi gesagt. Das ist Ihre wahre Berufung.

Das Jahr 2011 war mir nie ferner erschienen als in diesem Augenblick. Teufel, sogar Jake Epping war mir nie ferner erschienen. In einer nur noch schummerig beleuchteten Turnhalle mitten in Texas war ein raues Saxofon zu hören. Eine laue Brise trug den Ton zu mir herüber. Drinnen begann ein Schlagzeuger einen anfangs trügerisch langsamen Shuffle, der bald alle von den Sitzen reißen würde.

Ich glaube, dass ich in diesem Augenblick beschloss, nie mehr zurückzukehren.

6

Das raue Saxofon und der verführerisch swingende Drummer begleiteten eine Gruppe namens The Diamonds. Der Song hieß »The Stroll«. Aber die Kids tanzten keinen Stroll. Nicht so richtig jedenfalls.

Der Stroll war der erste Tanzschritt, den Christy und ich lernten, als wir anfingen, jeden Donnerstagabend in die Tanzschule zu gehen. Es war ein Zweiertanz, eine Art Eisbrecher, bei dem jedes Paar durch ein Spalier aus klatschenden Jungen und Mädchen tanzte. Was ich bei meiner Rückkehr in die Turnhalle sah, war etwas anderes. Hier kamen die Jungen und Mädchen zusammen, drehten sich einmal wie beim Walzer und trennten sich in entgegengesetzter Position wieder. Sobald sie getrennt waren, wippten sie auf den Absätzen nach hinten, während die Hüften nach vorn kamen – eine Bewegung, die bezaubernd und sexy zugleich war.

Während ich die Tanzfläche vom Tisch mit den Snacks aus beobachtete, reihten Mike, Jim und Vince sich bei den Jungen ein. Vince taugte nicht viel – zu sagen, dass er wie ein weißer Junge tanzte, wäre eine Beleidigung für alle anderen weißen Jungen gewesen –, aber Jim und Mike als echte Sportler bewegten sich unbewusst elegant. Schon bald beobachteten die meisten Mädchen auf der anderen Seite die beiden.

»Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht!«, rief Sadie mir über die Musik hinweg zu. »Ist draußen alles in Ordnung?«

»Alles bestens!«, rief ich zurück. »Was ist das für ein Tanz?«

»Der Madison! Bei American Bandstand wird er schon den ganzen Monat gezeigt. Soll ich ihn dir beibringen?«

»Meine Dame«, sagte ich und nahm sie am Arm. »Ich werde dir etwas beibringen.«

Die Kids sahen uns kommen, machten uns Platz, klatschten und riefen dabei Weiter so, Mr. A.! und Zeigen Sie’s ihm, Miz Dunhill!. Sadie lachte und zog das Gummiband fester, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Mit glänzenden Augen und geröteten Wangen war sie mehr als nur hübsch. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Absätze, klatschte in die Hände und bewegte die Schultern wie die anderen Mädchen. Dann kam sie nach vorn in meine Arme und sah dabei zu mir auf. Ich war froh, dass ich groß genug war, sodass sie das tun konnte. Wir drehten uns wie ein Aufziehbrautpaar auf einer Hochzeitstorte, dann trennten wir uns wieder. Ich ging leicht in die Knie und drehte mich auf den Zehenspitzen, indem ich die Hände wie Al Jolson ausstreckte, wenn er »Mammy« sang. Das brachte uns weiteren Applaus und – lange vor dem ersten Auftritt der Beatles in Amerika – ein paar spitze Schreie von den Mädchen ein. Ich wollte nicht angeben (okay, vielleicht ein bisschen); ich war nur froh, mal wieder tanzen zu können. Die Pause war zu lang gewesen.

Der Song endete, das raue Saxofon verhallte in der Rock-’n’-Roll-Ewigkeit, die unser junger DJ den Grooveyard nannte, und wir verließen langsam die Tanzfläche.

»Gott, das hat Spaß gemacht«, sagte Sadie. Sie drückte meinen Arm. »Mit dir hat’s Spaß gemacht.«

Bevor ich antworten konnte, plärrte Donalds Lautsprecherstimme: »Zu Ehren von zwei Aufsichten, die echt tanzen können – die ersten in der Geschichte unserer Schule –, kommt hier ein Oldie but Goldie, der aus den Charts, aber nicht aus unseren Herzen verschwunden ist, eine Scheibe für die Ewigkeit, direkt aus der Plattensammlung meines Daddy-Os, von der er nicht weiß, dass ich sie mitgebracht habe, und wenn ihr coolen Cats nicht dichthaltet, kriege ich Ärger. Darauf könnt ihr abfahren, ihr heißen Rocker, so haben sie’s gemacht, als Mr. A. und Miz D. auf der Highschool waren!«

Alle wandten sich uns zu, und … Na ja …

Man kennt ja das Gefühl, wenn man nachts im Freien steht und sieht, wie ein Wolkenrand silbern aufleuchtet, und weiß, dass der Mond in ein, zwei Sekunden rauskommen wird. Genau dieses Gefühl hatte ich in diesem Augenblick unter den sanft wehenden Kreppbändern in der Turnhalle. Ich wusste, was er spielen würde, ich wusste, dass wir dazu tanzen würden, und ich wusste auch, wie wir tanzen würden. Dann kam sie, die altvertraute Einleitung:

Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …

Glenn Miller. »In the Mood«.

Sadie griff nach oben und löste das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Sie lachte immer noch und fing an, sich leicht in den Hüften zu wiegen. Ihre Haare glitten dabei sanft von einer Schulter zur anderen.

»Kannst du swingen?« Ich sprach laut, um die Musik zu übertönen. Ich wusste, dass sie es konnte. Ich wusste, dass sie es tun würde.

»Wie beim Lindyhop, meinst du?«

»Genau das meine ich.«

»Also …«

»Los, Miz Dunhill«, sagte eines der Mädchen. »Wir möchten’s sehen.« Und zwei ihrer Freundinnen schoben Sadie auf mich zu.

Sie zögerte. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und streckte ihr die Hände hin. Die Kids klatschten, als wir die Tanzfläche betraten. Sie machten uns Platz. Ich zog Sadie an mich, und nach kaum merklichem Zögern drehte sie sich erst nach links, dann nach rechts, wobei ihr A-Linie-Trägerrock ihr eben genug Platz verschaffte, dass sie die Füße voreinanderstellen konnte. Das war die Lindy-Variante, die Richie-from-the-ditchie und Bevvie-from-the-levee an jenem Morgen im Jahr 1958 einstudiert hatten. Die Variante, die ich als Hellzapoppin kannte. Natürlich war sie das. Weil die Vergangenheit auf Harmonie bedacht war.

Ich zog sie an beiden Händen gefasst an mich, dann ließ ich sie zurücktreten. Wir trennten uns. Wie Leute, die diese Schritte monatelang geübt hatten (vielleicht bei einer langsamer laufenden Schallplatte auf einem menschenleeren Picknickplatz), beugten wir uns tief hinab und kickten erst nach links, dann nach rechts. Die Kids lachten und jubelten. Sie bildeten auf dem Parkett einen rhythmisch klatschenden Kreis um uns.

Wir kamen wieder zusammen, und sie drehte sich unter unseren verschränkten Händen wie eine Ballerina auf Speed.

Jetzt drückst du als Signal links oder rechts.

Als hätte der bloße Gedanke ihn ausgelöst, spürte ich den leichten Druck in meiner Rechten, und sie kreiselte wie eine Luftschraube nach rechts, wobei ihre Haare sich zu einem Fächer ausbreiteten, der im Lampenlicht erst rot, dann blau leuchtete. Ich hörte mehrere Mädchen nach Luft schnappen. Ich fing sie auf, verlagerte mein Gewicht mit ihr über meinen Arm gebeugt auf einen Absatz und hoffte inbrünstig, dass mein Knie nicht nachgeben würde. Das tat es nicht.

Ich kam wieder hoch. Sie kam mit. Sie drehte sich weg, dann kam sie in meine Arme zurück. Wir tanzten im Scheinwerferlicht.

Tanzen ist Leben.

7

Der Tanz endete um elf, aber ich bog mit dem Sunliner erst eine Viertelstunde nach Mitternacht in Sadies Einfahrt ein. Zu den Dingen, die einem keiner über den tollen Job erzählte, eine Tanzveranstaltung von Teenagern zu beaufsichtigen, gehörte, dass die Aufsichten dafür zu sorgen hätten, dass nach dem Schwof alles sauber und abgesperrt zurückblieb.

Auf der Rückfahrt redeten wir beide nicht viel. Obwohl Donald noch mehrere verlockende Big-Band-Stücke aufgelegt und die Kids uns zugesetzt hatten, noch einmal Swing zu tanzen, hatten wir uns geweigert. Einmal war denkwürdig, zweimal wäre unvergesslich gewesen. In einer Kleinstadt vielleicht keine so gute Sache. Für mich war dieses Erlebnis bereits unvergesslich. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie sich das alles angefühlt hatte: sie in meinen Armen, ihr schnell gehender Atem auf meinem Gesicht.

Ich stellte den Motor ab und wandte mich ihr zu. Jetzt sagt sie: »Danke, dass du mir ausgeholfen hast«, oder: »Danke für einen wundervollen Abend«, und das war’s dann.

Aber sie sagte nichts in dieser Art. Sie sagte überhaupt nichts. Sie sah mich nur an. Die Haare frei auf die Schulter fallend. Die beiden oberen Knöpfe der Oxfordbluse, die sie unter ihrem Trägerrock trug, offen. Die Ohrringe glitzernd. Dann lagen wir uns in den Armen, zuerst noch unbeholfen, dann fest umklammert. Man konnte es Küssen nennen, aber es war mehr als nur Küssen. Es war wie Essen, wenn man hungrig war, oder Trinken, wenn man durstig war. Ich konnte ihr Parfüm riechen und den frischen Schweiß unter dem Parfüm, und ich konnte Tabak – schwach, aber immer noch beißend – auf ihren Lippen und ihrer Zunge schmecken. Ihre Hände glitten durch meine Haare (wobei ein kleiner Finger mich kurz in der Ohrmuschel kitzelte und mich erschaudern ließ), dann fanden sie im Genick zusammen. Ihre Daumen bewegten sich, unentwegt. Streichelten die nackte Haut im Nacken, die in einem anderen Leben mit Haaren bedeckt gewesen wäre. Ich schob meine Hand erst unter ihre volle Brust, dann umfasste ich sie, und Sadie murmelte: »Oh, danke, ich dachte schon, ich falle.«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte ich und drückte sanft zu.

Wir knutschten ungefähr fünf Minuten lang, wobei wir immer schwerer atmeten, je kühner die Liebkosungen wurden. Die Scheiben meines Fords liefen an. Dann schob sie mich von sich weg, und ich sah, dass ihre Wangen nass waren. Wann um Himmels willen hatte sie zu weinen angefangen?

»George, tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann nicht. Ich habe zu viel Angst.« Ihr Trägerrock war hochgeschoben, sodass ihr Strumpfhalter, der Saum ihres Unterrocks und der Spitzenrand ihres Schlüpfer zu sehen waren. Sie zog den Rock über ihre Knie herunter.

Ich nahm an, dass es daran lag, dass sie verheiratet war, und dass, selbst wenn ihre Ehe in die Brüche gegangen war, sie noch eine Rolle spielte – wir befanden uns in der Mitte des 20., nicht zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vielleicht lag es auch an den Nachbarn. Die Häuser waren dunkel, als schliefen alle fest, aber das ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen, und in Kleinstädten waren neue Geistliche und neue Lehrer stets interessante Gesprächsthemen. Wie sich herausstellen sollte, waren beide Vermutungen falsch, aber das konnte ich damals unmöglich wissen.

»Sadie, du brauchst nichts zu tun, was du nicht willst. Ich bin kein …«

»Du verstehst nicht. Es ist nicht so, dass ich nicht will. Das ist nicht der Grund, weshalb ich Angst habe. Der Grund ist, dass ich es noch nie getan habe.«

Bevor ich noch etwas sagen konnte, war sie ausgestiegen. Sie lief zur Haustür und fummelte dabei in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie sah sich nicht mehr um.

8

Ich war um zwanzig vor eins zu Hause und schlurfte in meiner eigenen Version des Pralle-Eier-Rückzugs von der Garage ins Haus. Kaum hatte ich das Licht in der Küche angeknipst, klingelte das Telefon. Rufnummern würden von 1961 aus gesehen erst in vierzig Jahren angezeigt werden, aber nur ein Mensch würde mich um diese Zeit und nach solch einem Abend anrufen.

»George? Ich bin’s.« Sie klang gefasst, aber ihre Stimme war heiser. Sie hatte geweint. Und das anscheinend heftig.

»Hi, Sadie. Du hast mir gar keine Chance gegeben, dir für einen wundervollen Abend zu danken. Beim Tanz und danach.«

»Mir hat er auch Spaß gemacht. Es ist so lange her, dass ich getanzt habe. Ich fürchte mich fast davor, dir zu erzählen, mit wem ich den Lindy gelernt habe.«

»Na ja«, sagte ich. »Ich habe ihn mit meiner Exfrau gelernt. Ich vermute, dass du ihn vielleicht mit deinem entfremdeten Ehemann gelernt hast.« Nur war das keine Vermutung, denn so liefen diese Dinge nun einmal ab. Dergleichen überraschte mich nicht mehr, aber wenn ich behaupten würde, ich hätte mich jemals an diese unheimliche Parallelität der Ereignisse gewöhnt, wäre das gelogen.

»Ja.« Ihre Stimme klang ausdruckslos. »Mit ihm. John Clayton von den Claytons aus Savannah. Und entfremdet ist genau das richtige Wort, weil er ein sehr fremdartiger Mann ist.«

»Wie lange warst du verheiratet?«

»Eine Ewigkeit. Das heißt, wenn du das, was wir hatten, als Ehe bezeichnen willst.« Sie lachte. Das war Ivy Templetons Lachen, voller Humor und gleichzeitig Verzweiflung. »In meinem Fall hat die Ewigkeit etwas über vier Jahre gedauert. Wenn im Juni die Sommerferien beginnen, mache ich eine diskrete Reise nach Reno. Dort suche ich mir einen Sommerjob als Bedienung oder sonst was. Um sich scheiden lassen zu können, muss man sechs Wochen dort gelebt haben. Das bedeutet, dass ich diese … diesen Witz, auf den ich mich eingelassen habe, Ende Juli oder Anfang August wie ein Pferd mit einem gebrochenen Bein erschießen kann.«

»Ich kann warten«, sagte ich, aber kaum hatte ich das gesagt, fragte ich mich, ob das auch stimmte. Weil sich die Schauspieler schon hinter den Kulissen versammelten und die Aufführung bald beginnen würde. Im Juni 1962 würde Oswald wieder in den Vereinigten Staaten sein und erst bei Robert und Roberts Familie, dann bei seiner Mutter wohnen. Im August würde er in Fort Worth in der Mercedes Street leben und bei der benachbarten Leslie Welding Company arbeiten, wo er Aluminiumfenster und die Art Windfangtüren herstellte, in die Initialen eingearbeitet wurden.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Sie sprach so leise, dass ich mich anstrengen musste, um sie zu verstehen. »Ich war mit dreiundzwanzig eine jungfräuliche Braut, und jetzt, mit achtundzwanzig, bin ich eine jungfräuliche Strohwitwe. Da hat die Frucht lange am Baum gehangen, wie man bei uns zu Hause sagt, vor allem wenn die Leute – zum Beispiel die eigene Mutter – annimmt, man hätte vor vier Jahren angefangen, praktische Erfahrungen mit dem ganzen Vögel-und-Bienen-Zeug zu machen. Das habe ich noch niemand erzählt, und ich glaube, ich würde sterben, wenn du es weitererzählen würdest.«

»Das bleibt unter uns, Sadie. Verlass dich darauf. War er denn impotent?«

»Nicht so ganz …« Sie verstummte. Als sie nach kurzer Pause weitersprach, klang sie aufgebracht. »George … ist das hier ein Gemeinschaftsanschluss?«

»Nein. Für zusätzliche drei Dollar fünfzig im Monat gehört er mir allein.«

»Gott sei Dank. Trotzdem kann man darüber nicht am Telefon reden. Und erst recht nicht bei einem Prongburger in Al’s Diner. Möchtest du heute zum Abendessen kommen? Wir könnten ein kleines Picknick in meinem Garten machen. Sagen wir gegen fünf?«

»Danke, ich komme gern. Ich bringe einen Napfkuchen oder so mit.«

»Ich hätte lieber, dass du was anderes mitbringst.«

»Was denn?«

»Das kann ich am Telefon nicht sagen, auch wenn es sich hier nicht um einen Gemeinschaftsanschluss handelt. Etwas, was man im Drugstore kauft. Aber nicht hier in Jodie.«

»Sadie …«

»Sag bitte nichts mehr. Ich lege jetzt auf und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Es fühlt sich an, als würde es in Flammen stehen.«

Ich hörte nur noch ein Klicken. Sie hatte aufgelegt. Ich zog mich aus und ging ins Bett, in dem ich lange Zeit wach lag und lange nachdachte. Über Zeit und Liebe und Tod.

Kapitel 15

1

Um zehn Uhr an diesem Sonntagmorgen sprang ich in den Sunliner und fuhr achtzehn Meilen weit nach Round Hill. In der Main Street gab es einen Drugstore, der auch offen hatte, aber als ich an der Eingangstür den Aufkleber WIR BRÜLLEN FÜR DIE DENHOLM LIONS sah, fiel mir ein, dass Round Hill ja zum Einzugsbereich der DCHS gehörte. Also fuhr ich nach Kileen weiter. Dort sah sich ein älterer Drogist, der eine unheimliche, aber bestimmt nur zufällige Ähnlichkeit mit Mr. Keene in Derry besaß, gemüßigt, mir mit Verschwörermiene zuzuzwinkern, als er mir eine braune Tüte und mein Wechselgeld gab. »Tun Sie nichts Ungesetzliches, mein Sohn.«

Ich zwinkerte, wie von mir erwartet wurde, zurück und fuhr dann wieder nach Jodie. Ich war nachts spät ins Bett gekommen, aber als ich mich hinlegte, um ein Nickerchen zu machen, kam ich dem Schlaf nicht mal nahe. Also fuhr ich bei Weingarten’s vorbei und kaufte doch einen Napfkuchen. Er schien vom Vortag zu sein, aber das störte mich nicht, und ich dachte, Sadie sicher auch nicht. Picknick hin oder her, ich war mir ziemlich sicher, dass das Essen heute nicht der zentrale Tagespunkt sein würde. Als ich an ihrer Haustür klingelte, hatte ich den Bauch voller Schmetterlinge.

Sadie trug kein Make-up, nicht einmal Lippenstift. Ihre Augen waren groß, dunkel und angsterfüllt. Ein paar Sekunden lang befürchtete ich, sie würde mir die Tür vor der Nase zuknallen, und ich würde noch hören, wie sie weglief, so schnell ihre langen Beine sie trugen. Und das wär’s dann.

Aber sie lief nicht weg. »Komm rein«, sagte sie. »Ich habe Geflügelsalat gemacht.« Ihre Lippen zitterten. »Ich hoffe, du magst … du magst v-viel M-Mayo…«

Ihre Knie wollten nachgeben. Sofort ließ ich die Kuchenschachtel fallen und griff nach ihr. Ich hatte Angst, dass sie in Ohnmacht fiel, aber das tat sie nicht. Sie schlang mir die Arme um den Hals und klammerte sich an mich wie eine Ertrinkende an einen schwimmenden Baumstamm. Ich konnte spüren, wie ihr Herz jagte. Ich trat auf den gottverdammten Napfkuchen. Dann sie. Quaatsch.

»Ich hab Angst«, flüsterte sie. »Was ist, wenn ich nichts tauge?«

»Und wenn ich nichts tauge?« Es war nicht nur scherzhaft gemeint. Mein letztes Mal lag lange zurück. Mindestens vier Jahre.

Sie schien mich nicht zu hören. »Er hat mich nie gewollt. Nicht, wie ich erwartet hatte. Und ich kenne nur seine Art. Die Berührungen, dann der Besenstiel.«

»Beruhige dich, Sadie. Atme tief durch.«

»Warst du im Drugstore?«

»Ja, in Kileen. Aber wir müssen nicht …«

»Wir müssen. Ich muss. Bevor ich mein letztes bisschen Mut verliere. Komm jetzt.«

Ihr Schlafzimmer lag am Ende des Flurs. Die Einrichtung war spartanisch: ein Bett, eine Kommode, ein paar Drucke an den Wänden, Chintzvorhänge, die sich im sanften Luftzug des auf klein gestellten Klimageräts am Fenster bewegten. Sadie bekam wieder weiche Knie, und ich fing sie zum zweiten Mal auf. Es war wie eine verrückte Art, Swing zu tanzen. Es gab sogar Fußabdrücke wie beim berühmten Tanzlehrer Arthur Murray. Vom Napfkuchen. Ich küsste sie, und ihre Lippen hingen trocken und hektisch an meinen.

Ich schob sie sanft von mir weg, bis sie an die Tür des Einbaukleiderschranks gelehnt stand. Sadie betrachtete mich ernst durch Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht hingen. Ich strich sie beiseite – ganz sanft – und fing an, mit der Zungenspitze über ihre trockenen Lippen zu lecken. Ich arbeitete mich langsam vor und achtete darauf, die Mundwinkel nicht auszulassen.

»Besser?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht mit Worten, sondern mit ihrer Zunge. Ohne mich gegen sie zu drängen, ließ ich langsam eine Hand über ihren Körper gleiten – von einer Halsseite, an der ich ihren Puls fühlen konnte, zur Brust, zum Bauch und dem ausgeprägten Venushügel hinab, nach hinten zu einer Gesäßhälfte, dann weiter den Schenkel hinunter. Sadie trug Jeans. Der Stoff wisperte unter meiner Handfläche. Als sie sich zurücklehnte, schlug ihr Kopf an die Schranktür.

»Autsch!«, sagte ich. »Hast du dir wehgetan?«

Sie schloss die Augen. »Mir geht’s gut. Hör nicht auf. Küss mich noch mal.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, küss mich nicht. Leck mir die Lippen. Das gefällt mir.«

Ich machte weiter. Sie seufzte und schob ihre Finger auf dem Rücken unter meinen Gürtel. Dann langsam nach vorn, wo die Schnalle war.

2

Ich wollte schnell machen, jede Faser von mir rief nach Geschwindigkeit, forderte mich auf, tief hineinzustoßen, wollte dieses vollkommene umklammernde Gefühl, das die Essenz des Liebesakts war, aber ich ließ mir Zeit. Zumindest anfangs. Dann sagte sie: »Lass mich nicht warten, davon habe ich genug gehabt«, also küsste ich ihre schweißnasse Schläfe und stieß mit den Hüften nach vorn. Als tanzten wir eine waagrechte Version des Madisons. Sie keuchte, wich etwas zurück und hob mir dann ihre Hüften entgegen.

»Sadie? Alles okay?«

»Omeingottja«, sagte sie, und ich lachte. Sie öffnete die Augen und sah neugierig und hoffnungsvoll zu mir auf. »Ist es vorbei, oder kommt noch mehr?«

»Etwas mehr kommt noch«, sagte ich. »Wie viel, weiß ich nicht. Ich bin lange mit keiner Frau mehr zusammen gewesen.«

Wie sich herausstellte, gab es noch ziemlich viel mehr. In Echtzeit nur ein paar Minuten, aber manchmal lief die Zeit unterschiedlich schnell – wie niemand besser wusste als ich. Gegen Ende fing sie an zu keuchen. »O Schatz, o mein Schatz, o mein lieber lieber Gott, o Liebster!«

Es war die gierige Entdeckerfreude in ihrer Stimme, die meiner Beherrschung den Garaus machte, deshalb kamen wir nicht ganz gleichzeitig, aber nur Sekunden später hob sie den Kopf und vergrub ihr Gesicht in der Höhlung meiner Schulter. Eine zur Faust geballte Hand schlug einmal, zweimal auf mein Schulterblatt … dann öffnete sie sich wie eine Blüte und lag still da. Sadie sank in die Kissen zurück. Sie starrte mich mit großen Augen und leicht benommenem Gesichtsausdruck an, der mir fast Angst machte.

»Ich bin gekommen«, sagte sie.

»Das habe ich gemerkt.«

»Meine Mutter hat gesagt, Frauen könnten das nicht, nur Männer. Sie hat gesagt, Orgasmen bei Frauen wären ein Märchen.« Sie lachte zittrig. »Mein Gott, was sie da verpasst hat!«

Sie stützte sich auf einen Ellbogen, dann griff sie nach meiner Hand und legte sie auf ihre Brust. Das Herz darunter jagte hämmernd. »Sagen Sie, Mr. Amberson – wie bald können wir das wiederholen?«

3

Als die rot werdende Sonne im immerwährenden Gas- und Erdölsmog im Westen versank, saßen Sadie und ich in ihrem winzigen Garten unter einem schönen, alten Pekannussbaum, aßen Sandwichs mit Geflügelsalat und tranken dazu Eistee. Napfkuchen gab es natürlich keinen. Der war ein totaler Ausfall.

»Ist es schlimm für dich, diese … du weißt schon, diese Dinger aus dem Drugstore tragen zu müssen?«

»Die sind schon in Ordnung«, sagte ich. Aber das waren sie nicht, waren es niemals gewesen. Von 1961 bis 2011 würden viele amerikanische Erzeugnisse verbessert werden, aber eines darf man Jake glauben: Gummis waren ziemlich unverändert geblieben. Sie mochten schickere Namen und sogar eine Geschmackskomponente (für Leute mit seltsamem Geschmack) haben, aber im Prinzip waren sie nach wie vor ein Korsett, das man sich über den Pimmel streifte.

»Früher hatte ich ein Pessar«, erzählte sie. Hier gab es keinen Gartentisch, deshalb hatte sie auf dem Rasen eine Decke ausgebreitet. Jetzt griff sie nach einem Tupperware-Behälter, der noch etwas Gurkensalat mit Zwiebeln enthielt, und begann, den Deckel zu öffnen und zu schließen – ein Gezappel, bei dem manche Leute an Freud gedacht hätten. Übrigens auch ich.

»Meine Mutter hat mir das Diaphragma eine Woche vor meiner Hochzeit mit Johnny gegeben. Sie hat mir sogar gezeigt, wie es eingesetzt wird, obwohl sie mir dabei nicht in die Augen sehen konnte. Und hätte jemand etwas Wasser auf ihre Wangen geträufelt, wäre es bestimmt zischend verdunstet. ›Warte mit dem ersten Baby mindestens achtzehn Monate‹, hat sie gesagt. ›Noch besser sind zwei Jahre, wenn du ihn so lange hinhalten kannst. So kannst du von seinem Gehalt leben und dein eigenes sparen.‹«

»Nicht der schlechteste Rat der Welt.« Ich drückte mich zurückhaltend aus. Wir bewegten uns in einem Minenfeld. Das wusste sie so gut wie ich.

»Johnny unterrichtet Naturwissenschaften. Er ist groß, aber nicht ganz so groß wie du. Ich hatte es satt, mit Männern auszugehen, die kleiner waren als ich, und habe schon deshalb ja gesagt, als er zum ersten Mal mit mir ausgehen wollte. Das Ausgehen mit ihm ist dann zur Gewohnheit geworden. Ich dachte, er wäre nett, und er war keiner dieser Kerle, denen bei der Verabschiedung vor der Haustür zusätzliche Hände zu wachsen scheinen. Damals habe ich geglaubt, das wäre Liebe. Schrecklich naiv, findest du nicht auch?«

Als Antwort ließ ich meine Hand eine Wippe spielen.

»Wir haben uns beim Studium an der Georgia Southern kennengelernt und bekamen dann Jobs an derselben Highschool in Savannah. Gemischt, aber privat. Ich bin mir sicher, dass sein Vater im Hintergrund ein paar Drähte gezogen hat. Die Claytons haben kein Geld – nicht mehr, obwohl sie früher mal reich waren –, aber sie gehören in Savannah immer noch zur besseren Gesellschaft. Arm, aber vornehm, verstehst du?«

Ich verstand nichts – Fragen der gesellschaftlichen Stellung hatten in meiner Jugend nie eine große Rolle gespielt –, aber ich murmelte etwas Zustimmendes. Was Sadie erzählte, setzte ihr sicher schon lange zu, sie wirkte fast hypnotisiert.

»Ich hatte also ein Diaphragma, ja, das hatte ich. In einer kleinen Plastikschachtel für Damen, mit einer Rose auf dem Deckel. Nur habe ich es nie gebraucht. Musste es nie benutzen. Ich hab’s schließlich nach einem von diesen Raus-damits in den Müll geworfen. So hat er das genannt: Raus-damit. ›Raus damit, ich muss es loswerden‹, hat er immer gesagt. Danach der Besenstiel. Verstehst du?«

Ich verstand gar nichts.

Sadie lachte, was mich wieder an Ivy Templeton erinnerte. »Warte zwei Jahre, hat sie gesagt! Ich hätte zwanzig warten können, ohne ein Pessar zu brauchen!«

»Was ist passiert?« Ich umklammerte ihre Oberarme. »Hat er dich geschlagen? Mit einem Besenstiel?« Besenstiele ließen sich noch anders verwenden – ich hatte Letzte Ausfahrt Brooklyn gelesen –, aber das hatte er offensichtlich nicht getan. Sie war wirklich noch eine Jungfrau gewesen; der Beweis dafür war auf dem Bettlaken zurückgeblieben.

»Nein«, sagte sie. »Geschlagen hat er mich mit dem Besenstiel nicht. George, ich glaube, ich kann nicht weiter darüber reden. Nicht jetzt. Ich fühle mich … ich weiß nicht … wie eine Limonadenflasche, die jemand kräftig geschüttelt hat. Weißt du, was ich möchte?«

Ich glaubte es zu wissen, aber ich fragte höflicherweise nach.

»Ich möchte, dass du mit mir reingehst und den Deckel abschraubst.« Sie hob die Hände über den Kopf und reckte sich. Sie hatte den BH nicht wieder angezogen, und ich konnte sehen, wie ihre Brüste sich unter der Bluse bewegten. Im Abendlicht warfen ihre Brustwarzen winzige Schatten auf den dünnen Stoff, wie Satzzeichen.

»Heute will ich nicht noch einmal die Vergangenheit durchleben«, sagte sie. »Heute will ich nur noch sprudeln.«

4

Eine Stunde später sah ich, dass sie döste. Um sie zu wecken, küsste ich sie erst auf die Stirn, dann auf die Nasenspitze. »Ich muss fort. Wenn auch nur deshalb, damit mein Wagen aus der Einfahrt verschwindet, bevor deine Nachbarn anfangen, ihre Freunde anzurufen.«

»Vermutlich hast du recht. Nebenan wohnen die Sanfords, und Lila Sanford ist diesen Monat unsere Schülerbibliothekarin.«

Und ich wusste ziemlich sicher, dass ihr Vater im Schulausschuss saß, aber das sagte ich nicht. Sadie strahlte, und ich sah keinen Grund, ihr die Stimmung zu verderben. Soviel die Sanfords wussten, saßen wir Knie an Knie auf der Couch und warteten darauf, dass Dennis – Geschichten eines Lausbuben zu Ende ging und Ed Sullivans »rilly big shew« begann. Doch wenn mein Ford noch um elf in Sadies Einfahrt stand, würden sie ihre Meinung vielleicht ändern.

Sie sah zu, wie ich mich anzog. »Wie geht’s jetzt weiter, George? Mit uns?«

»Ich möchte mit dir zusammen sein, wenn du mit mir zusammen sein willst. Willst du das?«

Sie setzte sich auf, sodass die Bettdecke Ringe um ihre Taille bildete, und griff nach ihren Zigaretten. »Nichts lieber als das. Aber ich bin verheiratet, und das ändert sich erst im kommenden Sommer in Reno. Wenn ich versuchen würde, die Ehe annullieren zu lassen, würde Johnny sich gerichtlich dagegen wehren. Teufel, seine Eltern würden sich dagegen wehren.«

»Solange wir diskret sind, ist alles in Ordnung. Aber wir müssen diskret sein. Das weißt du doch auch, oder?«

Sie lachte und zündete sich eine Zigarette an. »O ja, das weiß ich.«

»Sadie, gibt’s in der Bibliothek Probleme mit der Disziplin?«

»Hä? Manchmal, klar. Das Übliche.« Sie zuckte die Achseln; ihre Brüste hüpften, und ich wünschte mir, ich hätte mich nicht so schnell angezogen. Aber wem wollte ich damit etwas vormachen? James Bond wäre vielleicht für eine dritte Runde fit gewesen, aber Jake/George war ausgepumpt. »Ich bin natürlich die Neue. Sie probieren aus, wie weit sie gehen können. Das ist oft lästig, aber nichts, womit ich nicht gerechnet hätte. Wieso?«

»Ich glaube, dass deine Probleme sich verflüchtigen werden. Schüler sind begeistert, wenn ihre Lehrer sich verlieben. Sogar die Jungs. Für sie ist das wie eine Fernsehserie.«

»Werden sie merken, dass wir …«

Ich dachte darüber nach. »Manche der Mädchen werden es merken. Die mit Erfahrung.«

Sie blies Rauch gegen die Decke. »Na großartig!« Aber sie wirkte nicht ganz unzufrieden.

»Wie wär’s mit einem Abendessen im Saddle in Round Hill? Damit die Leute sich daran gewöhnen, uns als Paar zu sehen.«

»Sehr gern. Morgen?«

»Nein, morgen habe ich in Dallas zu tun.«

»Recherchen für dein Buch?«

»Mhm.« Da waren wir gerade eben ein Paar geworden, und ich fing bereits an zu lügen. Das gefiel mir zwar nicht, aber ich hielt es für unvermeidbar. Und was die Zukunft betraf … Ich weigerte mich, jetzt daran zu denken. Ich wollte mir nicht selbst die Laune verderben. »Dienstag?«

»Ja. Und, George?«

»Was?«

»Wir müssen eine Möglichkeit finden, wie wir uns weiter treffen können.«

Ich lächelte. »Die Liebe wird einen Weg finden.«

»Ich glaube, hier geht’s eher um Begierde.«

»Beides, finde ich.«

»Du bist sehr lieb, George Amberson.«

Verdammt, sogar der Name war eine Lüge.

»Ich erzähle dir noch von Johnny und mir. Wenn ich kann. Und wenn du es hören willst.«

»Das will ich.« Dem konnte ich mich nicht entziehen. Wenn diese Sache funktionieren sollte, musste ich Bescheid wissen. Über sie. Über ihn. Über den Besenstiel. »Wenn du so weit bist.«

»Wie unsere geschätzte Direktorin so gern sagt: ›Schüler, das Ganze wird anstrengend, aber lohnenswert sein.‹«

Ich lachte.

Sie drückte ihre Zigarette aus. »Eines würde mich interessieren: Wäre Miz Mimi mit uns einverstanden?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Das glaube ich auch. Komm heil nach Hause, Liebster. Und nimm die hier lieber mit.« Sie zeigte auf die braune Tüte aus dem Drugstore in Kileen, die auf ihrer Kommode lag. »Falls ich mal Besuch habe, der sich für mein Medizinschränkchen interessiert, wenn er hier aufs Klo geht, müsste ich einiges erklären.«

»Gute Idee.«

»Aber halt sie griffbereit, Schatz.«

Und sie zwinkerte mir zu.

5

Auf der Heimfahrt dachte ich über diese Präser nach. Marke Trojan und gerippt – damit auch sie Vergnügen hat, wie auf der Schachtel stand. Die Dame hatte kein Pessar mehr (obwohl ich annahm, dass sie sich bei ihrer nächsten Fahrt nach Dallas gut eines besorgen könnte), und Antibabypillen würde es erst in ein, zwei Jahren geben. Selbst dann würden viele Ärzte zögern, sie zu verschreiben, wenn ich mich richtig an mein Sozialkundeseminar erinnerte. Vorläufig würde es also bei den Trojanern bleiben. Allerdings trug ich sie nicht zu ihrem Vergnügen, sondern damit sie kein Baby bekam. Was amüsant war, wenn man bedachte, dass ich selbst erst in fünfzehn Jahren ein Baby sein würde.

Über die Zukunft nachzudenken war doch auf vielerlei Weise verwirrend.

6

Am folgenden Abend kreuzte ich wieder in Silent Mikes Laden auf. Das Schild an der Tür verkündete GESCHLOSSEN, und das Geschäft schien leer zu sein, aber als ich anklopfte, ließ mein Elektronikkumpel mich ein.

»Auf die Minute, Mr. Doe, auf die Minute«, sagte er. »Bin gespannt, wie Sie’s finden. Ich persönlich finde, dass ich mich selbst übertroffen hab.«

Ich blieb neben der Vitrine mit den Transistorradios stehen, während er nach hinten verschwand. Er kam mit je einer Lampe in den Händen zurück. Ihre Schirme waren schmuddelig, als wären sie schon von sehr vielen schmutzigen Fingern verstellt worden. Der Fuß einer Lampe war angeschlagen, sodass sie leicht schräg auf dem Ladentisch stand: die Schiefe Lampe von Pisa. Beide waren perfekt, und das sagte ich Silent Mike auch. Er grinste zufrieden und legte zwei der verpackten Bandgeräte neben die Lampen. Und einen Kordelzugbeutel, der unterschiedliche Längen Draht enthielt; der Draht war so dünn, dass er fast unsichtbar war.

»Woll’n Sie ’ne kleine Einweisung?«

»Ich denke, ich weiß Bescheid«, sagte ich und legte fünf Zwanziger auf den Ladentisch. Ich war leicht gerührt, als er mir einen wieder hinschieben wollte.

»Hundertachtzig war der Preis, auf den wir uns geeinigt hatten.«

»Der Zwanziger extra ist dafür, dass Sie vergessen, dass ich jemals hier war.«

Er dachte kurz darüber nach, dann drückte er einen Daumen auf den einzelnen Schein und zog ihn in die Gruppe seiner kleinen grünen Freunde zurück. »Das habe ich schon getan. Dann betrachte ich den hier einfach als Trinkgeld.«

Als er mein Zeug in einer festen Papiertüte verstaute, stellte ich ihm aus purer Neugier eine Frage.

»Kennedy?«, sagte er. »Hab ihn nicht gewählt, aber solange er sich nichts vom Papst befehlen lässt, ist er okay, finde ich. Das Land braucht einen Jüngeren. Wir haben jetzt nämlich ein neues Zeitalter.«

»Glauben Sie, er könnte gefahrlos nach Dallas kommen?«

»Wahrscheinlich. Kann ich aber nicht bestimmt sagen. Ich an seiner Stelle würd lieber nördlich der Mason-Dixon-Linie bleiben.«

Ich grinste. »Wo uns schlägt die rettende Stund’?«

Silent Mike (Holy Mike) sagte: »Fangen Sie bloß nicht damit an!«

7

Im Lehrerzimmer im ersten Stock gab es eine Reihe kleiner Fächer für Post und Rundschreiben. In einer Freistunde am Donnerstagmorgen fand ich in meinem einen zugeklebten kleinen Umschlag.

Lieber George,

wenn Du heute immer noch mit mir zum Abendessen gehen willst, müsste es gegen fünf sein, weil ich diese und kommende Woche jeden Morgen eine Stunde früher in die Schule muss, um den Herbstbüchermarkt vorzubereiten. Für den Nachtisch könnten wir dann vielleicht zu mir gehen.

Ich habe Napfkuchen, falls Du ein Stück möchtest.

Sadie

»Worüber lachen Sie, Amberson?«, fragte Danny Laverty. Er korrigierte Aufsätze mit einer hohlwangigen Intensität, die auf einen Kater schließen ließ. »Erzählen Sie’s mir, ich könnte etwas Aufheiterung brauchen.«

»Geht nicht«, sagte ich. »Ein privater Scherz. Den würden Sie nicht verstehen.«

8

Aber wir hatten ihn verstanden. Napfkuchen wurde unser Name dafür, und wir aßen in diesem Herbst reichlich davon.

Wir waren diskret, aber manch einer wusste natürlich trotzdem Bescheid. Es gab vielleicht etwas Tratsch, aber keinen Skandal. Kleinstadtbürger waren selten bösartige Leute. Sie kannten Sadies Situation, zumindest in groben Zügen, und verstanden, dass wir uns nicht öffentlich erklären konnten, zumindest vorläufig nicht. Sie besuchte mich nie in meinem Haus; das hätte zu boshaftem Gerede führen können. Ich blieb nie später als zehn Uhr bei ihr; auch das hätte unliebsame Kommentare provozieren können. Auch konnte ich den Sunliner unmöglich in ihre Garage stellen, um so heimlich über Nacht zu bleiben, denn Sadies VW Käfer, so klein er auch war, füllte sie fast von Wand zu Wand aus. Außerdem hätte ich es ohnehin nicht getan, weil irgendjemand davon erfahren hätte. Das taten sie in Kleinstädten immer.

Ich besuchte sie nach der Schule. Ich kam zum Abendessen bei ihr vorbei. Manchmal gingen wir in Al’s Diner und aßen Prongburger oder Seewolffilets; manchmal aßen wir im Saddle in Round Hill; zweimal ging ich samstags mit ihr zum Tanz auf der Tenne. Wir sahen Filme im Gem in Jodie, im Mesa in Round Hill oder im Starlite-Autokino in Kileen (von den Kids als U-Boot-Rennen bezeichnet). In einem netten Restaurant wie dem Saddle trank Sadie vielleicht ein Glas Wein vor dem Abendessen, und ich trank ein Bier dazu, aber wir achteten darauf, nie in einer der hiesigen Kneipen gesehen zu werden – und erst recht nicht im Red Rooster, der einzigen Musikkneipe in Jodie, von der unsere Schüler sehnsüchtig und voller Ehrfurcht sprachen. Man schrieb das Jahr 1961, und die Rassentrennung schien endlich von der Mitte her aufzuweichen – die Neger hatten sich das Recht erkämpft, bei Woolworth’s in Dallas, Fort Worth und Houston an der Lunchtheke zu sitzen –, aber Lehrer gingen nicht ins Red Rooster. Nicht, wenn sie ihren Job behalten wollten. Nie-nie-nie.

Wenn wir uns in Sadies Schlafzimmer liebten, lagen auf ihrer Seite des Bettes stets eine leichte Hose, ein Pullover und ein Paar Mokassins bereit. Das nannte sie ihre Notfallausrüstung. Als tatsächlich einmal jemand an der Tür klingelte, während wir nackt waren (ein Zustand, den sie sich in flagranti zu nennen angewöhnt hatte), war sie in kaum zehn Sekunden angezogen. Sie kam kichernd und ein Exemplar von Der Wachtturm schwenkend zurück. »Zeugen Jehovas. Ich habe ihnen gesagt, dass ich schon gerettet bin, da haben sie sich getrollt.«

Als wir einmal in ihrer Küche danach Schinkensteaks und Okraschoten aßen, sagte sie, dass unsere Beziehung sie an den Film Ariane – Liebe am Nachmittag mit Audrey Hepburn und Gary Cooper erinnere. »Manchmal frage ich mich, ob es nachts schöner wäre.« Es klang ein bisschen wehmütig. »Wenn normale Leute es tun.«

»Das probieren wir noch aus«, versprach ich ihr. »Halt durch, Baby.«

Sie lächelte und küsste mich auf den Mundwinkel. »Du hast lockere Sprüche auf Lager, George.«

»O ja«, sagte ich. »Ich bin sehr originell.«

Sie schob ihren Teller weg. »Mir ist jetzt nach Dessert. Wie steht’s mit dir?«

9

Nicht lange nachdem die Zeugen Jehovas Sadie einen Besuch abgestattet hatten – es muss Anfang November gewesen sein, weil ich das Vorsprechen für meine Version von Die zwölf Geschworenen abgeschlossen hatte –, rechte ich gerade meinen Rasen, als jemand hinter mir sagte: »Hallo, George, wie geht’s?«

Ich drehte mich um und sah Deke Simmons, inzwischen zum zweiten Mal Witwer. Er war unerwartet lange in Mexiko geblieben, und als die Leute eben zu glauben begannen, dass er dort bleiben würde, war er zurückgekommen. Es war unsere erste Begegnung seit seiner Rückkehr. Er war dunkelbraun gebrannt, aber viel zu mager. Seine Kleidung hing sackartig an ihm herunter, und seine Haare – am Tag der Hochzeitsparty noch eisengrau – waren jetzt fast ganz weiß und am Hinterkopf sehr dünn.

Ich ließ meinen Rechen fallen und hastete auf ihn zu. Ich wollte ihm die Hand schütteln, umarmte ihn dann aber. Das verblüffte ihn zunächst – im Jahr 1961 umarmten echte Männer sich nicht –, aber dann lachte er.

Ich hielt ihn auf Armeslänge von mir entfernt. »Sie sehen großartig aus!«

»Netter Versuch, George. Ich sehe beschissen aus, und das wissen Sie auch. Aber mir geht’s allmählich wieder besser. Mims’ Tod … Ich wusste, dass das kommen würde, aber es hat mich trotzdem völlig durcheinandergebracht. Da hat der Verstand sich nie gegen das Herz durchsetzen können, schätze ich.«

»Kommen Sie rein, trinken Sie einen Kaffee mit mir.«

»Das tue ich gern.«

Wir sprachen über seine Zeit in Mexiko. Wir redeten über die Schule. Wir sprachen über das unbesiegte Footballteam und die bevorstehende Theateraufführung. Dann stellte Deke seine Tasse ab und sagte: »Ellen Dockerty hat mich gebeten, Ihnen etwas zu sagen, was Sadie Clayton und Sie betrifft.«

Oh-oh. Und ich hatte geglaubt, wir würden bei niemand Anstoß erregen.

»Sie nennt sich jetzt Dunhill. Das ist ihr Mädchenname.«

»Ich weiß über ihre Situation Bescheid, seit ich sie damals eingestellt habe. Sie ist eine reizende junge Frau, und Sie sind ein feiner Kerl, George. Wie ich von Ellie höre, bewältigen Sadie und Sie eine schwierige Situation relativ elegant.«

Ich atmete etwas auf.

»Ellie ist sich ziemlich sicher, dass Sie beide nichts von den Candlewood Bungalows knapp außerhalb von Kileen wissen. Aber es war ihr peinlich, Ihnen davon zu erzählen, deshalb hat sie mich darum gebeten.«

»Candlewood Bungalows?«

»Ich war mit Mims oft an Samstagen dort draußen.« Er spielte mit seiner Kaffeetasse, wobei seine Hände so wirkten, als wären sie inzwischen zu groß für seinen Körper. »Die Besitzer sind zwei pensionierte Lehrer aus Arkansas oder Alabama. Jedenfalls aus einem dieser A-Staaten. Pensionierte männliche Lehrer. Wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen folgen, ja.«

»Die beiden sind nette Burschen, sehr diskret, was ihre eigene Beziehung und die mancher ihrer Gäste angeht.« Deke sah von seiner Kaffeetasse auf. Er war leicht errötet, aber er lächelte auch. »Es ist kein Stundenhotel, falls Sie das denken. Meilenweit davon entfernt! Die Zimmer sind hübsch, die Preise sind angemessen, und das kleine Restaurant ganz in der Nähe bietet gute ländliche Küche. Als Frau braucht man manchmal einen solchen Ort. Und vielleicht auch als Mann. Damit man sich nicht immer beeilen muss. Und damit man sich nicht billig fühlt.«

»Danke für den Tipp«, sagte ich.

»Oh, bitte sehr. Mimi und ich haben im Candlewood viele schöne Abende verbracht. Manchmal haben wir nur im Schlafanzug ferngesehen und sind dann ins Bett gegangen, aber ab einem gewissen Alter kann das fast so gut wie alles andere sein.« Er lächelte bedauernd. »Oder beinahe. Wir sind beim Zirpen der Grillen eingeschlafen. Oder manchmal hat in weiter Ferne draußen in den Salbeibüschen ein Kojote geheult. Den Mond angeheult, wissen Sie. Das tun sie wirklich. Sie heulen den Mond an.«

Mit der umständlichen Langsamkeit eines alten Mannes zog er sein Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich die Tränen ab.

Ich tätschelte ihm die Hand, und er ließ es zu.

»Mims hat Sie gemocht, obwohl Sie nie ganz schlau aus Ihnen geworden ist. Sie hat gesagt, Sie erinnerten sie an die Art, wie in Filmen aus den Dreißigerjahren Gespenster dargestellt wurden. ›Er ist hell und glänzend, aber nicht ganz hier‹, hat sie gesagt.«

»Ich bin kein Gespenst«, sagte ich. »Das kann ich Ihnen versichern.«

Deke lächelte. »Nein? Ich bin damals erst spät dazu gekommen, Ihre Referenzen zu prüfen. Da waren Sie schon einige Zeit als Aushilfslehrer bei uns und hatten einen Riesenerfolg mit der Theateraufführung. Die vom Schulkbezirk Sarasota waren in Ordnung, aber alles andere …« Er schüttelte, immer noch lächelnd, den Kopf. »Und Ihr Bachelor stammt aus einer Titelmühle in Oklahoma.«

Das Räuspern half nichts. Ich brachte kein Wort heraus.

»Und welche Bedeutung messe ich dem bei, werden Sie sich jetzt fragen? Nicht viel. In diesem Land gab es eine Zeit, in der ein Mann, der mit ein paar Büchern in den Satteltaschen, einer Brille auf der Nase und einer Krawatte um den Hals in die Stadt geritten kam, als Schulmeister eingestellt werden und zwanzig Jahre lang unterrichten konnte. Das ist noch gar nicht sehr lange her. Sie sind ein verdammt guter Lehrer. Die Schüler wissen das, ich weiß es, und Mims hat es auch gewusst. Und dem messe ich sehr viel Bedeutung bei.«

»Weiß Ellen, dass ich meine anderen Referenzen gefälscht habe?« Ellen Dockerty hatte den Direktorposten zunächst kommissarisch übernommen, aber wenn der Schulausschuss im Januar zusammentrat, würde sie diesen Job endgültig bekommen. Es gab keine weiteren Bewerber.

»Nein, und sie erfährt es auch nicht. Zumindest nicht von mir. Ich finde, das braucht sie nicht zu wissen.« Er stand auf. »Aber es gibt einen Menschen, der erfahren muss, wo Sie gewesen sind und was Sie getan haben – und das ist eine bestimmte Bibliothekarin. Das heißt, wenn Sie es ernst mit ihr meinen. Tun Sie das?«

»Ja«, sagte ich, und Deke nickte, als ergäbe sich damit alles andere ganz von selbst.

Ich wünschte mir, er hätte recht.

10

Dank Deke Simmons konnte Sadie endlich herausfinden, wie es war, sich nach Sonnenuntergang zu lieben. Als ich sie hinterher fragte, sagte sie, es sei wundervoll gewesen. »Aber ich freue mich noch mehr darauf, morgen neben dir aufzuwachen. Hörst du den Wind?«

Das tat ich. Er heulte um die Giebel herum.

»Findest du das nicht gemütlich?«

»Doch, natürlich.«

»Ich werde jetzt etwas sagen. Ich hoffe, dass dir das nicht unangenehm ist.«

»Was denn?«

»Ich glaube, dass ich mich in dich verliebt habe. Vielleicht ist es nur der Sex, angeblich erliegen ja viele diesem Irrtum, aber das glaube ich nicht.«

»Sadie?«

»Ja?« Sie versuchte zu lächeln, aber sie wirkte ängstlich.

»Ich liebe dich auch. Ohne Wenn und Aber.«

»Gott sei Dank«, sagte sie und kuschelte sich an mich.

11

In unserer zweiten Nacht in den Candlewood Bungalows war sie bereit, über Johnny Clayton zu reden. »Aber mach das Licht aus, ja?«

Ich tat, was sie verlangte. Sie rauchte drei Zigaretten, während sie erzählte. Gegen Ende weinte sie heftig, vermutlich weniger aus erinnertem Schmerz als aus schlichter Verlegenheit. Für die meisten von uns war es leichter, eine Straftat zuzugeben als eine Dummheit. Nicht dass sie dumm gewesen wäre. Zwischen Dummheit und Naivität lagen Welten, und wie die meisten braven Mittelstandsmädchen, die in den Vierziger- und Fünfzigerjahren erwachsen wurden, wusste Sadie praktisch nichts über Sex. Sie sagte, sie habe niemals ein männliches Glied aus der Nähe gesehen, bis sie meines das erste Mal zu sehen bekam. Von Johnnys hatte sie einige Male einen flüchtigen Blick erhascht, aber wenn er sie dabei ertappte, nahm er ihren Kopf zwischen die Hände und drehte ihn so heftig zur Seite, dass es wehtat.

»Aber es tat immer weh«, sagte sie. »Verstehst du?«

John Clayton stammte aus einer konventionell gläubigen Familie, die man nicht als Spinner abtun konnte. Er war freundlich, aufmerksam und einigermaßen gut aussehend. Er war nicht gerade für seinen Humor bekannt (er hatte so gut wie keinen), aber er schien sie anzubeten. Ihre Eltern beteten ihn an. Claire Dunhill war auf besondere Weise verrückt nach Johnny Clayton. Und er war natürlich größer als Sadie, selbst wenn sie hohe Absätze trug. Nach Jahren der Bohnenstangenwitze war das nicht unwesentlich.

»Das einzig Störende vor der Hochzeit waren seine Pedanterie und sein Waschzwang«, erzählte Sadie. »Er hatte alle seine Bücher alphabetisch geordnet und war jedes Mal sehr aufgebracht, wenn mal jemand eins falsch eingestellt hat. Er war schon nervös, wenn man ein Buch aus dem Regal nahm – man konnte richtig spüren, wie verkrampft er war. Er hat sich dreimal täglich rasiert und sich dauernd die Hände gewaschen. Wenn jemand ihm die Hand gegeben hat, ist er so schnell wie möglich mit einer Ausrede verschwunden, um sich die Hände zu waschen.«

»Und er hat seine Garderobe farblich aufeinander abgestimmt«, sagte ich. »Im Schrank wie am Körper, und wehe dem Ahnungslosen, der sie durcheinanderbrachte. Hat er die Vorräte in der Speisekammer alphabetisch geordnet? Oder ist er manchmal nachts aufgestanden, um zu kontrollieren, ob die Herdplatten ausgeschaltet und die Türen abgesperrt sind?«

Sie drehte sich mir zu, und ich erriet, dass ihre Augen im Dunkel staunend geweitet waren. Unser Bett quietschte leise; eine lose Fensterscheibe klapperte. »Woher weißt du das?«

»Das ist ein Syndrom, eine sogenannte Zwangsstörung. Howard …« Ich hielt inne. Howard Hughes ist ein klassischer Fall, hatte ich sagen wollen, aber vielleicht stimmte das ja noch nicht. Und wenn doch, war davon möglicherweise nichts öffentlich bekannt. »Ich hatte mal einen Freund, der darunter gelitten hat. Howard Temple. Aber lassen wir das. Hat er dir wehgetan, Sadie?«

»Eigentlich nicht, nicht durch Schläge oder Boxhiebe. Einmal hat er mir eine Ohrfeige verpasst, das war alles. Aber es gibt andere Möglichkeiten, einander zu verletzen, oder nicht?«

»Und ob.«

»Ich konnte mit niemand darüber reden. Schon gar nicht mit meiner Mutter. Weißt du, was sie mir am Hochzeitstag geraten hat? Ich soll vorher ein halbes Gebet und währenddessen ein halbes Gebet sprechen, dann wär alles in Ordnung. Währenddessen … näher hat sie sich nie an das Wort Geschlechtsverkehr herangewagt. Ich habe versucht, mit meiner Freundin Ruthie darüber zu sprechen – aber nur ein einziges Mal. Das war nach der Schule, als sie mir geholfen hat, die Bibliothek aufzuräumen. ›Was hinter eurer Schlafzimmertür passiert, geht mich nichts an‹, hat sie gesagt. Ich habe schließlich aufgehört, weil ich selbst nicht richtig darüber reden wollte. Ich habe mich so geschämt.«

Und dann kam alles in einem einzigen Schwall heraus. Manches war unter lautem Schluchzen kaum verständlich, aber ich bekam das Wesentliche mit. In bestimmten Nächten – vielleicht einmal pro Woche, vielleicht zweimal – erklärte er ihr, dass es Zeit wurde fürs »Raus-damit«, damit er es »loswurde«. Dann lagen sie nebeneinander auf dem Bett: sie in ihrem Nachthemd (er bestand darauf, dass sie undurchsichtige trug), Johnny in Boxershorts. Nackter als in Boxershorts bekam sie ihn nie zu sehen. Er schob die Bettdecke bis zu seiner Taille hinunter, und Sadie konnte sehen, wie seine Erektion sie zeltförmig ausbeulte.

»Einmal hat er sich das kleine Zelt selbst angesehen. Nur ein einziges Mal, soweit ich mich erinnern kann. Und weißt du, was er gesagt hat?«

»Nein.«

»›Wie widerlich wir sind.‹ Dann hat er gesagt: ›Bring’s hinter dich, damit ich schlafen kann.‹«

Also griff Sadie unter die Bettdecke und masturbierte ihn. Er brauchte nie lange, manchmal nur Sekunden. In seltenen Fällen berührte er dabei ihre Brüste, aber meist blieben seine Hände krampfhaft vor der eigenen Brust gefaltet. Sobald es vorbei war, ging er ins Bad, duschte und kam im Schlafanzug zurück. Er hatte sieben Pyjamas, alle blau.

Dann war sie an der Reihe, ins Bad zu gehen und sich die Hände zu waschen. Er bestand darauf, dass sie das mindestens drei Minuten lang unter so heißem Wasser tat, dass ihre Haut rot wurde. Zurück im Bett, musste sie ihm die Hände vors Gesicht halten. Wenn ihm der Seifengeruch nicht stark genug war, schickte er sie zum erneuten Händewaschen.

»Und wenn ich zurückgekommen bin, war jedes Mal der Besen da.«

Er legte ihn aufs Laken, wenn es Sommer war, oder auf die Decke, wenn es Winter war. Der Holzstiel teilte das Bett genau in der Mitte. In seine Seite und ihre Seite.

»Wenn ich unruhig geschlafen und ihn unabsichtlich verschoben habe, ist er aufgewacht. Ganz gleich, wie fest er schlief. Und er hat mich grob auf meine Seite zurückgestoßen. Er nannte es ›gegen den Besen sündigen‹.«

Die Ohrfeige hatte sie sich mit der Frage verdient, wie sie jemals Kinder haben sollten, wenn er ihn nie in sie hineinstecke. »Er war wütend. Deswegen hat er mich geohrfeigt. Später hat er sich entschuldigt, aber dabei gesagt: ›Glaubst du, dass ich in dein von Keimen befallenes Frauenloch will, um Kinder in diese schmutzige Welt zu setzen? Sie geht ohnehin demnächst hoch, das kann jeder kommen sehen, der Zeitung liest, und die Strahlung wird uns allen den Garaus machen. Wir werden mit Geschwüren am ganzen Körper sterben und uns die Lunge aus dem Leib husten. Das kann schon morgen passieren.‹«

»Herr des Himmels. Kein Wunder, dass du ihn verlassen hast, Sadie.«

»Erst nach vier vergeudeten Jahren. So lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, dass ich mehr im Leben verdient hatte, als die Socken meines Ehemanns nach Farben zu ordnen, ihm zweimal in der Woche einen runterzuholen und mit einem gottverdammten Besen zu schlafen. Das war der schlimmste Teil, über den ich nie mit jemand reden konnte … weil das komisch war.«

Ich fand es keineswegs komisch. Ich fand, dass es irgendwo in der Grauzone zwischen einer Neurose und einer regelrechten Psychose angesiedelt war. Außerdem fand ich, dass ich einer perfekten Fünfzigerjahrefabel lauschte. Es war leicht, sich vorzustellen, wie Rock Hudson und Doris Day mit einem Besen zwischen sich schliefen. Das heißt, wenn Rock nicht schwul gewesen wäre.

»Und er hat sich nicht auf die Suche nach dir gemacht?«

»Nein. Ich habe mich bei einem Dutzend Schulen beworben und dabei jeweils eine Postfachadresse angegeben. Ich kam mir vor wie eine Frau, die herumschleicht, weil sie eine Affäre hat. Und so haben meine Eltern mich behandelt, als sie es rausgekriegt haben. Mein Vater hat sich wieder etwas beruhigt – ich denke, er hat eine Ahnung, wie schlimm es war, obwohl er natürlich keine Details hören will –, aber meine Mutter? Die doch nicht! Sie ist wütend auf mich. Sie musste die Kirche wechseln und aus der Handarbeitsgruppe austreten. Weil sie dort nicht mehr erhobenen Hauptes hinkonnte, sagt sie.«

Das erschien mir in gewisser Art ebenso grausam und verrückt wie der Besen, doch das behielt ich für mich. Auch interessierte mich ein anderer Aspekt mehr als Sadies spießige Südstaateneltern. »Clayton hat ihnen nicht gesagt, dass du ihn verlassen hast? Habe ich das richtig verstanden? Er hat sie nie besucht?«

»Nein. Meine Mutter hatte dafür natürlich Verständnis.« Sadies sonst nur schwacher Südstaatenakzent wurde deutlicher. »Ich hab solche Schande über den arm Jung gebracht, dass er keim davon erzähln wollt.« Sadie sprach wieder normal. »Das meine ich nicht mal sarkastisch. Sie versteht sich auf Schande, und sie weiß, wie man Dinge vertuscht. In diesen beiden Punkten stimmen Johnny und meine Mutter völlig überein. Sie ist die Frau, die er hätte heiraten sollen.« Sie lachte leicht hysterisch. »Mama hätte den alten Besenstiel wahrscheinlich geliebt.«

»Nie ein Wort von ihm? Nicht mal eine Postkarte mit der Aufforderung: ›He, Sadie, lass uns ein paar Kleinigkeiten regeln, damit jeder sein Leben weiterleben kann‹?«

»Wie könnte es eine geben? Er weiß nicht, wo ich bin, und ich wette, das ist ihm auch egal.«

»Gibt es irgendetwas, was du von ihm willst? Ein Anwalt könnte bestimmt …«

Sie küsste mich. »Das Einzige, was ich mir wünsche, liegt hier mit mir im Bett.«

Ich beförderte die Decke mit den Füßen zu unseren Fesseln hinunter. »Sieh mich an, Sadie.«

Sie sah mich an. Und dann fasste sie mich an.

12

Anschließend döste ich. Nicht wirklich tief – ich konnte den Wind und die eine klappernde Fensterscheibe noch hören –, aber so tief, dass ich träumte. Sadie und ich waren in einem leeren Haus. Wir waren nackt. Im oberen Stock bewegte sich irgendetwas – es machte trampelnde, unangenehme Geräusche. Vielleicht ging es hin und her, aber dafür schien es zu viele Beine zu haben. Ich genierte mich nicht etwa, weil wir gleich unbekleidet entdeckt würden. Nein, ich hatte Angst. Auf den abbröckelnden Putz einer der Wände hatte jemand mit Kohlestift ICH WERDE DEN PRÄSIDENTEN BALD UMBRINGEN geschrieben, und jemand andres hatte NICHT BALD GENUG ERS VOLLER KRANKEIT daruntergesetzt. Das Ganze war mit dunklem Lippenstift geschrieben. Vielleicht auch mit Blut.

Poch, stampf, poch.

Über uns.

»Ich glaube, das ist Frank Dunning«, flüsterte ich Sadie zu. Ich fasste sie am Arm. Er war sehr kalt. Ich hatte das Gefühl, den Arm einer Toten zu umklammern. Vielleicht einer Frau, die mit einem Vorschlaghammer erschlagen worden war.

Sadie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen zitterten, während sie zur Decke aufsah.

Stampf, poch, stampf.

Gipsstaub rieselte herab.

»Dann ist es John Clayton«, flüsterte ich.

»Nein«, sagte sie. »Ich glaube, es ist der Gelbe-Karte-Mann. Er hat das Jimla mitgebracht.«

Das Gepolter über uns hörte abrupt auf.

Sie packte meinen Arm und schüttelte ihn. Ihre vor Entsetzen geweiteten Augen fraßen ihr Gesicht auf. »Genau! Das da oben ist das Jimla! Und es hat uns gehört! Das Jimla weiß, dass wir hier sind!«

13

»Aufwachen, George! Wach auf!«

Ich öffnete die Augen. Sadie, deren Gesicht ein blasser, verschwommener Fleck war, lag auf einen Ellbogen gestützt neben mir. »Was ist? Wie spät ist es? Müssen wir gehen?« Aber es war noch dunkel, und der Wind heulte nach wie vor.

»Nein. Es ist noch vor Mitternacht. Du hast schlecht geträumt.« Sie lachte leicht nervös. »Vielleicht von Football? Weil du immer ›Jimla, Jimla‹ gesagt hast.«

»Habe ich das?« Ich setzte mich auf. Ein Streichholz wurde angerissen und erhellte sekundenlang ihr Gesicht. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet.

»Ja, das hast du. Du hast alles Mögliche geredet.«

Das war nicht gut. »Was denn?«

»Das meiste war unverständlich, aber ein Satz war ziemlich deutlich. ›Derry ist Dallas‹, hast du gesagt. Und dann umgekehrt: ›Dallas ist Derry.‹ Was sollte das denn heißen? Erinnerst du dich nicht?«

»Nein.« Aber es war schwierig, überzeugend zu lügen, wenn man eben erst aufgewacht war, selbst nach nur leichtem Schlaf, und ich sah Skepsis auf ihrem Gesicht. Bevor sie sich zu Ungläubigkeit vertiefen konnte, wurde an die Tür geklopft. Um Viertel vor zwölf in der Nacht!

Wir starrten einander an.

Wieder ein Klopfen.

Das ist das Jimla. Dieser Gedanke war sehr klar, sehr gewiss.

Sadie legte ihre Zigarette in den Aschenbecher, wickelte sich in die Bettdecke und verschwand wortlos im Bad. Die Tür schloss sich hinter ihr.

»Wer ist da?«, fragte ich.

»Mr. Yorrity, Sir – Bud Yorrity.«

Einer der pensionierten schwulen Lehrer, denen die Candlewood Bungalows gehörten.

Ich stand auf und zog meine Hose an. »Was gibt’s, Mr. Yorrity?«

»Ich habe eine Nachricht für Sie, Sir. Die Dame hat gesagt, es ist dringend.«

Ich öffnete die Tür. Draußen stand ein kleiner Mann in einem abgetragenen Bademantel. Er hatte schon geschlafen, und sein Haar umgab seinen Kopf als strubbelige Wolke. Er hielt mir einen Zettel hin.

»Welche Dame?«

»Ellen Dockerty.«

Ich dankte ihm für seine Mühe und schloss die Tür. Dann faltete ich den Zettel auseinander und las die Nachricht.

Sadie kam, immer noch in die Bettdecke gewickelt, aus dem Bad. Ihre Augen waren angstvoll geweitet. »Was gibt’s?«

»Es hat einen Unfall gegeben«, sagte ich. »Vince Knowles hat sich außerhalb der Stadt mit seinem Pick-up überschlagen. Mike Coslaw und Bobbi Jill waren mit dabei. Mike ist aus dem Wagen geschleudert worden. Er hat sich einen Arm gebrochen. Bobbi Jill hat eine schlimme Schnittwunde im Gesicht, aber Ellie sagt, dass sie sonst unverletzt ist.«

»Und Vince?«

Ich dachte daran, wie alle Vince’ Fahrweise beschrieben hatten – als gäbe es kein Morgen. Nun gab es keines mehr. Nicht für ihn. »Er ist tot, Sadie.«

Sie erbleichte. »Das kann nicht sein! Er ist erst achtzehn!«

»Ich weiß.«

Sie ließ die Arme hängen, sodass die Bettdecke hinunterglitt und rings um ihre Füße herumliegen blieb. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht.

14

Meine Bearbeitung von Die zwölf Geschworenen wurde abgesetzt. An ihrer Stelle wurde Tod eines Schülers, ein Drama in drei Akten, gegeben: die Aufbahrung bei dem Bestattungsunternehmen, der Trauergottesdienst in der Grace Methodist Church, die Beisetzung auf dem West Hill Cemetery. An dieser düsteren Vorstellung nahm die ganze Stadt teil – oder zumindest so viele Bürger, dass es praktisch aufs Gleiche herauskam.

Die Stars bei der Aufbahrung waren die Eltern und Vince’ sichtlich erschütterte jüngere Schwester, die auf Klappstühlen neben dem Sarg saßen. Als ich mit Sadie an meiner Seite auf sie zutrat, stand Mrs. Knowles auf und umarmte mich. Die Duftkombination aus Parfüm – White Shoulders – und Deodorant – Yodora – überwältigte mich fast.

»Sie haben sein Leben verändert«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Das hat er selbst gesagt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gute Noten. Weil er auf der Bühne stehen wollte.«

»Mrs. Knowles, das tut mir so leid«, murmelte ich. Dann durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke, und ich drückte sie fester an mich, als ließe er sich auf diese Weise vertreiben: Vielleicht ist das der Schmetterlingseffekt. Vielleicht ist Vince tot, weil du nach Jodie gekommen bist.

An den Stellwänden neben dem Sarg hingen Fotomontagen aus Vince’ allzu kurzem Leben. Auf einer Staffelei davor stand ein vergrößertes Foto, das ihn in seinem Kostüm aus Von Mäusen und Menschen und mit dem zerbeulten alten Filzhut aus der Requisite zeigte. Unter der Hutkrempe spähte sein rattenartiges, intelligentes Gesicht hervor. Vince war kein besonders guter Schauspieler gewesen, aber auf diesem Foto trug er ein absolut perfektes Klugscheißergrinsen zur Schau. Sadie begann zu schluchzen, und ich wusste, weshalb. Das Leben schlug Kapriolen. Manchmal wandt es sich uns zu, aber öfter wirbelte es flirrend und leuchtend davon: Mach’s gut, mein Schatz, es war gut, solange es währte, nicht wahr?

Und Jodie war gut – gut für mich. In Derry war ich ein Außenstehender gewesen, aber Jodie war meine Heimat geworden. Heimat bedeutete für mich: Salbeiduft und orangerote Kokardenblumen, die im Sommer die Hügel bedeckten. Die Andeutung von Tabakgeschmack auf Sadies Zunge und das Quietschen der geölten Bodendielen in meinem Klassenzimmer. Ellie Dockerty, die so umsichtig war, dass sie uns mitten in der Nacht etwas ausrichten ließ, vielleicht damit wir ungesehen in die Stadt zurückkehren konnten, vielleicht auch nur damit wir Bescheid wussten. Die fast erstickende Mischung aus Parfüm und Deodorant, als Mrs. Knowles mich umarmte. Mike, der auf dem Friedhof einen Arm – den, der nicht eingegipst war – um mich legte und dann sein Gesicht an meine Schulter drückte, bis er die Fassung zurückgewonnen hatte. Heimat war auch die hässliche rote Schnittwunde auf Bobbi Jills Wange – und auch der Gedanke daran, dass ohne eine kosmetische Operation (die ihre Familie sich nicht leisten konnte) eine entstellende Narbe zurückbleiben und sie für den Rest ihres Lebens daran erinnern würde, wie sie einen Jungen aus ihrer Nachbarschaft tot am Straßenrand liegen sehen hatte, sein Kopf fast komplett abgerissen. Heimat war die schwarze Armbinde, die Sadie trug, die ich trug, die alle Lehrer eine Woche lang trugen. Und Al Stevens, der das Foto von Vince in seinem Diner ins Schaufenster stellte. Und Jimmy LaDues Tränen, als er vor der ganzen Schule stand und diese niederlagenlose Saison Vince Knowles widmete.

Und noch weitere Dinge. Leute, die auf der Straße howdy sagten oder mir aus dem Auto zuwinkten. Al Stevens, der Sadie und mich zu dem Ecktisch führte, den er neuerdings als unseren Tisch bezeichnete; an Freitagnachmittagen im Lehrerzimmer mit Danny Laverty um einen Cent pro Punkt Cribbage zu spielen; mit der schon betagteren Miss Mayer darüber zu diskutieren, wer der bessere Nachrichtensprecher war: Chet Huntley, David Brinkley oder Walter Cronkite. Meine Straße, mein schmales Haus mit hintereinanderliegenden Räumen, das Gefühl, mich wieder an eine Schreibmaschine zu gewöhnen. Eine feste Freundin zu haben, im Lebensmittelgeschäft Rabattmarken zu bekommen und mein Kinopopcorn mit echter Butter zu essen.

Heimat war, einen Mondaufgang über den Salbeisträuchern zu beobachten und jemand zu haben, den man ans Fenster rufen konnte, mit dem man dieses Schauspiel zu zweit genießen konnte. Heimat war, mit anderen zu tanzen, und Tanzen ist Leben.

15

Das Jahr des Herrn 1961 neigte sich dem Ende zu. Ungefähr zwei Wochen vor Weihnachten kam ich an einem regnerischen Tag wieder in meiner Rancherjacke mit Lammfellfutter aus der Schule nach Hause und hörte das Telefon klingeln.

»Hier is Ivy Templeton«, sagte eine Frau. »Sie erinnern sich wahrscheinlich gar nich an mich, stimmt’s?«

»Ich erinnere mich sehr gut an Sie, Miz Templeton.«

»Weiß gar nich, warum ich Sie anruf, die gottverdammtn zehn Dollar sind längst weg. Aber irgendwas an Ihn is mir im Kopf gebliebn. Rosette geht’s auch so. Für sie sind Se der Mann, der ihrn Ball gefang hat.«

»Sie ziehen aus, Miz Templeton?«

»Das is hundertprozentig gottverdammt richtig. Meine Mama kommt morgn mit ’nem Truck aus Mozelle rauf.«

»Haben Sie kein Auto? Oder ist es kaputt?«

»Für ’ne Schrottkiste läuft es noch gut, aber Harry wird nich darin fahrn. Oder sich je wieder selber ans Steuer setzn. Er hat letztn Monat bei eim dieser gottverdammten Manpower-Jobs gearbeitet. Is in den Graben gefalln, und ein Kieslaster hat ihn beim Zurückstoßn überfahrn. Hat ihm das Rückgrat gebrochn.«

Ich schloss die Augen und sah, wie der Abschleppwagen von Gogie’s Sunoco das Wrack von Vince’ Pick-up die Main Street entlang abtransportierte. Wie die zersplitterte Windschutzscheibe innen voller Blut gewesen war. »Tut mir leid, das zu hören, Miz Templeton.«

»Er wird’s überlebn, aber gehn kann er nie wieder. Er wird im Rollstuhl sitzn und in ’nen Beutel pissn, das wird er tun. Aber zuerst fährt er hintn auf meiner Mama ihrm Truck nach Mozelle. Wir klaun die Matratze aus dem Schlafzimmer, damit er drauf liegn kann. Das is so ähnlich, als würd man sein Hund in den Urlaub mitnehm, was?«

Sie begann zu weinen.

»Wir sind zwei Monatsmieten schuldig, wenn wir abhaun, aber das macht mir nix aus. Wissen Se, was mir was ausmacht, Mr. Puddentane-fragen-Sie-mich-noch-mal-dann-sage-ich-dasselbe? Ich hab noch fünfunddreißig gottverdammte Dollar, und dann ist Sense. Wär dieses gottverdammte Arschloch Harry auf den Beinen gebliebn, säß ich nich in der Klemme. Ich hab gedacht, schlimmer könnt’s nich mehr werdn, aber sehn Se sich das an!«

Aus der Hörmuschel kam ein langes, tränenreiches Schniefen.

»Wissn Se was? Der Postbote hat ’n Auge auf mich geworfn, und ich glaub, für ’nen Zwanziger würd ich mich auf dem gottverdammten Wohnzimmerfußboden von ihm vögeln lassn. Wenn die gottverdammten Nachbarn gegenüber uns nich dabei beobachten könntn. Ins Schlafzimmer kann ich ihn schlecht mitnehm, stimmt’s? In dem liegt mein Mann mit gebrochnem Rückn.« Sie lachte krächzend. »Hörn Se, wolln Se nich mit Ihrm eleganten Cabrio rüberkomm? Fahrn Se mit mir in irgendein Motel. Gebn Se etwas mehr aus, nehm Se ’ne Suite mit Wohnzimmer. Rosette kann fernsehen, und ich lass mich von Ihnen vögeln. Sie ham ausgesehn, wie wenn Se genug Geld hättn.«

Ich sagte nichts. Mir war gerade eine Idee gekommen, die so hell wie ein Blitzlicht leuchtete.

Wenn die gottverdammten Nachbarn gegenüber uns nicht dabei beobachten könnten.

Es gab einen Mann, den ich beobachten sollte. Das heißt, außer Oswald selbst. Einen Mann, der zufällig auch George hieß und der einzige Freund Oswalds werden sollte.

Trau ihm nicht über den Weg, hatte Al in seinen Notizen geschrieben.

»Sin Sie noch da, Mr. Puddentane? Nein? Wenn nicht, dann scheiß auf Sie und auf…«

»Legen Sie nicht auf, Miz Templeton. Wie wär’s, wenn ich Ihre rückständige Miete zahlen und noch hundert Dollar drauflegen würde?« Das war weit mehr, als ich hätte zahlen müssen, aber ich hatte das Geld, und sie brauchte es.

»Mister, im Augenblick mach ich’s Ihnen für zweihundert Dollar, während mein Vater zusieht.«

»Sie brauchen mir überhaupt nichts zu machen, Miz Templeton. Sie sollen sich nur auf dem Parkplatz am Ende Ihrer Straße mit mir treffen. Und mir etwas mitbringen.«

16

Es war schon dunkel, als ich den Parkplatz hinter dem Lagerhaus von Montgomery Ward erreichte, und der Regen war etwas dicker geworden, so wie er es manchmal tat, wenn er Schneeregen zu werden vorhatte. Das passiert im Hügelland südlich von Dallas zwar nicht allzu oft, aber manchmal war nicht nie. Ich würde Jodie hoffentlich wieder erreichen, ohne von der Straße abzukommen.

Ivy Templeton saß am Steuer einer traurigen, alten Limousine mit verrosteten Schwellern und gesprungener Heckscheibe. Sie stieg bei mir ein und beugte sich sofort zur Heizung hinüber, die mit voller Leistung lief. Statt einer Jacke trug sie zwei Flanellblusen übereinander. Sie zitterte vor Kälte.

»Das tut echt gut. In dem Chev ist’s scheißkalt. Die Heizung is kaputt. Habn Sie das Geld dabei, Mr. Puddentane?«

Ich gab ihr einen Umschlag. Sie öffnete ihn und blätterte in einigen der Zwanziger, die im obersten Fach meines Kleiderschranks gelegen hatten, seit ich vor über einem Jahr bei Faith Financial meine gewonnene World-Series-Wette kassiert hatte. Sie hob ihren beträchtlichen Hintern vom Sitz, stopfte den Umschlag in die Gesäßtasche ihrer Jeans und fummelte dann etwas aus der Brusttasche der unteren Bluse. Sie förderte einen Schlüssel zutage, den sie mir in die Hand klatschte.

»Genügt Ihnen der?«

Der war sogar genau richtig. »Das ist ein Nachschlüssel, stimmt’s?«

»Genau wie Sie’s verlangt ham. Ich hab ihn im Eisenwarngeschäft in der McLaren Street machn lassn. Was wolln Se eigentlich mit ’nem Schlüssel für dieses bessere Scheißhaus? Für zweihundert könntn Sie’s für vier Monate mietn.«

»Ich habe meine Gründe. Erzählen Sie mir von den Nachbarn gegenüber. Von den Leuten, die beobachten könnten, wie Sie’s mit dem Postboten auf dem Fußboden im Wohnzimmer treiben.«

Sie rutschte unbehaglich hin und her und zog den Flanell etwas enger um ihren Busen, der so stattlich war wie ihr Hintern. »War bloß ’n Witz.«

»Ja, dachte ich mir.« Ich hatte mir das zwar nicht gedacht, aber das war mir auch irgendwie egal. »Mich interessiert nur, ob diese Nachbarn wirklich in Ihr Wohnzimmer sehen können.«

»Klar könn se das, und ich könnt in ihrs sehen, wenn sie keine Vorhänge hättn. Die ich am liebstn auch für uns gekauft hätt. Was Privatleben angeht, könnten wir genauso gut im Freien hausn. Ich hätt Sackleinen von dort drüben aufhängen könn …« Sie deutete auf die auf der Ostseite des Lagerhauses stehenden Müllcontainer. »… aber der sieht so billig aus.«

»Die Nachbarn mit der Aussicht wohnen wo? In zwo-sieben-null-vier?«

»Zwo-sieben-null-sechs. Früher ham dort Slider Burnett und seine Familie gewohnt, aber die sind gleich nach Halloween ausgezogn. Er war von Beruf Ersatz-Rodeoclown, ist das nich unglaublich? Ich wusst gar nich, dass es so was gibt. Jetzt wohnt da ein gewisser Hazzard mit zwei Kindern und seiner Mutter, glaub ich. Rosette will nich mit den Kindern spielen, die sind ihr zu dreckig. Was fast komisch ist, wenn’s von diesem Ferkel kommt. Die alte Oma versucht zu redn, aber alles kommt ganz breiig raus. Eine Gesichtshälfte ist gelähmt. Weiß gar nich, was se ihm helfen könn soll, wenn se sich so rumschleppt. Wenn ich auch mal so werd, könnt ihr mich einfach erschießn. Igitt nee!« Sie schüttelte den Kopf. »Aber glaubn Se mir, die sind nich lange hier. In der ’Cedes Street bleibt keiner lange. Habn Sie ’ne Zigarette für mich? Ich musst ’s Rauchen aufgeben. Wenn man nich mal mehr ’n Vierteldollar für Kippen übrig hat, weiß man bestimmt, dass man auf’m gottverdammtn Weg nach oben ist.«

»Ich rauche nicht.«

Sie zuckte die Achseln. »Hol’s der Teufel, jetzt kann ich mir eigne leistn, was? Gottverdammt, ich bin reich! Sie sind nicht verheiratet, stimmt’s?«

»Ja.«

»Aber Sie haben ’ne Freundin. Ich kann auf dieser Seite vom Auto das Parfüm riechen. Das gute Zeug.«

Darüber musste ich lächeln. »Ja, ich habe eine Freundin.«

»Schön für Sie. Weiß sie, dass Sie nach Einbruch der Dunkelheit im Südn von Fort Worth in komischn Geschäftn unterwegs sind?«

Ich sagte nichts, aber das war manchmal Antwort genug.

»Na, schon gut. Das geht nur euch beide was an. Mir ist jetzt warm, also geh ich zurück. Wenn’s morgn auch so kalt und regnerisch wird, weiß ich nich, was wir mit Harry hintn auf Mas Truck machn solln.« Sie sah zu mir auf und lächelte. »Als kleines Mädchen hab ich mir eingebildet, ich würd mal wie Kim Novak werdn. Und jetzt glaubt Rosette, sie könnt Darlene bei den Mausketieren ablösen. Hidey-fuckin-ho!«

Als sie Anstalten machte, die Tür zu öffnen, sagte ich eilig: »Warten Sie.«

Ich holte den Scheiß aus meinen Taschen – Life Savers, Kleenex, ein Streichholzbriefchen, das Sadie hineingesteckt hatte, Notizen für einen Englischtest, den ich vor Weihnachten in der neunten Klasse schreiben lassen wollte – und hielt ihr die Rancherjacke hin. »Hier, nehmen Sie die.«

»Ich nehm Ihre gottverdammte Jacke nich!« Sie war sichtlich entsetzt.

»Ich habe zu Hause noch eine.« Das stimmte zwar nicht, aber ich konnte mir eine kaufen, was auf sie bestimmt nicht zutraf.

»Was soll ich Harry erzählen? Dass ich sie unter ’nem gottverdammten Kohlblatt gefundn hab?«

Ich grinste. »Erzählen Sie ihm, dass Sie für Geld mit dem Postboten gebumst und sich davon die Jacke gekauft haben. Was kann er schon machen – Sie die Einfahrt runterjagen und dann verprügeln?«

Sie lachte, ein hartes Regenvogelkrächzen, das eigenartig reizvoll war. Und nahm die Jacke.

»Grüße an Rosette«, sagte ich. »Sagen Sie ihr, dass ich sie in meinen Träumen sehe.«

Ihr Lächeln verschwand. »Hoffentlich nich, Mister. Der Traum, den sie von Ihnen gehabt hat, war ’n Albtraum. Sie hat geschrien, als sollt das Haus zusammenfalln. Hat mich um zwei morgens aus’m tiefstn Schlaf gerissen. Sie hat gesagt, dass der Mann, der ihrn Ball gefang hat, hintn in seim Wagen ein Ungeheuer sitzn hat, das sie fressen wollte. Hat mich verdammt erschreckt, als sie so gekreischt hat, das könn Se mir glaubn.«

»Hatte das Ungeheuer einen Namen?« Natürlich hatte es einen.

»Sie hat gesagt, es wär ein Jimla gewesen. Ich glaub, sie hat ’nen Dschinn gemeint – wie in der Story von Aladin und den Sieben Schleiern. Aber ich muss jetzt gehn. Passn Se gut auf sich auf, Mister.«

»Und Sie auf sich, Ivy. Frohe Weihnachten.«

Sie krächzte wieder ihr Regenvogellachen. »Das hätt ich fast vergessn. Danke, gleichfalls. Vergessn Se nich, Ihrm Mädchen ein Geschenk zu kaufn.«

Sie trottete mit meiner Jacke – jetzt ihrer Jacke – über den Schultern zu ihrem alten Wagen zurück. Ich sah sie nie wieder.

17

Der Regen gefror nur auf Brücken, und aus meinem anderen Leben – dem in Neuengland – wusste ich ohnehin, dass man dort vorsichtig sein musste, aber die Rückfahrt nach Jodie war trotzdem lang. Ich hatte eben erst Wasser für einen Tee aufgesetzt, als das Telefon klingelte. Diesmal war es Sadie.

»Ich versuche seit dem Abendessen, dich zu erreichen, um dich wegen Coach Bormans Fete an Heiligabend zu fragen. Sie fängt um drei Uhr an. Ich würde hingehen, wenn du mich mitnehmen magst, und wir könnten uns vielleicht früher wieder abseilen. Sagen, dass wir einen Tisch im Restaurant reserviert haben oder so was. Ich müsste allerdings bald antworten.«

Ich sah meine eigene Einladung neben der Schreibmaschine liegen und spürte leichte Gewissensbisse. Sie war vor drei Tagen gekommen, und ich hatte noch nicht einmal den Umschlag aufgerissen.

»Möchtest du hingehen?«, fragte ich.

»Mir würd’s nichts ausmachen, mich wenigstens sehen zu lassen.« Eine kurze Pause. »Sag mal, wo bist du eigentlich die ganze Zeit gewesen?«

»Fort Worth.« Fast hätte ich hinzugefügt: Weihnachtseinkäufe machen. Aber ich ließ es bleiben. In Fort Worth hatte ich nur ein paar Informationen gekauft. Und einen Hausschlüssel.

»Warst du einkaufen?«

Wieder musste ich darum kämpfen, nicht zu lügen. »Ich … Sadie, ich kann’s dir wirklich nicht sagen.«

Nun folgte eine lange, lange Pause. Ich merkte, dass ich mir wünschte, ich wäre Raucher. Wahrscheinlich war ich durchs Passivrauchen süchtig geworden. Schließlich war es einiges, was ich tagtäglich mittelbar inhalierte. Im Lehrerzimmer herrschte ständig blauer Dunst.

»Ist es eine Frau, George? Eine andere Frau? Oder findest du mich zu neugierig?«

Na ja, es gab da Ivy, aber die war nicht die Art Frau, die Sadie meinte.

»Was Frauen betrifft, da gibt es nur dich.«

Wieder eine dieser langen, langen Pause. Im Alltag bewegte Sadie sich oft sorglos; in Gedanken tat sie das nie. Schließlich sagte sie: »Du weißt viel über mich, auch Dinge, von denen ich nie geglaubt hätte, dass ich sie je jemand erzählen würde, aber ich weiß fast nichts über dich. Das ist mir eben irgendwie bewusst geworden. Sadie kann ganz schön dumm sein, George, nicht wahr?«

»Du bist nicht dumm. Und ganz sicher weißt du, dass ich dich liebe.«

»Ja …« Sie klang zweifelnd. Ich musste an den schlechten Traum denken, den ich in den Candlewood Bungalows gehabt hatte, und ihren skeptischen Gesichtsausdruck, als ich behauptet hatte, mich nicht an ihn erinnern zu können. War ihr Gesichtsausdruck jetzt ähnlich? Oder ging er über bloße Skepsis hinaus?

»Sadie? Ist alles in Ordnung mit uns?«

»Ja.« Sie klang wieder etwas sicherer. »Klar doch. Bis auf die Sache mit Coachs Fete. Was möchtest du tun? Denk daran, dass sich alle Kollegen dort aufhalten und die meisten schon ziemlich blau sein werden, wenn Mrs. Coach das Büfett eröffnet.«

»Komm, wir gehen hin«, sagte ich vielleicht etwas zu ausgelassen. »Wir machen ordentlich einen drauf.«

»Wir machen was?«

»Wir amüsieren uns. Mehr sollte das nicht heißen. Wir kreuzen für eine Stunde, vielleicht auch anderthalb, auf und verdrücken uns dann wieder. Abendessen im Saddle. Einverstanden?«

»Schön.« Wir glichen einem Paar, das wegen eines zweiten Dates verhandelte, nachdem das erste nicht eindeutig verlaufen war. »Wir werden uns amüsieren.«

Ich dachte daran, wie Ivy Templeton einen Hauch von Sadies Parfüm gerochen und gefragt hatte, ob meine Freundin wisse, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit im Süden von Fort Worth in komischen Geschäften unterwegs sei. Ich dachte daran, dass Deke Simmons gesagt hatte, es gebe einen Menschen, der Anspruch darauf habe, die Wahrheit darüber zu erfahren, wo ich gewesen sei und was ich getan hätte. Aber sollte ich Sadie erzählen, dass ich Frank Dunning kaltblütig erschossen hatte, damit er seine Frau und seine vier Kinder nicht ermorden konnte? Dass ich nach Texas gekommen war, um ein Attentat zu verhindern und so den Lauf der Geschichte zu ändern? Dass ich wusste, dass ich das können würde, weil ich aus einer Zukunft kam, in der wir dieses Gespräch per Instant Messenger am Computer hätten führen können?

»Sadie, es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich versprech’s dir.«

»Schön«, sagte sie noch einmal. Dann sagte sie: »Wir sehen uns morgen in der Schule, George.« Und legte ganz sanft und höflich auf.

Ich hielt den Telefonhörer noch einige Sekunden lang in der Hand und starrte geradeaus ins Leere, dann legte ich ebenfalls auf. An meinen Fenstern zum Garten hinaus war leises Prasseln zuhören. Der Regen war schließlich doch zu Schneeregen geworden.

Kapitel 16

1

Coach Bormans Fete am frühen Heiligabend war ein Reinfall, und das lag nicht nur an Vince Knowles’ Geist. Am 21. Dezember hatte Bobbi Jill Allnut es sattgehabt, die klaffende Wunde zu sehen, die sich über ihre linke Gesichtshälfte bis hinunter zum Unterkiefer zog, und eine Handvoll von den Schlaftabletten ihrer Mutter geschluckt. Sie starb zwar nicht daran, verbrachte aber zwei Nächte im Parkland Memorial, dem Krankenhaus, in dem der Präsident und sein Attentäter sterben würden, wenn ich das nicht änderte. Im Jahr 2011 gab es vermutlich näher gelegene Krankenhäuser – ziemlich sicher in Kileen, vielleicht sogar in Round Hill –, aber nicht in diesem Jahr, in dem ich Vollzeitlehrer an der DCHS war.

Das Abendessen im Saddle war auch nicht so toll. Der Raum war voller Gäste in fröhlich geselliger Weihnachtsstimmung, aber Sadie mochte kein Dessert und wollte früh nach Hause gebracht werden. Sie hatte angeblich Kopfschmerzen. Ich glaubte ihr nicht.

Der Silvestertanz in der Bountiful Grange No. 7 war etwas besser. Aus Austin war eine Band gekommen, die sich The Jokers nannte und tatsächlich für Stimmung sorgte. Sadie und ich tanzten unter prall mit Ballons gefüllten Netzen, bis uns die Füße wehtaten. Um Mitternacht stimmten die Jokers »Auld Lang Syne« im Stil der Ventures an, und der Bandleader rief: »Alle Träume werden wahr – das wünsch ich euch fürs neue Jahr!«

Um uns herum schwebten die Ballons herab. Während wir Walzer tanzten, küsste ich Sadie und wünschte ihr ein glückliches neues Jahr, aber obwohl sie den ganzen Abend lang fröhlich gewesen war und gelacht hatte, spürte ich kein Lächeln auf ihren Lippen. »Auch dir ein glückliches neues Jahr, George. Könnte ich ein Glas Punsch haben? Ich bin sehr durstig.«

Vor der Schüssel mit alkoholhaltiger Bowle stand eine lange Schlange, vor der ohne Alkohol eine deutlich kürzere. Ich schöpfte eine Mischung aus rosa Limonade und Ginger Ale in einen Pappbecher, aber als ich damit dorthin zurückkam, wo Sadie gestanden hatte, war sie fort.

»Glaub, sie ist rausgegangen, um frische Luft zu schnappen, Champ«, sagte Carl Jacoby. Er war einer unserer vier Lehrer für Werken und vermutlich der beste, aber an diesem Abend hätte ich ihn nicht näher als zweihundert Meter an ein Elektrowerkzeug rangelassen.

Ich sah nach den Rauchern, die zusammengedrängt unter der Feuertreppe standen. Sadie war nicht unter ihnen. Ich ging zum Sunliner. Sie saß auf dem Beifahrersitz, und ihre fülligen Röcke bauschten sich bis zum Armaturenbrett auf. Der Himmel mochte wissen, wie viele Petticoats sie trug. Sie rauchte und weinte.

Ich stieg ein und versuchte, sie in die Arme zu nehmen. »Sadie, was hast du? Was hast du, Schatz?« Als ob ich das nicht wüsste. Als ob ich das nicht seit einiger Zeit gewusst hätte.

»Nichts.« Sie weinte heftiger. »Ich habe meine Tage. Bring mich bitte nach Hause.«

Wir hatten nur drei Meilen weit zu fahren, aber die Fahrt kam mir sehr lang vor. Wir sprachen kein Wort miteinander. Ich hielt in ihrer Einfahrt und stellte den Motor ab. Sie hatte zu weinen aufgehört, aber sie schwieg immer noch. Auch ich sagte nichts. Geselliges Schweigen konnte angenehm sein. Dieses fühlte sich fast tödlich an.

Sie holte ihre Winstons aus der Handtasche, sah sie an und legte sie dann zurück. Das Einschnappen des Verschlusses klang sehr laut. Sie sah mich an. Ihre Haare glichen einer dunklen Wolke, die das blasse Oval ihres Gesichts umgab. »Gibt es irgendwas, was du mir erzählen möchtest, George?«

Vor allem hätte ich ihr erzählen wollen, dass ich nicht George hieß. Diesen Namen konnte ich nicht mehr ausstehen. Ich hasste ihn beinahe.

»Zwei Dinge. Erstens: Ich liebe dich. Zweitens: Ich tue nichts, wofür ich mich schäme. Oh, und zwei a: Nichts, wofür du dich schämen würdest.«

»Gut. Das ist gut. Und ich liebe dich auch, George. Aber ich werde dir etwas erzählen, wenn du zuhören willst.«

»Dir höre ich immer zu.« Aber ich hatte Angst davor.

»Alles kann so bleiben wie es ist … vorerst. Solange ich noch mit John Clayton verheiratet bin, auch wenn die Ehe nur auf dem Papier existiert und nie richtig vollzogen wurde, gibt es Dinge, die ich dich meiner Einschätzung nach nicht fragen darf … oder von dir verlangen darf.«

»Sadie …«

Sie legte mir einen Finger auf die Lippen. »Vorerst. Aber ich werde keinem Mann mehr erlauben, einen Besenstiel ins Bett zu legen. Hast du verstanden?«

Sie drückte einen Kuss auf die Stelle, wo ihr Finger gelegen hatte, dann lief sie hinauf zur Haustür und angelte bereits nach ihrem Schlüssel.

So begann das Jahr 1962 für den Mann, der sich George Amberson nannte.

2

Der Neujahrstag brach kalt und klar an, und der Wetterfrosch im Morning Farm Report drohte mit gefrierendem Nebel in tieferen Lagen. Die beiden verwanzten Lampen hatte ich in meiner Garage stehen. Ich legte eine davon ins Auto und fuhr nach Fort Worth. Ich stellte mir vor, wenn es jemals einen Tag gäbe, auf dem der Lumpenkarneval auf der Mercedes Street geschlossen hätte, würde es dieser sein. Ich behielt recht. Dort war es still wie … nun, still wie im Mausoleum der Familie Tracker, in das ich Frank Dunnings Leiche geschleift hatte. In den fast kahlen Vorgärten lagen umgeworfene Dreiräder und ein paar Spielsachen. Irgendein Spaßvogel hatte ein größeres Spielzeug – einen monströsen alten Mercury – direkt neben seiner Veranda abgestellt. Die Autotüren standen noch offen. Auf der unbefestigten Fahrbahn lagen einige traurige Luftschlangen aus Krepp, und die Rinnsteine waren voller Bierdosen, hauptsächlich der Marke Lone Star.

Ich sah zum Haus Nummer 2706 hinüber, an dessen Wohnzimmerfenster niemand stand, und stellte fest, dass Ivy die Wahrheit gesagt hatte: Von dort aus konnte man genau ins Wohnzimmer der Nummer 2703 sehen.

Ich parkte auf den Betonstreifen der Einfahrt, als hätte ich jedes Recht, das ehemalige Heim der unglücklichen Familie Templeton zu betreten. Ich nahm die Lampe und meinen ganz neuen Werkzeugkasten mit und ging zur Haustür. Ich erlebte einen schlimmen Augenblick, als der Nachschlüssel seinen Dienst verweigerte, aber er war nur neu. Mit etwas Spucke und Hin-und-her-Bewegen ließ er sich drehen. Ich betrat das Haus.

Es hatte vier Zimmer, wenn man das Bad mitzählte, dessen Tür schief in nur einer Angel hing. Der größte Raum war eine Wohnküche; die beiden anderen waren Schlafzimmer. In dem größeren Zimmer fehlte die Matratze auf dem Bett. Ich erinnerte mich daran, wie Ivy gesagt hatte: Das is so ähnlich, als würd man sein Hund in den Urlaub mitnehm, was? In dem kleineren Zimmer hatte Rosette mit Wachsmalstiften Mädchen auf Wände gezeichnet, an denen der Putz bröckelte und stellenweise die Lattung darunter sichtbar war. Alle trugen grüne Trägerkleider und große, schwarze Schuhe. Sie hatten überproportional lange Zöpfe, so lang wie ihre Beine, und viele kickten mit Fußbällen herum. Eine trug das Diadem einer Miss America auf den Haaren und zeigte ein leuchtend rotes Lippenstiftlächeln. Das Haus roch immer noch nach dem, was meine Freundin Ivy als Abschiedsmahl gekocht hatte, bevor sie nach Mozelle zurückgegangen war, um dort mit ihrer Mama, ihrem kleinen Teufelsbraten und ihrem querschnittsgelähmten Mann zu leben.

Hier würden Lee und Marina die amerikanische Phase ihrer Ehe beginnen. Sie würden sich in dem größeren der beiden Schlafzimmer lieben, und er würde sie dort schlagen. Dort würde Lee nach langen Tagen, an denen er Windfangtüren zusammengeschraubt hatte, wach liegen und sich fragen, warum zum Teufel er nicht berühmt war. Hatte er sich etwa nicht bemüht? Hatte er sich nicht angestrengt?

Und in der Wohnküche mit ihrem unebenen Fußboden und dem abgetretenen gallengrünen Teppich würde Lee erstmals dem Mann begegnen, dem ich nicht trauen sollte, weil er für die meisten, wenn nicht sogar für alle kleinen Restzweifel verantwortlich war, die Al in Bezug auf Oswalds Einzeltäterschaft hegte. Dieser Mann hieß George de Mohrenschildt, und ich wollte zu gern hören, was Oswald und er zu besprechen hatten.

Auf der Seite des Raums, die dem Küchenbereich am nächsten war, stand eine alte Kommode. Die Schubladen enthielten zusammengewürfelte Besteckteile und billige Küchengeräte. Ich zog die Kommode etwas von der Wand weg und entdeckte dahinter eine Steckdose. Ausgezeichnet. Ich stellte die Lampe auf die Kommode und steckte sie ein. Ich wusste, dass hier jemand wohnen konnte, bevor die Oswalds einzogen, aber ich ging davon aus, dass jemand bei seinem Auszug die Schiefe Lampe von Pisa mitnehmen würde. Und falls doch, hatte ich ja noch eine Reservelampe in der Garage.

Ich bohrte mit meinem kleinsten Bohrer durch die Außenwand, schob die Kommode wieder an ihren Platz und probierte die Lampe aus. Sie funktionierte einwandfrei. Ich packte zusammen, verließ das Haus und achtete darauf, hinter mir abzuschließen. Dann fuhr ich zurück nach Jodie.

Sadie rief an und fragte, ob ich Lust hätte, zum Abendessen rüberzukommen. Nur Aufschnitt, sagte sie, aber als Dessert gebe es Napfkuchen, falls ich welchen wolle. Ich fuhr hinüber. Das Dessert war wundervoll wie immer, aber unsere Beziehung war nicht mehr so wie sonst. Weil Sadie recht hatte. Im Bett lag ein Besenstiel zwischen uns. Wie das Jimla, den Rosette auf dem Rücksitz meines Fords gesehen hatte, war er unsichtbar … aber er war da. Unsichtbar oder nicht, er warf einen Schatten.

3

Manchmal standen ein Mann und eine Frau an einem Scheideweg und verweilten dort, weil sie zögerten, den einen oder anderen Weg zu nehmen, weil sie wussten, dass die falsche Entscheidung das Ende bedeutete … und weil es so vieles gab, was sich zu retten lohnte. So erging es Sadie und mir in diesem unerbittlich grauen Winter des Jahres 1962. Wir gingen weiter ein- bis zweimal pro Woche zum Abendessen aus und quartierten uns an manchen Samstagabenden in den Candlewood Bungalows ein. Sadie hatte Spaß am Sex, und das war eines der Dinge, die uns zusammenhielten.

Wir führten noch dreimal die Aufsicht bei Tanzveranstaltungen in der Schulturnhalle. Der DJ war immer Donald Bellingham, und früher oder später wurden wir aufgefordert, unseren Lindyhop zu wiederholen. Dabei pfiffen und klatschten die Kids wie verrückt. Und das nicht etwa aus Höflichkeit. Sie waren aufrichtig begeistert, und manche fingen sogar an, die Schritte und Bewegungen selbst einzustudieren.

Freute uns das? Klar, denn Nachahmung war nun einmal die aufrichtigste Form der Schmeichelei. Aber wir waren nie mehr so gut wie beim ersten Mal, nie mehr so intuitiv elegant. Sadies Geschmeidigkeit war dahin. Einmal verfehlte sie im Wegwirbeln meine Hand und wäre hingeknallt, wenn in der Nähe nicht ein paar muskulöse Footballspieler mit blitzschnellen Reflexen gestanden hätten. Sadie lachte darüber, aber ich erkannte die Verlegenheit in ihrem Blick. Und den Vorwurf. Als wäre es meine Schuld gewesen. Was es in gewisser Weise auch war.

Irgendwann würde es eine Explosion geben. Sie hätte sich früher ereignet, hätte es nicht das Jodie Jamboree gegeben. Das verschaffte uns eine Galgenfrist, gab uns Gelegenheit, über alles nachzudenken, bevor wir zu einer Entscheidung gezwungen wurden, die keiner von uns treffen wollte.

4

Im Februar kam Ellen Dockerty mit zwei Bitten zu mir: Erstens solle ich meinen Entschluss überdenken und einen Vertrag fürs Schuljahr 1962/63 unterschreiben; zweitens solle ich bitte wieder bei der Theateraufführung der Oberstufe Regie führen, nachdem die letzte solch ein Riesenerfolg gewesen sei. Ich lehnte in beiden Fällen ab, allerdings nicht ohne gemischte Gefühle.

»Wenn es um Ihr Buch geht, können Sie den ganzen Sommer daran arbeiten«, lockte sie.

»Das wäre nicht lange genug«, sagte ich, obwohl mir The Murder Place zu diesem Zeitpunkt scheißegal war.

»Sadie Dunhill sagt, dass Sie nicht glaubt, dass Ihnen noch etwas an diesem Roman liegt.«

Das war eine Erkenntnis, die Sadie mir nicht mitgeteilt hatte. Sie traf mich hart, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Ellen, Sadie weiß nicht alles.«

»Dann die Theateraufführung. Übernehmen Sie wenigstens die Regie. Solange darin keine Nacktszenen vorkommen, befürworte ich jedes Stück, das Sie aussuchen. Bei der jetzigen Zusammensetzung des Schulausschusses und angesichts der Tatsache, dass ich selbst nur einen Zweijahresvertrag als Direktorin habe, ist das ein mächtig großes Zugeständnis. Sie können die Aufführung Vince Knowles widmen, wenn Sie möchten.«

»Dem Gedenken an Vince ist bereits eine Footballsaison gewidmet worden, Ellie. Das reicht, glaube ich.«

Sie zog sich geschlagen zurück.

Die zweite Bitte kam von Mike Coslaw, der im Juni seinen Abschluss machen würde und mir erzählte, dass er auf dem College Schauspielerei als Hauptfach belegen wolle. »Aber ich möchte wirklich noch mal hier spielen. Unter Ihrer Regie, Mr. Amberson. Weil Sie mir den Weg gewiesen haben.«

Im Gegensatz zu Ellen Dockerty akzeptierte er meine Ausrede mit dem Fake-Roman, ohne sie zu hinterfragen, was bewirkte, dass ich mich schlecht fühlte. Sogar schrecklich. Für einen Menschen, der ungern log – der erlebt hatte, wie seine Ehe an all den Lügen zerbrochen war, die er von seiner Ich-kann-jederzeit-damit-aufhören-Frau gehört hatte –, erzählte ich jetzt einen ganzen Stall voll Lügen, wie wir in meiner Zeit in Jodie sagten.

Ich begleitete Mike zum Schülerparkplatz hinaus, auf dem sein ganzer Stolz geparkt stand (ein alter viertüriger Buick mit Seitenschwellern), und fragte ihn, wie sein Arm sich ohne den Gipsverband anfühle. Er sagte, der Arm sei wieder ganz in Ordnung, und er werde das Footballtraining im kommenden Sommer bestimmt mitmachen können. »Allerdings würd’s mir nicht das Herz brechen, wenn ich nicht ins Team käme«, sagte er. »Dann könnte ich mich neben dem Studium vielleicht einer Theatergruppe anschließen. Ich möchte alles lernen: Bühnenbild, Lichtregie, sogar Kostümentwurf.« Er lachte. »Die Leute fangen schon an, mich Homo zu nennen.«

»Konzentrier dich auf Football, gute Noten und darauf, dass du im ersten Semester nicht zu viel Heimweh hast«, sagte ich. »Bitte. Lass dich nicht gehen.«

Er antwortete mit zombiehafter Frankensteinstimme: »Ja … Meister.«

»Wie geht’s Bobbi Jill?«

»Besser«, sagte er. »Da ist sie.«

Bobbi Jill wartete neben Mikes Buick. Sie winkte ihm zu, dann sah sie mich und wandte sich sofort ab, als gäbe es auf dem leeren Footballfeld und in dem Hügelland dahinter etwas Interessantes zu sehen. Es war eine Reaktion, an die sich alle in der Schule gewöhnt hatten. Die Unfallnarbe zog sich als breiter, roter Streifen über die linke Gesichtshälfte. Sie versuchte, sie mit Make-up zu überdecken, aber das machte sie nur noch auffälliger.

Mike fuhr fort. »Ich sage ihr, sie soll das mit dem Puder lassen, weil sie damit wie eine Reklame für Soames’ Bestattungen aussieht, aber sie hört nicht auf mich. Ich sage ihr auch, dass ich nicht aus Mitleid mit ihr gehe – oder damit sie nicht wieder Pillen schluckt. Sie sagt, sie glaubt mir, und vielleicht tut sie’s auch. An sonnigen Tagen.«

Ich sah zu, wie er zu Bobbi Jill lief, sie um die Taille fasste und herumschwenkte. Ich seufzte und kam mir ein wenig dumm und ziemlich stur vor. Irgendwie wollte ich das verdammte Stück ja doch aufführen. Selbst wenn es sonst keinen Zweck erfüllte, würde es mir die Zeit vertreiben, während ich darauf wartete, dass meine eigentliche Vorstellung begann. Aber ich wollte nicht noch stärker in das Leben in Jodie eingebunden werden, als ich es bereits war. Wie jede mögliche langfristige Zukunft mit Sadie musste meine Beziehung zu der Kleinstadt vorläufig auf Eis liegen.

Wenn alles wie gewünscht lief, konnte ich am Ende das Mädchen, die goldene Uhr und alles andere bekommen. Aber darauf konnte ich auch bei noch so sorgfältiger Planung nicht zählen. Selbst wenn ich Erfolg hatte, würde ich vielleicht flüchten müssen, und falls ich geschnappt wurde, musste ich damit rechnen, dass meine gute Tat zum Besten der Welt mit lebenslänglicher Haft belohnt wurde. Oder mit dem elektrischen Stuhl in Huntsville.

5

Es war Deke Simmons, der mich schließlich dazu überlistete, ja zu sagen. Er schaffte es, indem er mir erklärte, es sei verrückt von mir, auch nur darüber nachzudenken. Ich hätte diesen alten Trick – Oh, Reinecke Fuchs, bitte wirf mich nicht in dieses Dornengestrüpp – erkennen müssen, aber er stellte es sehr gerissen an. Sehr subtil. Ein richtiger Meister Lampe, könnte man sagen.

Wir saßen an einem Samstagnachmittag beim Kaffee in meinem Wohnzimmer, während über den Fernsehbildschirm irgendein alter Film flimmerte – Cowboys in Fort Hollywood, die schätzungsweise zweitausend angreifende Indianer abwehrten. Draußen regnete es schon wieder. Im Winter 1962 muss es wenigstens ein paar Sonnentage gegeben haben, aber ich kann mich an keine erinnern. Ich weiß nur noch, dass kalte Nieselregenfinger es immer irgendwie schafften, meinen ausrasierten Nacken zu erreichen, obwohl ich den Kragen meiner Lammfelljacke, die ich mir als Ersatz für die Rancherjacke gekauft hatte, immer hochschlug.

»Du solltest dir keine Gedanken wegen eines verdammten Theaterstücks machen, nur weil Ellen Dockerty sich deswegen in die Hose macht«, sagte Deke. »Schreib deinen Roman fertig, sorg dafür, dass er ein Bestseller wird, und lass Jodie hinter dir zurück. Lass es in New York richtig krachen. Nimm im White Horse Tavern einen Drink mit Norman Mailer und Irwin Shaw.«

»Mhm«, sagte ich. Im Film blies John Wayne ein Signalhorn. »Ich glaube nicht, dass Norman Mailer viel von mir zu befürchten hat. Irwin Shaw auch nicht.«

»Außerdem hast du mit Von Mäusen und Menschen einen Riesenerfolg gehabt«, sagte er. »Jeder Versuch, das fortzusetzen, wäre im Vergleich dazu bestimmt enttäu… O mein Gott, sieh dir das an! John Wayne hat gerade einen Pfeil durch seinen Stetson gekriegt! Ein Glück, dass er die zwanzig Gallonen große Luxusausführung trägt!«

Der Gedanke, meine zweite Regiearbeit könnte im Vergleich zur ersten abfallen, ärgerte mich mehr als unbedingt nötig. Ich musste daran denken, dass Sadie und ich nie wieder eine solche Tanzdarbietung wie beim ersten Mal hinbekommen hatten, trotz aller Mühe.

Deke schien ganz auf den Fernseher konzentriert zu sein, als er sagte: »Außerdem hat Ratty Sylvester sein Interesse an der Oberstufenaufführung angemeldet. Er redet von Arsen und Spitzenhäubchen. Er sagt, dass seine Frau und er das Stück vor zwei Jahren in Dallas gesehen und sich fast totgelacht haben.«

Großer Gott, diese olle Kamelle. Und Fred Sylvester von den Naturwissenschaften als Regisseur. Ich würde Ratty wohl noch nicht einmal zutrauen, eine Brandschutzübung in der Grundschule zu leiten. Wenn ein begabter, aber noch sehr unfertiger Schauspieler wie Mike Coslaw an einen Amateur wie Ratty geriet, konnte das seinen Reifeprozess um fünf Jahre zurückwerfen. Ratty und Arsen und Spitzenhäubchen. Heilige Scheiße.

»Die Zeit würde ohnehin nicht reichen, um was richtig Gutes auf die Beine zu stellen«, fuhr Deke fort. »Deshalb bin ich dafür, Ratty reinrasseln zu lassen. Ich konnte diesen rumwieselnden Hundesohn noch nie leiden.«

Soweit ich es beurteilen konnte, mochte ihn niemand wirklich, außer vielleicht Mrs. Ratty, die an seiner Seite in meterweise pastellfarbenen Batist gehüllt zu jeder Schul- und Kollegiumsveranstaltung wieselte. Aber er würde nicht derjenige sein, der reinrasselte. Es würde die Schüler treffen.

»Die Schüler könnten eine Art Varieté veranstalten«, sagte ich. »Dafür wäre noch Zeit.«

»Ach du lieber Himmel, George! Wallace Beery hat gerade einen Pfeil in die Schulter gekriegt! Der ist wohl erledigt!«

»Deke?«

»Nein, John Wayne schleppt ihn aus der Schusslinie. Dieser alte Ballerfilm ist nicht die Spur logisch, aber ich liebe ihn – du nicht auch?«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

Der Film wurde durch Werbung unterbrochen. Keenean Wynn kletterte von einer Planierraupe, nahm den Schutzhelm ab und erklärte aller Welt, er würde für eine Camel meilenweit gehen. Deke wandte sich mir zu. »Nein, das muss ich verpasst haben.«

Gerissener alter Fuchs. Als ob.

»Ich habe gesagt, dass die Zeit für eine Varietévorführung reichen würde. Eine Revue. Songs, Tanz, Witze und ein Haufen Sketche.«

»Alles bis auf Mädchen, die einen Bauchtanz tanzen? Oder hast du auch daran gedacht?«

»Red keinen Unsinn.«

»Das wäre dann Vaudeville. Das hat mir schon immer gefallen. ›Gute Nacht, Mrs. Calabash, wo immer Sie sind‹, und so ähnlich.«

Er zog seine Pfeife aus einer Tasche seiner Strickjacke, stopfte sie mit Prince Albert und zündete sie an.

»Also früher haben wir so was Ähnliches auf der Tenne veranstaltet. Die Show hieß Jodie Jamboree. Allerdings seit Ende der Vierzigerjahre nicht mehr. Den Leuten ist die Show ein bisschen peinlich geworden, obwohl niemand das offen gesagt hat. Und der Name dafür war auch nicht Vaudeville.«

»Wovon redest du?«

»Es war eine Minstrel-Show, George. Die Cowboys und Landarbeiter haben alle mitgemacht. Sie waren als Schwarze geschminkt, haben gesungen und getanzt und in nachgeahmtem Negerdialekt Witze erzählt. Mehr oder weniger nach dem Vorbild von Amos ’n Andy.«

Ich musste lachen. »Hat jemand dazu Banjo gespielt?«

»Tatsächlich hat das einige Male unsere jetzige Direktorin getan.«

»Ellen spielte Banjo in ’ner Minstrel-Show?«

»Vorsicht, du fängst an, in jambischen Pentametern zu sprechen. Das kann zu Größenwahn führen, Partner.«

Ich beugte mich vor. »Erzähl mir einen der Witze.«

Deke räusperte sich, dann imitierte er zwei tiefere Stimmen.

»Sagt mal, Bruder Tambo, für was habt Ihr das Glas Vaseline gekauft? – Nun, ich glaub, für neunundvierzich Cent!«

Er sah mich erwartungsvoll an, und ich merkte, dass das die Pointe gewesen war.

»Darüber haben die Leute gelacht?« Ich fürchtete mich beinahe vor der Antwort.

»Sie haben sich totgelacht und nach mehr verlangt. Diese Witze waren noch wochenlang auf der Straße zu hören.« Er betrachtete mich ernst, aber seine Augen funkelten wie Wunderkerzen. »Wir sind Kleinstädter, George. Was Humor angeht, sind unsere Bedürfnisse recht bescheiden. Unsere Vorstellung von rabelaisschem Witz ist ein Blinder, der auf einer Bananenschale ausrutscht.«

Ich saß da und überlegte. Der Western lief weiter, aber Deke schien sich nicht mehr dafür zu interessieren. Stattdessen beobachtete er mich.

»Dieses Zeug könnte auch heute noch gut ankommen«, sagte ich.

»George, das tut dieses Zeug immer.«

»Es müssten auch keine komischen Schwarzen mehr sein.«

»So könnte man es ohnehin nicht mehr machen«, sagte er. »Vielleicht in Louisiana oder Alabama, aber nicht entlang der Route nach Austin, das die Leute vom Slimes Herald für die Hauptstadt der Kommunisten halten. Und du würdest das auch nicht wollen, stimmt’s?«

»Ja. Du kannst mich einen Gutmenschen nennen, aber ich finde schon die Vorstellung abstoßend. Und wozu sich die Mühe machen? Abgedroschene Witze … Jungs in großen alten Anzügen mit gepolsterten Schultern statt in Farmerlatzhosen … Mädchen in knielangen Kleidern aus den Goldenen Zwanzigern mit vielen Fransen … Ich würde zu gern sehen, was Mike Coslaw aus einem komischen Sketch machen würde …«

»Oh, er wäre sensationell«, sagte Deke, als würde sich das von selbst verstehen. »Prima Idee, George. Bloß schade, dass du keine Zeit hast, es auszuprobieren.«

Ich wollte etwas sagen, aber dann hatte ich wieder eine blitzartige Eingebung. Sie war genauso hell wie die, als Ivy Templeton erzählt hatte, ihre Nachbarn gegenüber könnten sie in ihrem Wohnzimmer beobachten.

»George? Dein Mund steht offen. Sieht nicht gerade intelligent aus.«

»Ich würde mir die Zeit nehmen«, sagte ich. »Wenn ich Ellen Dockerty dazu überreden könnte, einer Bedingung zuzustimmen.«

Er stand auf und stellte den Fernseher ab, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, obwohl der Kampf zwischen Duke Wayne und den Pawnee-Indianern den kritischen Punkt erreicht hatte, während Fort Hollywood im Hintergrund in hellen Flammen stand. »Welcher?«

Ich nannte sie, dann sagte ich: »Ich muss mit Sadie reden. Auf der Stelle.«

6

Anfangs war sie ernst. Dann lächelte sie. Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. Und als ich ihr erzählte, auf welche Idee ich am Ende meines Gesprächs mit Deke gekommen sei, schlang sie die Arme um mich. Aber das genügte ihr nicht, deshalb schob sie sich höher, bis sie mich auch mit den Beinen umschlingen konnte. An diesem Tag gab es keinen Besenstiel zwischen uns.

»Das ist brillant! Du bist ein Genie! Schreibst du das Skript selbst?«

»Unbedingt. Das dauert auch nicht lange.« Mir gingen bereits abgedroschene alte Witze durch den Kopf: Coach Borman hat den Orangensaft zwanzig Minuten lang angestarrt, weil auf der Dose KONZENTRIERT stand. Unser Hund hatte einen eingewachsenen Schwanz, deshalb mussten wir ihn röntgen, wenn wir rauskriegen wollten, ob er freudig erregt war. Neulich bin ich mit einem Flugzeug geflogen, das war so alt, dass auf einer Toilettentür Orville und auf der anderen Wilbur stand. »Aber bei dem restlichen Zeug brauche ich Hilfe. Das heißt, ich werde eine Dramaturgin brauchen. Ich hoffe, dass du diesen Job übernimmst.«

»Klar.« Sie rutschte so an mir herab, dass unsere Körper weiter aneinandergepresst blieben. Dabei war, als ihr Rock sich hochschob, ein Stück nacktes Bein zu sehen, leider nur kurz. Sie begann aufgeregt paffend in ihrem Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Sie stolperte über den Sessel (vermutlich zum sechsten oder achten Mal, seit wir ein Paar waren) und rappelte sich wieder auf, als wäre nichts gewesen, obwohl sie abends einen hübschen blauen Fleck am Schienbein haben würde.

»Wenn du an Kleider aus den Goldenen Zwanzigern denkst, kann ich Jo Peet bitten, die Kostüme nähen zu lassen.« Jo war die neue Leiterin des Fachbereichs Hauswirtschaftslehre; sie hatte diese Position übernommen, als Ellen Dockerty als Direktorin bestätigt worden war.

»Das wäre großartig.«

»Die meisten Mädchen in ihren Unterrichtsklassen nähen und kochen für ihr Leben gern. George, es wird immer Abendessen geben müssen, nicht wahr? Wenn die Proben besonders lange dauern? Und das werden sie, weil wir schrecklich spät dran sind.«

»Ja, aber nur Sandwichs und …«

»Wir können mehr bieten. Viel mehr. Und Musik! Wir werden Musik brauchen! Auf Platten, weil die Band in so kurzer Zeit unmöglich genügend Stücke einüben kann.« Und dann sagten wir wie aus einem Mund: »Donald Bellingham!«

»Und wer macht unsere Werbung?«, fragte ich. Wir redeten allmählich wie Mickey Rooney und Judy Garland, die eine Show in Tante Millys Scheune planten.

»Carl Jacoby, der Lehrer für bildhaftes Gestalten, und seine Schüler. Plakate nicht nur hier, sondern in der ganzen Stadt. Weil alle kommen sollen, nicht nur die Familien der Mitwirkenden. Nur Stehplätze.«

»Bingo«, sagte ich und küsste ihre Nasenspitze. Ich liebte ihre Begeisterung. Allmählich wurde ich selbst ganz aufgeregt.

»Was sagen wir über den Wohltätigkeitsaspekt?«, fragte Sadie.

»Nichts, bevor wir wissen, dass wir genug Gewinn machen können. Lieber keine falschen Hoffnungen wecken. Was hältst du davon, wenn wir morgen nach Dallas fahren, um ein paar Fragen zu stellen?«

»Morgen ist Sonntag, Schatz. Am Montag nach dem Unterricht. Vielleicht schon früher, wenn ich nach der sechsten Stunde gehen kann.«

»Ich werde Deke überreden, aus dem Ruhestand zu kommen und mich im Förderkurs Englisch zu vertreten«, sagte ich. »Das ist er mir schuldig.«

7

Als Sadie und ich am Montag nach Dallas fuhren, hatten wir es eilig, um vor Geschäftsschluss dort zu sein. Das Büro, das wir suchten, befand sich nicht weit vom Parkland Memorial entfernt am Harry Hines Boulevard. Dort stellten wir Unmengen von Fragen, und Sadie demonstrierte kurz, was wir uns vorstellten. Die Antworten waren sehr befriedigend, und zwei Tage später begann mein vorletzter Ausflug ins Showbiz als Regisseur von Jodie Jamboree, einer gänzlich neuen, urkomischen Vaudevilleshow mit Tanz & Gesang.

Zwei Dinge über das Land des Einst: Es gab weniger Papierkram und verdammt viel mehr Vertrauen.

8

Tatsächlich kam die ganze Stadt, und Deke Simmons behielt in einem Punkt recht: Diese lahmen Witze schienen nie zu veralten. Zumindest nicht fünfzehnhundert Meilen vom Broadway entfernt.

Wegen der Hauptdarsteller Jim LaDue (der nicht schlecht war und sogar ein bisschen singen konnte) und Mike Coslaw (der wirklich urkomisch war) erinnerte unsere Show mehr an Dean Martin und Jerry Lewis als an Mr. Bones und Mr. Tambo. Die Sketche waren Klamaukszenen, und weil sie von Sportlern aufgeführt wurden, waren sie erfolgreicher, als ihnen vielleicht zustand. Im Publikum wurde auf Schenkel geklatscht, bei manchen Leuten sprangen auch Knöpfe ab. Wahrscheinlich platzten auch ein paar Strumpfhalter.

Ellen Dockerty holte ihr Banjo aus dem Ruhestand; für eine Lady mit blau getöntem Haar legte sie ein flottes Solo hin. Und es gab schließlich doch noch eine Travestieshow. Mike und Jim überredeten das restliche Footballteam dazu, nur mit Petticoats und Schlüpfern bekleidet einen schmissigen Cancan zu tanzen. Jo Peet hatte für sie Perücken aufgetrieben, mit denen sie umwerfend komisch aussahen und großen Erfolg hatten. Perücken hin oder her, die Damen aus Jodie schienen besonders von diesen jungen Athleten mit bloßem Oberkörper begeistert zu sein.

Zum Finale bildete das gesamte Ensemble Paare, die auf der Bühne in der Turnhalle frenetisch Swing tanzten, während die Lautsprecher »In the Mood« plärrten. Röcke flogen; Füße stampften; Footballspieler (jetzt mit Dreißigerjahreanzügen und -hüten) wirbelten geschmeidige Mädchen über die Bühne. Die meisten Mädchen waren Cheerleader, die sich ohnehin aufs Tanzen verstanden.

Die Musik verstummte; das Ensemble trat lachend und außer Atem vor, um sich zu verbeugen, und während das Publikum zum dritten (oder vierten) Mal, seit der Vorhang sich gehoben hatte, stehend applaudierte, legte Donald noch einmal »In the Mood« auf. Diesmal bauten die Jungen und Mädchen sich auf den gegenüberliegenden Seiten der Bühne auf, wo in den Kulissen Tische mit Dutzenden von Sahnetorten bereitstanden, und fingen an, sich damit zu bewerfen. Das Publikum jubelte begeistert.

Auf diesen Teil der Show hatte das Ensemble sich schon lange gefreut, aber weil bei den Proben keine richtigen Torten geflogen waren, wusste ich nicht recht, wie das ankommen würde. Natürlich kam dieses Finale glänzend an, wie in Gesichter fliegende Sahnetorten es immer taten. Die Kids glaubten, das wäre der Höhepunkt, aber ich hatte noch einen weiteren Trumpf im Ärmel.

Als sie mit Schlagsahne im Gesicht und verkleckerten Kostümen nach vorn kamen, begann »In the Mood« zum dritten Mal. Die meisten auf der Bühne sahen sich verwirrt um und bekamen so nicht mit, dass die Lehrer in der für sie reservierten Reihe mit Sahnetorten aufstanden, die Sadie und ich unter ihren Sitzen versteckt hatten. Die Torten flogen, und die Mitwirkenden bekamen noch mal Torten ins Gesicht. Coach Bormann hatte sogar zwei Sahnetorten, die er mit tödlicher Präzision warf: Er traf seinen Quarterback und seinen Starverteidiger.

Mike Coslaw, der sich Sahne aus dem Gesicht wischte, begann zu skandieren: »Mr. A.! Miz D.! Mr. A.! Miz D.!«

Das restliche Ensemble nahm den Ruf auf, und das Publikum stimmte rhythmisch klatschend ein. Als wir Hand in Hand auf die Bühne kamen, legte Bellingham diese gottverdammte Platte zum vierten Mal auf. Die Jungs und Mädels umgaben uns auf drei Seiten und forderten lautstark: »Tanzen! Tanzen! Tanzen!«

Uns blieb nichts anderes übrig, und obwohl ich überzeugt war, meine Freundin würde auf der vielen Sahne ausrutschen und sich den Hals brechen, waren wir zum ersten Mal seit dem Sadie Hawkins Dance wieder perfekt. Zum Schluss drückte ich ihre Hände, sah ihr kurzes Nicken – Also los, tu’s jetzt, ich vertraue dir – und ließ sie zwischen meine gespreizten Beine gleiten. Ihre Schuhe flogen in die erste Reihe, ihr Rock glitt für einen wilden Augenblick bis zu den Oberschenkeln hinauf … und sie kam wie durch ein Wunder wieder heil auf die Beine, streckte ihre Hände dem Publikum entgegen – das johlte und trampelte – und legte sie dann zu einem damenhaften Knicks an ihren mit Sahne verschmierten Rock.

Wie sich zeigte, hatten auch die Kids noch einen Trumpf im Ärmel, zu dem sie fast sicher von Mike Coslaw angestiftet worden waren, obwohl er das nie zugeben würde. Sie hatten sich einige Torten aufgehoben, und als wir dastanden und den Beifall entgegennahmen, wurden wir von mindestens einem Dutzend getroffen, die aus allen Richtungen kamen. Und die Menge tobte, wie man so schön sagte.

Sadie zog mein Ohr an ihren Mund, holte mit dem kleinen Finger etwas Sahne heraus und flüsterte mir zu: »Wie kannst du das alles aufgeben wollen?«

9

Und auch damit war noch nicht Schluss.

Deke und Ellen kamen auf die Bühne und umgingen dort auf fast magische Weise die Streifen, Kleckse und Klumpen aus Schlagsahne. Niemand hätte im Traum daran gedacht, einen von ihnen mit einer Sahnetorte zu bewerfen.

Deke hob um Ruhe bittend die Hände, und als Ellen Dockerty an die Rampe trat, sprach sie mit klarer Unterrichtsstimme, die das Murmeln und die letzten Lacher im Publikum mühelos übertönte.

»Ladies and Gentlemen, der heutigen Aufführung von Jodie Jamboree werden drei weitere folgen.«

Das wurde mit neuerlichem Beifall begrüßt.

»Das sind dann Benefiz-Vorstellungen«, fuhr Ellie fort, als der Beifall abgeklungen war. »Und es ist mir ein Vergnügen – sogar ein außerordentliches Vergnügen –, Ihnen mitzuteilen, an wen der Reinerlös gehen wird. Im vergangenen Herbst haben wir einen allseits beliebten Schüler verloren und alle um Vincent Knowles getrauert, der viel, viel, viel zu früh von uns gegangen ist.«

Im Publikum herrschte jetzt Schweigen.

»Ein Mädchen, das sie alle kennen, eine unserer besten Schülerinnen, ist bei diesem Unfall schwer entstellt worden. Mr. Amberson und Miss Dunhill haben dafür gesorgt, dass Roberta Jillian Allnut sich im Juni in Dallas einer kosmetischen Operation unterziehen kann. Der Familie Allnut entstehen dadurch keine Kosten; von Mr. Sylvester, der für die Finanzen des Jodie Jamborees zuständig ist, habe ich erfahren, dass Bobbi Jills Klassenkameraden – und diese Stadt – schon dafür gesorgt haben, dass die Operation komplett bezahlt werden kann.«

Nun herrschte einen Augenblick lang Stille, während die Leute das verarbeiteten, dann sprangen sie auf. Der Beifall glich einem Sommergewitter. Mein Blick fiel auf Bobbi Jill, die auf der Tribüne saß. Sie weinte mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Ihre Eltern hatten ihr tröstend die Arme um die Schultern gelegt.

Dies war ein Abend in einer Kleinstadt, in einem dieser Nester fern der Hauptstraßen, um die sich außer den Leuten, die dort lebten, kaum jemand etwas machte. Und das war nur recht, weil sie sich etwas daraus machten. Ich sah Bobbi Jill an, die in ihre Hände schluchzte. Ich sah Sadie an. Sie hatte Schlagsahne im Haar. Sie lächelte. Das tat auch ich. Sie sagte mit stummen Lippenbewegungen: Ich liebe dich, George. Ich antwortete ebenso lautlos: Ich liebe dich auch. An diesem Abend liebte ich sie alle – und mich selbst, weil ich bei ihnen war. Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt oder so glücklich darüber, dass ich lebte. In der Tat: Wie konnte ich das alles aufgeben wollen?

Der große Knall kam zwei Wochen später.

10

Es war ein Samstag, Einkaufstag. Sadie und ich hatten uns angewöhnt, unsere Lebensmittel gemeinsam bei Weingarten’s am Highway 77 einzukaufen. Während aus den Deckenlautsprechern Mantovani drang, schoben wir unsere Wagen gesellig nebeneinander her, begutachteten das Obst und hielten Ausschau nach Sonderangeboten an Fleisch. Solange man Rind, Schwein oder Huhn verlangte, konnte man fast jedes Stück bekommen. Mir war das nur recht; auch nach fast drei Jahren im Land des Einst staunte ich immer noch über die Tiefstpreise.

Außerdem beschäftigte mich an jenem Tag etwas anderes: die Familie Hazzard, die in der Mercedes Street 2706 wohnte, einer Bruchbude mit hintereinanderliegenden Räumen, leicht schräg links gegenüber dem baufälligen Zweifamilienhaus, in das Lee Oswald bald einziehen würde. Obwohl das Jodie Jamboree mich ziemlich auf Trab gehalten hatte, war ich in diesem Frühjahr noch dreimal in der Mercedes Street gewesen. Ich hatte meinen Ford auf einem Parkplatz in der Innenstadt von Fort Worth abgestellt und war mit dem Bus zur Winscott Road gefahren, der weniger als eine halbe Meile entfernt hielt. Auf diesen Trips trug ich Jeans, abgewetzte Stiefel und eine ausgebleichte Jeansjacke, die ich auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Meine Story, falls jemand danach fragte: Ich suchte eine billige Unterkunft, weil ich gerade eine Stelle als Nachtwächter bei der Firma Texas Sheet Metal in West Fort Worth bekommen hätte. Das machte mich zu einer vertrauenswürdigen Person (solange niemand meine Angaben nachprüfte) und lieferte einen Grund dafür, weshalb das Haus tagsüber mit geschlossenen Vorhängen dastand.

Bei meinen Spaziergängen die Mercedes Street entlang bis zum Lagerhaus von Montgomery Ward (immer mit dem aufgeschlagenen Immobilienteil einer Zeitung unter dem Arm) beobachtete ich Mr. Hazzard, einen hünenhaften Mittdreißiger, seine beiden Kinder, mit denen Rosette nicht hatte spielen wollen, und eine alte Frau mit starrem Gesicht, die beim Gehen ein Bein nachzog. Bei einer Gelegenheit musterte Hazzards Mama mich vom Briefkasten aus misstrauisch, als ich auf dem Seitenstreifen, der als Gehweg diente, vorbeischlenderte, aber sie sprach mich nicht an.

Bei meinem dritten Erkundungsvorstoß sah ich an Hazzards Pick-up einen verrosteten alten Anhänger. Die Kinder und er beluden ihn mit Kartons, während die alte Dame in ihrer Nähe auf der eben sprießenden Fingerhirse stand, auf ihren Stock gestützt und mit einem Schlaganfallgrinsen, das keine Gefühlsregung erkennen ließ. Ich tippte auf völlige Gleichgültigkeit. Dagegen empfand ich erleichterte Zufriedenheit. Die Hazzards zogen aus. Sobald sie fort waren, würde ein Lohnabhängiger namens George Amberson die Nummer 2706 mieten. Jetzt kam es darauf an, dass ich auch wirklich der Erste in der Schlange war.

Während wir unsere samstäglichen Einkäufe machten, dachte ich darüber nach, ob sich das auf narrensichere Weise machen ließ. Auf einer Ebene reagierte ich auf Sadie, machte die richtigen Bemerkungen, neckte sie, als sie endlos lange bei den Molkereiprodukten stand, schob meinen mit Lebensmitteln beladenen Wagen über den Parkplatz und stellte die Tüten in den Kofferraum meines Fords. Aber das alles erledigte der eingeschaltete Autopilot, denn der größte Teil meines Verstands war mit der Logistik in Fort Worth beschäftigt – und das sollte mein Verderben sein. Ich achtete nicht darauf, was aus meinem Mund kam, und wenn man ein Doppelleben führte, war das brandgefährlich.

Als ich zu Sadies Haus zurückfuhr, wobei sie (allzu still) neben mir saß, sang ich, weil das Autoradio kaputt war. Auch die Ventile hatten zu klappern angefangen. Der Sunliner sah noch flott aus, und ich hing aus allen möglichen Gründen an ihm, aber er war vor sieben Jahren vom Band gelaufen und hatte über neunzigtausend Meilen auf dem Tacho.

Ich trug Sadies Einkäufe alle auf einmal in die Küche, keuchte dabei heldenhaft und tat sogar so, als würde ich stolpern. Mir fiel nicht auf, dass sie nicht lächelte, und ich ahnte nicht im Geringsten, dass unser kurzes Aufblühen schon wieder vorüber war. Ich dachte immer noch an die Mercedes Street und fragte mich immer noch, was für eine Art Show ich dort würde abziehen müssen – oder vielmehr: wie viel Show. Es würde nicht einfach sein. Ich wollte ein vertrautes Gesicht sein, weil Vertrautheit nicht nur Verachtung, sondern auch Desinteresse erzeugte, aber ich wollte unter keinen Umständen auffallen. Zu bedenken war auch die Sache mit den Oswalds. Sie sprach kein Englisch, und er war von Natur aus ein kalter Fisch, was nur gut war, aber die Nummer 2706 stand trotzdem schrecklich nahe. Die Vergangenheit mochte unerbittlich sein, aber die Zukunft war zerbrechlich, ein Kartenhaus, und ich musste sorgfältig darauf achten, sie nicht vor dem entscheidenden Zeitpunkt zu verändern. Also würde ich …

In diesem Augenblick sprach Sadie mich an, und wenig später brach das Leben, wie ich es in Jodie kennen (und lieben) gelernt hatte, um mich herum zusammen.

11

»George? Kannst du ins Wohnzimmer kommen? Ich möchte mit dir reden.«

»Sollen nicht erst das Hackfleisch und die Koteletts in den Kühlschrank? Und dann ist da noch die Eis…«

»Lass sie schmelzen!«, schrie sie, und das schreckte mich sofort aus meinen Gedanken auf.

Ich drehte mich nach ihr um, aber Sadie war bereits im Wohnzimmer. Sie nahm ihre Zigaretten vom Beistelltisch neben der Couch und zündete sich eine an. Auf mein sanftes Drängen hin hatte sie versucht, weniger zu rauchen (wenigstens in meiner Anwesenheit), und die angezündete Zigarette erschien mir irgendwie beunruhigender als ihre erhobene Stimme.

Ich trat ins Wohnzimmer. »Was hast du, Schatz? Was ist nicht in Ordnung?«

»Alles. Was war das für ein Lied?«

Ihr Gesicht war blass und starr. Die Zigarette hielt sie wie einen Schild vor ihre Lippen. Ich begann zu ahnen, dass ich mich verraten hatte, aber ich wusste nicht, wo oder wann – und das war beängstigend. »Ich weiß nicht, was du …«

»Das Lied, das du auf der Nachhausefahrt im Auto gesungen hast. Das du lauthals gegrölt hast.«

Ich versuchte mich zu erinnern, schaffte es aber nicht. Mir fiel nur ein, dass ich mir überlegt hatte, mich in der Mercedes Street immer wie ein Arbeiter zu kleiden, der ein bisschen Pech gehabt hat, damit ich nicht auffiel. Klar hatte ich gesungen, aber das tat ich oft, wenn ich über andere Dinge nachdachte – tat das nicht jeder?

»Irgendein Popsong, den ich auf KLIF gehört habe, glaub ich. Der sich in meinem Kopf festgesetzt hat. Du weißt, wie das mit Ohrwürmern ist. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst.«

»Irgendwas, was du auf K-Life gehört hast, mit einem Text wie ›I met a gin-soaked barroom queen in Memphis, she tried to take me upstairs for a ride‹?«

Es war nicht nur mein Herz, das mir in die Hose rutschte; alles unterhalb des Kinns schien eine Handbreit nach unten zu sacken. »Honky Tonk Women«. Das hatte ich gesungen. Einen Song, der erst in sieben oder acht Jahren von einer Gruppe aufgenommen werden würde, die erst nach weiteren drei Jahren einen amerikanischen Hit landen würde. Ich war in Gedanken woanders gewesen, aber trotzdem – wie konnte ich nur so dämlich gewesen sein?

»›She blew my nose and then she blew my mind‹? Im Radio? Die FCC würde jeden Sender dichtmachen, der so was spielt!«

Zu diesem Zeitpunkt begann ich wütend zu werden. In erster Linie auf mich selbst … aber nicht nur auf mich selbst. Ich balancierte auf einem gottverdammten Drahtseil, und sie kreischte mich wegen eines Songs der Rolling Stones an.

»Chill mal, Sadie. Das ist nur ein Song. Ich weiß nicht, wo ich ihn gehört habe.«

»Das ist gelogen, das wissen wir beide.«

»Du flippst völlig aus. Ich glaube, ich bringe lieber meine Einkäufe nach Hause.« Ich bemühte mich, weiter ruhig zu sprechen. Der Klang meiner Stimme war mir sehr vertraut. So hatte ich immer mit Christy zu sprechen versucht, wenn sie betrunken nach Hause gekommen war. Rock verrutscht, Bluse halb herausgezogen, Frisur in Unordnung. Ganz zu schweigen von ihrem verschmierten Lippenstift. Vom Rand eines Glases oder den Lippen irgendeines anderen Kneipenhockers?

Allein dieser Gedanke machte mich wütend. Wieder schiefgegangen, dachte ich. Ich wusste nicht, ob ich damit Sadie oder Christy oder mich meinte, und das war mir in dem Augenblick auch egal. Wir waren nie wütender, als wenn wir bei etwas ertappt wurden, oder nicht?

»Ich denke, du solltest mir sagen, wo du dieses Lied gehört hast, wenn du jemals wieder mein Haus betreten willst. Und wo du gehört hast, was du zu dem Jungen gesagt hast, der unsere Einkäufe in Tüten verstaut und dir dabei erklärt hat, dass er dein Huhn doppelt verpackt, damit es nicht durchfeuchtet.«

»Ich habe keine Ahnung, was du …«

»›Super, Dude‹, das hast du gesagt. Ich denke, du solltest mir erzählen, wo du das aufgeschnappt hast. Und Randale machen. Und du rockst. Und beweg deinen Arsch. Chillen und ausflippen … wo du diese Ausdrücke gehört hast, will ich auch wissen. Weshalb du sie benutzt, obwohl es sonst kein Mensch tut. Ich will wissen, wieso der blöde Jimla-Sprechchor dich so erschreckt hat, dass du im Schlaf darüber redest. Ich will wissen, wo Derry liegt und warum es wie Dallas ist. Ich will wissen, ob du verheiratet warst, denn ich sehe dich manchmal mit dem linken Ringfinger spielen, als hättest du dort früher einen Ring getragen. Ich will wissen, wo du warst, bevor du in Florida gelebt hast, denn Ellen Dockerty sagt, dass sie das nicht weiß und dass einige deiner Referenzen gefälscht sind. ›Scheinen kurios zu sein‹, so hat sie das ausgedrückt.«

Ich wusste bestimmt, dass Ellen das nicht von Deke hatte … aber sie hatte es rausgekriegt. Es überraschte mich nicht sonderlich, aber ich war wütend darüber, dass sie das Sadie gegenüber ausgeplaudert hatte. »Sie hatte kein Recht, dir das zu erzählen!«

Sie drückte fahrig ihre Zigarette aus und schüttelte dann die Hand, weil etwas Glut ihr die Finger versengte. »Manchmal scheinst du … ich weiß nicht … aus irgendeiner anderen Welt zu stammen! Auf der man darüber singt, wie man betrunkene Frauen in M-Memphis vögelt! Ich habe mir einzureden versucht, dass das nicht wichtig ist, dass wahre L-L-Liebe alles besiegt, aber das tut sie nicht. Sie kann keine Lügen besiegen.« Ihre Stimme zitterte, aber sie weinte nicht. Und ihre Augen ließen mich nicht los. Hätte in ihnen nur Zorn gelegen, wäre alles ein bisschen einfacher gewesen. Aber ihr Blick war auch flehend.

»Sadie, würdest du nur …«

»Ich will nicht mehr. Fang also nicht wieder damit an, dass du nichts tust, wofür du dich schämen müsstest, und dass auch ich mich dafür nicht schämen müsste. Das sind Dinge, die ich selbst entscheiden muss. Letztlich läuft es auf eines hinaus: Entweder der Besen verschwindet, oder du musst gehen.«

»Wenn du es wüsstest, würdest du nicht …«

»Dann erzähl’s mir!«

»Ich kann nicht.« Mein Zorn fiel in sich zusammen wie ein durchlöcherter Ballon und hinterließ eine emotionale Leere. Als ich den Blick von ihrem unbewegten Gesicht abwandte, fiel er zufällig auf ihren Schreibtisch. Was ich dort sah, ließ mir den Atem stocken.

Dort lag ein kleiner Stapel Bewerbungen für ihren Sommerjob in Reno. Die oberste war ein Vordruck von Harrah’s Hotel and Casino. In der ersten Zeile hatte sie in sauberer Druckschrift ihren Namen eingetragen. Ihren vollständigen Namen, auch den zweiten Vornamen, nach dem ich sie bisher nie gefragt hatte.

Ich streckte die Hände aus, ganz langsam, und bedeckte ihren ersten Vornamen und die zweite Silbe ihres Nachnamens mit den Daumen. So blieb DORIS DUN übrig.

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich mit Frank Dunnings Frau gesprochen und mich als Immobilienspekulant ausgegeben hatte, der sich für die West Side Recreation Hall interessiere. Sie war zwanzig Jahre älter als Sadie Doris Clayton, geborene Dunhill, gewesen, aber beide Frauen hatten blaue Augen, einen makellosen Teint und eine gute, vollbusige Figur. Beide Frauen rauchten. Das alles hätte ein Zufall sein können, aber es war keiner. Und das wusste ich.

»Was machst du?« Der anklagende Ton bedeutete, dass die eigentliche Frage lautete: Warum weichst du weiter aus und entziehst dich mir?, aber ich war nicht mehr wütend. Nicht einmal andeutungsweise.

»Bist du dir sicher, dass er nicht weiß, wo du bist?«, fragte ich.

»Wer? Johnny? Meinst du Johnny? Warum …« In diesem Moment kam sie zu dem Entschluss, dass die Sache aussichtslos war. Das sah ich auf ihrem Gesicht. »George, du musst jetzt gehen.«

»Aber er könnte es herausfinden«, sagte ich. »Weil deine Eltern es wissen, und deine Eltern haben ihn immer für den Größten gehalten, das hast du selbst gesagt.«

Ich trat einen Schritt auf sie zu. Sie wich einen Schritt zurück. Wie man vor jemandem zurückwich, der sich als geistesgestört erwiesen hatte. Ich sah Angst in ihrem Blick, auch Verständnislosigkeit, und konnte trotzdem nicht aufhören. Man sollte mir zugutehalten, dass ich selbst verängstigt war.

»Auch wenn du sie gebeten hast, es niemand zu sagen, kann er es aus ihnen rauskriegen. Weil er charmant ist. Das ist er doch, Sadie? Wenn er sich nicht zwanghaft die Hände wäscht, seine Bücher alphabetisch einordnet oder darüber spricht, wie widerwärtig es ist, eine Erektion zu bekommen, ist er sehr, sehr charmant. Jedenfalls hat er dich bezaubert.«

»Bitte geh jetzt, George.« Ihre Stimme zitterte.

Ich trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie machte einen Ausgleichsschritt rückwärts, prallte an die Wand … und fuhr zusammen. Dieser Anblick wirkte wie ein Schlag ins Gesicht eines Hysterikers oder ein Glas Wasser ins Gesicht eines Schlafwandlers. Ich zog mich in den Durchgang zwischen Wohnzimmer und Küche zurück und hob die Hände wie jemand, der sich ergab. Was ich wirklich tat.

»Gut, ich gehe. Aber, Sadie …«

»Ich begreife nur nicht, wie du das tun konntest«, sagte sie. Jetzt kamen die Tränen; sie rollten langsam über ihre Wangen. »Oder wieso du dich weigerst, es ungeschehen zu machen. Wir hatten eine so gute Beziehung.«

»Die haben wir immer noch.«

Sie schüttelte den Kopf. Das tat sie langsam, aber nachdrücklich.

Ich durchquerte die Küche meinem Gefühl nach mehr schwebend als gehend, holte die Packung Vanilleeiscreme aus einer der Tüten auf der Arbeitsplatte und stellte sie in das Gefrierfach ihres Coldspots. Einerseits wollte ich mir einreden, dass dies alles nur ein schlechter Traum war, aus dem ich bald erwachen würde. Andererseits wusste ich es besser.

Sadie stand im Durchgang und beobachtete mich. In einer Hand hielt sie eine frisch angezündete Zigarette, in der anderen ihre Bewerbungen. Sie sah Doris Dunning fast unheimlich ähnlich, das erkannte ich jetzt. Was die Frage aufwarf, warum mir das nicht schon früher aufgefallen war. Weil ich mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war? Oder weil ich die Ungeheuerlichkeit der Dinge, mit denen ich spielte, immer noch nicht ganz begriffen hatte?

Ich ging durch die Fliegengittertür hinaus, blieb auf dem Podest stehen und sah sie durch das Drahtgeflecht an. »Nimm dich vor ihm in Acht, Sadie.«

»Johnny ist in vielerlei Beziehung durcheinander, aber er ist nicht gefährlich«, sagte sie. »Und meine Eltern würden ihm nie sagen, wo ich bin. Sie haben es versprochen.«

»Manche Menschen brechen ihr Versprechen, und manche drehen ohne Vorwarnung durch. Vor allem welche, die unter starkem Druck stehen und schon vorher mental labil waren.«

»Du musst gehen, George.«

»Versprich mir, dass du dich vor ihm in Acht nimmst, dann gehe ich.«

Sie schrie: »Ich versprech’s, ich versprech’s, ich versprech’s!« Wie die Zigarette zwischen ihren Fingern zitterte war schlimm; die Kombination aus Schock, Verlust, Trauer und Wut in ihren roten Augen war weit schlimmer. Ich konnte spüren, wie mich ihr Blick den ganzen Weg zu meinem Wagen verfolgte.

Gottverdammte Rolling Stones.

Kapitel 17

1

Einige Tage vor Beginn der jährlichen Abschlussprüfungen rief mich Ellen Dockerty in ihr Büro. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sagte sie: »Tut mir leid, dass ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe, George, aber ich weiß nicht, ob ich mich das nächste Mal unter gleichen Umständen anders verhalten würde.«

Ich sagte nichts. Ich war nicht mehr zornig, aber immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte seit dem großen Knall nur sehr wenig geschlafen und ging davon aus, dass vier Uhr morgens und ich auch in nächster Zukunft enge Freunde bleiben würden.

»Abschnitt fünfundzwanzig der Verwaltungsvorschrift für texanische Schulen«, sagte sie, als wäre damit alles erklärt.

»Wie bitte, Ellie?«

»Nina Wallingford hat mich darauf aufmerksam gemacht.« Nina war die Bezirkskrankenschwester. Sie legte in jedem Schuljahr Zehntausende von Meilen mit ihrem Ford Ranch Wagon zurück, um die acht Schulen in der Denholm County, von denen drei immer noch Zwergschulen waren, turnusmäßig zu besuchen. »Abschnitt fünfundzwanzig enthält die staatlichen Vorschriften für den Impfschutz an Schulen. Die gelten für Lehrer ebenso wie für Schüler, und Nina hat mir gemeldet, dass Sie keine Impfunterlagen von Ihnen hat. Eigentlich überhaupt keine Krankenakte von Ihnen.«

Das war’s also. Der falsche Lehrer enttarnt durch die fehlende Polio-Schutzimpfung. Na, immerhin nicht durch mein vorzeitiges Wissen über die Rolling Stones oder meine unangebrachte Verwendung von Discoslang.

»Weil Sie mit dem Jamboree und allem so beschäftigt waren, wollte ich Ihnen die Mühe sparen und habe die Schulen angeschrieben, an denen Sie unterrichtet haben. Aus Florida ist ein Schreiben mit der Mitteilung gekommen, dass Aushilfskräfte keinen Impfnachweis vorlegen müssen. Und die Antwort aus Maine und Wisconsin lautete: ›Nie von ihm gehört.‹«

Sie beugte sich hinter ihrem Schreibtisch vor und sah mich an. Ich konnte ihrem Blick nicht lange standhalten. Was ich auf ihrem Gesicht sah, bevor ich wieder meine Handrücken betrachtete, war unerträgliches Mitgefühl.

»Würde sich die Schulbehörde daran stören, dass wir einen Hochstapler angestellt haben? Sehr viel. Sie würde vielleicht sogar ein Verfahren einleiten, um Ihr Jahresgehalt zurückzufordern. Störe ich mich daran? Nicht im Mindesten. Ihre Arbeit an der DCHS war beispielhaft. Was Sadie und Sie für Bobbi Jill getan haben, war einfach nur wundervoll, etwas, wofür man als texanischer Lehrer des Jahres nominiert werden könnte.«

»Danke«, murmelte ich. »Mag sein.«

»Ich habe daran gedacht, damit zu Deke zu gehen, aber stattdessen habe ich mich gefragt, was Mimi Corcoran wohl getan hätte. Und Mimi hat mir erklärt: ›Hätte er einen Vertrag als Lehrer fürs nächste und übernächste Jahr unterschrieben, müsstest du handeln. Aber da er in einem Monat geht, liegt es sogar in deinem Interesse – und in dem der Schule –, die Sache für dich zu behalten.‹ Dann fügte sie hinzu: ›Aber es gibt eine Person, die erfahren muss, dass er nicht der ist, für den er sich ausgibt.‹«

Ellie machte eine Pause.

»Ich habe Sadie gesagt, Sie würden sicher eine plausible Erklärung haben, aber das scheint nicht der Fall zu sein.«

Ich sah auf meine Uhr. »Wenn Sie mich nicht entlassen, Miz Ellie, sollte ich in die fünfte Stunde meiner Klasse zurückgehen. Wir zergliedern Sätze. Ich denke daran, ihnen ein Satzgefüge vorzulegen, das folgendermaßen lautet: Ich bin in dieser Sache unschuldig, kann aber nicht sagen, weshalb. Was halten Sie davon? Zu schwierig?«

»Zu schwierig für mich, das ist gewiss«, sagte sie freundlich.

»Noch etwas«, sagte ich. »Sadies Ehe war problematisch. Ihr Mann hat sonderbare Eigenarten, die ich nicht erörtern möchte. Er heißt John Clayton. Ich denke, er könnte gefährlich sein. Sie sollten Sadie fragen, ob sie ein Foto von ihm hat, damit Sie wissen, wie er aussieht, falls er hier aufkreuzt und anfängt, Fragen zu stellen.«

»Und das denken Sie, weil …?«

»Weil ich schon einmal etwas Ähnliches erlebt habe. Genügt das?«

»Es wird genügen müssen, nicht wahr?«

Das war keine befriedigende Amtwort. »Fragen Sie sie?«

»Ja, George.« Vielleicht meinte sie es ernst; vielleicht wollte sie mich bloß abwimmeln. Das konnte ich nicht beurteilen.

Ich war schon an der Tür, als sie ganz beiläufig sagte: »Sie brechen dieser jungen Frau das Herz.«

»Ich weiß«, sagte ich und ging.

2

Mercedes Street. Ende Mai.

»Sie sind Schweißer, was?«

Ich stand mit dem Hausbesitzer, einem guten Amerikaner namens Mr. Jay Baker, auf der Veranda von Nummer 2706. Er war stämmig und hatte einen Riesenwanst, von dem er behauptete, Shiner-Bier habe ihn so schön geformt. Wir hatten eben einen kurzen Rundgang durch das Haus gemacht, das nach Bakers Erklärung gleich neben der Bushaltestelle liege, als ob diese Tatsache die durchhängenden Decken, die wasserfleckigen Wände, den gesprungenen Wasserbehälter im Klo und den allgemein verwahrlosten Zustand aufwiegen würde.

»Nachtwächter«, sagte ich.

»O wirklich? Das ist ein guter Job. Mit reichlich Zeit zum Rumhängen.«

Das schien mir keine Antwort zu erfordern.

»Keine Frau oder Blagen?«

»Geschieden. Die sind an der Ostküste.«

»Müssen Alimente zahlen, was?«

Ich zuckte die Achseln.

Er wechselte das Thema. »Also, wollen Sie das Haus, Mr. Amberson?«

»Ich denke schon«, sagte ich seufzend.

Er zog ein längliches Mietbuch mit weichem Lederumschlag aus der Gesäßtasche. »Zwei Monatsmieten, als Anzahlung und Kaution für Schäden.«

»Kaution für Schäden? Soll das ein Witz sein?«

Baker sprach weiter, als hätte er mich nicht gehört. »Die Miete ist jeweils am letzten Freitag des Monats fällig. Wenn Sie zu wenig oder zu spät zahlen, landen Sie auf der Straße – dafür sorgt die Polizei in Fort Worth. Die und ich kommen richtig gut miteinander aus.«

Er holte einen angekohlten Zigarrenstummel aus der Brusttasche seines Hemds, nahm das abgekaute Ende zwischen die Lippen und schnippte mit dem Daumennagel ein Streichholz an. Auf der Veranda war es heiß. Ich hatte das Gefühl, dass mir ein langer, heißer Sommer bevorstand.

Ich seufzte abermals. Dann zog ich mit gespieltem Widerstreben die Geldbörse heraus und begann Zwanzigdollarscheine abzuzählen. »In God we trust«, sagte ich. »Alle anderen zahlen bar.«

Baker lachte und stieß dabei beißenden blauen Rauch aus. »Der ist gut, den merk ich mir. Speziell für den letzten Freitag im Monat.«

Ich konnte nicht glauben, dass ich in dieser Bruchbude und in dieser elenden Straße wohnen würde – und das nach meinem hübschen Haus südlich von hier, wo ich so stolz auf den gepflegten Rasen gewesen war, den ich stets rechtzeitig gemäht hatte. Obwohl ich Jodie noch nicht richtig verlassen hatte, überflutete mich eine Woge von Heimweh.

»Geben Sie mir bitte eine Quittung«, sagte ich.

Wenigstens die bekam ich umsonst.

3

Der letzte Schultag war da. Die Flure und Klassenzimmer waren verwaist. Die Deckenventilatoren quirlten Luft, die bereits heiß war, obwohl es erst der 8. Juni war. Die Familie Oswald hatte Russland verlassen; in weiteren fünf Tagen, so stand es in Al Templetons Notizen, würde die SS Maasdam in Hoboken anlegen, wo die Oswalds die Gangway hinuntergehen und amerikanischen Boden betreten würden.

Im Lehrerzimmer saß nur noch Danny Laverty. »He, Champ. Wie ich höre, verschwindest du nach Dallas, um deinen Roman fertig zu schreiben.«

»Das ist der Plan.« Tatsächlich sah der Plan, wenigstens für den Anfang, Fort Worth vor. Ich räumte mein Fach aus, das mit der zum Ende des Schuljahrs üblichen Flut von Rundschreiben vollgestopft war.

»Wäre ich frei und ungebunden statt mit einer Frau, drei kleinen Hosenscheißern und einer Hypothek belastet, würde ich’s vielleicht auch mit ’nem Buch versuchen«, sagte Danny. »Ich war im Krieg, weißt du.«

Das wusste ich. Das erfuhr jeder, meistens innerhalb von zehn Minuten nach dem Kennenlernen.

»Hast du genug, um davon leben zu können?«

»Ich komme schon zurecht.«

Ich hatte mehr als genug für die Zeit bis zum kommenden April, in dem ich die Sache mit Oswald hoffentlich abgeschlossen haben würde. Ich würde keine weiteren Expeditionen zu Faith Financial in der Greenville Avenue mehr unternehmen müssen. Dumm genug von mir, dass ich auch nur ein einziges Mal dort gewesen war. Natürlich konnte ich mir einzureden versuchen, das mit meinem Häuschen in Florida wäre nur das Ergebnis eines missglückten Streichs gewesen, aber ich hatte mir auch einzureden versucht, zwischen Sadie und mir wäre alles bestens – und wie das ausgegangen war, wusste man ja.

Ich warf einen Packen Papier aus meinem Fach in den Abfallkorb … und entdeckte dabei einen zugeklebten kleinen Briefumschlag, den ich irgendwie übersehen hatte. Wer solche Umschläge verwendete, wusste ich. Auf dem Blatt Notizpapier, das ich herauszog, stand weder Anrede noch Unterschrift, aber ich roch den schwachen (vielleicht nur eingebildeten) Duft ihres Parfüms. Die Mitteilung war kurz.

Danke, dass Du mir gezeigt hast, wie schön das Leben sein kann. Sag mir bitte nicht auf Wiedersehen.

Ich hielt den Zettel eine Minute lang nachdenklich in der Hand, dann steckte ich ihn in die Gesäßtasche und ging rasch den Flur entlang in die Bibliothek. Ich weiß nicht, was ich damals tun oder ihr erzählen wollte, aber beides spielte auch keine Rolle, weil die Bibliothek dunkel war und die Stühle auf den Tischen standen. Ich versuchte trotzdem, den Türknopf zu drehen, aber die Tür war abgeschlossen.

4

Die beiden einzigen Autos, die noch auf dem Lehrerparkplatz standen, waren Danny Lavertys viertüriger Plymouth und mein Ford, dessen Stoffdach mittlerweile recht mitgenommen aussah. Das konnte ich ihm nachfühlen; ich fühlte mich selbst ziemlich mitgenommen.

»Mr. A.! Warten Sie, Mr. A.!«

Es waren Mike und Bobbi Jill, die über den heißen Parkplatz auf mich zugehastet kamen. Mike trug ein kleines eingepacktes Geschenk, das er mir hinhielt. »Ich und Bobbi haben was für Sie besorgt.«

»Bobbi und ich. Und das hättet ihr nicht tun sollen, Mike.«

»Das mussten wir, ist doch klaro.«

Ich war gerührt, als ich Bobbi Jill weinen sah, und erfreut, weil die dicke Schicht Max Factor von ihrem Gesicht verschwunden war. Seit sie wusste, dass die Tage der entstellenden Narbe gezählt waren, hatte sie ihre Versuche eingestellt, sie mit Make-up zu verdecken. Sie küsste mich auf die Wange.

»Ich danke Ihnen so, so, so sehr, Mr. Amberson. Ich werde Sie nie vergessen.« Sie sah zu Mike hinüber. »Wir werden Sie nie vergessen.«

Und das würden sie vermutlich auch nicht. Das war eine gute Sache. Es machte die abgeschlossene dunkle Bibliothek nicht wett, aber ja … es war eine gute Sache.

»Machen Sie’s auf«, sagte Mike. »Es gefällt Ihnen hoffentlich. Es ist für Ihr Buch.«

Ich machte das Päckchen auf. Unter dem Geschenkpapier kam ein ungefähr zwanzig mal fünf Zentimeter großes Holzkästchen zum Vorschein. Darin lag auf Seide ein Füller von Waterman mit den eingravierten Initialen GA auf dem Clip.

»Oh, Mike«, sagte ich. »Das ist zu viel.«

»Es wär nicht mal zu viel, wenn er aus purem Gold wäre«, sagte er »Sie haben mein Leben verändert.« Er sah Bobbi an. »Das Leben von uns beiden.«

»Mike«, sagte ich. »Es war mir ein Vergnügen.«

Er umarmte mich, was im Jahr 1962 zwischen Männern keine leere Geste war. Ich erwiderte seine Umarmung gern.

»Bleiben Sie in Verbindung«, sagte Bobbi Jill. »Nach Dallas isses nicht weit.« Sie hielt inne. »Ist es.«

»Mach ich«, sagte ich, aber ich würde es nicht tun – und sie vermutlich auch nicht. Sie gingen in ihre Leben davon, und wenn sie Glück hatten, würden ihre Leben leuchten.

Sie wandten sich ab, aber dann drehte Bobbi sich noch einmal um. »Schade, dass Sie sich getrennt haben. Das macht mich echt traurig.«

»Mich macht es auch traurig«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich ist es besser so.«

Ich fuhr nach Hause, um meine Schreibmaschine und meine restlichen Habseligkeiten einzupacken, die wohl immer noch in einen Koffer und ein paar Kartons passten. An einer Ampel auf der Main Street öffnete ich das Holzkästchen und betrachtete den Füller. Er war ein Luxusartikel, und ich war sehr gerührt, dass sie ihn mir geschenkt hatten. Noch rührender fand ich, dass sie auf mich gewartet hatten, um um sich bei mir zu verabschieden. Die Ampel zeigte Grün. Ich klappte das Kästchen zu und fuhr weiter. Ich hatte einen Kloß im Hals, aber meine Augen waren trocken.

5

In der Mercedes Street zu wohnen war keine erhebende Erfahrung.

Die Tage waren nicht so schlimm. Sie hallten vom Geschrei von Kindern wider, die gerade aus der Schule kamen, alle in übergroßen abgelegten Klamotten; dazu kamen Hausfrauen, die an Briefkästen oder Wäscheleinen tratschten, und Teenager, die in Rostlauben vorbeibretterten, deren Auspuff mit Glaswolle gestopft war und aus deren Radios K-Life plärrte. Auch die Stunden zwischen zwei und sechs Uhr morgens waren nicht so schlimm. Dann sank eine Art benommener Stille auf die Straße herab, wenn Säuglinge mit Koliken endlich in ihren Bettchen (oder Kommodenschubladen) schliefen und ihre Daddys einem weiteren Tag mit Lohnarbeit in Werkstätten, in Fabriken oder auf Farmen in der Umgebung entgegenschnarchten.

Aber zwischen vier und sechs am Nachmittag waren auf der Straße die Stimmen von Mamas zu hören, die ihre Kinder ankeiften, sie sollten verdammt noch mal reinkommen und im Haus mithelfen, und die von Papas, die beim Heimkommen ihre Frauen anbrüllten, vermutlich weil sie sonst niemand hatten, den sie anbrüllen konnten. Viele Ehefrauen teilten so gut aus, wie sie einstecken mussten. Die Trinkerdaddys waren etwa ab acht Uhr unterwegs, und wirklich laut wurde es gegen elf, wenn die Bars schlossen oder das Geld ausging. Dann hörte ich Türenknallen, zersplitterndes Glas und Schmerzensschreie, wenn manche der Trinkerdaddys ihre Frauen oder Kinder oder alle zusammen verprügelten. Oft drang rotes Blinklicht durch meine Vorhänge, wenn die Polizei kam. Einige Male fielen Schüsse – vielleicht nur in die Luft, vielleicht auch nicht. Als ich eines Morgens früh aus dem Haus trat, um die Zeitung zu holen, sah ich eine Frau, deren untere Gesichtshälfte mit angetrocknetem Blut bedeckt war. Sie hockte vor dem übernächsten Haus auf dem Randstein und trank aus einer Dose Lone Star. Ich wäre fast hinübergegangen, um nach ihr zu sehen, obwohl ich wusste, wie unklug es gewesen wäre, sich in den Alltag dieses Proletenviertels hineinziehen zu lassen. Dann merkte sie, dass ich sie beobachtete, und zeigte mir ihren Mittelfinger. Ich ging wieder hinein.

Hier gab es keine Begrüßungsgeschenke für Neuzuzügler und keine Frauen namens Muffy oder Buffy, die zu Versammlungen der Junior League unterwegs waren. Was es in der Mercedes Street gab, war reichlich Zeit zum Nachdenken. Zeit, meine Freunde in Jodie zu vermissen. Zeit, meine Arbeit zu vermissen, die mich vom eigentlichen Zweck meiner Reise in die Vergangenheit abgelenkt hatte. Zeit zu erkennen, dass das Unterrichten weit mehr als nur ein Zeitvertreib gewesen war; es hatte mich auf eine Weise geistig befriedigt, wie es Arbeit tat, bei der man mit dem Herzen dabei war, weil man das Gefühl hatte, tatsächlich etwas bewirken zu können.

Ich hatte sogar Zeit, den Zustand meines früher so schicken Sunliners zu bedauern. Zu dem defekten Radio und den klappernden Ventilen kamen jetzt ein scheppernder durchgerosteter Auspuff, der Fehlzündungen verursachte, und ein Sprung in der Windschutzscheibe von einem Stein, den ein schwerfälliger Kieslaster verloren hatte. Ich hatte aufgehört, mein Cabrio zu waschen, und inzwischen passte es – traurig, aber wahr – sehr gut zu den übrigen Klapperkisten in der Mercedes Street.

Vor allem hatte ich Zeit, an Sadie zu denken.

Sie brechen dieser jungen Frau das Herz, hatte Ellie Dockerty gesagt, und meinem ging es auch nicht besonders. Auf die Idee, Sadie alles anzuvertrauen, kam ich eines Nachts, als ich wach lag und die betrunkenen Nachbarn streiten hörte: Das warst du, ich war’s nicht, das warst du, ich war’s nicht, leck mich. Ich verwarf die Idee, aber in der folgenden Nacht kehrte sie verjüngt zurück. Ich konnte mich sehen, wie ich an ihrem Küchentisch saß, in der starken Nachmittagssonne, die schräg durchs Fenster über der Spüle hereindrang, Kaffee trank und ganz ruhig sprach. Ihr erzählte, dass ich in Wirklichkeit Jacob Epping heiße, erst in vierzehn Jahren geboren werden würde und durch einen Riss in der Zeit, den mein verstorbener Freund Al Templeton als Kaninchenbau bezeichnet habe, aus dem Jahr 2011 hierhergekommen sei.

Wie konnte ich sie von einer derart unglaublichen Sache überzeugen? Indem ich ihr erzählte, dass ein bestimmter amerikanischer Überläufer, der Russland jetzt mit anderen Augen sah, bald mit seiner russischen Frau und ihrem kleinen Mädchen mir gegenüber einziehen würde? Indem ich ihr erzählte, dass die Dallas Texans – noch nicht die Cowboys, noch nicht America’s Team – in diesem Herbst die Houston Oilers nach zweimaliger Verlängerung mit 20:17 schlagen würden? Lächerlich. Aber was wusste ich sonst über die unmittelbare Zukunft? Nicht viel, weil ich keine Zeit gehabt hatte, mich mit ihr zu beschäftigen. Ich wusste ziemlich viel über Oswald, aber das war auch schon alles.

Sadie würde mich für verrückt erklären. Ich konnte ihr ein weiteres Dutzend Popsongs vorsingen, die noch nicht mal geschrieben waren, und sie würde mich trotzdem für verrückt halten. Sie würde mir vorwerfen, die Songtexte selbst erfunden zu haben – schließlich sei ich doch Schriftsteller. Und was war, wenn sie mir tatsächlich glaubte? Wollte ich sie mit mir in den Haifischrachen ziehen? War es nicht schlimm genug, dass sie im August nach Jodie zurückkommen würde, wo John Clayton – falls er ein Echo von Frank Dunning war – sie vielleicht bald aufspürte?

»Okay, dann verzieh dich!«, kreischte eine Frau auf der anderen Straßenseite, und ein Wagen raste in Richtung Winscott Road davon. Ein Lichtkeil drang kurz durch den Spalt zwischen meinen zugezogenen Vorhängen und huschte über die Zimmerdecke.

»SCHWANZLUTSCHER!«, schrie sie ihm nach, worauf eine weiter entfernte Männerstimme rief: »Lutschen Sie doch meinen, Lady, vielleicht beruhigt Sie das.«

Das war das Leben in der Mercedes Street im Sommer 1962.

Zieh sie nicht mit hinein. Das war die Stimme der Vernunft. Ob du sie überzeugen könntest oder nicht, ist zweitrangig. Dein Vorhaben ist einfach zu gefährlich. Vielleicht kann sie später wieder ein Teil deines Lebens sein – sogar eines Lebens in Jodie –, aber nicht jetzt.

Nur würde es für mich kein Leben in Jodie mehr geben. Wenn man bedachte, was Ellen inzwischen über meine Vergangenheit wusste, war es eine törichte Vorstellung, wieder an der Highschool unterrichten zu können. Aber was sollte ich sonst tun? Auf dem Bau arbeiten?

Eines Morgens setzte ich Kaffee auf und wollte die Zeitung hereinholen. Als ich die Haustür öffnete, sah ich, dass beide Hinterreifen des Sunliners platt waren. Irgendein gelangweilter Teenager, der spät nachts unterwegs gewesen war, hatte sie mit einem Messer zerstochen. Auch das war das Leben in der Mercedes Street im Sommer 1962.

6

Am 14. Juni, einem Donnerstag, zog ich Jeans, ein blaues Arbeitshemd und eine alte Lederweste an, die ich in einem Secondhandladen in der Camp Bowie Road gekauft hatte. Dann verbrachte ich den Morgen damit, in meinem Haus auf und ab zu gehen, als wäre ich irgendwohin unterwegs. Ich hatte keinen Fernseher, aber ich hörte Radio. In den Nachrichten wurde gemeldet, Präsident Kennedy werde Ende des Monats zu einem Staatsbesuch nach Mexiko reisen. Der Wetterbericht sagte bei leichter Bewölkung hochsommerliche Temperaturen voraus. Der DJ plapperte eine Zeit lang, dann spielte er »Palisades Park«. Die Soundeffekte auf der Platte – Kreischen und Achterbahngeräusche – taten mir in den Ohren weh.

Schließlich konnte ich es nicht länger aushalten. Ich würde zu früh kommen, aber das war mir egal. Ich setzte mich in den Sunliner, der jetzt zwei runderneuerte schwarze Hinterreifen hatte, die nicht zu den vorderen Weißwandreifen passten, und fuhr die etwas über vierzig Meilen hinaus zum Flughafen Love Field im Nordwesten von Dallas. Dort gab es keine Kurzparkzone, nur Parkplätze für 75 Cent pro Tag. Ich setzte meinen alten Strohhut auf und trottete ungefähr eine halbe Meile weit zum Ankunftsgebäude. Am Randstein standen ein paar Polizisten aus Dallas und tranken Kaffee, aber drinnen gab es keine Wachleute und keine Metalldetektoren, durch die man gehen musste. Die Fluggäste wiesen ihre Tickets am Ausgang vor, dann gingen sie über das heiße Vorfeld zu den Maschinen, die einer von fünf Fluggesellschaften gehörten: American, Delta, TWA, Frontier oder Texas Airways.

Ich sah auf die mit Kreide beschriebene Wandtafel hinter dem Delta-Schalter. Dort stand, dass Flug 194 pünktlich eintreffen werde. Als ich, um mich zu vergewissern, die Angestellte fragte, erklärte sie mir lächelnd, dass die Maschine gerade in Atlanta gestartet sei. »Aber Sie sind schrecklich früh dran.«

»Ich kann nichts dagegen machen«, sagte ich. »Bestimmt komme ich noch zu meiner eigenen Beerdigung zu früh.«

Sie lachte und wünschte mir einen angenehmen Tag. Ich kaufte mir das Time Magazine und ging ins Restaurant hinüber, wo ich den Chefsalat Siebter Himmel bestellte. Er war riesig, und ich war zu nervös, um Appetit zu haben – schließlich bekam man nicht jeden Tag einen Menschen zu Gesicht, der sich anschickte, die Weltgeschichte zu verändern –, aber mit dem Salat vor mir konnte ich an etwas herumpicken, während ich auf die Maschine mit der Familie Oswald an Bord wartete.

Von meinem Tisch aus konnte ich das Ankunftsgebäude gut überblicken. Es war nicht sehr belebt, und mir fiel eine junge Frau in einem blauen Reisekostüm ins Auge. Ihre Haare waren zu einem straffen Nackenknoten zusammengefasst. In jeder Hand trug sie einen Koffer. Ein schwarzer Gepäckträger näherte sich ihr. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, dann schlug sie sich den rechten Arm am Stand der Flughafenmission an, an dem sie gerade vorbeikam. Sie ließ einen der Koffer fallen, rieb sich den Ellbogen, griff wieder nach dem Koffer und hastete weiter.

Sadie, die für sechs Wochen nach Reno flog.

War ich überrascht? Überhaupt nicht. Das war wieder diese Konvergenzsache. An die hatte ich mich gewöhnt. Empfand ich einen fast überwältigend starken Impuls, aus dem Restaurant zu stürmen und sie einzuholen, bevor es zu spät war? Natürlich empfand ich den.

Einen Augenblick lang erschien das mehr als möglich, es erschien notwendig. Ich würde ihr erklären, das Schicksal (statt irgendeine etwas unheimliche Zeitreisenharmonie) habe uns auf dem Flughafen zusammengeführt. In Filmen funktionierte solches Zeug ja auch. Ich würde sie bitten, auf mich zu warten, während ich mir ein Ticket nach Reno kaufte, und ihr versichern, dass ich ihr dort alles erklären würde. Und nach der obligatorischen sechswöchigen Wartezeit konnten wir den Richter, der ihre Scheidung ausgesprochen hatte, zu einem Drink einladen, bevor wir vor ihm die Ehe schlossen.

Ich machte sogar Anstalten, mich zu erheben. Dabei fiel mein Blick zufällig auf die Titelseite des Time Magazine, das ich am Zeitungsstand gekauft hatte. Das Foto zeigte Jacqueline Kennedy. Sie lächelte strahlend und trug ein ärmelloses, weißes Kleid mit V-Ausschnitt. Die Bildunterschrift lautete: DIE GATTIN DES PRÄSIDENTEN FÜR DEN SOMMER GEKLEIDET. Während ich das Foto betrachtete, verschwand die Farbe daraus, und das fröhliche Lächeln verwandelte sich in blickloses Starren. Jetzt stand sie neben Lyndon Johnson in der Air Force One und trug nicht mehr das hübsche (und leicht sexy) Sommerkleid. Es war einem blutbefleckten Kostüm aus Schurwolle gewichen. Ich erinnerte mich, gelesen zu haben – nicht in Als Notizen, sondern anderswo –, dass Lady Bird Johnson Mrs. Kennedy, deren Mann eben für tot erklärt worden sei, auf einem Krankenhausflur umarmt und dabei etwas vom Gehirn des toten Präsidenten auf diesem Kostüm gesehen habe.

Eines per Kopfschuss getöteten Präsidenten. Und hinter ihm standen all die Toten, die es noch geben würde, in einer geisterhaften Reihe, die sich ins Unendliche erstreckte.

Ich sank auf meinen Stuhl zurück und beobachtete, wie Sadie ihre Koffer zum Schalter von Frontier Airlines trug. Die Koffer waren offensichtlich schwer, aber sie trug sie con brio: mit geradem Rücken und flott klappernden niedrigen Absätzen. Der Angestellte wog die Gepäckstücke und stellte sie auf einen Gepäckwagen. Er und Sadie beredeten etwas; Sadie gab ihm das Ticket, das sie acht Wochen zuvor über ein Reisebüro gekauft hatte, und er kritzelte etwas darauf. Sie nahm es wieder an sich und wandte sich dem Ausgang zu. Ich hielt den Kopf gesenkt, um sicherzustellen, dass sie mich nicht bemerkte. Als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.

7

Vierzig lange Minuten später kamen ein Mann, eine Frau und zwei kleine Kinder – ein Junge und ein Mädchen – am Restaurant vorbei. Der Junge ging fröhlich schwatzend an der Hand des Vaters, der nickend und lächelnd auf ihn herabsah. Der Vater war Robert Oswald.

Die Lautsprecher plärrten: »Delta Airlines, Flug 194 aus Newark und Atlanta Municipal Airport ist gelandet. Fluggäste können an Flugsteig vier abgeholt werden. Delta Flug 194 ist gelandet.«

Roberts Frau – Vada, wie ich aus Als Notizen wusste –, nahm das kleine Mädchen auf den Arm und ging schneller. Von Marguerite war nichts zu sehen.

Ich pickte an meinem Salat herum, ohne zu schmecken, was ich aß. Mein Herz raste.

Ich konnte näher kommenden Triebwerkslärm hören und sah den weißen Bug einer DC-8, als sie an den Flugsteig heranrollte. Vor der Glastür drängten sich Abholer. Eine Bedienung tippte mir auf die Schulter, und ich hätte fast aufgeschrien.

»Sorry, Sir«, sagte sie mit so breitem Texas-Akzent, dass man hätte durchschneiden können. »Wollt bloß fragn, ob ich Ihn noch was bring kann.«

»Nein«, sagte ich. »Ich habe alles.«

»Na, das is gut.«

Die ersten Passagiere durchquerten das Ankunftsgebäude. Lauter Männer in Anzug und mit teurem Haarschnitt. Natürlich. Als Erste gingen immer die Fluggäste der Ersten Klasse von Bord.

»Darf’s wirklich kein Stück Pfirsichkuchn sein? Der is heut frisch.«

»Nein, danke.«

»Sind Se sich da sicher, Schätzchen?«

Jetzt kam eine Flut von Passagieren aus der Touristenklasse: Männer, aber auch Frauen, alle mit Kabinengepäck beladen. Ich hörte einen spitzen Frauenschrei. War das Vada, die ihren Schwager begrüßte?

»Ganz sicher«, sagte ich und griff nach meiner Zeitschrift.

Sie verstand den Wink. Ich saß da, verrührte den Rest meines Salats zu einer orangeroten Vinaigrettesuppe und beobachtete die Fluggäste. Da kamen ein Mann und eine Frau mit einem Baby, aber das Kind war kein Säugling mehr, schon zu alt, um June zu sein. Die Passagiere gingen am Restaurant vorbei, plauderten mit den Freunden und Verwandten, die sie abgeholt hatten. Ich sah einen jungen Mann in Armeeuniform, der den Hintern seiner Freundin tätschelte. Sie lachte, schlug seine Hand weg und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

Ungefähr fünf Minuten lag war das Ankunftsgebäude fast überfüllt. Dann verlief sich die Menge allmählich. Von den Oswalds war weiterhin nichts zu sehen. Eine untrügliche Gewissheit erfasste mich: Sie waren nicht an Bord gewesen. Ich war nicht nur in die Vergangenheit zurückgereist, sondern auch in eine Art Paralleluniversum geraten. Vielleicht hatte der Gelbe-Karte-Mann verhindern wollen, dass so etwas passierte, aber er war tot, und ich war noch einmal davongekommen. Kein Oswald? Gut, dann hatte mein Auftrag sich erledigt. Kennedy würde in einer anderen Version von Amerika sterben, aber nicht in dieser. Ich konnte Sadie nachreisen und bis ans Ende unserer Tage glücklich mit ihr leben.

Ich hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ich der Zielperson zum ersten Mal ansichtig wurde. Robert und Lee gingen in angeregter Unterhaltung nebeneinander her. Lee schwenkte etwas, was ein übergroßer Aktenkoffer oder ein kleiner Ranzen war. Robert trug einen rosa Koffer mit abgerundeten Ecken, der geradewegs aus Barbies Kleiderschrank hätte stammen können. Hinter den beiden gingen Vada und Marina. Vada hatte eine der beiden Patchwork-Taschen genommen; Marina trug die andere über die Schulter gehängt. Sie trug auch June, jetzt vier Monate alt, und hatte so beladen Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Roberts und Vadas Kinder sahen neugierig zu ihr auf, während sie neben ihnen herliefen.

Vada rief den Männern etwas zu, worauf sie fast vor dem Restaurant stehen blieben. Robert grinste und nahm Marina die Reisetasche ab. Lees Gesichtsausdruck war … amüsiert? Wissend? Vielleicht beides. An seinen Mundwinkeln zeichnete sich die winzigste Andeutung eines Lächelns ab. Seine unscheinbaren dunklen Haare waren ordentlich gekämmt. In seinem frisch gebügelten weißen Hemd, den Khakis und mit den geputzten Schuhen war er sogar ein regelrechter Mr. Adrett. Er sah nicht wie jemand aus, der gerade um die halbe Welt gereist war; seine Kleidung war kein bisschen verknittert, und er hatte keine Bartstoppeln im Gesicht. Er war erst zweiundzwanzig, sah aber noch jünger aus – wie einer der Teenager in meiner letzten Amerikanische-Literatur-Klasse.

Da hätte auch Marina, die erst in einem Monat das Alter für einen legalen Drink erreichen würde, von ihrem Äußeren hineingepasst. Sie war erschöpft, verwirrt und starrte alles an. Und sie war eine Schönheit mit schwarzer Mähne und in eigenartigem Gegensatz dazu stehenden blauen Augen.

Junes Arme und Beine waren in Mullwindeln gepackt. Sogar um den Hals trug sie eine Windel als Schal, und obwohl sie nicht weinte, war ihr Gesicht rot und verschwitzt. Lee nahm das Baby. Marina lächelte dankbar, und als ihre Lippen sich teilten, sah ich, dass ihr ein Zahn fehlte. Die anderen waren verfärbt, einer fast schwarz. Der Gegensatz zu ihrem makellosen Teint und den strahlend blauen Augen war krass.

Oswald beugte sich zu ihr hinunter und sagte etwas, was das Lächeln von ihrem Gesicht wischte. Sie sah misstrauisch zu ihm auf. Er sagte noch etwas und stupste dabei mit dem Zeigefinger gegen ihre Schulter. Ich erinnerte mich an Als Bericht und fragte mich, ob Oswald hier das Gleiche zu seiner Frau gesagt hatte: Idi, suka! Geh, Schlampe.

Aber nein. Es waren Junes Windeln, die ihn ärgerten. Er riss sie ab – erst von den Armen, dann von den Beinen – und warf sie Marina zu, die sie ungeschickt auffing. Dann sah sie sich um, ob sie etwa beobachtet wurden.

Vada kam zurück und berührte Lees Arm. Er achtete nicht auf sie, wickelte nur den improvisierten Baumwollschal vom Hals der Kleinen und schleuderte ihn in Marinas Richtung. Der Schal fiel zu Boden. Sie bückte sich wortlos und hob ihn auf.

Robert gesellte sich zu den anderen und boxte seinen Bruder freundschaftlich an die Schulter. Das Ankunftsgebäude war jetzt fast menschenleer – die letzten ausgestiegenen Passagiere waren an den Familien Oswald vorbeigegangen –, sodass ich deutlich hörte, was er sagte: »Gib ihr ’ne Chance, sie ist eben erst angekommen. Sie weiß noch gar nicht, wo sie ist.«

»Sieh dir die Kleine an«, sagte Lee und hob June hoch, damit alle sie sehen konnten. Daraufhin fing das Baby schließlich an zu weinen. »Sie hat sie eingewickelt wie ’ne verdammte ägyptische Mumie. Weil man’s bei ihr daheim so macht. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Staraja baba! Alte Frau.« Er wandte sich mit der plärrenden Kleinen auf dem Arm Marina zu. Sie sah ängstlich zu ihm auf. »Staraja baba!«

Sie versuchte zu lächeln wie jemand, der wusste, dass der Witz auf seine Kosten ging, aber nicht genau, warum. Ich musste flüchtig an Lennie in Von Mäusen und Menschen denken. Dann erhellte ein Grinsen, großspurig und ein wenig schief, Oswalds Gesicht. So sah er fast gut aus. Er küsste seine Frau sanft auf die eine Wange, dann auf die andere.

»USA!«, sagte er und küsste sie noch einmal. »USA, Rina! Land der Freien und Heimat der Scheißtypen.«

Ihr Lächeln wurde strahlend. Er begann russisch mit ihr zu reden und gab ihr dabei das Baby zurück. Während sie June beruhigte, legte er einen Arm um ihre Taille. Sie lächelte immer noch, als sie aus meinem Blickfeld verschwanden, und legte sich die Kleine an die Schulter, um nach Lees Hand greifen zu können.

8

Ich fuhr nach Hause – wenn ich die Mercedes Street als mein Zuhause bezeichnen konnte – und versuchte, ein Nickerchen zu machen. Ich konnte nicht einschlafen, deshalb lag ich einfach nur mit hinter dem Kopf gefalteten Händen da, horchte auf den beunruhigenden Straßenlärm und sprach mit Al Templeton. Das war etwas, was ich in letzter Zeit ziemlich oft tat, wenn ich allein war. Für einen Toten hatte er immer viel zu sagen.

»Es war dumm, dass ich nach Fort Worth gekommen bin«, erklärte ich ihm. »Bei dem Versuch, die Wanze an das Tonbandgerät anzuschließen, kann ich leicht gesehen werden. Oswald selbst könnte mich sehen, und das würde alles ändern. Er ist sowieso schon paranoid, das hast du in deinen Notizen beschrieben. Er hat gewusst, dass KGB und MWD ihn in Minsk überwacht haben, und wird fürchten, dass FBI und CIA ihn hier beobachten. Und das FBI wird ihn tatsächlich überwachen – wenn auch nur zeitweilig.«

»Ja, du wirst vorsichtig sein müssen«, stimmte Al zu. »Das wird nicht einfach, aber ich vertraue auf dich, Kumpel. Deshalb habe ich dich überhaupt angerufen.«

»Ich will nicht mal in seine Nähe kommen. Am Flughafen ist mir schon bei seinem Anblick ganz anders geworden.«

»Ich weiß, dass du das nicht willst, aber es wird sich nicht vermeiden lassen. Als jemand, der fast sein Leben lang Koch war, kann ich dir sagen, dass noch kein Omelett zubereitet worden ist, ohne dass ein paar Eier zerschlagen wurden. Und es wäre ein Fehler, diesen Kerl zu überschätzen. Er ist kein kriminelles Superhirn. Außerdem ist er abgelenkt, vor allem von seiner übergeschnappten Mutter. Zu was wird er in nächster Zeit schon groß zu gebrauchen sein, außer dass er seine Frau anbrüllt und sie vielleicht sogar schlägt, wenn er so angepisst ist, dass ihm Brüllen nicht mehr reicht?«

»Ich glaube, dass er sie gern hat, Al. Zumindest ein bisschen, vielleicht sogar sehr. Trotz der Brüllerei.«

»Ja sicher, und es sind Kerle wie er, die ihre Frauen am ehesten ins Unglück reißen. Sieh dir Frank Dunning an. Kümmere dich einfach um deine Aufgabe, Kumpel.«

»Und was soll ich tun, wenn ich’s schaffe, das Tonbandgerät anzuschließen? Aufzeichnen, wie sie sich streiten? Ehestreitereien auf russisch? Das hilft mir bestimmt weiter.«

»Das Familienleben dieses Mannes brauchst du nicht zu entschlüsseln. George de Mohrenschildt ist der Kerl, für den du dich interessieren musst. Du musst dich vergewissern, dass er nichts mit dem Attentat auf General Walker zu tun hat. Sobald das feststeht, ist die letzte Ungewissheit beseitigt. Und betrachte mal die erfreuliche Seite. Falls Oswald dich dabei erwischt, dass du ihn bespitzelt, könnte das sein zukünftiges Handeln positiv beeinflussen. Vielleicht versucht er dann nicht mehr, Kennedy zu erschießen.«

»Glaubst du das ernsthaft?«

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Ich auch nicht. Die Vergangenheit ist unerbittlich. Sie will nicht verändert werden.«

Er sagte: »Kumpel, jetzt liegst du …«

»Richtig«, hörte ich mich murmeln. »Jetzt liege ich richtig.«

Ich öffnete die Augen. Ich war doch eingeschlafen. Spätes Tageslicht drang durch die geschlossenen Vorhänge. Nicht allzu weit entfernt, in der Davenport Street in Fort Worth, würden die Brüder Oswald und ihre Frauen sich zum Abendessen hinsetzen – Lees erste Mahlzeit in seinem alten Revier.

Außerhalb meines eigenen kleinen Stücks von Fort Worth hörte ich einen Springseilvers, der sehr bekannt klang. Ich stand auf, ging durch mein dämmeriges Wohnzimmer (dessen gesamte Möblierung aus zwei Sesseln von einem Trödler bestand) und zog einen der Vorhänge einen Spalt weit auf. Die Vorhänge hatte ich gleich nach dem Einzug angebracht. Ich wollte beobachten, aber nicht beobachten werden.

Die Nummer 2703, an deren windschiefer Veranda ein oben und unten befestigtes Schild ZU VERMIETEN verkündete, war weiter unbewohnt, aber der Rasen lag nicht leer da. Dort ließen zwei kleine Mädchen ein Springseil kreisen, während ein drittes im Stottertakt darüber hinweghüpfte. Natürlich waren das nicht die Mädchen, die ich auf der Kossuth Street in Derry gesehen hatte – diese drei, die statt neuer Shorts geflickte, ausgebleichte Jeans trugen, wirkten verkümmert und unterernährt –, aber der Gesang war der gleiche, nur diesmal mit texanischem Akzent.

»Charlie Chaplin went to France! Just to watch the ladies dance! Salute to the Cap’un! Salute to the Queen! My old man drives a sub-ma-rine!«

Das springende Mädchen verhedderte sich mit einem Bein im Seil und landete in der Fingerhirse, die vor der Nummer 2703 den Rasen ersetzte. Die beiden anderen Mädchen stürzten sich auf sie, und alle drei wälzten sich im Staub. Dann sprangen sie auf und flitzten davon.

Ich sah ihnen nach und dachte dabei: Ich habe sie gesehen, aber sie mich nicht. Das ist schon etwas. Das ist ein Anfang. Aber wo ist mein Zieleinlauf, Al?

De Mohrenschildt war der Schlüssel zu allem: Nur er hielt mich davon ab, Oswald zu ermorden, sobald er mir gegenüber einzog. George de Mohrenschildt, ein auf die Exploration von Öllagerstätten spezialisierter Geologe, der mit Bohrrechten spekulierte. Ein Mann mit dem Lebensstil eines Playboys, den ihm vor allem das Geld seiner Frau ermöglichte. Wie Marina war er Exilrusse, aber im Gegensatz zu ihr stammte er aus einer Adelsfamilie – tatsächlich war er Baron de Mohrenschildt. Der Mann, der in den wenigen Monaten, die Lee Oswald noch zu leben hatte, sein einziger Freund werden würde. Der Mann, der Oswald suggerieren würde, die Welt sei ohne einen bestimmten rassistischen, rechtsextremen Exgeneral besser daran. Sollte sich herausstellen, dass de Mohrenschildt an Oswalds Attentat auf Edwin Walker aktiv beteiligt war, würde das meine Situation ungeheuer komplizieren; dann würden alle verrückten Verschwörungstheorien ins Spiel kommen. Al glaubte jedoch, dass der russische Geologe nichts weiter getan hatte (oder vielmehr tun würde; das Leben in der Vergangenheit war wie schon gesagt verwirrend), als einen Mann aufzuhetzen, der bereits krankhaft ruhmsüchtig und mental labil war.

In seinen Notizen hatte Al festgehalten: Falls Oswald am Abend des 10. April 1963 allein war, geht die Wahrscheinlichkeit, dass am Attentat auf Kennedy sieben Monate später ein zweiter Schütze beteiligt war, gegen null.

Darunter hatte er in Großbuchstaben sein abschließendes Urteil gesetzt: GROSS GENUG, UM DEN HUNDESOHN ZU ERLEDIGEN.

9

Die kleinen Mädchen zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, hatte mich an den alten Hitchcock-Klassiker Das Fenster zum Hof mit James Stewart erinnert. Man konnte viel beobachten, ohne das eigene Wohnzimmer jemals verlassen zu müssen. Vor allem, wenn man die richtigen Hilfsmittel hatte.

Am nächsten Tag ging ich in ein Sportgeschäft, kaufte ein Fernglas von Bausch & Lomb und nahm mir vor, mich vor Lichtreflexen auf den Objektiven in Acht zu nehmen. Weil die Nummer 2703 auf der Ostseite der Mercedes Street lag, konnte mir in dieser Beziehung meiner Einschätzung nach ab Mittag nichts passieren. Als ich das Fernglas durch die einen Spalt weit geöffneten Vorhänge schob und die Schärfe einstellte, erschien die schäbige Wohnküche auf der anderen Straßenseite so hell und detailliert, als stünde ich mittendrin.

Die Schiefe Lampe von Pisa stand weiterhin auf der Kommode mit den Küchengeräten, als würde sie darauf warten, dass jemand sie einschaltete und die Wanze aktivierte. Aber die würde mir nichts nutzen, wenn sie nicht mit dem raffinierten kleinen Bandgerät aus japanischer Produktion verbunden war, der bei langsamster Geschwindigkeit bis zu zwölf Stunden aufnehmen konnte. Ich hatte ihn ausprobiert, indem ich in die ebenfalls mit einer Wanze präparierte Reservelampe gesprochen hatte (wobei ich mir wie ein Typ in einer Woody-Allen-Komödie vorgekommen war), und obwohl die Wiedergabe sehr gedehnt klang, war das Gesagte gut verständlich. Das alles bedeutete, dass ich theoretisch so weit war.

Wenn ich mich traute.

10

In der Mercedes Street war der 4. Juli, der Unabhängigkeitstag, ein geschäftiger Tag. Männer, die frei hatten, spritzten Rasenflächen ab, die nicht mehr zu retten waren – bis auf ein paar Gewitter nachmittags und abends war das Wetter heiß und trocken gewesen –, und ließen sich dann in Gartensessel fallen, um Baseballübertragungen im Radio zu hören und Bier zu trinken. Kinderhorden warfen Feuerwerkskörper nach streunenden Hunden und den wenigen freilaufenden Hühnern. Eines der Hühner wurde von einem Knallkörper getroffen und explodierte in einer Masse aus Blut und Federn. Das Kind, das ihn geworfen hatte, wurde von seiner laut kreischenden Mutter, die nichts als einen Schlüpfer und eine Farmall-Baseballmütze trug, in eines der Häuser entlang der Straße gezerrt. Ihr unsicherer Gang ließ mich vermuten, dass sie selbst ein paar Bierchen intus hatte. Eine Art Feuerwerk gab es kurz nach zehn Uhr abends, als jemand – vermutlich der Teenager, der die Reifen meines Cabrios zerstochen hatte – einen alten Studebaker anzündete, der seit ungefähr einer Woche abgemeldet auf dem Parkplatz des Montgomery-Ward-Lagerhauses stand. Die Feuerwehr kam, um den Brand zu löschen, und die ganze Straße lief zusammen, um bei den Löscharbeiten zuzusehen.

Heil dir, Columbia.

Am Morgen danach ging ich hinüber, um mir das ausgebrannte Autowrack anzusehen, das traurig auf den geschmolzenen Überresten seiner Reifen stand. Als ich in der Nähe der Ladebuchten des Lagerhauses eine Telefonzelle entdeckte, rief ich aus einem Impuls heraus Ellen Dockerty an, indem ich die Telefonistin die Nummer heraussuchen und mich mit ihr verbinden ließ. Ich machte das aus Einsamkeit und Heimweh, aber vor allem, weil ich Nachrichten von Sadie hören wollte.

Ellie meldete sich nach dem zweiten Klingeln und schien entzückt zu sein, meine Stimme zu hören. Das ließ mich in meiner bereits glühheißen Telefonzelle lächeln, während die Mercedes Street sich hinter mir von dem Glorreichen Vierten ausschlief und ich den Gestank von verbranntem Gummi in der Nase hatte.

»Sadie geht es gut. Sie hat mir zwei Postkarten und einen Brief geschrieben. Sie arbeitet bei Harrah’s als Bedienung.« Sie senkte die Stimme. »Sie serviert Cocktails, glaube ich, aber von mir erfährt der Schulausschuss das nie.«

Ich stellte mir Sadies lange Beine im kurzen Rock einer Cocktailkellnerin vor. Ich stellte mir vor, wie Geschäftsleute versuchten, den Oberrand ihrer Strümpfe zu sehen oder ihr ins Dekolleté zu starren, wenn sie sich vorbeugte, um Drinks auf den Tisch zu stellen.

»Sie hat nach Ihnen gefragt«, sagte Ellie, was mich wieder lächeln ließ. »Ich wollte ihr nicht erzählen, dass Sie spurlos verschwunden sind, jedenfalls aus Sicht aller in Jodie, deshalb habe ich behauptet, Sie arbeiten fleißig an Ihrem Buch und sind guter Dinge.«

Ich hatte The Murder Place seit über einem Monat kein einziges Wort hinzugefügt, und als ich das Manuskript zweimal in die Hand genommen und zu lesen versucht hatte, schien es in der punischen Sprache des dritten Jahrhunderts vor Christus verfasst worden zu sein. »Freut mich, dass es ihr gutgeht.«

»Ihre Residenzpflicht ist Ende des Monats erfüllt, aber sie will noch bis zum Ende der Sommerferien in Reno bleiben. Die Trinkgelder sind sehr gut, sagt sie.«

»Haben Sie sie um ein Foto von ihrem zukünftigen Exmann gebeten?«

»Kurz vor ihrer Abreise. Sie hat gesagt, sie hat keins. Sie glaubt, dass ihre Eltern mehrere haben, wollte ihnen aber nicht schreiben und sie um eins bitten. Offenbar haben ihre Eltern die Ehe nie aufgegeben, und Sadie wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Außerdem hat sie gesagt, dass sie Ihre Reaktion für übertrieben hält. Maßlos übertrieben.«

Das klang ganz nach meiner Sadie. Nur war sie nicht mehr mein. Jetzt war sie nur he, Bedienung, bringen Sie uns noch ’ne Runde … und beugen Sie sich diesmal ein bisschen tiefer runter. Jeder Mensch besaß einen Eifersuchtsnerv, und meiner vibrierte am Morgen des 5. Juli heftig.

»George? Ich bin überzeugt, dass Sadie Sie immer noch mag. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das ganze Durcheinander aufzuklären.«

Ich dachte an Lee Oswald, der sein Attentat auf General Edwin Walker erst in neun Monaten verüben würde. »Es ist zu früh«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Nichts. Es war schön, mit Ihnen zu reden, Miz Ellie, aber die Telefonistin wird mich gleich auffordern, mehr Geld einzuwerfen, und ich habe keine Quarter mehr.«

»Sie haben wohl keine Zeit, auf einen Hamburger und einen Milchshake vorbeizuschauen? Vielleicht im Diner? Dann würde ich Deke Simmons dazu einladen. Er fragt fast täglich nach Ihnen.«

Der Gedanke, nach Jodie zurückzukehren und meine Freunde aus der Highschool wiederzusehen, war ungefähr das Einzige, was mich an diesem Morgen aufheitern konnte. »Gern, Miz Ellie. Wäre heute Abend zu früh? Gegen fünf Uhr?«

»Das wäre ideal. Wir Landmäuse essen früh.«

»Gut. Dann bis später. Die Runde geht auf mich.«

»Wir können ja eine Münze werfen.«

11

Al Stevens hatte ein Mädchen eingestellt, das ich aus dem Wirtschaftssprache-Unterricht kannte, und ich war gerührt darüber, wie sehr sie strahlte, als sie sah, wer da bei Ellie und Deke saß. »Mr. Amberson! Wow, großartig, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen?«

»Gut, Dorrie«, sagte ich.

»Nun, bestellen Sie nur ordentlich. Sie haben abgenommen.«

»Das stimmt«, sagte Ellie. »Sie brauchen jemand, der sich um Sie kümmert.«

Dekes mexikanische Sonnenbräune war verblasst, was mir verriet, dass er seinen Ruhestand größtenteils im Haus verbrachte, und was ich abgenommen hatte, hatte er zugelegt. Er schüttelte mir kräftig die Hand und sagte, dass es ihn freue, mich zu sehen. Deke war ein Mensch, der keine Verstellung kannte. Das traf übrigens auch auf Ellen Dockerty zu. Dass ich diesen Ort zugunsten der Mercedes Street verlassen hatte, wo sie den Unabhängigkeitstag damit feierten, dass sie Hühner in die Luft jagten, kam mir unabhängig davon, was ich über die Zukunft wusste, zunehmend verrückter vor. Ich konnte nur hoffen, dass Kennedy das wert war.

Wir aßen Hamburger, dünne, fettheiße Pommes frites und Apfelkuchen mit Eis. Wir sprachen darüber, wer was machte, und lachten über Danny Laverty, der endlich sein lange angekündigtes Buch schrieb. Ellie berichtete, dass Dannys Frau ihr erzählt habe, das erste Kapitel sei überschrieben mit »Ich stürze mich ins Kampfgetümmel«.

Als Deke nach dem Essen seine Pfeife mit Prince Albert stopfte, griff Ellen in die Tragetasche, die sie unter den Tisch gestellt hatte, und zog ein großes Buch heraus, das sie mir über unsere leer gegessenen Teller hinhielt. »Seite neunundachtzig. Und passen Sie bitte auf, dass kein Ketchup drankommt, ja? Das Buch ist nur geliehen, und ich möchte es so zurückgeben, wie ich es bekommen habe.«

Das Jahrbuch mit dem Titel Tiger Tails kam aus einer Highschool, die offenbar weit schicker war als die DCHS. Tiger Tails war in Leder statt in Leinen gebunden, das Papier war dick und glänzend, und der Anzeigenteil hinten war mindestens hundert Seiten stark. Die Einrichtung, die hier vorgestellt wurde – bejubelt traf es eher –, war die Longacre Day School in Savannah. Ich blätterte die Seiten mit der reinweißen Oberstufe durch und stellte mir vor, dass es dort bis zum Jahr 1990 ein paar schwarze Gesichter geben würde. Vielleicht.

»Heiliger Strohsack«, sagte ich. »Sadie muss auf einen Haufen Kohle verzichtet haben, als sie aus Savannah nach Jodie gekommen ist.«

»Ich glaube, dass sie unbedingt wegwollte«, sagte Deke ruhig. »Und sie hatte bestimmt ihre Gründe.«

Ich schlug Seite neunundachtzig mit der Überschrift FACHBEREICH NATURWISSENSCHAFTEN auf. Darunter ein nicht sehr einfallsreiches Gruppenfoto von vier Lehrern, die in weißen Laborkitteln dampfende Phiolen hochhielten – was wohl an Dr. Jekyll erinnern sollte –, und dann folgten vier Porträtfotos. John Clayton sah Lee Oswald überhaupt nicht ähnlich, hatte jedoch ebenso ein angenehmes Allerweltsgesicht, und seine Mundwinkel waren zu dem gleichen angedeuteten Lächeln hochgezogen. War das leichte Belustigung oder kaum getarnte Verachtung? Teufel noch mal, vielleicht war dies einfach nur das Beste, wozu der von Zwangsvorstellungen beherrschte Hundesohn imstande gewesen war, als der Fotograf ihm den »Cheese«-Befehl gegeben hatte. Auffällig an seinem Gesicht waren nur die leicht eingesunkenen Schläfen, die irgendwie zu den Grübchen an den Mundwinkeln passten. Auf diesem Schwarz-Weiß-Foto waren seine Augen so hell, dass sie auf mich blau oder grau wirkten.

Ich drehte das Buch um, damit meine Freunde ihn betrachten konnten. »Sehen Sie diese eingesunkenen Schläfen? Sind das ganz natürliche Gesichtsmerkmale wie eine Hakennase oder ein Grübchen im Kinn?«

»Nein«, sagten beide wie aus einem Mund, was ziemlich komisch wirkte.

»Das sind Zangenspuren«, sagte Deke. »Die sind entstanden, als der Arzt nicht länger warten wollte und ihn aus dem Mutterleib gezogen hat. In den meisten Fällen verschwinden sie wieder, aber eben nicht in allen. Wenn sein Haar nicht schon schütter wäre, würde man sie wohl gar nicht sehen.«

»Und er war nicht hier und hat sich nach Sadie erkundigt?«, fragte ich.

»Nein.« Das sagten sie wieder im Chor. Ellen fügte hinzu: »Niemand hat sich nach ihr erkundigt. Außer Ihnen, George. Sie verdammter Narr.« Sie lächelte wie jemand, der eine scheinbar scherzhafte Bemerkung in Wirklichkeit ernst gemeint hatte.

Ich sah auf meine Uhr und sagte: »Ich habe euch lange genug aufgehalten, Leute. Wird Zeit, dass ich wieder zurückfahre.«

»Hast du Lust, beim Footballfeld vorbeizuschauen, bevor du fährst?«, fragte Deke. »Coach Borman wollte, dass ich dich darum bitte. Er lässt die Jungs natürlich schon wieder trainieren.«

»Wenigstens nur abends, wenn es kühler ist«, sagte Ellie und stand auf. »Dafür muss man schon dankbar sein. Weißt du noch, wie der kleine Hastings vor drei Jahren mit einem Hitzschlag umgekippt ist, Deke? Und wie alle dachten, es wäre ein Herzanfall?«

»Ich weiß nicht, was er von mir wollen könnte«, sagte ich. »Schließlich habe ich einen seiner kostbaren Verteidiger auf die dunkle Seite des Universums gelockt.« Ich senkte die Stimme und flüsterte heiser: »Darstellende Künste!«

Deke lächelte. »Das schon, aber du hast einen anderen Spieler davor bewahrt, zwangsweise ein Jahr auszusetzen. Zumindest glaubt Borman das. Weil Jim LaDue es ihm erzählt hat, mein Sohn.«

Zuerst hatte ich keine Ahnung, wovon er redete. Dann fiel mir der Sadie Hawkins Dance ein, und ich grinste. »Ich habe die Jungs nur mit einer Flasche Fusel erwischt. Ich habe sie ihnen abgenommen und über den Zaun geworfen.«

Deke lächelte nicht mehr. »Einer der drei war Vince Knowles. Weißt du, dass er betrunken war, als er sich mit seinem Pick-up überschlagen hat?«

»Nein.« Aber das überraschte mich ganz und gar nicht. Autos und Alkohol waren ein beliebter und manchmal tödlicher Highschool-Cocktail.

»Yessir. Dieser Unfall und die Strafpredigt, die du den dreien gehalten hast, haben LaDue dazu gebracht, dem Alkohol abzuschwören.«

»Was genau haben Sie ihnen denn damals gesagt?«, fragte Ellie. Sie fummelte ihre Geldbörse aus der Handtasche, aber ich war zu sehr in Erinnerungen an jene Nacht gefangen, um mit ihr wegen der Rechnung zu streiten. Versaut euch eure Zukunft nicht – das hatte ich gesagt. Und Jim LaDue, der Junge mit dem lässigen Die-Welt-gehört-mir-Grinsen, hatte meine Warnung tatsächlich beherzigt. Wir wussten nie, wessen Leben wir beeinflussten – oder wann oder wie. Jedenfalls nicht, bevor die Zukunft sich die Gegenwart einverleibt hat. Wir wussten es erst, wenn es zu spät war.

»Das weiß ich nicht mehr«, sagte ich.

Ellie trottete davon, um für uns alle zu bezahlen.

»Sag Miz Dockerty, sie soll Ausschau nach dem Mann auf diesem Foto halten, Deke«, sagte ich. »Du natürlich auch. Vielleicht kreuzt er gar nicht auf. Ich fange schon an zu glauben, dass ich mich in dieser Beziehung vielleicht geirrt habe, aber er könnte aufkreuzen. Und er ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Deke versprach mir, es weiterzugeben.

12

Ich schaffte es fast nicht, auf dem Footballfeld vorbeizuschauen. Jodie war im schrägen Licht dieses Abends Anfang Juli besonders schön, und ich glaube, dass ich möglichst nach Fort Worth wollte, bevor ich den Willen verlor, dorthin zurückzukehren. Ich frage mich, wie viel anders gelaufen wäre, wenn ich auf diesen kleinen Ausflug verzichtet hätte? Vielleicht nichts. Vielleicht eine Menge.

Coach Borman übte mit den Spielern der Sondermannschaft die letzten zwei oder drei Spielzüge, während die übrigen Spieler mit abgenommenem Helm und verschwitztem Gesicht auf der Bank saßen. »Rot zwo, Rot zwo!«, brüllte er. Dann sah er Deke und mich und hob eine Hand mit gespreizten Fingern: fünf Minuten. Er wandte sich wieder der kleinen, müden Schar auf dem Feld zu. »Noch mal von vorn! Zeigt mir, wie ihr den kühnen Sprung von Blödmännern zu Lahmärschen schafft, okay?«

Bei einem Blick übers Feld sah ich einen Kerl in einem unglaublich grell gemusterten Sportsakko. Er trabte mit aufgesetztem Kopfhörer die Seitenlinie entlang und hielt dabei etwas in den Händen, was wie eine Salatschüssel aussah. Seine Brille erinnerte mich an jemand. Zunächst konnte ich keine Verbindung herstellen, aber dann kam es mir: Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Silent Mike McEachern. Mit meinem persönlichen Mr. Wizard.

»Wer ist das?«, fragte ich Deke.

Er kniff die Augen zusammen. »Weiß der Teufel.«

Der Trainer klatschte in die Hände und schickte die Jungs unter die Dusche. Dann kam er zur Tribüne herüber und schlug mir kräftig auf den Rücken. »Wie geht’s, wie steht’s, Shakespeare?«

»Ziemlich gut«, sagte ich tapfer lächelnd.

»Shakespeare, kick in the rear, das haben wir als Halbstarke gesagt.« Er lachte herzhaft über den Arschtrittspruch.

»Und wir haben gesagt: Coach, Coach, step on a roach«, revanchierte ich mich mit einem Kakerlakenspruch.

Coach Borman wirkte verwirrt. »Wirklich?«

»Nein, nur ’n kleiner Scherz am Rande.« Ich wünschte mir, ich hätte meinen ersten Impuls beherzigt und wäre nach dem Essen aus der Stadt verschwunden. »Wie sieht es mit dem Team aus?«

»Ach, das sind gute Jungs, geben ihr Bestes, aber ohne Jimmy ist es einfach nicht das Gleiche. Haben Sie die neue Tafel an der Stelle gesehen, wo die 109 vom Highway 77 abzweigt?« Nur sprach er die Zahl als siem-siem aus.

»Wahrscheinlich hab ich sie so oft gesehen, dass sie mir nicht mehr auffällt.«

»Also, die Tafel müssen Sie sich auf der Rückfahrt ansehen, Partner. Die Werbeagentur hat sich selbst übertroffen. Jimmys Mama hat fast geheult, als sie sie gesehen hat. Wie ich gehört hab, bin ich Ihnen Dank dafür schuldig, dass Sie diesen jungen Mann dazu gebracht haben, dem Alkohol abzuschwören.« Er nahm die Mütze mit dem großen C ab, wischte sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn, setzte die Mütze wieder auf und seufzte schwer. »Wahrscheinlich müsste ich dem Blödmann Vince Knowles auch dankbar sein, aber ihn auf meine Gebetsliste zu setzen ist so ziemlich alles, was ich tun kann.«

Ich erinnerte mich, dass der Trainer ein Baptist der Hardcore-Sorte war. Außer an Gebetslisten glaubte er wahrscheinlich auch den ganzen Scheiß über Noahs Söhne.

»Nichts zu danken«, sagte ich. »Ich hab nur meine Pflicht getan.«

Er starrte mich durchdringend an. »Das sollten Sie weiter tun, statt sich wegen ’nem Buch einen runterzuholen. Tut mir leid, wenn das zu grob war, aber das denk ich eben.«

»Ist schon in Ordnung.« Das meinte ich ernst. Ich mochte ihn dafür, dass er das gesagt hatte. In einer anderen Welt hätte er sogar recht haben können. Ich zeigte übers Feld, wo der Silent-Mike-Doppelgänger jetzt die Salatschüssel in einem Blechkasten verstaute. Den Kopfhörer hatte er noch um den Hals hängen. »Wer ist das, Coach?«

Coach Borman schnaubte. »Er heißt Hale Duff, glaub ich. Oder vielleicht Cale. Neuer Sportreporter beim Big Damn.« Damit meinte er KDAM, die einzige Rundfunkstation in der Denholm County – ein klitzekleiner Lokalsender, der morgens Berichte aus der Landwirtschaft, nachmittags Countrymusic und nach Schulschluss Rock ’n’ Roll brachte. Den jugendlichen Hörern gefiel das Pausenzeichen des Senders so gut wie die Musik; nach einer lauten Detonation sagte die Stimme eines alten Cowboys: »K-DAM! Das war der volle Bums!« Im Land des Einst galt das als das Äußerste an gewagtem Witz.

»Wofür soll dieses Gerät gut sein, Coach?«, fragte Deke. »Haben Sie eine Ahnung?«

»Allerdings«, sagte Borman. »Und wenn er glaubt, dass ich ihn das Ding bei einer Spielübertragung einsetzen lasse, täuscht er sich gewaltig. Glaubt ihr etwa, ich will, dass jeder, der ein Radio besitzt, mithören kann, wie ich meine Jungs als eine Bande von Schlappschwänzen bezeichne, wenn sie nicht mal im dritten Down auf kurze Distanz einen Rush abwehren können?«

Ich wandte mich ihm ganz langsam zu. »Wovon reden Sie eigentlich?«

»Ich hab ihm nicht geglaubt, also hab ich’s selbst ausprobiert«, sagte der Coach. Dann mit wachsender Empörung: »Da hab ich gehört, wie Boof Redford einem Neuntklässler erzählt, dass meine Eier größer als mein Gehirn sind!«

»Also wirklich?«, sagte ich. Mein Puls hatte sich spürbar beschleunigt.

»Duffer da sagt, dass er das Gerät in seiner gottverdammten Garage gebaut hat«, knurrte der Trainer. »Bei voller Antennenleistung kann er angeblich ’ne Katze noch eine Straße weiter furzen hören. Das ist natürlich Unsinn, aber Redford war auf der anderen Seite vom Spielfeld, als ich seine freche Bemerkung gehört hab.«

Der Sportreporter, der gerade mal wie vierundzwanzig aussah, hob den Blechkasten hoch und winkte uns mit der freien Hand zu. Coach Borman winkte zurück, aber dann murmelte er: »Der Spieltag, an dem ich ihn mit diesem Ding auf mein Feld lasse, ist der Tag, an dem ich ’nen Kennedy-Sticker an meinen beschissenen Dodge klebe.«

13

Es war schon fast dunkel, als ich die Kreuzung von Highway 77 und State Road 109 erreichte, aber im Osten ging ein aufgedunsener orangeroter Mond auf, der mir die Werbetafel deutlich genug zeigte. Jim LaDue, dem eine schwarze Locke heroisch in die Stirn fiel, lächelte mit seinem Helm in der einen und einem Football in der anderen Hand auf mich herab. Über dem Bild stand in mit US-Sternen verzierten Lettern: GLÜCKWUNSCH AN JIM LADUE, ALL-STATE QUARTERBACK 1960 UND 1961! VIEL GLÜCK IN ALABAMA! WIR WERDEN DICH NIE VERGESSEN!

Und darunter in roten Lettern, die zu schreien schienen:

»JIMLA!«

14

Zwei Tage später betrat ich den Satellite-Electronics-Laden und wartete, während mein Lieferant einem Kaugummi kauenden Teenager ein Transistorradio von der Größe eines iPods verkaufte. Als er zur Tür hinaus war (schon mit dem kleinen Hörer im Ohr), wandte Silent Mike sich mir zu. »He, wenn das nicht mein alter Kumpel Doe ist! Was kann ich heute für Sie tun?« Er senkte die Stimme zu einem Verschwörerflüstern: »Noch mehr verwanzte Lampen?«

»Heute nicht«, sagte ich. »Sagen Sie, haben Sie schon mal was von einem Richtmikrofon gehört?«

Er grinste breit. »Mein Freund«, sagte er. »Sie sind wieder mal an der richtigen Quelle.«

Kapitel 18

1

Ich ließ ein Telefon installieren und rief als Erste Ellen Dockerty an, die mir bereitwillig Sadies Adresse in Reno gab. »Ich habe auch die Telefonnummer der Pension, in der sie wohnt«, sagte Ellen. »Wenn Sie die wollen.«

Ich wollte sie natürlich, aber wenn ich sie hätte, würde ich irgendwann der Versuchung erliegen, Sadie anzurufen. Irgendetwas sagte mir, dass das ein Fehler gewesen wäre.

»Danke, die Adresse genügt.«

Sobald ich aufgelegt hatte, schrieb ich Sadie einen Brief; ich hasste meinen gestelzten, künstlichen Plauderton, wusste aber nicht, wie ich davon wegkommen sollte. Der gottverdammte Besenstiel lag weiter zwischen uns. Und was war, wenn sie dort draußen einen spendablen Sugardaddy kennenlernte und mich ganz vergaß? War das nicht denkbar? Mit ihr konnte er jedenfalls eine Menge Spaß im Bett haben; sie hatte schnell gelernt und war dort so agil wie auf der Tanzfläche. Da meldete sich wieder mein Eifersuchtsnerv, und ich beendete den Brief eilig mit dem Bewusstsein, dass das Geschriebene wehleidig und gefühllos klang. Ich wollte die Künstlichkeit irgendwie durchbrechen und etwas Ehrliches sagen:

Du fehlst mir sehr, und es tut mir verdammt leid, dass wir so auseinandergegangen sind. Ich weiß nur nicht, wie ich daran etwas ändern soll. Ich habe einen Job zu erledigen, der erst im kommenden Frühjahr abgeschlossen sein wird. Vielleicht nicht einmal dann, obwohl ich es hoffe. Bitte vergiss mich nicht. Ich liebe Dich, Sadie.

Ich unterschrieb mit George, was das bisschen Ehrlichkeit, zu der ich mich durchgerungen hatte, wieder aufzuheben schien. Darunter setzte ich den Nachsatz Nur für den Fall, dass du anrufen möchtest und meine neue Telefonnummer. Dann ging ich hinunter zur Benbrook Library und warf meinen Brief in den großen, blauen Briefkasten vor der Bibliothek. Mehr konnte ich im Augenblick nicht tun.

2

In Als Notizbuch waren drei Fotos eingeklebt, die er im Internet gefunden und ausgedruckt hatte. Eines zeigte George de Mohrenschildt in einem grauen Bankiersanzug mit weißem Ziertaschentuch in der Brusttasche. Seine Haare waren im Managerstil der damaligen Zeit aus der Stirn zurückgekämmt und ordentlich gescheitelt. Auf seinen vollen Lippen stand ein Lächeln, das mich an das Bett von Baby Bear aus der Sesamstraße erinnerte: nicht zu hart, nicht zu weich, genau richtig. Kein Anflug von dem wahrhaft Irren, den ich bald beobachten würde, wie er sich auf der Veranda des Hauses Mercedes Street 2703 das Hemd aufriss. Oder vielleicht doch ein Anflug. Etwas in den dunklen Augen. Eine gewisse Arroganz. Ein Anflug jenes beliebten Ihr-könnt-mich-mal-Blicks.

Das zweite Foto zeigte das aus Bücherkartons erbaute, berüchtigte Schützennest im fünften Stock des Schulbuchlagers.

Auf dem dritten Foto hielt der ganz in Schwarz gekleidete Oswald sein Gewehr aus dem Versandhandel in der einen und einige Linken-Zeitschriften in der anderen Hand. Der Revolver, mit dem er auf seiner vergeblichen Flucht den Streifenpolizisten J. D. Tippit aus Dallas erschießen würde – wenn ich ihn nicht daran hinderte –, steckte in Ozzies Gürtel. Diese Aufnahme von ihm würde Marina weniger als zwei Wochen vor dem Attentat auf General Walker machen. Aufgenommen wurde das Foto in dem schlecht einsehbaren Garten neben der West Neely Street 214 in Dallas, einem Haus mit zwei Wohnungen.

Während ich darauf wartete, dass die Familie Oswald in Fort Worth in die Bruchbude gegenüber meiner einzog, besuchte ich die West Neely Street 214 öfter. Dallas war echt abgefuckt, wie meine Schüler im Jahr 2011 gesagt hätten, aber die West Neely Street lag in einem etwas besseren Viertel als die Mercedes Street. Auch dort stank es natürlich – im Jahr 1962 roch fast ganz Mitteltexas wie eine nicht richtig funktionierende Raffinerie –, aber nicht nach Abwasser und Scheiße. Die Straße hatte Schlaglöcher, aber sie war asphaltiert. Und es gab keine Hühner.

Im ersten Stock von Nummer 214 wohnte im Augenblick ein junges Paar mit drei Kindern. Wenn es auszog, würden die Oswalds dort einziehen. Mich interessierte vor allem die Erdgeschosswohnung, denn sobald Lee, Marina und June oben einzogen, wollte ich unten wohnen.

Im Juli 1962 wohnten im Erdgeschoss zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen waren dick, bewegten sich träge und hatten eine Schwäche für zerknitterte, ärmellose Kittelschürzen. Eine war Mitte sechzig und hinkte beim Gehen stark. Die andere war Ende dreißig oder Anfang vierzig. Sie sahen sich so ähnlich, dass sie Mutter und Tochter sein mussten. Der zum Skelett abgemagerte Mann saß im Rollstuhl. Das schüttere Haar umgab seinen Kopf wie eine weiße Wolke. In seinem Schoß lag ein an einen dicken Katheder angeschlossener Beutel mit trübem Urin. Er rauchte ständig, wozu er den an eine Armlehne des Rollstuhls geschraubten Aschenbecher benutzte. In jenem Sommer sah ich ihn in stets gleicher Aufmachung: Baseballshorts aus rotem Satin, die seine mageren Schenkel bis fast zum Schritt sehen ließen, ein Unterhemd fast im selben Gelb wie der Urinschlauch, von Klebeband zusammengehaltene Turnschuhe und ein großer, schwarzer Cowboyhut mit einem Hutband, das aus Schlangenleder zu sein schien. Vorn auf dem Hut prangten zwei gekreuzte Kavalleriesäbel. Seine Frau oder seine Tochter schob ihn auf den Rasen, auf dem er zusammengesunken und still wie eine Statue unter einem Baum saß. Ich begann ihm zuzuwinken, wenn ich langsam vorbeifuhr, aber er hob nie die Hand, obwohl er meinen Wagen offenbar erkannte. Vielleicht fürchtete er sich davor, mein Winken zu erwidern. Vielleicht glaubte er, dass er vom Todesengel begutachtet wurde, der in Dallas seine Runden statt auf dem Rücken eines Rappen am Steuer eines alten Ford-Cabrios drehte. In gewisser Weise war ich das wohl auch.

Die drei sahen aus, als wohnten sie schon länger dort. Würden sie nächstes Jahr, wenn ich die Wohnung brauchte, noch da sein? Ich wusste es nicht. In Als Notizen stand nichts über sie. Vorläufig konnte ich sie nur beobachten und abwarten.

Ich holte mein neues Gerät ab, das Silent Mike für mich zusammengebaut hatte. Ich wartete darauf, dass mein Telefon klingelte. Das tat es dreimal, und ich lief jedes Mal hoffnungsvoll hin. Zweimal rief Miz Ellie an, um mit mir zu plaudern. Einmal war es Deke, der mich zum Abendessen einlud – eine Einladung, die ich dankbar annahm.

Sadie rief nicht an.

3

Am 3. August bog ein 58er Chevrolet Bel Air in die miserable Einfahrt der Nummer 2703 ein. Ihm folgte ein frisch gewaschener Chrysler. Die Brüder Oswald stiegen aus dem Bel Air und blieben nebeneinander stehen, ohne sich zu unterhalten.

Ich griff vorsichtig durch den Vorhang, um mein Fenster zur Straße hin hochzuschieben, wodurch ich Straßenlärm und einen matten Hauch von feuchtheißer Luft einließ. Dann lief ich ins Schlafzimmer und holte mein neues Gerät unter dem Bett hervor. Silent Mike hatte in den Boden einer Tupperware-Schale ein Loch geschnitten und das Richtmikrofon – das Beste auf dem Markt, wie er mir versicherte – so hineingeklebt, dass es wie ein Finger herausstand. Ich verband das Mikrofonkabel mit den Kontakten auf der Rückseite des Tonbandgeräts und zog die Schrauben fest an. Es gab auch eine Buchse für den Stecker des Kopfhörers, nach Auskunft meines Elektronikexperten ebenfalls ein erstklassiges Modell.

Ich spähte durch den Vorhangspalt und sah die Oswalds mit dem Kerl aus dem Chrysler reden. Er trug einen Stetson, eine Rancherkrawatte und reich bestickte Stiefel. Besser angezogen als mein Hausherr, aber vom selben Stamm. Ich brauchte das Gespräch nicht zu belauschen; die Gesten des Mannes waren prototypisch. Ich weiß, es macht nicht viel her. Andererseits, Sie habenja auch nicht viel. Stimmt doch, Partner, oder? Das musste für einen Weltreisenden wie Lee, der zu Ruhm bestimmt zu sein glaubte, wenn auch nicht unbedingt zu Reichtum, schwer verdauliche Kost sein.

In die Fußbodenleiste war eine Steckdose eingelassen. Ich steckte das Bandgerät ein, das mir hoffentlich keinen Schlag versetzen oder die Sicherung durchbrennen lassen würde. Die kleine, rote Kontrollleuchte brannte. Ich setzte den Kopfhörer auf und schob die Tupperware-Schale durch den Vorhangspalt. Falls die Männer zu mir herübersahen, würden sie in die Sonne blinzeln müssen und in dem vom Dachüberhang beschatteten Fenster nichts oder nur einen unbestimmten hellen Fleck sehen, der alles Mögliche sein konnte. Trotzdem nahm ich mir vor, die Schale mit schwarzem Abdeckband zu bekleben. Vorsicht konnte nie schaden.

Aber ich hörte nichts.

Sogar der Straßenlärm klang gedämpft.

Na wunderbar, dachte ich. Einfach brillant! Vielen Dank, Silent Mi…

Dann sah ich, dass der Lautstärkeregler des Tonbandgeräts auf null stand. Ich drehte ihn ganz nach rechts, und prompt wurden meine Ohren von Stimmen fast zerbombt. Fluchend riss ich mir den Kopfhörer herunter, drehte dann den Knopf neben der Aufschrift VOL halb zurück und versuchte es noch einmal. Das Ergebnis war bemerkenswert. Als hätte ich ein Fernglas für die Ohren.

»Sechzig pro Monat ist ein bisschen teuer, Sir«, sagte Lee Oswald gerade (bedachte man, dass die Templetons im Monat zehn Dollar weniger gezahlt hatten, musste man ihm zustimmen). Sein Ton war respektvoll, und er sprach mit nur angedeutetem Südstaatenakzent. »Wenn wir uns auf fünfundfünfzig einigen könnten …«

»Ich respektiere einen Mann, der zu feilschen versucht, aber probieren Sie’s gar nicht erst«, sagte Schlangenlederstiefel. Er wippte auf den leicht erhöhten Absätzen wie jemand, der es eilig hatte. »Ich muss krieng, was ich krieng muss. Krieg ich’s nicht von Ihnen, krieg ich’s von wem andres.«

Lee und Robert wechselten einen Blick.

»Am besten gehen wir mal rein und sehen’s uns an«, sagte Lee.

»Es ist ein gutes Objekt in einer Familienstraße«, sagte Schlangenlederstiefel. »Bisschen aufpassen auf der ersten Verandastufe, Leute, die braucht ’ne kleine Instandsetzung. Ich hab viele solcher Häuser, und die Mieter lassen sie bloß verkommen. Diese letzte Bande, Gott!«

Vorsicht, Arschloch, dachte ich. Du sprichst von Ivys Familie.

Sie gingen hinein. Ich verlor die Stimmen und hörte sie dann wieder – ziemlich schwach –, als Schlangenlederstiefel das Fenster zur Straße hinaus hochschob. Durch dieses Fenster könnten die Nachbarn von gegenüber in ihr Wohnzimmer sehen, hatte Ivy gesagt, und damit hatte sie hundertprozentig recht.

Lee fragte, was sein potenzieller Vermieter wegen der Löcher in den Wänden zu tun gedenke. In seiner Frage lag keine Empörung, auch kein Sarkasmus, aber auch keine Unterwürfigkeit, obwohl er an fast jeden Satz ein Sir anhängte. Diese respektvolle, aber doch nüchterne Anredeform hatte er vermutlich bei den Marines gelernt. Farblos war das Wort, das ihn am besten beschrieb. Er hatte das Gesicht und die Stimme eines Mannes, der sich darauf verstand, durch Ritzen zu schlüpfen. Wenigstens in der Öffentlichkeit. Es war Marina, die sein anderes Gesicht sah und seine andere Stimme hörte.

Schlangenlederstiefel machte vage Versprechungen und garantierte eine neue Matratze für das große Schlafzimmer, weil »diese letzte Bande« doch tatsächlich die alte einfach mitgenommen habe. Er wiederholte, wenn Lee das Haus nicht wolle, werde er andere Mieter finden (als ob es nicht das ganze Jahr über leer gestanden hätte), dann lud er die Brüder ein, die Schlafzimmer zu besichtigen. Ich fragte mich, wie ihnen Rosettes Wandmalereien gefallen würden.

Ich verlor ihre Stimmen, dann hörte ich sie wieder, als sie den Küchenbereich betraten. Ich freute mich, als ich sah, dass sie die Schiefe Lampe von Pisa keines Blickes würdigten.

»… Keller?«, fragte Robert.

»Kein Keller!«, antwortete Schlangenlederstiefel beinahe trompetend, als wäre der fehlende Keller ein Vorteil. Offenbar glaubte er das wirklich. »In dieser Gegend laufen alle bloß voll Wasser. Und die Feuchtigkeit, Gott!« Dann hörte ich wieder nichts mehr, als er die Hintertür öffnete und ihnen den Garten zeigte. Der allerdings kein Garten, sondern eine Brache war.

Fünf Minuten später standen sie wieder vor dem Haus. Diesmal war es Robert, der ältere Bruder, der zu feilschen versuchte. Er hatte so wenig Erfolg wie Lee.

»Lassen Sie uns eine Minute Zeit?«, fragte Robert.

Schlangenlederstiefel sah auf seine klobige, chromglänzende Armbanduhr und willigte widerstrebend ein. »Aber ich hab ’nen Termin in der Church Street, also entscheidet euch bald, Leute.«

Robert und Lee zogen sich in die Nähe des Chevrolets zurück, und obwohl sie leise sprachen, damit Schlangenlederstiefel nichts mitbekam, konnte ich das meiste hören, als ich die Schale in ihre Richtung drehte. Robert war dafür, noch einige weitere Häuser zu besichtigen. Lee sagte, er wolle dieses hier. Es sei für den Anfang genau richtig.

»Lee, das ist ein Loch«, sagte Robert. »Dafür vergeudest du …« Dein Geld, vermutete ich.

Lee antwortete etwas, was ich nicht mitbekam. Robert hob die Hände und seufzte, als würde er sich ergeben. Sie gingen zu Schlangenlederstiefel zurück, der Lee kurz die Hand schüttelte und ihm zu seiner klugen Entscheidung gratulierte. Dann setzte er zur Hausbesitzerlitanei an: zwei Monatsmieten, als Anzahlung und Kaution für Schäden. Hier mischte Robert sich ein und sagte, dass eine Kaution erst gezahlt werde, wenn die Wände repariert und die neue Matratze geliefert seien.

»Neue Matratze, klar«, sagte Schlangenlederstiefel. »Und ich lass auch die Stufe richten, damit die kleine Frau sich nicht den Knöchel verstaucht. Aber wenn ich die Wände gleich richten soll, muss ich die Miete um fünf pro Monat raufsetzen.«

Obwohl ich aus Als Notizen wusste, dass Lee das Haus mieten würde, erwartete ich fast, dass er diese empörende Forderung zurückwies. Stattdessen zog er eine schlaffe Geldbörse aus der Gesäßtasche und holte ein dünnes Bündel Scheine heraus. Von denen zählte er die meisten in die ausgestreckte Hand seines neuen Vermieters, während Robert, der angewidert den Kopf schüttelte, zu seinem Wagen zurückging. Sein Blick glitt kurz über mein Haus auf der anderen Straßenseite und wanderte dann desinteressiert weiter.

Schlangenlederstiefel schüttelte Lee noch mal die Hand, dann sprang er in seinen Chrysler und fuhr in einer kleinen Staubwolke davon.

Eines der Springseilmädchen kam auf einem verrosteten Roller herangeflitzt. »Ziehn Sie in Rosettes Haus ein, Mister?«, fragte sie Robert.

»Nein, aber er«, sagte Robert und wies mit dem Daumen auf seinen Bruder.

Sie schob den Roller zu Lee hinüber und fragte den Mann, der Jack Kennedy die rechte Kopfhälfte wegschießen würde, ob er Kinder habe.

»Ich habe ein kleines Mädchen«, sagte Lee. Er legte beide Hände auf seine Knie, um auf Augenhöhe mit ihr sprechen zu können.

»Ist sie hübsch?«

»Nicht so hübsch wie du, auch nicht so groß.«

»Kann sie seilspringen?«

»Schätzchen, sie kann noch nicht mal laufen.«

»Na, selbst schuld.« Sie rollerte zur Winscott Road davon.

Die beiden Brüder wandten sich dem Haus zu. Das machte ihre Stimmen leiser, aber als ich die Lautstärke aufdrehte, bekam ich trotzdem fast alles mit.

»Du hast die … im Sack gekauft«, erklärte Robert seinem Bruder. »Wenn Marina diese Bude sieht, macht sie dir die Hölle heiß.«

»Mit Rina … ich schon fertig«, sagte Lee. »Aber wenn ich nicht bald von Ma … und aus der kleinen Wohnung rauskomme, bring ich sie um, Bruder.«

»Sie kann verdammt … aber … liebt dich, Lee.« Robert ging einige Schritte in Richtung Straße. Als Lee sich zu ihm gesellte, waren ihre Stimmen wieder glockenrein zu hören.

»Das weiß ich, aber sie kann nicht anders. Als Rina und ich neulich Nacht zugange waren, hat sie uns vom Schlafsofa aus angekreischt. Sie pennt nämlich im Wohnzimmer. ›Macht mal halblang, ihr beidn‹, ruft sie. ›Für ’n zweites ist’s noch zu früh. Wartet, bis ihr für das eine zahlen könnt, das ihr habt.‹«

»Ja, ich weiß. Sie kann anstrengend sein.«

»Sie kauft dauernd Sachen. Sagt, dass sie für Rina sind, aber hält sie mir unter die Nase.« Lee lachte und ging zurück zum Bel Air. Diesmal war es sein Blick, der über die Nummer 2706 glitt, und ich hatte Mühe, hinter den Vorhängen stillzuhalten. Und auch die Schale nicht zu bewegen.

Robert gesellte sich zu ihm. Sie lehnten am Kofferraum: zwei Männer in sauberen, blauen Hemden und Arbeiterhosen. Lee trug eine Krawatte, die er jetzt lockerte.

»Hör dir das an. Ma geht neulich zu Leonard Brothers und kommt mit lauter Klamotten für Rina zurück. Sie zieht Shorts raus, die so lang wie Pumphosen sind, bloß mit Paisleymuster. ›Guck mal, Reenie, sind die nich hübsch?‹, fragt sie.« Lee imitierte die Stimme seiner Mutter ausgesprochen gehässig.

»Was hat Rina gesagt?«, fragte Robert lächelnd.

»Sie sagt: ›Nein, Mamotschka, nein, ich danke, aber ich nicht mögen, ich nicht mögen. Mir gefallen so.‹ Dann legt sie die Hand an ihr Bein.« Lee zeigte, was er meinte, indem er eine Hand auf halber Höhe an seinen Oberschenkel hielt.

Roberts Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Das hat Ma bestimmt gefallen!«

»Sie sagt: ›Marina, solche Shorts sind was für junge Mädchen, die sich auf der Straße zur Schau stellen, weil sie ’nen Freund suchen – nich für verheiratete Frauen.‹ Du darfst ihr nicht sagen, wo wir sind, Robert. Auf gar keinen Fall! Sind wir uns da einig?«

Robert schwieg einige Sekunden lang. Vielleicht erinnerte er sich an einen kalten Tag im November 1960. Wie seine Mama ihm auf der West Seventh Street nachgelaufen war und »Halt, Robert, geh nicht so schnell, ich bin noch nicht mit dir fertig!« gerufen hatte. Und obwohl in Als Notizen nichts darüber stand, glaubte ich nicht, dass sie mit Lee schon fertig war. Schließlich war Lee der Sohn, aus dem sie sich wirklich etwas machte. Das Nesthäkchen der Familie. Der Junge, der bis zu seinem elften Jahr in ihrem Bett geschlafen hatte. Der Junge, bei dem sie regelmäßig kontrolliert hatte, ob sein Schamhaar schon spross. Solche Dinge standen in Als Notizen. Daneben eine Randbemerkung aus zwei Wörtern, die man dem Koch eines Schnellrestaurants nicht ohne Weiteres zugetraut hätte: hysterische Fixierung.

»Klar doch, Lee, aber das hier ist keine große Stadt. Sie wird euch finden.«

»Dann jage ich sie zum Teufel. Verlass dich drauf!«

Sie stiegen in den Bel Air und fuhren davon. Das Zu-vermieten-Schild hing nicht mehr an der Veranda. Lee und Marinas neuer Hausbesitzer hatte es im Vorbeigehen mitgenommen.

Ich ging in ein Eisenwarengeschäft, kaufte eine Rolle Gewebeband und überzog damit die Tupperware-Schale innen und außen. Insgesamt war es ein guter Tag gewesen, fand ich, aber ich hatte die Gefahrenzone betreten. Das war mir bewusst.

4

Am 10. August gegen fünf Uhr nachmittags fuhr der Bel Air wieder vor, diesmal mit einem kleinen Anhänger aus Holz. Lee und Robert brauchten keine zehn Minuten, um Oswalds gesamte irdische Habe in die neue Villa zu tragen (wobei sie die immer noch nicht reparierte lose Stufe sorgfältig mieden). Während des Einzugs stand Marina mit June auf dem Arm auf dem mit Fingerhirse durchsetzten Rasen und betrachtete ihr neues Heim mit einem Ausdruck der Verzweiflung, der keine Übersetzung brauchte.

Diesmal erschienen alle drei Springseilmädchen: zwei zu Fuß, das dritte auf seinem Roller. Sie verlangten das Baby zu sehen, und Marina ging lächelnd darauf ein.

»Wie heißt sie?«, fragte eines der Mädchen.

»June«, sagte Marina.

Dann überstürzten sich die Fragen. »Wie alt ist sie? Kann sie reden? Warum lacht sie nicht? Hat sie eine Puppe?«

Marina schüttelte den Kopf. Dabei lächelte sie weiter. »Sorry, ich nich sprechen.«

Die drei Mädchen stürmten davon und kreischten: »Ich nich sprechen! Ich nich sprechen!« Eines der überlebenden Hühner aus der Mercedes Street flüchtete laut gackernd vor ihnen davon. Marinas Lächeln verblasste, während sie ihnen nachsah.

Lee kam zu ihr auf den Rasen. Er stand mit freiem Oberkörper da und schwitzte stark. Seine Haut war weiß wie ein Fischbauch. Die Arme waren dünn und schlaff. Er legte einen Arm um ihre Taille, dann beugte er sich hinunter und küsste June. Ich erwartete fast, dass Marina auf das Haus zeigen und nich mögen, ich nich mögen sagen würde – so viel Englisch konnte sie –, aber sie gab Lee nur das Baby und stieg zur Veranda hinauf. Sie schwankte kurz, als sie auf das lockere Brett trat, gewann ihr Gleichgewicht aber sofort wieder. Mir schoss durch den Kopf, dass Sadie wahrscheinlich gestürzt und dann zehn Tage lang mit einem dicken Knöchel umhergehumpelt wäre.

Außerdem sagte ich mir, dass Marina mindestens so scharf darauf sein musste, von Marguerite wegzukommen wie ihr Mann.

5

Der 10. August war ein Freitag gewesen. Am Montagmorgen, ungefähr zwei Stunden nachdem Lee das Haus verlassen hatte, um wieder einen Tag lang Windfangtüren aus Aluminium zusammenzuschrauben, hielt ein schlammfarbener Kombi vor der Nummer 2703. Der Wagen war noch gar nicht richtig zum Stehen gekommen, da stieg Marguerite Oswald bereits auf der Beifahrerseite aus. Das rote Halstuch war heute durch ein weißes mit schwarzen Punkten ersetzt worden, aber die Schwesternschuhe waren so unverändert wie ihr verdrießlich streitsüchtiger Gesichtsausdruck. Sie hatte sie aufgespürt, genau wie Robert vorausgesagt hatte.

Hound of Heaven, dachte ich. Himmelhund.

Ich spähte durch den Vorhangspalt, sah aber keinen Grund, das Mikros in Betrieb zu nehmen. Dies war eine Geschichte, die keinen Soundtrack brauchte.

Die Freundin, die sie hergefahren hatte – eine füllige Erscheinung –, zwängte sich hinter dem Lenkrad hervor und fächelte sich dann mit einer Hand Kühlung zu. Der Tag war schon wieder glutheiß, aber Marguerite schien das nichts auszumachen. Sie scheuchte ihre Chauffeurin zur Heckklappe des Kombis. Der Laderaum enthielt einen Hochstuhl und eine Tragetasche mit Lebensmitteln. Marguerite nahm den Stuhl; ihre Freundin schnappte sich die Tragetasche.

Das Springseilmädchen mit dem Roller kam heran, aber Marguerite fertigte es kurz ab. Ich hörte »Fort mit dir, Kind!« und sah die Kleine wegfahren und dabei einen Flunsch ziehen.

Marguerite marschierte den kahlen Trampelpfad zur Haustür entlang. Während sie die lose Stufe begutachtete, kam Marina heraus. Sie trug ein Babydoll-Top und die Art Shorts, die Mrs. Oswald bei verheirateten Frauen nicht billigte. Mich wunderte nicht, dass Marina solche kurzen Hosen mochte. Sie hatte tolle Beine. Aus ihrer Miene sprach überraschte Besorgnis, und ich brauchte keinen improvisierten Verstärker, um sie zu hören.

»Nein, Mamotschka … Mamotschka, nein! Lee sagen nein! Lee sagen nein! Lee sagen …« Dann ein paar rasche Sätze auf russisch, als Marina die Äußerungen ihres Mannes in der einzigen Sprache wiedergab, die sie fließend beherrschte.

Marguerite Oswald gehörte zu den Amerikanern, nach deren Überzeugung einen jeder Ausländer verstand, wenn man nur langsam sprach … und sehr LAUT.

»Ja … Lee … hat … seinen … STOLZ!«, trompetete sie. Sie kam auf die Veranda (wobei sie die defekte Stufe geschickt mied) und schrie ihrer verblüfften Schwiegertochter direkt ins Gesicht. »Das … ist … in … Ordnung … aber … das … darf … nicht … auf … KOSTEN … meiner … ENKELIN … gehen!«

Sie war stämmig. Marina war gertenschlank. »Mamotschka« stürmte an ihr vorbei, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Nun entstand eine kleine Pause, dann folgte das Brüllen eines Schauermanns.

»Wo steckt meine kleine SÜSSE?«

Tief im Inneren des Hauses, vermutlich in Rosettes ehemaligem Zimmer, begann June zu heulen.

Die Frau, die Marguerite hergefahren hatte, lächelte Marina zaghaft zu, dann trug sie die Tüte mit Lebensmitteln an ihr vorbei ins Haus.

6

Um halb sechs kam Lee von der Bushaltestelle her die Mercedes Street entlang, wobei ihm sein schwarzer Essensbehälter gegen den Oberschenkel schlug. Er stieg die Stufen hinauf und vergaß dabei, dass eine defekt war. Sie gab unter ihm nach; er taumelte, ließ den Behälter fallen und bückte sich dann, um ihn aufzuheben.

Das wird seine Laune verbessern, dachte ich.

Er ging hinein. Ich beobachtete, wie er durchs Wohnzimmer ging und seinen Essensbehälter auf die Arbeitsplatte in der Küche stellte. Als er sich umdrehte, sah er den neuen Hochstuhl. Offenbar kannte er den Modus operandi seiner Mutter, denn als Nächstes öffnete er den rostigen Kühlschrank. Er sah noch hinein, als Marina aus dem Zimmer des Babys kam. Sie hatte eine Windel über der Schulter, und mein Fernglas war so gut, dass ich etwas Babykotze darauf erkennen konnte.

Als sie ihn lächelnd ansprach, drehte er sich zu ihr um. Er hatte die helle Haut, die der Fluch aller war, die leicht erröteten, und sein finsteres Gesicht war bis zu seinen schütter werdenden Haaren hinauf hellrot angelaufen. Er begann sie anzubrüllen und zeigte dabei anklagend auf den Kühlschrank (aus dessen noch immer offener Tür Dampfschwaden austraten). Sie wandte sich ab, um in Junes Zimmer zurückzugehen. Er packte sie an der Schulter, riss sie herum und begann sie zu schütteln. Ihr Kopf flog vor und zurück.

Ich wollte das nicht beobachten, und es gab auch keinen Grund dafür. Es trug nichts zu dem bei, was ich wissen musste. Er schlug seine Frau, ja, aber sie würde ihn überleben, was mehr war, als John F. Kennedy von sich sagen konnte … oder, was das betraf, Streifenpolizist Tippit. Also brauchte ich mir das nicht anzusehen. Aber manchmal konnte man eben nicht wegsehen.

Sie stritten sich, wobei Marina zweifellos zu erklären versuchte, dass sie gar nicht wisse, wie Marguerite sie aufgespürt habe, und dass sie »Mamotschka« nicht habe daran hindern können, das Haus zu betreten. Und natürlich schlug Lee sie schließlich ins Gesicht, weil er seine Mama nicht schlagen konnte. Auch wenn sie da gewesen wäre, hätte er es nicht geschafft, eine Hand gegen sie zu erheben.

Marina schrie auf. Er ließ sie los. Sie redete mit ausgestreckten Händen leidenschaftlich auf ihn ein. Er versuchte eine zu ergreifen, aber sie schlug seine Hand beiseite. Dann hob sie die Hände gen Himmel, ließ sie wieder fallen und ging zur Haustür hinaus. Lee schien ihr folgen zu wollen, tat es dann aber doch nicht. Die Brüder hatten zwei schäbige Gartensessel auf die Veranda gestellt. Marina ließ sich in einen davon sinken. Sie hatte eine aufgeschürfte Stelle unter dem linken Auge, und die Wange schwoll bereits an. Sie starrte auf die Straße hinaus und über sie hinweg. Mich durchzuckte schuldbewusste Angst, obwohl in meinem Wohnzimmer kein Licht brannte und ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte. Ich achtete jedoch darauf, mit an die Augen gepresstem Fernglas unbeweglich zu verharren.

Lee setzte sich an den Küchentisch und stützte den Kopf in die Hände. So blieb er einige Zeit sitzen, dann hörte er etwas und ging in das kleinere der beiden Schlafzimmer. Er kam mit June auf dem Arm wieder heraus, ging im Wohnzimmer mit ihr auf und ab, rieb ihr den Rücken und beruhigte sie. Marina ging wieder hinein. June sah sie und streckte ihre pummeligen Arme nach ihr aus. Marina trat auf sie zu, und Lee gab ihr das Baby. Dann umarmte er sie schnell, bevor sie zurücktreten konnte. Sie stand einen Augenblick lang unbeweglich in seiner Umarmung da, dann nahm sie die Kleine auf einen Arm, damit sie mit dem anderen Lees Umarmung erwidern konnte. Sein Mund war in ihren Haaren vergraben, und ich glaubte zu wissen, was er sagte: die russischen Worte für Es tut mir leid. Ich bezweifelte nicht, dass er es ernst meinte. Auch nächstes Mal würde es ihm leidtun. Und übernächstes Mal.

Marina ging mit June in Rosettes ehemaliges Zimmer zurück. Lee blieb noch einen Augenblick stehen, dann trat er an den Kühlschrank, nahm etwas heraus und begann es zu essen.

7

Spät am folgenden Tag, als Lee und Marina sich gerade zum Abendessen setzten (June lag strampelnd auf einer Decke auf dem Wohnzimmerboden), kam Marguerite von der Bushaltestelle Winscott Road die Straße entlanggekeucht. An diesem Abend trug sie eine weite blaue Hose – eine unglückliche Wahl, wenn man bedachte, wie breit ihr Hintern war. Sie schleppte eine große Stofftasche, aus der oben das rote Plastikdach einer Puppenstube ragte. Sie ging die Verandastufen hinauf (wobei sie die defekte Stufe wieder geschickt mied) und marschierte, ohne anzuklopfen, ins Haus.

Ich kämpfte gegen die Versuchung an, mein Richtmikrofon zu holen – es war eine weitere Szene, die mich nichts anging –, und verlor. Nichts war so faszinierend wie ein Familienstreit – das hat Leo Tolstoi gesagt, glaube ich. Oder vielleicht auch Jonathan Franzen. Bis ich das Gerät eingeschaltet und aus meinem offenen Fenster auf das offene Fenster gegenüber gerichtet hatte, war der Streit in vollem Gang.

»… gewollt hätte, dass du weißt, wo wir sind, hätte ich’s dir gesagt, verdammt noch mal!«

»Vada hat’s mir erzählt, sie ist ein gutes Mädchen«, sagte Marguerite gelassen. Lees Zorn perlte von ihr ab wie ein leichter Sommerschauer. Mit der Behändigkeit eines Kartengebers beim Black Jack stellte sie nicht zusammenpassende Schalen auf die Arbeitsplatte. Marina beobachtete sie sichtlich verblüfft. Die Puppenstube stand auf dem Fußboden neben Junes Babydecke. Die strampelnde Kleine ignorierte es. Natürlich tat sie das. Was sollte ein vier Monate altes Baby mit einer Puppenstube?

»Ma, du musst uns in Ruhe lassen! Du musst aufhören, Sachen anzuschleppen! Ich kann selbst für meine Familie sorgen!«

Auch Marina versuchte sich einzubringen. »Mamotschka, Lee sagen nein.«

Marguerite lachte fröhlich. »›Lee sagen nein, Lee sagen nein.‹ Schätzchen, Lee sagt immer nein, das hat dieser kleine Mann sein Leben lang getan, und es hat nichts zu bedeuten. Ma kümmert sich um ihn.« Sie kniff ihn in die Wange, wie es eine Mutter bei einem Sechsjährigen tun würde, der etwas Unartiges, aber unzweifelhaft Niedliches getan hatte. Hätte Marina das versucht, hätte Lee ihr garantiert den Schädel eingeschlagen.

Irgendwann waren die drei Springseilmädchen auf den dürftigen Ersatz für einen Rasen gekommen. Sie verfolgten die Auseinandersetzung so aufmerksam, wie Stammbesucher des Globe Theatre das neueste Shakespeare-Stück von den Stehplätzen aus verfolgten. Nur würde in dem Stück, das sie sahen, die Widerspenstige Siegerin bleiben.

»Was hat sie dir zum Abendessen gemacht, Schatz? War es gut?«

»Es gab Schmortopf. Scharkoje. Dieser Gregory hat uns ein paar ShopRite-Gutscheine geschickt.« Sein Kiefer mahlte. Marguerite wartete. »Möchtest du etwas davon, Ma?«

»Scharkoje sehr okay, Mamotschka«, sagte Marina hoffnungsvoll lächelnd.

»Nein, so was könnte ich nicht essen«, sagte Marguerite.

»Teufel, Ma, du weißt nicht mal, was das ist!«

Sie ignorierte seinen Einwand. »Damit würde ich mir den Magen verderben. Außerdem will ich nicht nach acht Uhr in einem städtischen Bus sitzen. In denen sind nach acht Uhr zu viele betrunkene Männer. Lee, Schatz, du musst die Treppenstufe reparieren, bevor sich jemand ein Bein bricht.«

Er murmelte etwas, aber Marguerites Aufmerksamkeit galt nicht mehr ihm. Sie stürzte sich auf das Baby wie ein Habicht auf eine Feldmaus und krallte sich June. Durch mein Fernrohr war der erschrockene Gesichtsausdruck der Kleinen unverkennbar.

»Wie geht’s meiner kleinen SÜSSEN heut Abend? Wie geht’s meinem SCHNUCKELCHEN? Wie geht’s meiner kleinen DEWUSCHKA?«

Ihre kleine dewuschka, die sich vor Angst fast in die Windeln machte, begann gellend laut zu kreischen.

Lee machte eine Bewegung, wie um ihr das Baby abzunehmen. Marguerite zog ihre roten Lippen zurück und ließ ihre Zähne sehen, was ein Grinsen sein konnte – aber nur bei großzügiger Auslegung. Ich fand, dass es eher wie ein Zähnefletschen aussah. Das schien auch ihr Sohn zu finden, jedenfalls ging er auf Abstand. Marina biss sich mit vor Verzweiflung geweiteten Augen auf die Unterlippe.

»Ooooh, Junie! Junie-Moonie-SPOONIE!«

Marguerite marschierte auf dem abgetretenen, grünen Teppich hin und her und ignorierte Junes zunehmend verzweifeltes Heulen ebenso, wie sie Lees Zorn ignoriert hatte. Ließ dieses Heulen sie aufleben? Diesen Eindruck hatte ich. Nach einiger Zeit konnte Marina das nicht länger ertragen. Sie stand auf und ging auf Marguerite zu. Marguerite aber dampfte von ihr weg, wobei sie die Kleine an ihre Brust drückte. Selbst auf der anderen Straßenseite konnte ich mir das Geräusch vorstellen, das ihre großen, weißen Schwesternschuhe machten: poch, stampf, poch. Marina ging ihr hinterher. Marguerite, vielleicht in dem Bewusstsein, sich durchgesetzt zu haben, überließ ihr endlich das Baby. Sie zeigte auf Lee, dann redete sie mit ihrer lauten Lehrerinnenstimme auf Marina ein.

»Als ihr bei mir gewohnt habt … hat er zugenommen … weil ich ihm … alles gekocht habe, was er GERN ISST … aber er ist trotzdem noch ZU … VERDAMMT … MAGER!«

Marina starrte sie über Junes Kopf hinweg an; ihre hübschen Augen waren angstvoll geweitet. Marguerite verdrehte ihre aus Ungeduld oder reiner Verachtung und brachte ihren Kopf dicht an Marinas heran. Die Schiefe Lampe von Pisa war eingeschaltet, und ihr Licht spiegelte sich in den Gläsern von Marguerites Katzenaugenbrille.

»KOCH IHM … WAS ER MAG! KEINE … SAURE … SAHNE! KEINEN … JOGHURT! ER … IST … ZU … MAGER!«

»Maager«, wiederholte Martina zweifelnd. June fühlte sich in den Armen ihrer Mutter anscheinend sicher, denn ihr Weinen flaute zu einem wässrigen Hicksen ab.

»Ja!«, sagte Marguerite. Sie drehte sich ruckartig zu Lee um. »Reparier diese Stufe!«

Dann ging sie und nahm sich zuvor nur noch die Zeit, ihrer Enkelin kräftig auf den Hinterkopf zu klatschen. Als sie zur Bushaltestelle zurückmarschierte, lächelte sie tatsächlich. Sie sah jünger aus.

8

Am Morgen nach dem Tag, an dem Marguerite die Puppenstube mitgebracht hatte, war ich um sechs auf den Beinen. Ich trat an die Vorhänge und sah durch den Spalt hinaus, ohne auch nur darüber nachzudenken – die Bespitzelung des Hauses gegenüber war mir zur Gewohnheit geworden. Marina saß eine Zigarette rauchend in einem der Gartensessel. Sie trug einen rosa Schlafanzug aus Kunstseide, der ihr viel zu groß war. Sie hatte ein frisches blaues Auge, und auf ihrer Pyjamajacke waren Blutflecken zu sehen. Sie rauchte langsam, inhalierte tief und starrte ins Leere.

Einige Zeit später ging sie hinein und machte Frühstück. Bald darauf kam Lee und aß es. Er sah sie dabei nicht an. Er las ein Buch.

9

Dieser Gregory hat uns ein paar ShopRite-Gutscheine geschickt, hatte Lee seiner Mutter erzählt, vielleicht als Erklärung für das Fleisch im Eintopf, vielleicht auch nur, um ihr zu demonstrieren, dass Marina und er in Fort Worth nicht allein und ohne Freunde waren. Mamotschka schien das nicht registriert zu haben, aber ich registrierte es sehr wohl. Peter Gregory war das erste Glied in der Kette von Ereignissen, die George de Mohrenschildt in die Mercedes Street führen würde.

Wie de Mohrenschildt war Gregory ein im Exil lebender Russe im Erdölgeschäft. Er stammte aus Sibirien und unterrichtete einmal in der Woche Russisch in der Fort Worth Library. Als Lee das herausfand, bat er um ein Gespräch, um sich zu erkundigen, ob er, Lee, vielleicht als Übersetzer arbeiten könne. Gregory prüfte seine Russischkenntnisse und fand sie »passabel«. Wofür Gregory sich wirklich interessierte – wofür sich alle Exilrussen interessierten, wie Lee vermuten musste –, war die ehemalige Marina Prusakowa, eine junge Frau aus Minsk, die es irgendwie geschafft hatte, aus den Klauen des russischen Bären zu entkommen, nur um in die eines amerikanischen Rüpels zu geraten.

Lee bekam den Job nicht; Gregory engagierte an seiner Stelle Marina, damit sie seinem Sohn Paul Russischunterricht gab. Das bedeutete Geld, das die Oswalds bitter nötig hatten. Und es bedeutete auch wieder etwas, worüber Lee sich ärgern konnte. Marina unterrichtete zweimal in der Woche einen reichen Balg, während er weiter Windfangtüren zusammenschrauben musste.

An dem Morgen, an dem ich Marina beim Rauchen auf der Veranda beobachtet hatte, fuhr Paul Gregory, gut aussehend und etwa in Marinas Alter, mit einem brandneuen Buick vor. Er klopfte an, und Marina – deren dickes Make-up mich an Bobbi Jill denken ließ – machte ihm auf. Aus Rücksicht auf Lees tyrannische Liebe oder weil die in ihrem Heimatland gelernten Anstandsregeln das erforderten, unterrichtete sie ihn auf der Veranda. Der Unterricht dauerte eineinhalb Stunden. June lag zwischen ihnen auf ihrer Decke, und wenn sie weinte, wechselten die beiden sich damit ab, sie auf den Arm zu nehmen. Es war eine hübsche kleine Szene, auch wenn Mr. Oswald das vermutlich nicht gefunden hätte.

Gegen Mittag hielt Pauls Vater hinter dem Buick. Begleitet wurde er von zwei Männern und zwei Frauen. Sie brachten Lebensmittel mit. Der ältere Gregory umarmte seinen Sohn, dann küsste er Marina auf die Wange (auf die nicht geschwollene). Es wurde viel russisch gesprochen. Der jüngere Gregory verstand nicht viel, aber Marina lebte sichtlich auf und strahlte wie eine Leuchtreklame. Sie lud alle ins Haus ein. Bald saßen sie im Wohnzimmer, tranken Eistee und unterhielten sich. Marinas Hände flatterten wie aufgeregte Vögel. June wanderte von Arm zu Arm, von Schoß zu Schoß.

Ich war fasziniert. Die russische Emigrantengemeinde hatte die Kindfrau gefunden, die ihr Liebling werden würde. Wie denn auch nicht? Sie war jung, sie war eine Fremde in einem fremden Land, sie war schön. Natürlich war die Schönheit ausgerechnet mit dem Biest verheiratet – einem mürrischen jungen Amerikaner, der sie schlug (schlimm) und leidenschaftlich an ein System glaubte, dass diese Angehörigen des gehobenen Mittelstands ebenso leidenschaftlich ablehnten (weit schlimmer).

Trotzdem würde Lee ihre Lebensmittel akzeptieren, nur hin und wieder von Wutanfällen begleitet, und als sie Möbel brachten – ein neues Bett und für das Baby ein Gitterbettchen in leuchtendem Rosa –, akzeptierte er auch die. Er hoffte, die Russen würden ihm aus dem Loch heraushelfen, in dem er steckte. Aber er mochte sie nicht, und als er im November 1962 mit seiner Familie nach Dallas umzog, musste ihm klar sein, dass seine Gefühle herzlich erwidert wurden. Weshalb sollten sie ihn auch lieben, musste er sich gefragt haben. Er war ideologisch rein. Sie waren Feiglinge, die Mütterchen Russland verlassen hatten, als es 1943 auf den Knien lag, die den Deutschen die Stiefel geleckt hatten und nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren, wo sie flugs den amerikanischen Lebensstil angenommen hatten … der für Oswald ein säbelrasselnder, Minderheiten unterdrückender, Arbeiter ausbeutender Kryptofaschismus war.

Einen Teil davon wusste ich aus Als Notizen. Das meiste bekam ich auf der Bühne gegenüber zu sehen oder schloss es aus dem einzigen wichtigen Gespräch, das meine verwanzte Lampe aufschnappte und mitschnitt.

10

Am Abend des 25. August, einem Samstag, putzte Marina sich mit einem hübschen, blauen Kleid auf und steckte June in ein Spielhöschen aus Cordsamt mit vorn aufgenähten Blumen. Lee, der sauer dreinblickte, kam in seinem bestimmt einzigen Anzug aus dem Schlafzimmer. Dieser Wollanzug war ein mäßig lächerlicher sackartiger Zweireiher, der nur aus Russland stammen konnte. Der Abend war heiß, und ich stellte mir vor, wie Lee bald in Schweiß gebadet sein würde. Die beiden gingen vorsichtig die Stufen hinunter (die defekte war immer noch nicht repariert worden) und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich setzte mich ins Auto und fuhr zur Ecke Mercedes Street und Winscott Road. Ich konnte sehen, wie sie an einem Telefonmast mit dem weißen Streifen standen und sich stritten. Eine echte Überraschung! Der Bus kam. Die Oswalds stiegen ein. Ich folgte ihnen, genau wie ich Frank Dunning in Derry beschattet hatte.

Die Geschichte wiederholt sich war nur eine andere Art zu sagen, dass die Vergangenheit nach Harmonie strebte.

Sie stiegen in einem Wohnviertel im Norden von Dallas aus. Ich hielt an und beobachtete dann, wie sie ein kleines, aber elegantes Tudorhaus aus Fachwerk und Natursteinen betraten. Die Kutschenlampen am Ende des Fußwegs zur Haustür glühten sanft in der Abenddämmerung. Auf diesem Rasen gab es keine Fingerhirse. Alles hier verkündete: Amerika funktioniert! Marina ging mit June auf dem Arm voran, Lee trottete mit etwas Abstand hinterher und wirkte in seinem zweireihigen Sakko, das ihm hinten bis fast auf die Kniekehlen hing, etwas verloren.

Vor der Haustür schob Marina ihn vor sich hin und wies auf den Klingelknopf. Er drückte ihn. Peter Gregory und sein Sohn kamen heraus, und als June Paul die Arme entgegenstreckte, lachte der junge Mann und nahm sie Marina ab. Als Lee das sah, ließ er die Mundwinkel hängen.

Ein weiterer Mann kam heraus. Ich kannte ihn aus der Gruppe, die am Tag von Pauls erster Russischstunde aufgekreuzt war, auch danach war er noch drei- oder viermal ins Haus der Oswalds gekommen und hatte Lebensmittel oder Spielzeug für June oder beides mitgebracht. Ich wusste ziemlich sicher, dass er George Bouhe hieß (ja, ein weiterer George, die Vergangenheit harmonisierte auf jede mögliche Weise), und hatte ihn in Verdacht, dass er trotz seiner fast sechzig Jahre ernsthaft in Marina verknallt war.

Nach den Aufzeichnungen des Hamburgerbraters, der mich hier reingeritten hatte, war Bouhe derjenige, der Peter Gregory dazu überredet hatte, zu dieser Kennenlern-Party einzuladen. George de Mohrenschildt war nicht anwesend, aber er würde sehr bald davon hören. Bouhe würde de Mohrenschildt von den Oswalds und ihrer seltsamen Ehe erzählen. Er würde ihm auch berichten, dass Lee auf der Party eine Szene gemacht hatte, als er den Sozialismus und die russischen Kolchosen gelobt hatte. Der junge Mann kommt mir übergeschnappt vor, würde Bouhe sagen. De Mohrenschildt, schon sein Leben lang ein echter Liebhaber alles Übergeschnappten, würde beschließen, dass er dieses merkwürdige Paar selbst kennenlernen musste.

Aber weshalb flippte Oswald auf Peter Gregorys Party aus und stieß damit die wohlmeinenden Exilrussen, die ihm sonst vielleicht geholfen hätten, vor den Kopf? Das konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich konnte es vermuten. Da hätten wir Marina, die in ihrem blauen Kleid alle (besonders die Männer) bezaubert. Da hätten wir June, in ihrem geschenkten Spielhöschen mit den aufgenähten Blumen, hübsch wie das Baby in der Woolworth-Werbung. Und da hätten wir Lee, der in seinem hässlichen Anzug schwitzt. Er kann der lebhaften russischen Unterhaltung besser folgen als der junge Paul Gregory, aber schließlich kommt auch er nicht mehr mit. Es muss ihn wütend gemacht haben, dass er gezwungen war, vor diesen Leuten zu katzbuckeln und ihr Brot zu essen. Ich hoffe, es war so. Ich hoffe, es hat wehgetan.

Ich hielt mich nicht lange dort auf. Mich interessierte de Mohrenschildt, das nächste Glied in der Kette. Er würde bald die Bühne betreten. Inzwischen waren die drei Oswalds endlich einmal aus der Nummer 2703 heraus und würden bestimmt nicht vor zehn zurückkommen. Vielleicht sogar später, weil morgen Sonntag war.

Ich fuhr zurück, um die Wanze in der Schiefen Lampe von Pisa zu aktivieren.

11

In der Mercedes Street wurde an diesem Samstagabend lärmend Party gemacht, aber das Feld hinter chez Oswald war still und verlassen. Ich glaubte, dass mein Schlüssel auch für die Hintertür funktionierte, aber diese Hypothese musste ich nie auf den Prüfstand stellen, weil die Hintertür nicht abgeschlossen war. In meiner Zeit in Fort Worth brauchte ich den von Ivy Templeton gekauften Nachschlüssel nur ein einziges Mal zu benutzen. Das Leben steckte voller Ironien.

Das Haus war in einem herzzerreißend aufgeräumten Zustand. Der Hochstuhl war zwischen den Stühlen der Eltern an dem kleinen Küchentisch platziert, an dem sie ihre Mahlzeiten einnahmen, sein Tablett ordentlich abgewischt. Ebenso sauber waren die wellige Arbeitsfläche und die Spüle mit ihrem rostigen Ring, verursacht von hartem Wasser. Ich wettete mit mir selbst, dass Marina Rosettes Trägerkleid-Mädchen an den Wänden gelassen haben würde, und betrat das Zimmer, das jetzt June gehörte, um nachzusehen. Ich hatte eine kleine Stablampe mitgebracht, mit der ich jetzt die Wände ableuchtete. Ja, sie waren noch da, obwohl sie bei Dunkelheit eher geisterhaft als fröhlich wirkten. June betrachtete sie vermutlich, wenn sie daumenlutschend in ihrem Kinderbettchen lag. Ich fragte mich, ob sie sich später auf einer tiefen Ebene ihres Unterbewusstseins an sie erinnern würde. Wachsmalstift-Geistermädchen.

Jimla, dachte ich ohne bestimmten Grund und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief.

Ich trat an die Kommode, schloss die dünne Litze an die Wanze an und führte sie durch das Loch, das ich in die Hauswand gebohrt hatte. Alles in Ordnung, aber dann folgte ein schlimmer Augenblick. Ein sehr schlimmer. Als ich die Kommode an ihren Platz zurückschob, stieß sie gegen die Wand, und die Schiefe Lampe von Pisa fiel herunter.

Hätte ich Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre ich erstarrt, und das verdammte Ding wäre auf dem Fußboden zerschellt. Was dann? Die Wanze mitnehmen und die Scherben zurücklassen? Darauf hoffen, dass die Oswalds davon ausgehen würden, dass die nie sehr stabile Lampe von selbst heruntergekracht war? Die meisten Leute würden das glauben, aber die meisten Leute hatten auch keinen Grund, wegen des FBI paranoid zu sein. Lee konnte das Loch finden, das ich in die Hauswand gebohrt hatte. Tat er das, würde der Schmetterling die Flügel ausbreiten.

Aber ich hatte keine Zeit, lange nachzudenken. Ich griff reflexartig zu und fing die Lampe dicht über dem Fußboden auf. Dann stand ich einfach da, hielt sie umklammert und zitterte. In dem kleinen Haus war es heiß wie in einem Backofen, und ich konnte den Gestank meines Schweißes riechen. Würden sie ihn riechen, wenn sie zurückkamen? Wie denn anders?

Ich fragte mich, ob ich übergeschnappt war. Clever wäre es gewesen, die Wanze zu entfernen … und anschließend mich selbst. Ich konnte Oswald am 10. April nächsten Jahres überwachen, ihn beobachten, wie er General Edwin Walker zu erschießen versuchte, und ihn wie Frank Dunning ermorden, wenn er dieses Attentat allein verübte. KISS, wie sie in Christys AA-Meetings sagten: Keep it simple, stupid. Mach’s deppensicher. Warum zum Teufel hantierte ich mit einer verwanzten Flohmarktlampe herum, wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel stand?

Es war Al Templeton, der mir antwortete. Du bist hier, weil es da noch eine gewisse Unsicherheit gibt. Du bist hier, weil Oswald vielleicht wirklich nur ein Sündenbock war, wenn George de Mohrenschildt mehr ist, als er zu sein scheint. Du bist hier, um Kennedy zu retten, und damit musst du jetzt anfangen. Also stell die Scheißlampe an ihren Platz zurück.

Ich stellte die Lampe an ihren Platz zurück, aber ihre mangelhafte Stabilität machte mir Sorgen. Was war, wenn Lee sie selbst von der Kommode stieß und die Wanze darin entdeckte, weil der Porzellanfuß zersplitterte? Oder wenn Lee und de Mohrenschildt sich in diesem Raum besprachen – aber ohne Licht zu machen und so leise, dass mein Richtmikrofon ihre Stimmen nicht mehr aufnehmen konnte? Dann wäre alles vergebens gewesen.

Mit dieser Einstellung gelingt dir noch nicht einmal ein Omelett, Kumpel.

Was mich überzeugte, war der Gedanke an Sadie. Ich liebte sie, und sie liebte mich – zumindest hatte sie das getan –, und ich hatte das alles weggeworfen, um in diese beschissene Straße zu kommen. Und ich würde sie bei Gott nicht verlassen, bevor ich mitzuhören versucht hatte, was George de Mohrenschildt zu sagen hatte.

Ich schlüpfte durch die Hintertür ins Freie, nahm die kleine Taschenlampe zwischen die Zähne und verband so die Litze mit dem Bandgerät. Zum Schutz vor Witterungseinflüssen steckte ich das kleine Gerät in eine rostige Crisco-Dose, die ich in einem kleinen Nest aus Ziegeln und Brettern verbarg, das ich schon vorbereitet hatte.

Dann kehrte ich in mein eigenes beschissenes kleines Haus zurück und wartete.

12

Sie schalteten das Licht immer erst ein, wenn man schon fast nichts mehr sah. Vermutlich wollten sie Strom sparen. Außerdem war Lee ein Werktätiger. Er ging früh ins Bett, und sie ging mit. Als ich das erste Mal die Aufzeichnung kontrollierte, hörte ich hauptsächlich Russisch – und zwar sehr gedehntes Russisch, weil das Gerät so langsam lief. Wenn Marina unterwegs ihren englischen Wortschatz ausprobierte, korrigierte Lee sie ungeduldig. Trotzdem sprach er mit June manchmal englisch, wenn die Kleine unruhig war, stets mit leiser, beschwichtigender Stimme. Manchmal sang er ihr sogar etwas vor. In der superlangsamen Aufnahme klang das, als würde ein Schwertwal sich an »Rockabye, Baby« versuchen.

Zweimal hörte ich, wie er Marina schlug, und beim zweiten Mal genügte Russisch ihm nicht, um seinen Zorn auszudrücken. »Du wertlose, nörgelnde Schlampe! Vielleicht hat meine Ma dich doch richtig eingeschätzt!« Dann war zu hören, wie eine Tür zugeknallt wurde, und Marina blieb weinend zurück. Ihr Weinen verstummte abrupt, als sie die Lampe ausmachte.

Am Abend des 4. September sah ich einen vielleicht dreizehnjährigen Jungen mit einem Leinenbeutel über der Schulter an die Haustür der Oswalds klopfen. Lee, barfuß und in T-Shirt und Jeans, machte ihm auf. Sie redeten miteinander. Lee bat ihn herein. Sie sprachen weiter. Zwischendurch griff Lee nach einem Buch und zeigte es dem Jungen, der es zweifelnd betrachtete. Mein Richtmikrofon konnte ich nicht benutzen, weil das Wetter kühl geworden und die Fenster im Haus gegenüber geschlossen waren. Aber die Schiefe Lampe von Pisa brannte, und als ich mir spätnachts die Aufnahme anhörte, kam ich in den Genuss einer amüsanten Aufzeichnung. Beim dritten Abspielen hörte ich kaum noch, wie schleppend gedehnt die beiden sprachen.

Der Junge verkaufte Abonnements für eine Zeitung – oder vielleicht eine Zeitschrift – namens Grit. Er erklärte den Oswalds, dass dort alles mögliche interessante Zeug drin stehe, mit dem die New Yorker Blätter sich nicht abgäben (er bezeichnete es als Lokalnachrichten), dazu Sportreportagen und Gartentipps. Sie enthielt auch erdachte Geschichten, wie er sie nannte, und Comicstrips. »Dixie Dugan kriegen Sie im Times Herald nicht«, informierte er sie. »Meine Ma liebt Dixie.«

»Nun, mein Sohn, das ist schön«, sagte Lee. »Du bist ein richtiger kleiner Geschäftsmann, was?«

»Äh … ja, Sir?«

»Sag mir, wie viel du verdienst.«

»Ich kriege von jedem Dime nur vier Cent, aber das ist nicht die Hauptsache, Sir. Mir gefallen vor allem die Prämien. Die sind viel besser als die für den Verkauf von Cloverine-Salbe. Damit können sie mir den Buckel runterrutschen! Ich will mir ein Kleinkalibergewehr verdienen! Mein Dad sagt, dass ich eins haben darf.«

»Mein Sohn, weißt du, dass du ausgebeutet wirst?«

»Hä?«

»Sie nehmen die Dimes. Du kriegst ein paar Cent und die Aussicht auf ein Gewehr.«

»Lee, er netter Junge«, sagte Marina. »Sei nett. Lass in Ruhe.«

Lee ignorierte sie. »Du solltest wissen, was in diesem Buch steht, mein Sohn. Kannst du den Titel lesen?«

»O ja, Sir. Hier steht: Die Lage der Arbeiterklasse von Friiiedrik … Ing-gulls?«

»Engels. Er schreibt darüber, was mit den Jungen passiert, die glauben, durch Haus-zu-Haus-Verkäufe Millionäre werden zu können.«

»Ich will kein Millionär nich werden«, protestierte der Junge. »Ich will bloß ein Kaliber .22, damit ich auf der Müllhalde Ratten abschießen kann wie mein Freund Hank.«

»Du verdienst ein paar Cent durch den Verkauf ihrer Zeitungen; sie verdienen jede Menge Dollar, indem sie deinen Schweiß und den von einer Million Jungen wie dir verkaufen. Der freie Markt ist nicht frei. Du musst dich weiterbilden, mein Sohn. Ich hab’s getan, und angefangen damit hab ich in deinem Alter.«

Lee hielt dem Grit-Zeitungsjungen einen Zehnminutenvortrag über die Übel des Kapitalismus – mitsamt ausgewählten Karl-Marx-Zitaten. Der Junge hörte geduldig zu, dann fragte er: »Nehmen Sie also jetzt ein Ab-Bonne-ment?«

»Mein Sohn, hast du ein einziges Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe?«

»Ja, Sir!«

»Dann solltest du wissen, dass dieses System mich bestohlen hat, genau wie es dich und deine Angehörigen bestiehlt.«

»Sie sind blank? Warum haben Sie das nicht gesagt?«

»Ich habe dir zu erklären versucht, warum ich mittellos bin.«

»Ach, Mann! Ich hätt noch drei Häuser abklappern können, aber jetzt muss ich heim, weil ich nicht mehr lange Ausgang hab.«

»Alles Gute!«, sagte Marina.

Die Haustür ging in ihren alten Angeln quietschend auf; dann schloss sie sich rumpelnd (sie war zu müde, um zu knallen). Danach herrschte langes Schweigen, bis Lee ausdruckslos sagte: »Siehst du? Dagegen haben wir anzukämpfen.«

Wenig später ging die Lampe aus.

13

Mein neu installiertes Telefon blieb die meiste Zeit stumm. Deke rief noch einmal an – einer dieser kurzen Wie-geht’s-Pflichtanrufe –, aber das war alles. Ich sagte mir, dass ich nicht mehr erwarten dürfe. Die Schule hatte wieder begonnen, und die ersten paar Wochen waren immer chaotisch. Deke hatte zu tun, weil Miz Ellie ihn aus dem Ruhestand geholt hatte. Er erzählte mir, dass er ihr nach einigem Murren erlaubt hatte, seinen Namen auf die Aushilfsliste zu setzen. Ellie rief nicht an, weil sie fünftausend Dinge tun und wahrscheinlich fünfhundert kleine Buschfeuer austreten musste.

Erst nachdem er aufgelegt hatte, merkte ich, dass er Sadie nicht erwähnt hatte … und zwei Abende nach dem Besuch des Zeitungsjungen bei Lee wurde mir klar, dass ich mit ihr reden musste. Ich musste ihre Stimme hören, selbst wenn sie vielleicht nur sagte: Bitte ruf mich nicht wieder an, George, es ist aus.

Als ich nach dem Hörer griff, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und sagte mit völliger Gewissheit: »Hallo, Sadie. Hallo, Schatz.«

14

Das Schweigen am anderen Ende dauerte so lange, dass ich schon dachte, ich hätte mich geirrt und dass jemand gleich sagen würde: Ich bin nicht Sadie, ich bin nur ein Blödmann, der sich verwählt hat. Dann sagte sie: »Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«

Ich hätte fast Harmonie gesagt, was sie vielleicht verstanden hätte. Aber vielleicht war nicht gut genug. Dieser Anruf war mir wichtig, ich wollte ihn nicht vermasseln. Unter gar keinen Umständen. Während des nun folgenden Gesprächs waren die meiste Zeit zwei Versionen von mir am Telefon: George, der laut sprach, und Jake in meinem Inneren, der alles sagte, was George nicht aussprechen durfte. Vielleicht waren immer zwei auf jeder Seite eines Gesprächs gegenwärtig, wenn eine gute Beziehung auf dem Spiel stand.

»Weil ich den ganzen Tag an dich gedacht habe«, sagte ich. (Ich habe den ganzen Sommer an dich gedacht.)

»Wie geht’s dir?«

»Danke, gut. (Ich bin einsam.) Und was ist mir dir? Wie war dein Sommer? Hat alles geklappt?« (Bist du endlich von deinem unheimlichen Mann geschieden?)

»Ja«, sagte sie. »Alles paletti. Das ist doch einer deiner Ausdrücke, George? Alles paletti?«

»Schon möglich. Wie geht’s in der Schule? In der Bibliothek?«

»George? Wollen wir so weiterreden, oder wollen wir miteinander reden?«

»Also gut.« Ich setzte mich auf meine klumpige, gebraucht gekaufte Couch. »Reden wir also. Geht’s dir gut?«

»Ja, aber ich bin unglücklich. Und ich bin sehr durcheinander.« Sie zögerte, dann sagte sie: »Wie du vielleicht weißt, habe ich bei Harrah’s gearbeitet. Als Cocktailkellnerin. Und ich habe jemand kennengelernt.«

»Echt?« (Echt Scheiße.)

»Ja. Einen sehr netten Mann. Charmant. Ein Gentleman. Knapp unter vierzig. Er heißt Roger Beaton und ist Assistent von Tom Kuchel, dem republikanischen Senator aus Kalifornien. Er ist der Minderheitsführer im Senat, weißt du. Kuchel, meine ich, nicht Roger.« Sie lachte, aber nicht wie über etwas wirklich Witziges.

»Sollte ich froh darüber sein, dass du einen netten Mann kennengelernt hast?«

»Das weiß ich nicht, George … Bist du froh darüber?«

»Nein.« (Ich will ihn umbringen.)

»Roger sieht gut aus«, sagte sie mit nüchterner Tatsachenstimme. »Er ist freundlich. Er hat in Yale studiert. Er weiß, wie man Frauen verwöhnt. Und er ist groß.«

Mein zweites Ich mochte nicht länger schweigen. »Ich will ihn umbringen.«

Das brachte sie zum Lachen, und dieser Laut war eine Erleichterung. »Ich erzähle dir das nicht, um dich zu verletzen oder damit du dich schlecht fühlst.«

»Wirklich? Warum erzählst du’s mir dann?«

»Wir sind drei- oder viermal miteinander ausgegangen. Er hat mich geküsst … Wir haben ein bisschen geschmust … Nur geknutscht wie Teenager …«

(Ich will ihn nicht nur umbringen, ich will es ganz langsam tun.)

»Aber es war nicht das Gleiche. Vielleicht könnte es mal so werden, vielleicht auch nicht. Er hat mir seine Telefonnummer in Washington gegeben und mich gebeten, ihn anzurufen, wenn ich … Wie hat er sich ausgedrückt? ›Wenn du’s satt bist, Bücher einzuordnen und dem einen nachzutrauern, der entschwunden ist.‹ Das war das Wesentliche, denke ich. Er sagt, dass er Karriere machen wird und dafür eine gute Frau an seiner Seite braucht. Er hat gedacht, diese Frau könnte ich sein. Natürlich sagen Männer solches Zeug. Ich bin nicht mehr so naiv wie früher. Aber manchmal meinen sie es wirklich ernst.«

»Sadie …«

»Trotzdem war’s nicht ganz das Gleiche.« Das klang nachdenklich, geistesabwesend, und ich fragte mich zum ersten Mal, ob noch etwas anderes mit ihr nicht in Ordnung war, abgesehen von ihren Zweifeln in Bezug auf ihr Privatleben. Ob sie vielleicht krank war. »Als Pluspunkt zählt, dass kein Besenstiel zu sehen war. Aber Männer verbergen ihn manchmal, nicht wahr? Johnny hat das getan. Du auch, George.«

»Sadie?«

»Ja?«

»Verbirgst du einen Besenstiel?«

Daraufhin herrschte lange Schweigen. Viel länger als vorhin, als ich erraten hatte, von wem der Anruf kam, und viel länger, als ich erwartet hätte. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Du klingst nur nicht wie du selbst, das ist alles.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich sehr durcheinander bin. Und ich bin traurig. Weil du immer noch nicht bereit bist, mir die Wahrheit zu sagen. Hab ich recht?«

»Ich täte es, wenn ich könnte.«

»Willst du was Interessantes hören? Du hast gute Freunde in Jodie – nicht nur mich –, und keiner von ihnen weiß, wo du wohnst.«

»Sadie …«

»Du behauptest, in Dallas zu wohnen. Aber deiner Vorwahl nach gehörst du zum Bezirk Elmhurst – und Elmhurst liegt in Fort Worth.«

Daran hatte ich nie gedacht. Was hatte ich sonst noch übersehen?

»Sadie, ich kann dir nur sagen, dass ich hier einen sehr wichtigen Auftrag …«

»Oh, das ist er ganz sicher. Und was Senator Kuchel tut, ist auch sehr wichtig. Darauf hat Roger nachdrücklich hingewiesen, und er hat mir auch erklärt, wenn ich … mit ihm nach Washington käme, würde ich mehr oder weniger zu Füßen der Mächtigen sitzen … oder auf der Schwelle der Geschichte … oder irgendwas in dieser Art. Macht fasziniert ihn. Das war eines der wenigen Dinge an ihm, die nicht so anziehend waren. Ich dachte dabei – und denke es noch –, wer bin ich, dass ich zu Füßen der Mächtigen sitzen soll? Ich bin nur eine geschiedene Bibliothekarin.«

»Wer bin ich, dass ich auf der Schwelle der Geschichte sitzen sollte?«, sagte ich.

»Was? Was hast du gesagt, George?«

»Nichts, Schatz.«

»Vielleicht solltest du mich lieber nicht so nennen.«

»Tut mir leid. (Tut es nicht.) Worüber reden wir eigentlich genau?«

»Über dich und mich – und ob sich daraus noch ein uns ergibt. Es wäre schon hilfreich, wenn du mir verraten könntest, wozu du nach Texas gekommen bist. Ich weiß nämlich, dass du nicht hier bist, um zu unterrichten oder ein Buch zu schreiben.«

»Dir das zu erzählen könnte gefährlich sein.«

»Wir sind alle in Gefahr«, sagte sie. »Damit hat Johnny recht. Soll ich dir was erzählen, was Roger mir gesagt hat?«

»Wenn du willst.« (Wo genau hat er es dir erzählt, Sadie? Und wart ihr dabei in senkrechter oder waagerechter Lage?)

»Er hatte ein bisschen getrunken und war deshalb redselig. Wir waren in seinem Hotelzimmer, aber keine Angst, meine Füße sind auf dem Teppich und meine Sachen am Körper geblieben.«

»Ich hatte keine Angst.«

»Wenn das stimmt, bin ich von dir enttäuscht.«

»Also gut, natürlich hatte ich Angst davor. Was hat er gesagt?«

»Er hat von dem Gerücht gesprochen, dass sich im Herbst oder Winter in der Karibik etwas Großes ereignen wird. In einem Spannungsgebiet, hat er gesagt. Ich vermute, er meinte Kuba. Er hat gesagt: ›Dieser Idiot Kennedy reitet uns alle rein, nur um zu zeigen, dass er Mumm hat.‹«

Ich erinnerte mich an all den Weltuntergangsscheiß, mit dem ihr Exmann ihr die Ohren vollgeblasen hatte. Das kann jeder kommen sehen, der Zeitung liest, hatte er ihr verkündet. Wir werden mit Geschwüren am ganzen Körper sterben und uns die Lunge aus dem Leib husten. Solches Zeug machte Eindruck, vor allem wenn es mit nüchterner wissenschaftlicher Gewissheit verkündet wurde. Es machte Eindruck? Eher hinterließ es eine Narbe.

»Sadie, das ist Schwachsinn.«

»Echt?« Sie klang gereizt. »Du besitzt wahrscheinlich Insiderinformationen, die Senator Kuchel nicht hat, ja?«

»Sagen wir mal, dass dem so ist.«

»Sagen wir’s lieber nicht. Eine Weile warte ich noch darauf, dass du endlich reinen Tisch machst, aber nicht mehr sehr viel länger. Vielleicht nur, weil du ein guter Tänzer bist.«

»Dann lass uns tanzen gehen!«, sagte ich etwas ungestüm.

»Gute Nacht, George.«

Und bevor ich noch etwas sagen konnte, legte sie auf.

15

Ich wollte sie zurückrufen, aber als die Telefonistin »Nummer, bitte?« sagte, gewann meine Vernunft wieder die Oberhand. Wortlos legte ich den Hörer auf die Gabel zurück. Sadie hatte gesagt, was sie hatte sagen müssen. Jeder Versuch, sie dazu zu bringen, mehr zu sagen, würde alles nur noch verschlimmern.

Ich versuchte mir einzureden, dass ihr Anruf nur eine List gewesen war, um mich aus der Reserve zu locken – eine Aufforderung à la Sprich für dich selbst, John Alden. Aber das funktionierte nicht, weil dies nicht Sadies Art war. Er hatte mehr wie ein Hilferuf geklungen.

Ich griff erneut nach dem Hörer, und als die Telefonistin diesmal eine Nummer verlangte, gab ich ihr eine. Das Telefon am anderen Ende klingelte zweimal, dann sagte Ellen Dockerty: »Ja? Wer ist da, bitte?«

»Hi, Miz Ellie. Ich bin’s. George.«

Die Angewohnheit, eine Pause zu machen, schien ansteckend zu sein. Ich wartete. Dann sagte sie: »Hallo, George. Ich habe Sie vernachlässigt, was? Ich bin nur sehr …«

»Beschäftigt gewesen, klar. Ich weiß, wie es in den ersten Wochen zugeht, Ellie. Ich rufe nur an, weil Sadie mich gerade angerufen hat.«

»Ehrlich?« Sie klang sehr verhalten.

»Falls Sie ihr gesagt haben, dass meine Nummer zu Fort Worth statt zu Dallas gehört, ist das in Ordnung.«

»Ich habe nicht getratscht. Das verstehen Sie hoffentlich. Ich dachte, sie hätte ein Recht darauf, das zu erfahren. Sadie liegt mir am Herzen. Sie mag ich natürlich auch, George … aber Sie sind fort. Sadie nicht.«

Das verstand ich natürlich, aber es tat weh. Das Gefühl, in einer Raumkapsel zu den Tiefen des Weltalls unterwegs zu sein, kehrte zurück. »Schon in Ordnung, Ellie, und das war wirklich keine große Lüge. Ich rechne damit, dass ich bald nach Dallas umziehen werde.«

Keine Antwort, aber was hätte sie auch sagen sollen? Mag sein, aber wir wissen beide, dass Sie gern ein bisschen lügen?

»Mir hat nicht gefallen, wie sie sich angehört hat. Kommt sie Ihnen okay vor?«

»Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten möchte. Würde ich nein sagen, könnten Sie herbeigeeilt kommen, um sie zu sehen, und sie will Sie nicht sehen. Nicht beim jetzigen Stand der Dinge.«

Eigentlich hatte sie meine Frage damit beantwortet. »War sie okay, als sie zurückgekommen ist?«

»Mit ihr war alles in Ordnung. Sie hat sich gefreut, uns wiederzusehen.«

»Aber jetzt klingt sie beunruhigt und sagt, dass sie sich traurig fühlt.«

»Ist das so überraschend?«, sagte Miz Ellie schroff. »Für Sadie gibt es hier viele Erinnerungen, von denen viele mit einem Mann verbunden sind, für den sie immer noch Gefühle hegt. Ein netter Mann und ein ausgezeichneter Lehrer, der aber unter falscher Flagge segelt.«

Diese letzte Bemerkung tat wirklich weh.

»Ich denke, es war etwas anderes. Sie hat von irgendeiner bevorstehenden Krise gesprochen, von der ihr jemand, den sie in Nevada kennengelernt hat …« Der Yalie, der auf der Schwelle der Geschichte saß? »… erzählt hat. Ihr Exmann hat ihr alle möglichen Flausen in den Kopf gesetzt …«

»In ihren Kopf? Ihren hübschen kleinen Kopf?« Jetzt nicht mehr nur Schroffheit, sondern rundweg Zorn. Der bewirkte, dass ich mir klein und schäbig vorkam. »George, vor mir liegt ein haushoher Aktenstapel, den ich dringend durcharbeiten muss. Sie können Sadie Dunhill nicht per Ferngespräch psychoanalysieren, und ich kann Ihnen nicht bei Ihrem Liebesleben helfen. Alles, was ich tun kann, ist Ihnen den Rat zu geben, mit der Wahrheit rauszurücken, wenn Sie sich etwas aus ihr machen. Lieber früher als später.«

»Sie haben ihren Ehemann nicht zufällig irgendwo gesehen, oder?«

»Nein! Gute Nacht, George!«

Zum zweiten Mal an diesem Abend legte eine Frau, die ich mochte, einfach auf. Das war ein neuer persönlicher Rekord.

Ich ging ins Schlafzimmer und zog mich aus. Okay, als sie zurückgekommen war. Froh, wieder bei ihren Freunden in Jodie zu sein. Jetzt nicht mehr so okay. Weil sie hin- und hergerissen war zwischen dem gut aussehenden neuen Kerl auf der Überholspur zum Erfolg und dem großen, dunkelhaarigen Fremden mit der unsichtbaren Vergangenheit? Das wäre vermutlich in einem Liebesroman der Fall gewesen, aber wenn es hier zutraf, weshalb war sie dann bei ihrer Rückkehr nicht niedergeschlagen gewesen?

Ein unangenehmer Gedanke drängte sich mir auf: Vielleicht trank sie. Viel. Heimlich. War das nicht möglich? Meine Frau war jahrelang eine heimliche Säuferin gewesen – schon vor unserer Ehe –, und die Vergangenheit harmonierte nun einmal mit sich selbst. Es wäre leicht gewesen, diese Möglichkeit zu verwerfen, weil Miz Ellie die Anzeichen erkannt hätte, aber Trinker konnten unheimlich clever sein. Manchmal dauerte es Jahre, bevor ihre Umgebung etwas merkte. Solange Sadie pünktlich zur Arbeit kam, würde es Ellie vielleicht nicht auffallen, dass sie das mit blutunterlaufenen Augen und nach Pfefferminz riechendem Atem tat.

Dennoch war dieser Gedanke vermutlich lächerlich. Alle meine Mutmaßungen waren fragwürdig, denn alle waren sie durch die Tatsache beeinflusst, dass ich Sadie immer noch liebte.

Ich streckte mich im Bett aus und sah zur Zimmerdecke auf. Im Wohnzimmer blubberte der Ölofen – auch diese Nacht war wieder kühl.

Lass die Finger von ihr, Kumpel, sagte Al. Das musst du. Denk daran, du bist nicht hier, um …

Das Mädchen, die goldene Uhr und alles. Na klar, Al, hab verstanden.

Außerdem fehlt ihr wahrscheinlich nichts. Du bist derjenige von euch, der ein Problem hat.

Sogar mehr als nur eins, und es dauerte lange, bis ich endlich einschlief.

16

Als ich am folgenden Montag auf einer meiner regelmäßigen Kontrollfahrten am Haus West Neely Street 214 in Dallas vorbeikam, war in der Einfahrt ein langer, grauer Leichenwagen geparkt. Die beiden dicken Damen standen auf der Veranda und sahen zu, wie zwei Männer in dunklen Anzügen eine Tragbahre hinten in den Wagen schoben. Auf ihr lag eine zugedeckte Gestalt. Auf dem baufällig wirkenden Balkon über der Veranda sah auch das junge Paar aus der oberen Wohnung zu. Das kleinste Kind der beiden schlief in den Armen der Mutter.

Der Rollstuhl mit dem an die Armlehne geschraubten Aschenbecher stand verwaist unter dem Baum, unter dem der alte Mann letzten Sommer fast täglich gesessen hatte.

Ich parkte und blieb neben dem Sunliner stehen, bis der Leichenwagen wegfuhr. Dann (obwohl mir bewusst war, dass der Zeitpunkt einigermaßen, sagen wir mal, unpassend war) überquerte ich die Straße und folgte dem Fußweg zur Veranda. An der Treppe angelangt, tippte ich an meine Hutkrempe. »Meine Damen, herzliches Beileid zu Ihrem Verlust.«

Die ältere der beiden – die Ehefrau, die jetzt Witwe war, vermutete ich – sagte: »Sie waren schon mal hier.«

In der Tat, hätte ich fast gesagt. Diese Sache ist bedeutender als Profifootball.

»Er hat Sie gesehen.« Nicht etwa anklagend, nur eine nüchterne Feststellung.

»Ich bin auf der Suche nach einer Wohnung in dieser Gegend. Werden Sie die hier behalten?«

»Nein«, sagte die Jüngere. »Er hatte ’ne Ver-sicherung. Ungefähr das Einzige, was er hatte. Außer ein paar Orden in ’ner Zigarrenkiste.« Sie schniefte. Ich kann versichern, dass es mir fast das Herz brach, mit ansehen zu müssen, wie untröstlich diese beiden Frauen waren.

»Er hat gesagt, dass Sie ’n Gespenst sind«, sagte die Witwe zu mir. »Er hat gesagt, dass er glatt durch Sie durchsehn kann. ’türlich war er verrückt wie ’ne Scheißhausmaus. In den letzten drei Jahren, seit er den Schlaganfall hatte und diesen Pissebeutel gekriegt hat. Ich und Ida gehn zurück nach Oklahoma.«

Versucht es mit Mozelle, dachte ich. Da werdet ihr landen, wenn ihr eure Wohnung aufgebt.

»Was wolln Sie?«, fragte die Jüngere. »Wir müssen ihm ’nen Anzug ins Beerdigungsinstitut bringen.«

»Die Telefonnummer Ihres Vermieters«, sagte ich.

Die Augen der Witwe glitzerten. »Wie viel ist Ihnen die wert, Mister?«

»Ich geb sie Ihnen umsonst!«, sagte die junge Frau auf dem Balkon im ersten Stock.

Die trauernde Tochter sah zu ihr hinauf und forderte sie auf, ihre verfluchte Fresse zu halten. Das war typisch für Dallas. Auch für Derry.

Gutnachbarlich.

Kapitel 19

1

George de Mohrenschildt hatte seinen großen Auftritt am Nachmittag des 15. September, einem düsteren und regnerischen Samstag. Er fuhr in einem kaffeefarbenen Cadillac vor, der direkt aus einem Chuck-Berry-Song hätte stammen können. Begleitet wurde er von einem Mann, den ich kannte, George Bouhe, und einem, den ich nicht kannte – einer hageren Bohnenstange mit schütterem, weißem Haar und der kerzengeraden Haltung eines Mannes, der lange Jahre beim Militär war und immer noch glücklich darüber war. De Mohrenschildt ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Ich beeilte mich, das Richtmikrofon zu holen.

Als ich mit dem Gerät zurückkam, hatte Bouhe einen zusammengeklappten Laufstall unter dem Arm, und der militärisch aussehende Kerl hatte einen Arm voll Spielzeug. De Mohrenschildt, der nichts trug, stieg erhobenen Hauptes und mit herausgestreckter Brust vor den beiden anderen die Stufen hinauf. Er war groß und kräftig gebaut. Seine ergrauenden Haare waren auf eine Weise schräg aus seiner breiten Stirn zurückgekämmt, die – zumindest mir – sagte: Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt! Denn ich bin GEORGE.

Ich schaltete das Bandgerät ein, setzte meinen Kopfhörer auf und zielte mit dem Richtmikrofon über die Straße.

Marina war nirgends zu sehen. Lee saß auf der Couch und las im Licht der Lampe auf der Kommode ein dickes Taschenbuch. Als er Schritte auf der Veranda hörte, sah er stirnrunzelnd auf und warf das Buch auf den Couchtisch. Noch mehr gottverdammte Exilrussen, dachte er vielleicht.

Aber er ging zur Haustür, um sie hereinzulassen. Er streckte dem weißhaarigen Unbekannten auf der Veranda die Hand hin, aber de Mohrenschildt überraschte ihn – und mich –, indem er Lee an sich zog und auf beide Wangen küsste. Dann hielt er ihn mit ausgestreckten Armen an den Schultern. Er sprach mit tiefer Stimme und einem Akzent, der eher deutsch als russisch klang, wie ich fand. »Lassen Sie mich den jungen Mann ansehen, der so weit gereist und mit heilen Idealen zurückgekehrt ist.« Dann zog er Lee in eine weitere Umarmung. Oswalds Kopf war gerade noch über der Schulter des größeren Mannes sichtbar, und ich sah etwas, was noch überraschender war: Lee Harvey Oswald lächelte.

2

Marina kam mit June auf dem Arm aus dem Kinderzimmer. Als sie Bouhe sah, stieß sie einen kleinen Freudenschrei aus und bedankte sich für den Laufstall und das »Kinderspielesachen«, wie sie in ihrer Version der für sie noch neuen Sprache sagte. Bouhe stellte ihr den mageren Mann als Lawrence Orlov – Colonel Lawrence Orlov, bitte schön – und de Mohrenschildt als einen Freund der russischen Gemeinde vor.

Bouhe und Orlov machten sich daran, den Laufstall mitten im Raum aufzubauen. Marina stand bei ihnen und plauderte auf russisch. Wie Bouhe war Orlov anscheinend außerstande, die junge russische Mutter aus den Augen zu lassen. Marina trug ein Babydoll-Oberteil und Shorts, die ihre endlos langen Beine betonten. Lees Lächeln war verschwunden. Er zog sich in seine gewohnte Trübseligkeit zurück.

Nur ließ de Mohrenschildt das nicht zu. Er entdeckte Lees Taschenbuch, trat rasch an den Couchtisch und griff danach. »Atlas wirft die Welt ab?« Er sprach nur mit Lee, die anderen, die den neuen Laufstall bewunderten, ignorierte er vollständig. »Ayn Rand? Was tut ein junger Revolutionär damit?«

»Kenne deinen Feind«, sagte Lee, und als de Mohrenschildt in herzhaftes Lachen ausbrach, kehrte auch Lees Lächeln zurück.

»Und was halten Sie von Miss Rands verzweifeltem Aufschrei?« Das kam mir irgendwie bekannt vor, als ich die Aufnahme abspielte. Ich hörte mir die Stelle zweimal an, bevor es klickte: Genau diesen Ausdruck hatte Mimi Corcoran benutzt, als sie mich nach Der Fänger im Roggen gefragt hatte.

»Ich denke, dass sie den vergifteten Köder geschluckt hat«, sagte Oswald. »Und jetzt verdient sie daran, ihn anderen Leuten zu verkaufen.«

»Genau, mein Freund. Besser hat das noch nie jemand ausgedrückt. Aber der Tag wird kommen, an dem die Rands dieser Welt sich wegen ihrer Verbrechen verantworten müssen. Glauben Sie nicht auch?«

»Ich weiß es«, sagte Lee. Er sprach ganz nüchtern.

De Mohrenschildt klopfte mit einer flachen Hand auf die Couch. »Setzen Sie sich zu mir. Ich möchte von Ihren Abenteuern in der alten Heimat hören.«

Bouhe und Orlov kamen zu Lee und de Mohrenschildt und begannen eine längere Diskussion auf russisch. Lee machte ein zweifelndes Gesicht, aber als de Mohrenschildt etwas zu ihm sagte – ebenfalls auf russisch –, nickte er und sprach kurz mit Marina. Seine knappe Handbewegung in Richtung Tür sagte alles: Los, geh schon, geh.

De Mohrenschildt warf seine Autoschlüssel Bouhe zu, der sie aber fallen ließ. Lee und de Mohrenschildt wechselten einen amüsierten Blick, als Bouhe sie vom schmutzigen, grünen Teppich aufhob. Dann gingen sie, Marina mit der Kleinen auf dem Arm, und fuhren mit de Mohrenschildts protzigem Straßenkreuzer davon.

»Nun haben wir Ruhe, mein Freund«, sagte de Mohrenschildt. »Und die Männer werden ihre Geldbörsen öffnen, was gut ist, ja?«

»Ich hab’s satt, dass sie dauernd ihre Geldbörsen öffnen«, sagte Lee. »Rina vergisst allmählich, dass wir nicht nach Amerika zurückgekommen sind, bloß um ’ne gottverdammte Tiefkühltruhe und einen Haufen Kleider zu kaufen.«

De Mohrenschildt winkte ab. »Die Kapitalisten sollen ruhig etwas bluten. Reicht es nicht, Mann, dass ihr in diesem deprimierenden Loch haust?«

»Es ist echt nichts Besonderes, was?«, sagte Lee.

De Mohrenschildt schlug ihm so kräftig auf den Rücken, dass der kleinere Mann fast von der Couch kippte. »Kopf hoch! Was du heute einsteckst, gibst du später tausendfach zurück. Daran glaubst du doch, oder?« Und als Lee nickte: »Erzähl mir jetzt, wie die Dinge in Russland stehen, Genosse … darf ich dich Genosse nennen, oder hast du diese Form der Anrede abgelegt?«

»Sie dürfen mich nennen, wie Sie wollen«, sagte Oswald lachend. Ich konnte sehen, dass er sich de Mohrenschildt öffnete, wie sich eine Blume nach langen Regentagen der Sonne öffnete.

Lee sprach über Russland. Er drückte sich langatmig und schwülstig aus. Seine scharfe Kritik an der kommunistischen Bürokratie, die alle wundervollen sozialistischen Vorkriegsideale des Landes korrumpiert habe (Stalins Große Säuberung in den Dreißigerjahren blieb unerwähnt), interessierte mich nicht sonderlich. Ebenso wenig sein Urteil, Nikita Chruschtschow sei ein Idiot; denselben Scheiß über amerikanische Spitzenpolitiker konnte man hierzulande bei jedem Friseur oder Schuhputzer hören. Oswald, der in nur vierzehn Monaten die Weltgeschichte verändern würde, war ein Langweiler.

Was mich interessierte, war die Art, wie de Mohrenschildt zuhörte. Das machte er, wie es alle charmanten und unwiderstehlichen Männer taten: Er stellte immer zur rechten Zeit die richtigen Fragen, zappelte nicht herum oder wich dem Blick seines Gegenübers aus und vermittelte dem anderen Kerl das Gefühl, der klügste, brillanteste und intellektuellste Kopf der Welt zu sein. Für Lee war dies vielleicht das erste Mal im Leben, dass ihm jemand so zuhörte.

»Für den Sozialismus sehe ich nur eine Hoffnung«, schloss Lee. »Und die heißt Kuba. Dort ist die Revolution noch rein. Dort möchte ich eines Tages hin. Vielleicht lasse ich mich sogar einbürgern.«

George de Mohrenschildt nickte ernst. »Du könntest es weit schlechter treffen. Ich war viele Male dort, bevor die jetzige Regierung Kuba-Reisen erschwert hat. Ein schönes Land … und heute dank Fidel ein schönes Land, das den Menschen gehört, die dort leben.«

»Ja, ich weiß.« Lees Augen leuchteten.

»Aber!« De Mohrenschildt hob warnend einen Finger. »Wenn du glaubst, die amerikanischen Kapitalisten würden zulassen, dass Fidel, Raúl und Che ihren Zauber verbreiten, lebst du in einer Traumwelt. Das Räderwerk ist schon in Gang. Du kennst diesen Kerl Walker?«

Ich horchte auf.

»Edwin Walker? Der General, der entlassen worden ist?«

»Genau der.«

»Den kenn ich. Wohnt in Dallas. Hat als Gouverneur kandidiert und den Arsch versohlt gekriegt. Danach ist er rüber nach Miss’sippi, um an Ross Barnetts Seite zu stehen, als James Meredith die Integration an der Ole Miss eingeleitet hat. Walker ist bloß ein weiterer kleiner Hitler, der für die Rassentrennung eintritt.«

»Ein Rassist, gewiss, aber die Pro-Segregations-Sache und die Klan-Heinis sind für ihn nur eine Tarnung. Den Kampf für die Negerrechte sieht er als Keule, mit der er auf die sozialistischen Prinzipien eindreschen kann, die ihn und seinesgleichen so beunruhigen. James Meredith? Ein Kommunist! Die NAACP? Eine Tarnorganisation. Das SNCC? Außen schwarz, innen rot!«

»Klar«, sagte Lee. »So funktionieren die.«

Ich konnte nicht beurteilen, ob de Mohrenschildt sich ehrlich für die Dinge interessierte, die er sagte, oder ob er Lee nur aus Spaß an der Freude heißmachte. »Und was sehen die Walkers und die Barnetts und all die herumhüpfenden Erweckungsprediger wie Billy Graham und Billy James Hargis als das schlagende Herz dieses bösen, Nigger liebenden, kommunistischen Ungeheuers? Russland!«

»Wie wahr.«

»Und wo sehen sie die gierig ausgestreckte Hand des Kommunismus nur neunzig Meilen von der Küste der Vereinigten Staaten entfernt? In Kuba! Walker trägt keine Uniform mehr, aber sein bester Freund sehr wohl. Weißt du, von wem ich rede?«

Lee schüttelte den Kopf. Er starrte de Mohrenschildts Gesicht unverwandt an.

»Curtis LeMay. Auch ein Rassist, der hinter jedem Busch Kommunisten lauern sieht. Was sollte Kennedy nach Walkers und LeMays Überzeugung tun? Kuba bombardieren! Dann Kuba besetzen! Dann Kuba als einundfünfzigsten Staat der USA annektieren! Ihre Demütigung in der Schweinebucht hat sie nur noch entschlossener gemacht!« De Mohrenschildt machte eigene Ausrufezeichen, indem er sich mit der Faust auf den Schenkel schlug. »Männer wie LeMay und Walker sind viel gefährlicher als diese Rand-Schlampe, und das nicht nur, weil sie Waffen besitzen. Sondern weil sie Anhänger haben.«

»Ich kenne die Gefahr«, sagte Lee. »Ich habe angefangen, hier in Fort Worth eine Hände-weg-von-Kuba-Gruppe zu organisieren. Ich habe schon etwa ein Dutzend Interessenten.«

Das war kühn. Soviel ich wusste, waren die einzigen Dinge, die Lee in Fort Worth organisiert hatte, ein paar Fliegengitter mit Alurahmen sowie die Wäschespinne hinter dem Haus, wenn Marina ihn dazu überreden konnte, was selten genug vorkam, dass er Junes Windeln dort aufhängte.

»Halt dich lieber ran damit«, sagte de Mohrenschildt grimmig. »Kuba ist eine Werbetafel für die Revolution. Wenn die leidenden Menschen Nicaraguas und Haitis und der Dominikanischen Republik nach Kuba blicken, sehen sie eine friedliche, agrarische sozialistische Gesellschaft, die den Diktator gestürzt und seine Geheimpolizei vertrieben hat – in einigen Fällen mit dem eigenen Schlagstock in ihrem fetten Arsch!«

Lee lachte schallend.

»Sie sehen, wie große Zuckerrohrplantagen und die Sklavenarbeiterfarmen von United Fruit unter die Bauern verteilt werden. Sie sehen, dass Standard Oil die Insel verlassen muss. Sie sehen, wie die Spielkasinos, die alle dem Lansky-Mob gehören …«

»Wie wahr«, sagte Lee.

»… geschlossen werden. Die Zirkusspiele sind vorbei, mein Freund, und die Frauen, die ihre Körper verkauft haben – und die Körper ihrer Töchter –, haben wieder ehrliche Arbeit. Ein peón, der unter dem Schwein Batista auf der Straße verreckt wäre, kann jetzt ins Krankenhaus gehen und sich anständig behandeln lassen. Und warum? Weil unter Fidel der Arzt und der peón gleichberechtigt sind!«

»Wie wahr«, sagte Lee. Das war seine Standardantwort.

George de Mohrenschildt sprang von der Couch auf und fing an, um den neuen Laufstall herumzumarschieren. »Glaubst du, dass Kennedy und seine irische Kamarilla diese Werbetafel stehen lassen werden? Diesen Leuchtturm, der eine Botschaft der Hoffnung ausstrahlt?«

»Irgendwie mag ich Kennedy«, sagte Lee, als genierte er sich, das einzugestehen. »Trotz der Schweinebucht. Das war doch Eisenhowers Plan.«

»Die meisten im GDA mögen President Kennedy. Weißt du, was ich mit GDA meine? Ich kann dir versichern, das tollwütige Wiesel, das Atlas wirft die Welt ab geschrieben hat, wüsste es. Damit meine ich das Große Dumme Amerika. Seine Bürger leben glücklich und sterben zufrieden, wenn sie einen Kühlschrank mit Eisfach, zwei Autos in der Garage und 77 Sunset Strip in der Glotze haben. Das Große Dumme Amerika liebt Kennedys Lächeln. O ja. Ja, in der Tat. Er hat ein wundervolles Lächeln, das gebe ich zu. Aber sagt Shakespeare nicht, dass ein Mann lächeln, immer nur lächeln und trotzdem ein Schurke sein kann? Weißt du, dass Kennedy einen CIA-Plan, Castro zu ermorden, genehmigt hat? Ja! Sie haben’s schon drei- oder viermal versucht – Gott sei Dank vergeblich. Das weiß ich von meinen Ölkontakten auf Haiti und in der DR, Lee, und das sind gute Informationen.«

Lee machte ein erschrockenes Gesicht.

»Aber Fidel hat an Russland einen starken Freund«, fuhr de Mohrenschildt fort, während er weiter um den Laufstall herummarschierte. »Es ist nicht das Russland, von dem Lenin geträumt hat – auch nicht deins oder meins –, aber es dürfte seine Gründe dafür haben, Fidel beizustehen, wenn Amerika eine weitere Invasion versucht. Und merk dir meine Worte: Kennedy wird es bald wieder versuchen. Er wird auf LeMay hören. Er wird auf Dulles und Angleton von der CIA hören. Er braucht nur noch den richtigen Vorwand, dann schlägt er los, nur um der Welt zu beweisen, dass er Mumm hat.«

Die beiden sprachen weiter über Kuba. Als der Cadillac zurückkam, war der Rücksitz voller Lebensmittel – für einen ganzen Monat, wie es aussah.

»Scheiße«, sagte Lee. »Sie sind wieder da.«

»Und wir freuen uns, sie zu sehen«, sagte de Mohrenschildt freundlich.

»Bleibt doch zum Abendessen«, sagte Lee. »Rina ist keine besonders gute Köchin, aber …«

»Ich muss gehen. Meine Frau wartet begierig auf meinen Bericht, und sie wird Gutes hören! Nächstes Mal bringe ich sie mit. Soll ich?«

»Aber ja, na klar.«

Sie gingen zur Haustür. Marina sprach mit Bouhe und Orlov, während die beiden Männer Kartons mit Konservendosen aus dem Kofferraum hoben. Aber sie redete nicht nur, sondern flirtete auch ein bisschen. Bouhe schien kurz davor zu sein, vor ihr auf die Knie zu sinken.

Auf der Veranda sagte Lee etwas übers FBI. Als de Mohrenschildt fragte, wie oft, hielt Lee drei Finger hoch. »Ein Agent namens Fain. Er war zweimal hier. Ein weiterer namens Hosty.«

»Sieh ihnen in die Augen, und beantworte ihre Fragen!«, sagte de Mohrenschildt. »Du hast nichts zu befürchten, Lee, nicht nur weil du unschuldig, sondern weil du im Recht bist!«

Die anderen sahen ihn jetzt an … und nicht nur sie. Die Springseilmädchen waren aufgetaucht und standen auf dem Trampelpfad, der in diesem Teil der Mercedes Street den Gehsteig ersetzte. De Mohrenschildt hatte ein Publikum, vor dem er deklamieren konnte.

»Du bist ideologisch engagiert, junger Mr. Oswald, daher kreuzt das FBI natürlich hier auf. Die Hoover-Bande! Wer weiß, vielleicht werdet ihr in diesem Augenblick überwacht – vielleicht aus einem Haus entlang der Straße, vielleicht aus dem genau gegenüber!«

De Mohrenschildts Zeigefinger zielte auf meine zugezogenen Vorhänge. Lee drehte sich nach ihnen um. Ich stand unbeweglich im Schatten und war froh, dass ich die als Schalltrichter dienende Tupperware-Schale weggelegt hatte, obwohl sie inzwischen mit schwarzem Gewebeband beklebt war.

»Ich weiß, wer sie sind. Haben sie und ihre Cousins von der CIA mich etwa nicht viele Male aufgesucht, um mich einzuschüchtern, damit ich ihnen Informationen über meine russischen und südamerikanischen Freunde liefere? Haben Sie mich nach dem Krieg etwa nicht als heimlichen Nazi bezeichnet? Haben sie nicht behauptet, ich hätte die Tontons Macoutes angeheuert, um Konkurrenten um Ölbohrrechte auf Haiti verprügeln und foltern zu lassen? Haben sie mir etwa nicht vorgeworfen, Papa Doc bestochen und das Attentat auf Trujillo finanziert zu haben? Ja, ja, alles das und noch mehr!«

Die Springseilmädchen starrten ihn mit offenem Mund an. Das tat auch Marina. Wenn George de Mohrenschildt erst einmal in Fahrt war, walzte er alles nieder.

»Beweise Mut, Lee! Tritt vor, wenn die Kerle kommen! Zeig ihnen das hier!« Er packte sein Hemd und riss es auf. Knöpfe sprangen ab und kullerten über die Veranda davon. Die Springseilmädchen schnappten nach Luft, zu entsetzt, um zu kichern. Anders als die meisten damaligen Amerikaner trug de Mohrenschildt kein Unterhemd. Seine Haut hatte die Farbe von geöltem Mahagoni. An schlaffen Muskeln hingen fette Brüste. Er schlug sich mit der rechten Faust an eine Stelle über der linken Brustwarze. »Sag ihnen: ›Hier ist mein Herz, und mein Herz ist rein, und mein Herz gehört meiner Sache!‹ Sag ihnen: ›Auch wenn Hoover mir das Herz aus dem Leib reißt, schlägt es weiter, und tausend andere Herzen schlagen im Gleichtakt! Dann zehntausend! Dann hunderttausend! Dann eine Million!‹«

Orlov stellte seinen Karton mit Konservendosen ab, um die Hände für einen leisen, ironischen Applaus frei zu haben. Marinas Wangen glühten förmlich. Lees Gesichtsausdruck war am interessantesten. Wie Paulus von Tarsus auf der Straße nach Damaskus hatte er eine Offenbarung erlebt.

Die Blindheit war von seinen Augen gefallen.

3

De Mohrenschildts Predigt und seine Mätzchen mit dem aufgerissenen Hemd – gar nicht so viel anders als der Zirkuszeltklamauk der rechtsradikalen Prediger, die er geschmäht hatte – beunruhigten mich zutiefst. Ich hatte gehofft, ein vertrauliches Gespräch zwischen den beiden Männern mithören zu können, das vielleicht einiges dazu beitragen konnte, de Mohrenschildt als echten Faktor des Anschlags auf Walker und somit auch des Kennedy-Attentats zu eliminieren. Dieses vertrauliche Gespräch hatte es gegeben, aber es hatte alles nicht besser, sondern nur noch schlimmer gemacht.

Eines schien jedoch klar zu sein: Es wurde Zeit, der Mercedes Street ohne großes Bedauern adieu zu sagen. Ich hatte die Erdgeschosswohnung im Haus West Neely Street 214 gemietet. Am 24. September belud ich meinen alternden Ford Sunliner mit meiner wenigen Kleidung, meinen Büchern und meiner Schreibmaschine und brachte das Zeug nach Dallas.

Die beiden dicken Damen hatten einen Saustall mit Krankenzimmergestank hinterlassen. Ich putzte ihn eigenhändig und war dabei Gott dankbar, dass Als Kaninchenbau in eine Zeit führte, in der es schon Raumspray zu kaufen gab. Bei einem Garagenverkauf erstand ich einen tragbaren Fernseher, den ich in der Küche neben dem Herd (dem Depot für altes Bratenfett, wie ich ihn nannte) auf die Arbeitsplatte stellte. Während ich kehrte, putzte, schrubbte und sprühte, sah ich Krimiserien wie Die Unbestechlichen und Sitcoms wie Wagen 54, bitte melden. Wenn das Geschrei und Getrappel der Kinder über mir für die Nacht verstummte, ging ich ins Bett und schlief wie ein Toter. Ich hatte keine Träume.

Ich behielt das Haus in der Mercedes Street, aber in der Nummer 2703 gab es nicht viel zu sehen. Manchmal setzte Marina June in einen Sportwagen (ein weiteres Geschenk von Mr. Bouhe, ihrem bejahrten Verehrer) und schob sie bis zum Parkplatz und wieder zurück. Nachmittags nach Schulschluss wurden sie oft von den drei Springseilmädchen begleitet. Marina sprang sogar ein paarmal selbst, wobei sie etwas auf russisch skandierte. Beim Anblick seiner auf und ab hüpfenden Mama, deren dunkle Mähne um ihren Kopf flog, musste das Baby lachen. Auch die Springseilmädchen lachten. Marina störte das nicht. Sie redete viel mit ihnen und wirkte nie verärgert, wenn sie kicherten und sie verbesserten. Sie wirkte sogar erfreut. Lee wollte nicht, dass sie Englisch lernte, aber sie lernte es trotzdem. Schön für sie.

Am 2. Oktober 1962 wachte ich in meiner Wohnung in der Neely Street bei unheimlicher Stille auf: keine rennenden Schritte über mir, keine junge Mutter, die ihre beiden Ältesten anschrie, sie sollten sich für die Schule fertig machen. Sie waren mitten in der Nacht ausgezogen.

Ich ging nach oben und versuchte, ihre Tür mit meinem Schlüssel aufzusperren. Das klappte zwar nicht, aber das einfache Federschloss ließ sich leicht mit einem Drahtkleiderbügel öffnen. Im Wohnzimmer sah ich ein leeres Bücherregal stehen. Ich bohrte ein dünnes Loch durch den Fußboden, schloss die zweite verwanzte Lampe an und führte die Litze durch das Loch hinunter in meine Wohnung. Dann schob ich das Bücherregal darüber.

Die Wanze funktionierte gut, aber die Spulen meines raffinierten japanischen Bandgeräts drehten sich nur, wenn potenzielle Mieter bei der Wohnungsbesichtigung zufällig die Lampe anknipsten. Es gab Interessenten, aber keiner biss an. Bis die Oswalds einzogen, hatte ich das Haus in der Neely Street ganz für mich allein. Nach dem lärmenden Treiben in der Mercedes Street war das erholsam, obwohl mir die Springseilmädchen irgendwie fehlten. Sie waren mein griechischer Chor.

4

Ich schlief nachts in meiner Wohnung in Dallas und beobachtete tagsüber, wie Marina ihr Kind spazieren fuhr. Während ich damit beschäftigt war, nahte ein weiterer wichtiger Augenblick der Sechzigerjahre, aber ich ignorierte ihn. Ich war durch die Oswalds abgelenkt, die gerade die nächste häusliche Krise durchlebten.

In der zweiten Oktoberwoche kam Lee eines Tages früh von der Arbeit. Marina war mit June unterwegs. Sie sprachen auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Fuß der Einfahrt miteinander. Gegen Schluss des Gesprächs fragte Marina auf englisch: »Was bedeuten entge-lassen?«

Er erklärte es ihr auf russisch. Marina breitete die Hände in einer Was-kann-man-machen-Geste aus und umarmte ihn. Lee küsste sie auf die Wange, dann hob er die Kleine aus dem Sportwagen. June lachte, als er sie hoch über seinen Kopf hielt, und versuchte, ihn mit beiden Händen an den Haaren zu ziehen. Sie gingen miteinander ins Haus. Eine glückliche kleine Familie, die eine vorübergehende Widrigkeit tapfer ertrug.

Das hielt bis fünf Uhr abends an. Ich wollte schon in die Neely Street zurückfahren, als ich Marguerite Oswald entdeckte, die von der Bushaltstelle Winscott Road heranmarschiert kam.

Ärger im Anmarsch, dachte ich, und wie recht ich damit hatte!

Auch heute vermied Marguerite die immer noch nicht reparierte Aha-Stufe; auch diesmal trat sie ein, ohne anzuklopfen, und das Feuerwerk ging sofort los. Der Abend war so warm, dass drüben die Fenster offen standen. Ich machte mir nicht die Mühe, das Richtmikrofon zu benutzen. Lee und seine Mutter stritten sich in voller Lautstärke.

Anscheinend hatte die Firma Leslie Welding ihn doch nicht entlassen; Lee war einfach gegangen. Weil die Firma knapp an Arbeitskräften war, hatte sein Chef bei Vada Oswald angerufen, und als Roberts Frau ihm nicht hatte weiterhelfen können, hatte er Marguerite angerufen.

»Ich hab für dich gelogen, Lee!«, schrie Marguerite. »Ich hab gesagt, du hättest die Grippe! Warum zwingst du mich dazu, immer wieder für dich zu lügen?«

»Ich zwinge dich zu gar nichts!«, brüllte er zurück. Sie standen Nase an Nase im Wohnzimmer. »Ich zwinge dich zu gar nichts, und du tust es trotzdem!«

»Lee, wie willst du deine Familie ernähren? Du brauchst einen Job!«

»Oh, ich kriege schon einen! Mach dir deswegen keine Sorgen, Ma!«

»Wo?«

»Weiß noch nicht …«

»Oh, Lee! Wovon willst du die Miete zahlen?«

»… aber sie hat massenhaft Freunde.« Er wies mit dem Daumen auf Marina, die daraufhin zusammenzuckte. »Für viel sind sie nicht gut, aber dafür schon. Du musst hier verschwinden, Ma. Fahr nach Hause. Lass mich mal Luft holen.«

Marguerite stürzte sich auf den Laufstall. »Wo ist der her?«

»Von den Freunden, die ich eben erwähnt habe. Die Hälfte davon ist reich, die andere versucht es zu werden. Sie reden gern mit Rina.« Lee grinste hämisch. »Die Älteren glotzen gern ihre Titten an.«

»Lee!« Das klang schockiert, aber ihre Miene wirkte … erfreut? Freute Mamotschka sich über den Zorn, den sie in der Stimme ihres Sohnes hörte?

»Geh jetzt, Ma. Lass uns einfach in Ruhe.«

»Weiß sie, dass Männer, die Geschenke machen, immer etwas dafür erwarten? Weiß sie das, Lee?«

»Scher dich zum Teufel!« Er schüttelte die Fäuste und tanzte fast vor lauter ohnmächtiger Wut.

Marguerite lächelte. »Du bist erregt. Natürlich bist du das. Ich komme zurück, wenn du dich wieder besser in der Gewalt hast. Und ich helfe euch. Ich will nur helfen.«

Dann, plötzlich, stürmte sie auf Marina und die Kleine los. Man hätte meinen können, sie wollte die beiden anfallen. Sie bedeckte Junes Gesicht mit Küssen und marschierte dann durch den Raum davon. An der Tür drehte sie sich um und zeigte auf den Laufstall. »Sag ihr, dass sie den abschrubben soll, Lee. An abgelegten Sachen anderer Leute sitzen immer Keime. Wenn das Baby krank wird, könnt ihr euch keinen Arzt leisten.«

»Ma! Geh!«

»Ich bin schon dabei.« Ganz ruhig und gelassen. Sie wackelte in einer mädchenhaften Ata-ata-Geste mit den Fingern und verschwand.

Marina näherte sich Lee und trug dabei die Kleine wie einen Schutzschild vor sich. Die beiden sprachen miteinander. Dann schrien sie sich an. Von Familiensolidarität konnte keine Rede mehr sein; dafür hatte Marguerite gesorgt. Lee nahm das Baby und wiegte es auf einem Arm, dann boxte er seiner Frau ohne die geringste Vorwarnung ins Gesicht. Marina ging zu Boden, sie blutete aus Mund und Nase und heulte lautstark. Lee sah auf sie hinab. Das Baby weinte ebenfalls. Lee streichelte Junes feines Haar, küsste sie auf die Wange und wiegte sie noch etwas. Marina kam wieder in Sicht. Sie versuchte sich aufzurappeln. Lee trat sie in die Seite, worauf sie wieder zu Boden ging. Von ihr war nur noch die dunkle Mähne zu sehen.

Verlass ihn, dachte ich, obwohl ich wusste, dass sie das nicht tun würde. Nimm die Kleine mit, und verlass ihn. Geh zu George Bouhe. Wärm sein Bett, wenn’s sein muss, aber sieh zu, dass du schnellstens von diesem dürren, unter der Fuchtel seiner Mutter stehenden Ungeheuer wegkommst.

Aber es war Lee, der sie verließ, zumindest vorübergehend. In der Mercedes Street sah ich ihn nie wieder.

5

Es war ihre erste Trennung. Lee ging auf Arbeitssuche nach Dallas. Wo er dort unterkam, wusste ich nicht. In Als Notizen stand, er habe beim Y.M.C.A. gewohnt, aber das stimmte nicht. Vielleicht lebte er in einer der Billigpensionen am Rand der Innenstadt. Mir machte das keine Sorgen. Ich wusste, dass sie gemeinsam aufkreuzen würden, um die Wohnung über meiner zu mieten, zudem hatte ich vorerst genug von ihm. Es war eine Wohltat, nicht mehr seine verlangsamte Stimme hören zu müssen, die bei jedem Gespräch ein Dutzend Mal Wie wahr sagte.

Dank George Bouhe fiel Marina auf die Beine. Nicht lange nach Marguerites Besuch und Lees Verschwinden kamen Bouhe und ein weiterer Mann mit einem Chevy-Pick-up, um ihr beim Umzug zu helfen. Als der Pick-up die Mercedes Street 2703 verließ, fuhren Mutter und Tochter auf der Ladefläche. Der rosa Koffer, den Marina aus Russland mitgebracht hatte, war mit Wolldecken ausgelegt, und June lag fest schlafend in diesem Nest. Beim Losfahren legte Marina eine Hand auf die Brust der Kleinen, um sie zu stabilisieren. Die Springseilmädchen beobachteten sie, und Marina winkte ihnen zu. Sie winkten zurück.

6

Ich fand George de Mohrenschildts Adresse im Telefonbuch für Dallas und beschattete ihn zweimal. Ich war neugierig, mit wem er sich treffen würde, aber auch wenn er ein CIA-Mann, ein Helfershelfer des Lansky-Mobs oder Mitglied irgendeiner Verschwörung gewesen wäre, hätte ich das wohl nicht herausbekommen. Er fuhr zur Arbeit; er ging in den Dallas Country Club, wo er Tennis spielte oder mit seiner Frau schwamm; sie besuchten ein paar Striplokale. Die Tänzerinnen belästigte er nicht, aber er hatte eine Vorliebe dafür, seiner Frau in aller Öffentlichkeit den Busen oder den Hintern zu tätscheln. Ihr schien das nichts auszumachen.

Bei zwei Gelegenheiten traf er sich mit Oswald. Das erste Mal im bevorzugten Stripclub der de Mohrenschildts. Lee schien sich in diesem Milieu nicht wohlzufühlen, und sie blieben nicht lange. Beim zweiten Mal aßen sie in einem Café in der Browder Street zu Mittag. Dort blieben sie bis fast um zwei sitzen und sprachen bei endlos vielen Tassen Kaffee miteinander. Lee wollte aufstehen, überlegte sich die Sache anders und bestellte noch etwas. Als die Bedienung ihm ein Stück Kuchen brachte, drückte er ihr etwas in die Hand, was sie nach einem flüchtigen Blick in ihre Schürzentasche steckte. Statt den beiden zu folgen, als sie gingen, sprach ich die Bedienung an und fragte sie, ob ich sehen dürfe, was der junge Mann ihr gegeben habe.

»Ich schenk’s Ihnen«, sagte sie und gab mir einen gelben Handzettel, auf dem oben in fetter Blockschrift HÄNDE WEG VON KUBA! stand. Im Text wurden »interessierte Personen« aufgefordert, sich der Ortsgruppe Dallas/Fort Worth dieser ausgezeichneten Organisation anzuschließen. LASSEN SIE SICH NICHT VON ONKEL SAM ÜBERTÖLPELN! SCHREIBEN SIE AN POSTFACH 1919, UM EINZELHEITEN ÜBER ZUKÜNFTIGE VERSAMMLUNGEN ZU ERFAHREN.

»Worüber haben die beiden geredet?«, fragte ich.

»Sind Sie ein Cop?«

»Nein, ich gebe bessere Trinkgelder als Cops«, sagte ich und gab ihr einen Fünfer.

»Über dieses Zeug«, sagte sie und zeigte auf den Handzettel, den Oswald zweifellos an seiner neuen Arbeitsstätte gedruckt hatte. »Kuba. Als ob mir das nicht scheißegal wär.«

Aber am Abend des 22. Oktober, keine Woche später, sprach auch President Kennedy über Kuba. Und plötzlich war es niemand mehr scheißegal.

7

Es ist eine Blues-Floskel, dass man das Wasser nie vermisste, bevor der Brunnen austrocknete, aber bis zum Herbst 1962 war mir nie klar gewesen, dass das auch für das Getrappel kleiner Füße galt, das die Zimmerdecke erzittern ließ. Nach dem Auszug der Familie über mir nahm die West Neely Street 214 die unheimliche Atmosphäre eines Gespensterhauses an. Ich hatte Sehnsucht nach Sadie und fing an, mir fast zwanghaft Sorgen um sie zu machen. Bei näherer Überlegung könnte man das »fast« streichen. Ellie Dockerty und Deke Simmons nahmen meine Sorgen wegen ihres Exmannes nicht ernst. Auch Sadie nahm sie nicht ernst; vielleicht dachte sie, ich würde nur versuchen, sie mit John Clayton zu ängstigen, damit sie mich nicht ganz aus ihrem Leben drängte. Keiner von ihnen wusste, dass ihr Name sich nur um eine Silbe von dem von Doris Dunning unterschied, wenn man den Vornamen Sadie mal wegließ. Keiner von ihnen wusste von dem harmonisierenden Effekt, den ich selbst hervorzurufen schien – durch meine bloße Anwesenheit im Land des Einst. Wer würde unter diesen Umständen schuld sein, wenn Sadie etwas zustieß?

Die Albträume kamen wieder. Die Jimla-Träume.

Ich hörte auf, George de Mohrenschildt zu überwachen, und begann lange Spaziergänge zu machen, die nachmittags begannen und nicht vor neun oder sogar zehn abends in der Neely Street endeten. Unterwegs dachte ich an Lee, der jetzt in Dallas bei Jaggars-Chiles-Stovall, einer Grafikfirma, eine Ausbildung als Fototechniker machte. Oder an Marina, die vorübergehend bei einer frisch geschiedenen Frau namens Elena Hall eingezogen war. Ms. Hall arbeitete bei George Bouhes Zahnarzt, und es war dieser Zahnarzt gewesen, der am Steuer des Pick-ups gesessen hatte, als Marina und June aus der Bruchbude in der Mercedes Street ausgezogen waren.

Vor allem dachte ich an Sadie. Und an Sadie. Und an Sadie.

Weil ich auf einem dieser Spaziergänge durstig war und mich deprimiert fühlte, ging ich den Ivy Room, eine Kneipe in der Nachbarschaft, und bestellte ein Bier. Die Jukebox war abgestellt, und die Gäste waren ungewöhnlich schweigsam. Als die Bedienung mir das Bier hinstellte und sich sofort wieder dem Fernseher über der Bar zuwandte, wurde mir klar, dass alle den Mann beobachteten, den zu retten ich gekommen war. Er war blass und ernst und hatte dunkle Schatten unter den Augen.

»Um diesem offensiven Aufbau Einhalt zu gebieten, wird eine strikte Blockade für alle militärische Ausrüstung, die nach Kuba verschifft wird, eingeführt. Sämtliche Schiffe irgendwelcher Art, die für Kuba bestimmt sind – ganz gleich, aus welchem Land oder Hafen sie kommen –, werden zurückgeschickt, wenn sie Angriffswaffen geladen haben.«

»Jesus Christus!«, sagte ein Mann, der einen Cowboyhut trug. »Was glaubt er, wie die Russkis darauf reagieren werden?«

»Schnauze, Bill«, sagte der Barkeeper. »Wir müssen das hören.«

»Es wird die Politik dieser Nation sein«, fuhr Kennedy fort, »jeden Abschuss einer Atomrakete von Kuba auf irgendeine Nation in der westlichen Hemisphäre als einen Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten zu betrachten, der einen vollen Vergeltungsschlag auf die Sowjetunion zur Folge haben müsste.«

Eine Frau am Ende des Tresens stöhnte laut und hielt sich den Bauch. Der Mann neben ihr legte einen Arm um sie, worauf sie den Kopf an seine Schulter lehnte.

Was ich auf Kennedys Gesicht sah, war Angst und Entschlossenheit zu gleichen Teilen. Was ich dort auch sah, war Leben – totales Engagement für die zu bewältigende Aufgabe. Er war noch genau dreizehn Monate von seiner Begegnung mit der Kugel des Attentäters entfernt.

»Als notwendige militärische Vorsichtsmaßnahme habe ich unseren Stützpunkt Guantánamo verstärkt und heute die Angehörigen unseres dortigen Militärpersonals evakuiert.«

»Eine Lokalrunde auf mich!«, verkündete Bill der Cowboy plötzlich. »Denn jetzt ist wohl für uns alle Feierabend, Amigos.« Er legte zwei Zwanziger neben sein Schnapsglas, aber der Barkeeper machte keine Anstalten, danach zu greifen. Er beobachtete Kennedy, der jetzt an Generalsekretär Chruschtschow appellierte, diese heimliche, rücksichtslose und provokative Bedrohung des Weltfriedens zu beseitigen.

Die Bedienung, die mir mein Bier hingestellt hatte, eine vom Leben gezeichnete wasserstoffblonde Fünfzigerin, brach plötzlich in Tränen aus. Das gab für mich den Ausschlag. Ich stand vom Hocker auf, schlängelte mich zwischen den Tischen hindurch, an denen Frauen und Männer saßen und den Fernseher wie ernste Kinder anstarrten, und schlüpfte in eine der Telefonzellen neben dem Skee-Ball-Automaten.

Die Telefonistin forderte mich auf, vierzig Cent für die ersten drei Minuten einzuwerfen. Ich warf zwei Vierteldollarmünzen ein. Das Münztelefon quittierte das mit einem weichen Gong. Im Hintergrund konnte ich Kennedy weiter in seinem nasalen Neuenglandtonfall reden hören. Jetzt bezichtigte er den sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko der Lüge. Heute Abend nahm er kein Blatt vor den Mund.

»Verbinde Sie jetzt, Sir«, sagte die Telefonistin. Dann fragte sie aufgeregt: »Hören Sie die Rede des Präsidenten? Sonst sollten Sie Ihren Fernseher oder Ihr Radio einschalten.«

»Ich höre sie«, sagte ich. Das würde auch Sadie tun. Sadie, deren Exmann jede Menge apokalyptischen Scheiß abgesondert hatte, umhüllt mit sehr dünner wissenschaftlicher Glasur. Sadie, deren Yale-Abgänger und Politikerfreund ihr erzählt hatte, in der Karibik werde sich Großes ereignen. In einem Spannungsgebiet, vermutlich auf Kuba.

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen würde, um sie zu beruhigen, aber das war kein Problem. Ihr Telefon klingelte und klingelte. Das gefiel mir nicht. Wo war sie um halb neun an einem Montagabend in Jodie? Vielleicht im Kino? Das glaubte ich nicht.

»Sir, der Teilnehmer meldet sich nicht.«

»Wie wahr«, sagte ich und verzog das Gesicht, als ich Oswalds Standardfloskel aus meinem Mund hörte.

Als ich einhängte, fielen meine Quarter klappernd in die Münzrückgabe. Ich wollte sie wieder einwerfen, überlegte mir die Sache dann aber anders. Was hätte es genutzt, Miss Ellie anzurufen? Bei ihr stand ich jetzt auf der schwarzen Liste. Bei Deke vermutlich auch. Sie würden mich auffordern, mich um meinen eigenen Kram zu kümmern.

Als ich an die Theke zurückkam, zeigte Walter Cronkite im Fernsehen gerade U-2-Luftaufnahmen, die im Bau befindliche sowjetische Raketenbasen zeigten. Er sagte, dass viele Abgeordnete und Senatoren Kennedy zu Bombenangriffen oder zur sofortigen Besetzung Kubas drängten. Für die amerikanischen Raketenstützpunkte und den Strategic Air Command gelte erstmals die Verteidigungsstufe DEFCON-4.

»Amerikanische B-52-Bomber werden bald dicht an den sowjetischen Grenzen kreisen«, sagte Cronkite mit seiner tiefen, bedeutungsvollen Stimme. »Und – das ist allen von uns klar, die über die vergangenen sieben Jahre dieses immer beängstigenderen Kalten Kriegs berichtet haben – die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler, einen potenziell katastrophalen Fehler, wächst mit jeder neuen Eskalation, die …«

»Worauf wartet ihr denn noch?«, rief ein am Billardtisch stehender Mann. »Bombt die roten Schwanzlutscher endlich in die Steinzeit zurück!«

Einige Stimmen protestierten gegen diese blutrünstige Äußerung, aber die gingen fast komplett in einer Beifallswoge unter. Ich verließ den Ivy Room und lief in die Neely Street zurück. Dort sprang ich in den Sunliner, um eilig nach Jodie zu fahren.

8

Während ich meinen Scheinwerfern hinterher den Highway 77 hinunterraste, brachte mein Autoradio, das wieder funktionierte, nichts als einen Haufen Untergangsstimmung. Sogar die DJs hatte die Atomgrippe ereilt, und sie sagten Sachen wie »Gott segne Amerika« und »Haltet euer Pulver trocken«. Als der DJ von K-Life Johnny Hortons »The Battle Hymn of the Republic« jaulen ließ, stellte ich das Radio ab. Das alles erinnerte zu sehr an den Tag nach dem 11. September 2001.

Ich ließ das Gaspedal durchgetreten, obwohl der Motor des Sunliners schon reichlich klapprig war und die Nadel der Kühlwasseranzeige sich dem roten Bereich näherte. Die Straßen waren praktisch menschenleer, und am Morgen des 23. bog ich um kurz nach halb eins in Sadies Einfahrt ein. Ihr gelber VW Käfer stand vor dem geschlossenen Garagentor, und im Erdgeschoss brannte Licht, aber auf mein Klingeln kam keine Reaktion. Ich ging um das Haus herum und hämmerte an die Küchentür – wieder erfolglos. Das Ganze gefiel mir immer weniger.

Sadie hatte unter der Hintertreppe einen Reserveschlüssel versteckt. Ich angelte ihn hervor und schloss auf. Als Erstes schlug mir unverkennbarer Whiskygeruch entgegen. Und der abgestandene Rauch vieler Zigaretten.

»Sadie?«

Nichts. Ich ging durch die Küche ins Wohnzimmer. Auf dem niedrigen Couchtisch stand ein überquellender Aschenbecher, und eine Flüssigkeit hatte die dort liegenden Ausgaben der Zeitschriften Life und Look durchtränkt. Ich tauchte einen Finger hinein und roch daran. Scotch. Scheiße.

»Sadie?«

Jetzt konnte ich noch etwas riechen, an das ich mich von Christys letzten Sauftouren gut erinnerte: den scharfen Geruch von Erbrochenem.

Ich lief den kurzen Flur hinter dem Wohnzimmer entlang. Dort lagen sich zwei Türen gegenüber: eine in ihr Schlafzimmer, die andere in ein Arbeitszimmer. Diese Türen waren geschlossen, aber die Badezimmertür am Ende des Flurs stand offen. Grelles Neonlicht zeigte mir Erbrochenes, das auf die Klobrille gespritzt war. Auch auf dem rosa gefliesten Boden und dem Badewannenrand war welches zu erkennen. Auf dem Waschbecken stand neben der Seifenschale ein Tablettenfläschchen. Der Deckel war abgeschraubt. Ich rannte ins Schlafzimmer.

Sie lag schräg über der zusammengeschobenen Tagesdecke. Sie trug einen Unterrock und einen Wildledermokassin. Der andere war zu Boden gefallen. Ihre Haut hatte die Farbe von altem Kerzenwachs, und sie schien nicht zu atmen. Dann holte sie mit einem lauten Schnarchen gewaltig tief Luft und stieß sie keuchend wieder aus. Bis ihr Brustkorb sich zum nächsten Atemzug hob, verstrichen erschreckende vier Sekunden. Auf dem Nachttisch stand ein weiterer überquellender Aschenbecher. Auf den Kippen lag eine zusammengeknüllte Winston-Packung, die an einem Ende von einer nicht ganz ausgedrückten Zigarette angesengt worden war. Neben dem Aschenbecher standen ein halb leeres Glas und eine Flasche Glenlivet. Von dem Scotch fehlte nicht viel – immerhin ein kleiner Trost –, aber es war eigentlich nicht der Scotch, der mir Sorgen machte. Es waren die Tabletten. Auf dem Nachttisch lag auch ein fester, brauner Umschlag, aus dem ein paar Fotos herauslugten, aber ich vergeudete keinen Blick darauf. Nicht gleich.

Ich schlang die Arme um Sadie und versuchte, sie in eine sitzende Position hochzuziehen. Der Unterrock war aus Seide und rutschte mir durch die Hände. Sie sackte aufs Bett zurück und holte wieder mühevoll keuchend Luft. Die Haare fielen ihr über die geschlossenen Augen.

»Sadie, wach auf!«

Nichts. Ich packte sie an den Schultern und hievte sie am Kopfende des Bettes hoch. Sie prallte dagegen und ließ es erzittern.

»La mi ’n Ruhe.« Schwach und undeutlich, aber besser als nichts.

»Wach auf, Sadie! Du musst aufwachen!«

Ich begann, sie ganz leicht zu ohrfeigen. Ihre Augen blieben geschlossen, aber sie hob die Hände und machte schwache Versuche, mich abzuwehren.

»Wach auf! Wach auf, verdammt noch mal!«

Sie öffnete die Augen, starrte mich an, ohne mich zu erkennen, und schloss sie wieder. Aber sie atmete etwas normaler. Seit sie saß, war das schreckliche Keuchen nicht mehr zu hören.

Ich ging zurück ins Bad, kippte ihre Zahnbürste aus dem rosa Plastikbecher und ließ kaltes Wasser hineinlaufen. Dabei las ich das Etikett des Tablettenfläschchens. Nembutal. In dem Fläschchen waren zehn bis zwölf Kapseln übrig, also handelte es sich hier nicht um einen Selbstmordversuch. Zumindest keinen offenkundigen. Ich kippte sie in die Toilette, dann lief ich wieder ins Schlafzimmer. Sadie glitt aus der Sitzposition, in der ich sie zurückgelassen hatte, langsam nach unten, und weil der Kopf dabei nach vorn sackte, sodass ihr Kinn fast auf dem Brustbein ruhte, atmete sie wieder keuchend.

Ich stellte den Becher mit Wasser auf den Nachttisch und erstarrte sekundenlang, als mein Blick auf eines der aus dem Umschlag herausragenden Fotos fiel. Es konnte eine Frau sein – die noch vorhandenen Haare waren lang –, aber mit Gewissheit ließ sich das nicht sagen. Wo ihr Gesicht hätte sein sollen, war nur rohes Fleisch zu sehen, mit einem Loch im unteren Bereich. Das Loch schien zu schreien.

Ich hievte Sadie wieder hoch, packte ihre Haare und zog den Kopf nach hinten. Sie stöhnte etwas, was vielleicht Nicht, das tut weh heißen sollte. Dann kippte ich ihr das Wasser ins Gesicht. Sie fuhr zusammen und riss die Augen auf.

»Jor? Wa machstu hier, Jor? Waum bin ich nass?«

»Aufwachen! Wach auf, Sadie.« Ich schlug ihr wieder ins Gesicht, aber noch vorsichtiger, fast nur tätschelnd. Es genügte nicht. Ihre Augen schlossen sich langsam wieder.

»Geh … weg!«

»Nein, außer du willst, dass ich einen Krankenwagen rufe. Dann kannst du deinen Namen in der Zeitung lesen. Das würde dem Schulausschuss sicher gefallen. Und hopp!«

Ich schaffte es, die Hände hinter ihrem Körper zu falten und sie vom Bett zu ziehen. Ihr Unterrock schob sich hoch, glitt aber wieder herab, als sie auf dem Teppich auf die Knie sank. Sie riss die Augen auf und schrie vor Schmerzen auf, aber ich schaffte es trotzdem, sie auf die Beine zu stellen. Sie schwankte hin und her und schlug mich dabei etwas kräftiger ins Gesicht.

»Geh weg! Geh weg, Jor!«

»Nein, Ma’am.« Ich schlang einen Arm um ihre Taille und bugsierte sie halb schiebend, halb tragend zur Tür. Als wir in Richtung Bad abbogen, gaben ihre Knie nach. Also trug ich sie, was bei ihrem Gewicht und ihrer Größe keine leichte Übung war. Zum Glück half das Adrenalin mit. Ich schaffte es, sie auf die Toilette zu setzen, kurz bevor mir meine Knie den Dienst verweigerten. Ich rang keuchend nach Atem – teils vor Anstrengung, hauptsächlich aber vor Angst. Sie begann nach steuerbord abzukippen, und ich schlug sie auf den nackten Arm – klatsch.

»Bleib sitzen!«, schrie ich ihr ins Gesicht. »Bleib sitzen, Christy, gottverdammt noch mal!«

Sie öffnete mühsam die Augen, die schlimm blutunterlaufen waren. »Wer Christy?«

»Leadsängerin der Rolling Fucking Stones«, sagte ich. »Wie lange nimmst du schon Nembutal? Und wie viele hast du heute Abend geschluckt?«

»Hab ’n Ressep«, sagte sie. »Gehtich nichs an, Jor.«

»Wie viele? Wie viel hast du getrunken?«

»Geh weg.«

Ich drehte den Kaltwasserhahn der Wanne ganz auf und zog dann den Stift heraus, der auf Duschen umschaltete. Sie erriet, was ich vorhatte, und fing wieder an, nach mir zu schlagen.

»Nein, Jor! Nein!«

Ich beachtete sie nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine nur teilweise bekleidete Frau unter eine kalte Dusche verfrachtete, und manche Dinge waren eben wie Radfahren. Ich beförderte sie mit einem raschen Heber, den ich am nächsten Tag im Kreuz spüren würde, über den Wannenrand, und hielt sie dann fest, als sie unter dem kalten Wasser um sich zu schlagen begann. Sie griff laut kreischend nach dem Handtuchhalter. Die Augen hatte sie jetzt geöffnet. Auf ihren Haaren standen Wasserperlen. Der Unterrock wurde durchsichtig, und selbst unter diesen Umständen war es unmöglich, nicht für einen Moment Begierde zu verspüren, als ihre Kurven voll sichtbar wurden.

Sie versuchte aus der Wanne zu steigen. Ich stieß sie zurück.

»Bleib stehen, Sadie. Bleib stehen und halt’s aus.«

»W-wie lange? Es ist kalt!«

»Bis du nicht mehr so kreidebleich bist.«

»W-warum m-m-machst du das?« Ihre Zähne klapperten.

»Weil du dich fast ungebracht hättest!«, brüllte ich.

Sie zuckte zusammen. Dabei rutschte sie aus, aber sie bekam den Handtuchhalter zu fassen und blieb auf den Beinen. Ihre Reflexe erholten sich also. Gut.

»Die T-T-Tabletten haben nicht gewirkt, also hab ich einen Drink genommen, das ist alles. Lass mich raus, mir ist so kalt! Bitte, G-George, bitte lass mich raus.« Ihre Haare klebten jetzt förmlich an ihren Wagen. Sie sah wie eine ersäufte Ratte aus, hatte aber tatsächlich wieder Farbe bekommen. Zwar nur einen rosa Schimmer, aber immerhin ein Anfang.

Ich stellte die Dusche ab, umarmte Sadie und stützte sie, während sie unsicher über den Wannenrand stieg. Aus ihrem klatschnassen Unterkleid tropfte Wasser auf die rosa Badematte. Ich flüsterte ihr ins Ohr: »Ich dachte, du wärst tot. Als ich reingekommen bin und dich dort liegen sehen hab, dachte ich schon, du wärst tot. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das war.«

Ich ließ sie los. Sie starrte mich mit großen, verwundert blickenden Augen an. Dann sagte sie: »John hat recht gehabt. R-Roger auch. Er hat mich heute Abend vor Kennedys Rede angerufen. Aus Washington. Was ist überhaupt noch wichtig? Nächste Woche um diese Zeit sind wir alle tot. Oder werden uns wünschen, es zu sein.«

Anfangs hatte ich keine Ahnung, wovon sie redete. Ich sah Christy vor mir stehen – zerzaust und tropfnass und Unsinn brabbelnd – und war fuchsteufelswild. Du feige Schlampe!, dachte ich. Sie musste das wohl in meinem Blick gelesen haben, jedenfalls wich sie vor mir zurück.

Das brachte mich wieder zur Besinnung. Wie konnte ich sie feige nennen, nur weil ich wusste, wie die Landschaft hinter dem Horizont aussah?

Ich nahm ein Badetuch aus dem Regal über der Toilette und gab es hier. »Ausziehen und abtrocknen«, sagte ich.

»Dann geh raus! Lass mir meine Privatsphäre.«

»Aber nur, wenn du mir sagst, dass du wach bist.«

»Ich bin wach.« Sie betrachtete mich mit mürrischer Feindseligkeit und – möglicherweise – einem Anflug von Humor. »Du verstehst dich auf große Auftritte, George.«

Ich drehte mich nach dem Medizinschränkchen um.

»Mehr sind nicht da«, sagte sie. »Was nicht in mir ist, liegt im Klo.«

Weil ich vier Jahre lang mit Christy verheiratet gewesen war, sah ich trotzdem nach. Dann betätigte ich die Spülung. Als das erledigt war, schlüpfte ich an ihr vorbei zur Badezimmertür. »Ich gebe dir drei Minuten«, sagte ich.

9

Auf dem braunen Umschlag stand als Absender John Clayton, East Oglethorpe Avenue 79, Savannah, Georgia. Man konnte dem Hundesohn gewiss nicht vorwerfen, dass er unter falscher Flagge segelte oder im Schutz der Anonymität operierte. Der am 28. August abgestempelte Brief hatte vermutlich hier auf sie gewartet, als sie aus Reno zurückgekommen war. Sie hatte fast zwei Monate Zeit gehabt, über seinen Inhalt nachzugrübeln. Hatte sie nicht traurig und deprimiert geklungen, als ich am Abend des 6. September mit ihr telefoniert hatte? Na ja, kein Wunder, wenn man die Fotos betrachtete, die ihr Ex ihr aufmerksamerweise geschickt hatte.

Wir sind alle in Gefahr, hatte sie bei unserem letzten Telefongespräch gesagt. Damit hat Johnny recht.

Die Fotos zeigten japanische Männer, Frauen und Kinder – Opfer der Atombombenexplosionen in Hiroshima oder Nagasaki. Manche waren blind. Viele waren kahl. Die meisten hatten Strahlenverbrennungen erlitten. Einige wie die Frau ohne Gesicht waren gegrillt worden. Eines der Fotos zeigte ein Quartett aus verkrümmten Gestalten. Die vier Menschen hatten vor einer Mauer gestanden, als die Bombe detoniert war. Sie waren verdampft, und die Mauer war größtenteils ebenfalls verdampft. Übrig geblieben waren nur die Teile, die durch Davorstehende abgedeckt gewesen waren. Die Gestalten waren schwarz, weil sie mit verkohltem Fleisch bedeckt waren.

Auf die Rückseite jedes Fotos hatte Clayton in seiner deutlichen, sauberen Schrift denselben Text geschrieben: Bald auch in Amerika. Die Statistik lügt nicht.

»Nett, nicht wahr?«

Ihre Stimme war matt und farblos. Sie stand in das Badetuch gewickelt in der Tür. Ihre Haare fielen in feuchten Ringellöckchen auf ihre bloßen Schultern.

»Wie viel hast du getrunken, Sadie?«

»Nur ein paar Schlucke, weil die Tabletten nicht gewirkt haben. Ich glaube, das hab ich dir schon zu erklären versucht, als du mich geschüttelt und geohrfeigt hast.«

»Wenn du denkst, dass ich mich dafür entschuldige, kannst du lange warten. Barbiturate und Schnaps sind eine schlechte Kombination.«

»Halb so schlimm«, sagte sie. »War nicht das erste Mal, dass mich jemand geschlagen hat.«

Das ließ mich an Marina denken, und ich zuckte zusammen. Gewiss, die Umstände waren nicht vergleichbar, aber Schläge waren Schläge. Und ich war wütend gewesen, nicht nur erschrocken.

Sadie ging zu dem Hocker vor ihrem Toilettentisch, setzte sich und zog das Badetuch enger um sich. Sie sah aus wie ein schmollendes Kind. Ein schmollendes, ängstliches Kind. »Mein Freund Roger Beaton hat angerufen. Hab ich dir das erzählt?«

»Ja.«

»Mein guter Freund Roger.« Ihr Blick forderte mich heraus, mich darüber aufzuregen. Aber das tat ich nicht. Letztlich war es ihr Leben. Ich wollte nur dafür sorgen, dass sie eines hatte.

»Okay, dein guter Freund Roger.«

»Er wollte, dass ich mir heute Abend unbedingt die Rede von dem irischen Arschloch anhöre. So hat er ihn bezeichnet. Dann hat er mich gefragt, wie weit Jodie von Dallas entfernt liegt. Als ich es ihm gesagt habe, hat er geantwortet: ›Das müsste eigentlich genügen, je nachdem von woher der Wind weht.‹ Er selbst verlässt Washington, das tun viele Leute, aber ich glaube nicht, dass es ihnen was nutzen wird. Einem Atomkrieg entkommt man nirgends.« Dann begann sie so laut und heftig zu schluchzen, dass sie am ganzen Körper bebte. »Diese Idioten werden unsere schöne Welt vernichten! Sie werden Kinder umbringen! Ich hasse sie! Ich hasse sie alle! Kennedy, Chruschtschow, Castro, die sollen alle in der Hölle schmoren!«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ich kniete wie ein Gentleman der alten Schule bei einem Heiratsantrag vor ihr nieder und umarmte sie. Sie schlang die Arme um meinen Hals und klammerte sich an mich, fast als drohte sie sonst zu ertrinken. Ihr Körper war noch kalt von der Dusche, aber ihre Wange an meinem Arm fühlte sich fiebrig heiß an.

In diesem Augenblick hasste auch ich sie alle, am meisten John Clayton, der seine böse Saat in eine junge Frau gesät hatte, die in ihrer Ehe unsicher und psychisch verwundbar gewesen war. Er hatte sie gesät, sie gegossen, sie gehegt und zugesehen, wie sie aufging.

Und war Sadie die Einzige, die in dieser Nacht Angst und Schrecken empfand, die Einzige, die Zuflucht bei Tabletten und Alkohol gesucht hatte? Wie verzweifelt wurde jetzt vermutlich im Ivy Room getrunken? Ich hatte dummerweise angenommen, die Menschen würden mit der kubanischen Raketenkrise wie mit jeder anderen internationalen Konfrontation umgehen, denn als ich studiert hatte, war die sogenannte Kubakrise nur ein weiterer Schnittpunkt von Namen und Daten gewesen, die man für die nächste Zwischenprüfung auswendig lernen musste. So sahen die Dinge aus der Zukunft betrachtet aus. Menschen im Tal (im dunklen Tal) der Gegenwart sahen sie anders.

»Die Bilder waren hier, als ich aus Reno zurückgekommen bin.« Sie sah mich mit gehetztem Blick aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich wollte sie wegwerfen, aber ich konnte nicht. Ich habe sie mir immer wieder angesehen.«

»Genau das wollte der Scheißkerl. Deshalb hat er sie geschickt.«

Sie schien mich nicht gehört zu haben. »Statistik ist sein Hobby. Er sagt, dass sie irgendwann, wenn die Computer gut genug sind, die wichtigste Wissenschaft sein wird, weil Statistik sich niemals irrt.«

»Stimmt nicht.« Vor meinem inneren Auge stand George de Mohrenschildt, der Charmeur, der Oswalds einziger Freund war. »Ein gewisser Rest Unsicherheit bleibt immer.«

»Ich schätze, dass der Tag von Johnnys Supercomputern nie kommen wird«, sagte sie. »Die Überlebenden – falls es welche gibt – werden in Höhlen hausen. Und der Himmel … wird nicht mehr blau sein. Nukleare Finsternis, so nennt Johnny das.«

»Er labert nur Schwachsinn, Sadie. Dein Kumpel Roger auch.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre blutunterlaufenen Augen betrachteten mich traurig. »Johnny hat gewusst, dass die Russen einen Satelliten ins All schießen würden. Damals hatten wir gerade unser Studium abgeschlossen. Er hat es mir im Sommer erzählt, und tatsächlich haben sie im Oktober den Sputnik gestartet. ›Als Nächstes schicken sie einen Hund oder einen Affen rauf‹, hat Johnny gesagt. ›Danach einen Mann. Dann zwei Männer und eine Bombe.‹«

»Und haben sie das getan? Haben sie das, Sadie?«

»Sie haben den Hund raufgeschickt und den Mann auch. Die Hündin hieß Laika, weißt du noch? Sie ist dort oben gestorben. Armes Hundchen. Die beiden Männer und die Bombe brauchen sie nicht raufzuschicken, stimmt’s? Sie werden ihre Raketen einsetzen. Und wir unsere. Alles wegen einer Scheißinsel, auf der sie Zigarren machen.«

»Weißt du, was die Zauberkünstler sagen?«

»Die …? Wovon redest du?«

»Sie sagen, dass man einen Wissenschaftler täuschen kann, aber niemals einen anderen Zauberkünstler. Dein Ex unterrichtet vielleicht Naturwissenschaften, aber er ist todsicher kein Zauberkünstler. Andererseits sind die Russen welche.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst. Johnny sagt, dass die Russen kämpfen müssen, weil sie uns auf dem Raketensektor nicht mehr lange überlegen sein werden. Deshalb werden sie in Kuba nicht zurückweichen. Kuba ist ein Vorwand.«

»Johnny hat zu viele Wochenschauen gesehen, in denen am 1. Mai Raketen über den Roten Platz gekarrt werden. Aber er weiß nicht – und Senator Kuchel weiß es wohl auch nicht –, dass mehr als die Hälfte dieser Raketen über kein Triebwerk verfügen.«

»Du weißt nicht … du kannst nicht …«

»Er weiß nicht, wie viele ihrer Interkontinentalraketen auf den Startrampen in Sibirien explodieren, weil das Bedienungspersonal unfähig ist. Er weiß nicht, dass über die Hälfte der Raketen, die unsere U-2-Aufklärer fotografiert haben, in Wirklichkeit angemalte Baumstämme mit Steuerflossen aus Pappe sind. Das ist ein Taschenspielertrick, Sadie. Er täuscht Wissenschaftler wie Johnny und Politiker wie Senator Kuchel, aber einen anderen Zauberkünstler könnte er niemals täuschen.«

»Das ist … das ist kein …« Sie schwieg einen Augenblick und biss sich dabei auf die Unterlippe. Dann sagte sie: »Woher solltest du solches Zeug wissen?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Dann kann ich dir nicht glauben. Johnny hat gesagt, dass die Demokraten Kennedy als Kandidaten aufstellen würden, obwohl alle dachten, sie würde Humphrey vorziehen, weil Kennedy katholisch ist. Er hat die Staaten, in denen es Vorwahlen gab, analysiert, seine Chancen ausgerechnet und recht behalten. Er hat gesagt, dass Kennedy mit Johnson antreten würde, weil Johnson der einzige Südstaatler war, der nördlich der Mason-Dixon-Linie akzeptiert werden würde. Auch damit hat er recht gehabt. Kennedy ist gewählt worden, und jetzt bringt er uns alle um. Statistik lügt nicht.«

Ich holte tief Luft. »Sadie, ich möchte, dass du mir zuhörst. Sehr aufmerksam. Bist du wach genug, das zu tun?«

Sie reagierte nicht gleich. Dann spürte ich ihr Nicken an der Haut meines Oberarms.

»Jetzt ist schon Dienstag. Dieses Patt dauert noch weitere drei Tage an. Oder vielleicht vier, daran kann ich mich nicht so genau erinnern.«

»Was soll das heißen, du kannst dich nicht daran erinnern?«

Das soll heißen, dass darüber nichts in Als Notizen steht und mein einziges Collegeseminar in Sachen amerikanische Geschichte fast zwanzig Jahre zurückliegt. Es ist ohnehin ein Wunder, dass ich noch so viel weiß.

»Wir werden Kuba blockieren, aber das einzige russische Schiff, das wir anhalten werden, wird nur Lebensmittel und Handelswaren transportieren. Die Russen werden sich aufplustern, aber am Donnerstag oder Freitag werden sie ängstlich nach einem Ausweg suchen. Ein hoher russischer Diplomat wird heimlich mit irgendeinem Fernsehjournalisten zusammentreffen.« Und wie mir manchmal Kreuzworträtselwörter einfielen, fiel mir scheinbar aus dem Nichts sein Name ein. Oder wenigstens ungefähr. »Er heißt John Scolari oder so ähnlich …«

»Scali? Meinst du John Scali von ABC News?«

»Ja genau, das ist er. Das passiert am Freitag oder Samstag, während der Rest der Welt – auch dein Ex und dein Kumpel aus Yale – nur auf die Nachricht warten, dass sie den Kopf zwischen die Beine stecken und ihrem Arsch einen Abschiedskuss geben sollen.«

Sie verblüffte und ermutigte mich, indem sie kicherte.

»Dieser Russe wird mehr oder weniger sagen …« Ich sprach mit ziemlich gutem russischen Akzent weiter. Den hatte ich von Lees Frau gelernt. Und von Boris und Natascha in Rocky und Bullwinkle. »›Richten Sie Ihrem Präsidenten aus, dass wir einen Weg suchen, um ehrenvoll aus dieser Sache rauszukommen. Sie stimmen zu, Ihre Atomraketen aus der Türkei abzuziehen. Sie versprechen, Kuba niemals anzugreifen. Wir sagen okay und bauen Raketen in Kuba ab.‹ Und genau so, Sadie, wird es ablaufen.«

Sie kicherte nicht mehr. Sie starrte mich mit untertassengroßen Augen an. »Das erfindest du nur, damit ich mich besser fühle.«

Ich sagte nichts.

»Das tust du nicht«, flüsterte sie. »Du glaubst es wirklich.«

»Falsch«, sagte ich. »Ich weiß es. Das ist ein großer Unterschied.«

»George … niemand kennt die Zukunft.«

»John Clayton behauptet sie zu kennen, und du glaubst ihm. Roger aus Yale behauptet sie zu kennen, und dem glaubst du auch.«

»Du bist eifersüchtig auf ihn, stimmt’s?«

»Da hast du gottverdammt recht.«

»Ich habe nie mit ihm geschlafen. Hab’s nicht mal gewollt.« Ernst fügte sie hinzu: »Ich könnte niemals mit einem Mann schlafen, der so viel Rasierwasser trägt.«

»Gut zu wissen. Ich bin trotzdem eifersüchtig.«

»Sollte ich fragen, woher du …«

»Nein. Ich würde dir keine Antwort geben.« Ich hätte ihr wahrscheinlich nicht so viel verraten dürfen, wie ich schon verraten hatte, aber ich konnte nicht mehr aufhören. Und, ehrlich gesagt, ich würde es sogar wieder tun. »Aber ich erzähle dir jetzt etwas, was du in ein paar Tagen selbst nachprüfen kannst. Adlai Stevenson und der russische Vertreter werden in der Generalversammlung der Vereinten Nationen aneinandergeraten. Stevenson wird riesige Fotos der Raketenstützpunkte zeigen, die die Russen auf Kuba bauen, und den Russen auffordern, etwas zu erläutern, was nach ihrer Darstellung gar nicht existiert. Der Russe wird ungefähr sagen: ›Sie müssen warten, ich kann nicht ohne vollständige Übersetzung antworten.‹ Und Stevenson, der genau weiß, dass der Kerl perfekt englisch spricht, wird etwas sagen, was wie Schießt erst, wenn ihr das Weiße in ihren Augen seht Eingang in die Geschichtsbücher finden wird. Er wird dem Russen erklären, dass er da warten kann, bis die Hölle zufriert.«

Sie musterte mich zweifelnd, wandte sich dem Nachttisch zu, sah die angekohlte Packung Winstons auf einem kleinen Berg von Zigarettenkippen und sagte: »Ich glaube, ich habe keine Zigaretten mehr.«

»Bis zum Morgen müsstest du durchhalten«, sagte ich trocken. »Sieht so aus, als hättest du schon einen Wochenvorrat im Voraus gequalmt.«

»George?« Ihre Stimme klang sehr schwach, sehr zaghaft. »Bleibst du heute Nacht bei mir?«

»Mein Auto steht in deiner …«

»Sollte irgendein Schnüffler aus der Nachbarschaft etwas sagen, behaupte ich einfach, dass der Motor nicht mehr angesprungen ist, als du mich nach der Rede des Präsidenten besucht hast.«

Wenn man bedachte, wie der Sunliner in letzter Zeit lief, war das plausibel. »Bedeutet deine plötzliche Besorgnis, ob der Anstand gewahrt wird, dass du kein nukleares Armageddon mehr fürchtest?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht allein sein will. Wenn’s sein muss, schlafe ich sogar mit dir, damit du bleibst, aber ich glaube nicht, dass wir beide viel davon hätten. Ich habe wirklich schlimme Kopfschmerzen.«

»Du brauchst nicht mit mir zu schlafen, Schatz. Hier geht es nicht um eine geschäftliche Vereinbarung.«

»Ich wollte damit nicht …«

»Pst. Ich hole das Aspirin.«

»Und sieh auf dem Medizinschränkchen nach, ja? Manchmal lasse ich dort ein Päckchen Zigaretten liegen.«

Das hatte sie tatsächlich getan, aber von der Winston, die ich ihr anzündete, schaffte sie nur drei Züge, bevor sie anfing, mit starrem Blick vor sich hin zu dösen. Ich nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und drückte sie am Fuß des Lungenkrebsbergs aus. Dann nahm ich Sadie in die Arme und ließ mich in die Kissen zurücksinken. So schliefen wir ein.

10

Als ich im ersten Morgengrauen aufwachte, war der Reißverschluss meiner Hose geöffnet, und eine geschickte Hand machte sich in der Unterhose zu schaffen. Ich drehte mich zu Sadie um. Sie erwiderte meinen Blick gelassen. »Die Welt ist noch da, George. Und wir auch. Also komm! Aber sei sanft. Ich habe immer noch Kopfschmerzen.«

Ich war sanft, und ich sorgte dafür, dass es lange andauerte. Wir sorgten dafür. Schließlich wölbte sie mir ihre Hüften entgegen und krallte ihre Hände in meine Schulterblätter. Das war ihr Griff, der »O Schatz, o mein Gott, o Liebster« besagte.

»Was auch immer«, flüsterte sie, und ihr Atem in meinem Ohr ließ mich erzittern, als ich kam. »Du kannst sein, was auch immer du bist, und tun, was auch immer du tust, wenn du nur sagst, dass du bleibst. Und dass du mich immer noch liebst.«

»Sadie … ich habe nie damit aufgehört.«

11

Wir frühstückten in ihrer Küche, bevor ich nach Dallas zurückfuhr. Ich erzählte Sadie, dass ich jetzt wirklich in Dallas wohnte, und obwohl ich noch kein Telefon hätte, würde ich ihr die Nummer geben, sobald ich eines hätte.

Sie nickte und spielte mit ihrem Rührei. »Was ich gesagt habe, war mein Ernst. Ich frage dich nicht mehr, was du dort tust.«

»Das ist am besten so. Nichts fragen, nichts sagen.«

»Hä?«

»Schon gut.«

»Erzähl mir nur, dass du nichts Schlimmes, sondern etwas Gutes tust.«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin einer von den Guten.«

»Wirst du es mir irgendwann erzählen können?«

»Das hoffe ich«, sagte ich. »Sadie, diese Fotos, die er geschickt hat …«

»Die habe ich heute Morgen zerrissen. Ich möchte nicht mehr über sie reden.«

»Das müssen wir auch nicht. Aber du musst mir sagen, dass du darüber hinaus keinen Kontakt mit ihm gehabt hast. Dass er nicht etwa hier war.«

»Nein, das war er nicht. Und sein Brief ist in Savannah abgestempelt worden.«

Das hatte ich bemerkt. Aber ich hatte auch bemerkt, dass der Poststempel fast zwei Monate alt war.

»Er ist niemand, der die persönliche Auseinandersetzung sucht. In Gedanken ist er durchaus tapfer, aber ich glaube, körperlich ist er ein Feigling.«

Ihre Einschätzung erschien mir zutreffend: Diese Fotos zu schicken war passiv-aggressives Verhalten wie aus dem Lehrbuch. Trotzdem war sie davon überzeugt gewesen, dass Clayton ihre neue Adresse niemals herausbekommen würde, und diese Einschätzung hatte sich als falsch erwiesen. »Das Verhalten psychisch Labiler ist schwer vorauszusagen, Schatz. Falls du ihn je siehst, würdest du die Polizei anrufen, richtig?«

»Ja, George.« Mit einem Anflug ihrer früheren Ungeduld. »Ich muss dich noch etwas fragen, dann reden wir nie mehr über dieses Thema, bis du so weit bist. Falls du es jemals sein wirst.«

»Okay.« Ich versuchte, mir eine Antwort auf die Frage zurechtzulegen, auf die ich mich gefasst machte: Bist du aus der Zukunft, George?

»Sie wird aber verrückt klingen.«

»Wir haben eine verrückte Nacht hinter uns. Schieß los.«

»Bist du …« Sie lachte, dann machte sie sich daran, das Geschirr zusammenzustellen. Sie trug es zum Spülbecken und fragte, ohne mich anzusehen: »Bist du ein Mensch? Ich meine, vom Planeten Erde?«

Ich trat hinter sie, griff nach vorn, um ihre Brüste zu umfassen, und küsste ihren Nacken. »Zu hundert Prozent.«

Sie drehte sich um. Ihr Blick war ernst. »Kann ich noch etwas fragen?«

Ich seufzte. »Frag.«

»Mir bleiben noch mindestens vierzig Minuten, bevor ich mich für die Schule anziehen muss. Hast du zufällig noch ein Kondom übrig? Ich glaube, ich habe ein Mittel gegen Kopfschmerzen entdeckt.«

Kapitel 20

1

Letztlich war also nur ein drohender Atomkrieg nötig, um uns wieder zusammenzubringen – war das nicht romantisch?

Okay, vielleicht nicht.

Deke Simmons, ein Mann von der Art, die in traurige Filme ein zweites Taschentuch mitnahm, war von Herzen einverstanden. Ellen Dockerty dagegen nicht. Eine eigenartige Sache, die mir schon des Öfteren aufgefallen war: Frauen konnten Geheimnisse besser bewahren, aber Männer besser mit ihnen leben. Ungefähr eine Woche nach dem Ende der Kubakrise rief Ellie Sadie in ihr Büro und schloss die Tür – kein gutes Zeichen. Sie fragte Sadie auf ihre typisch direkte Art, ob sie jetzt mehr über mich wisse als zuvor.

»Nein«, sagte Sadie.

»Aber Sie haben sich wieder mit ihm eingelassen.«

»Ja.«

»Wissen Sie überhaupt, wo er wohnt?«

»Nein, aber ich habe seine Telefonnummer.«

Ellie verdrehte die Augen … und wer hätte ihr das verübeln können. »Hat er Ihnen irgendwas über seine Vergangenheit erzählt? Ob er schon mal verheiratet gewesen ist? Das vermute ich nämlich.«

Sadie äußerte sich nicht dazu.

»Hat er zufällig erwähnt, ob er irgendwo einen Sprössling oder zwei zurückgelassen hat? Das tun Männer nämlich manchmal, und wer es einmal getan hat, schreckt sicher auch nicht davor zurück …«

»Miz Ellie, kann ich jetzt in die Bibliothek zurückgehen? Ich habe die Aufsicht einer Schülerin übertragen, und obwohl Helen sehr verantwortungsbewusst ist, möchte ich sie nicht zu lange …«

»Gehen Sie, gehen Sie.« Ellie scheuchte sie mit einer Handbewegung hinaus.

»Ich dachte, Sie hätten George gern«, sagte Sadie, als sie aufstand.

»Das tue ich«, antwortete Ellie – in einem Ton, wie Sadie mir später berichtete, der eher nach Das war einmal klang. »Er wäre mir noch lieber – auch für Sie –, wenn ich wüsste, wie er wirklich heißt und was er vorhat.«

»Nichts fragen, nichts sagen«, antwortete Sadie auf dem Weg zur Tür.

»Was soll das denn heißen?«

»Dass ich ihn liebe. Dass er mir das Leben gerettet hat. Dass ich mich dafür nur bedanken kann, indem ich ihm vertraue, was ich auch tun werde.«

Miz Ellie gehörte zu den Frauen, die es gewohnt waren, in den meisten Situationen das letzte Wort zu haben, aber diesmal verschlug es ihr die Sprache.

2

In diesem Herbst und Winter verfielen wir in ein Schema. Ich fuhr freitagnachmittags nach Jodie. Unterwegs kaufte ich manchmal Blumen in dem Blumenladen in Round Hill. Manchmal ließ ich mir auch im Jodie Barber Shop die Haare schneiden, um gleichzeitig den neuesten Lokaltratsch aufzuschnappen. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, sie kurz zu tragen. Ich wusste noch, dass ich sie früher so lang getragen hatte, dass sie mir in die Augen hingen, aber nicht mehr, weshalb ich mir diese lästige Frisur angetan hatte. Die Umstellung von Boxershorts auf Schlüpfer war ein bisschen schwieriger, aber nach einiger Zeit kamen meine Genitalien sich nicht mehr eingesperrt vor.

An diesen Abenden aßen wir gewöhnlich in Al’s und gingen anschließend zum Footballspiel. Und als die Footballsaison zu Ende war, gab es Basketball. Bei manchen Spielen gesellte sich Deke in einem Pullover mit Brian, dem Löwenmaskottchen aller DCHS-Teams, zu uns.

Miz Ellie nie.

Ihre Missbilligung hinderte uns nicht daran, nach den Freitagsspielen zu den Candlewood Bungalows hinauszufahren. Samstags übernachtete ich dort meist allein, und an den Sonntagen begleitete ich Sadie in die First Methodist Church in Jodie. Wir teilten uns ein Gesangbuch und sangen viele Strophen von »Die Garben einbringen«. Säen früh am Morgen, säen die Saat der Freundlichkeit … Die Melodie und diese wohlmeinenden Gefühle sind mir immer noch im Gedächtnis.

Nach der Kirche aßen wir mittags bei Sadie, und anschließend fuhr ich nach Dallas zurück. Diese Fahrt kam mir jedes Mal länger vor und gefiel mir immer weniger. An einem frostigen Dezembertag brach bei meinem Ford schließlich ein Stößel, als wäre auch der Sunliner der Ansicht, dass wir in die falsche Richtung fuhren. Ich wollte ihn reparieren lassen – dieses Cabrio war der einzige Wagen, den ich jemals geliebt habe –, aber der Kerl bei Kileen Auto Repair sagte, der Ford brauche einen ganzen Motor und er wisse echt nicht, wo er einen passenden herbekommen solle.

Ich griff meine noch solide (na ja … relativ solide) Geldreserve an und kaufte einen 1959er Chevy, den mit den unverwechselbaren Heckflossen. Es war ein guter Wagen, und Sadie war absolut begeistert von ihm, aber für mich war es nie mehr das Gleiche.

Die Nacht zum zweiten Weihnachtstag verbrachten wir im Candlewood. Ich legte einen Stechpalmenzweig auf die Kommode und schenkte Sadie eine Strickjacke. Sie schenkte mir ein Paar Mokassins, die ich jetzt an den Füßen habe. Manche Dinge sind zum Behalten gedacht.

Am zweiten Weihnachtstag aßen wir bei ihr zu Abend, und als ich den Tisch deckte, sah ich Dekes Wagen vorfahren. Das überraschte mich, weil Sadie nichts von einem Gast gesagt hatte. Noch überraschter war ich, als ich rechts Miz Ellie aussteigen sah. Wie sie mit verschränkten Armen dastand und meinen neuen Wagen begutachtete, zeigte mir, dass ich nicht der Einzige war, dem man die Gästeliste vorenthalten hatte. Aber – Ehre, wem Ehre gebührt – sie begrüßte mich mit gut gespielter Herzlichkeit und küsste mich auf die Wange. Sie trug eine gestrickte Skimütze, die sie wie ein gealtertes Kind aussehen ließ, und bedankte sich mit säuerlichem Lächeln, als ich sie ihr vom Kopf zog.

»Ich hab das Memo auch nicht gekriegt«, sagte ich.

Deke schüttelte mir enthusiastisch die Hand. »Fröhliche Weihnachten, George. Freut mich, dich zu sehen. Mann, hier riecht’s aber gut!«

Er verschwand in der Küche. Wenig später hörte ich Sadie lachend sagen: »Nimm deine Finger da raus, Deke, hat deine Mama dich nicht richtig erzogen?«

Ellie ließ mich nicht aus den Augen, während sie langsam die Knebel ihres Dufflecoats aufknöpfte. »Ist das klug, George?«, fragte sie. »Was Sadie und Sie tun – ist das klug?«

Bevor ich antworten konnte, trug Sadie den Truthahn auf, mit dem sie seit unserer Rückkehr aus Kileen beschäftigt gewesen war. Wir setzten uns an den Tisch und bildeten mit den Händen einen Kreis. »Lieber Gott, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast«, sagte Sadie. »Und bitte segne unser Miteinander der Gedanken und der Herzen.«

Ich wollte schon loslassen, aber sie hielt weiter meine Hand mit der Linken und Ellies mit der Rechten fest. »Und bitte schenke George und Ellie Freundschaft. Hilf George, sich an ihre Güte und Hilfsbereitschaft zu erinnern, und hilf Ellie, sich daran zu erinnern, dass es ohne George in dieser Stadt ein Mädchen mit schrecklich entstelltem Gesicht gäbe. Ich liebe sie beide, und es betrübt mich, Misstrauen in ihrem Blick zu sehen. Um Christi willen, amen.«

»Amen!«, wiederholte Deke herzhaft. »Gutes Gebet!« Er zwinkerte Ellie zu.

Ich glaube, Ellie wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Vielleicht war es der Hinweis auf Bobbi Jill, der sie davon abhielt. Oder vielleicht die Tatsache, wie lieb sie ihre neue Schulbibliothekarin inzwischen gewonnen hatte. Vielleicht hatte es sogar ein bisschen mit mir zu tun. Das bilde ich mir gern ein.

Sadie beobachtete Miz Ellie ängstlich besorgt.

»Dieser Truthahn sieht wirklich wundervoll aus«, sagte Ellie und hielt mir ihren Teller hin. »Geben Sie mir bitte eine Keule, George? Und seien Sie nicht zu sparsam mit der Füllung.«

Sadie konnte verwundbar sein, und Sadie konnte unbeholfen sein, aber Sadie konnte auch sehr, sehr tapfer sein.

Wie ich sie liebte!

3

Lee, Marina und June Oswald fuhren zu den de Mohrenschildts, um den Jahreswechsel zu feiern. Mir stand ein einsamer Abend bevor, aber als Sadie anrief und vorschlug, wir könnten in Jodie zum Silvestertanz in der Bountiful Grange gehen, zögerte ich zunächst.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie. »Aber diesmal wird es besser als letztes Jahr. Wir machen es besser, George.«

Also waren wir um acht Uhr abends dort und tanzten wieder unter den an der Decke hängenden Netzen voller Ballons. Die diesjährige Band nannte sich The Dominoes. Statt mit Surfgitarren à la Dick Dale wie die Band vom letzten Jahr trat sie mit vier Blechbläsern an, die aber auch mitreißend spielten. Es gab wieder die beiden großen Glasschalen mit rosa Limonade und Ginger Ale, eine ohne, eine mit. Es gab dieselben Raucher, die in der kalten Nachtluft unter der Feuertreppe standen. Aber es war besser als letztes Jahr. Die allgemeine Stimmung war glücklich und erleichtert. Die Welt war im Oktober in einen nuklearen Schatten geraten … aber dann hatte sie ihn wieder verlassen. Ich hörte mehrere anerkennende Kommentare darüber, wie Kennedy den bösen russischen Bären zum Rückzug gezwungen hatte.

Gegen neun Uhr, während eines langsamen Tanzes, schrie Sadie plötzlich auf und riss sich von mir los. Ich glaubte zu wissen, dass sie John Clayton entdeckt hatte, und fühlte mein Herz bis zum Hals schlagen. Aber es war ein freudiger Aufschrei gewesen, weil die beiden neuen Gäste, die sie entdeckt hatte, Mike Coslaw – der in seinem Tweedsakko unglaublich gut aussah – und Bobbi Jill Allnut waren. Sadie lief auf sie zu … und stolperte über irgendjemandes Fuß. Mike fing sie auf und schwenkte sie im Kreis. Bobbi Jill winkte mir leicht schüchtern zu.

Ich schüttelte Mike die Hand und küsste Bobbi Jill auf die Wange. Die entstellende Narbe war nur noch eine dünne, rosa Linie. »Der Arzt sagt, dass sie bis zum Sommer völlig verschwindet«, berichtete sie. »Er sagt, dass ich seine am schnellsten gesundende Patientin bin. Alles dank Ihnen.«

»Ich habe eine Rolle in Tod eines Handlungsreisenden, Mr. A.«, sagte Mike. »Ich spiele den Biff.«

»Typgerecht«, sagte ich. »Nimm dich bloß vor fliegenden Torten in Acht.«

In einer der Tanzpausen sah ich ihn mit dem Bandleader reden und wusste genau, was kommen würde. Als die Musiker wieder aufs Podium kamen, sagte der Sänger: »Wir erfüllen jetzt einen besonderen Wunsch. Sind George Amberson und Sadie Dunhill im Saal? George und Sadie? Kommt nach vorn, George und Sadie, hoch vom Stuhl und auf die Beine!«

Wir gingen unter stürmischem Beifall nach vorn zum Musikpodium. Sadie lachte und war heftig errötet. Sie drohte Mike mit der Faust. Er grinste nur. Das Jungenhafte verließ sein Gesicht; allmählich zeigte sich der Mann. Noch etwas schüchtern, aber unaufhaltsam. Der Sänger zählte ein, und die Blechbläser legten mit der Einleitung los, die ich noch heute manchmal im Traum höre.

Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …

Ich streckte ihr die Hände hin. Sie schüttelte den Kopf, wiegte sich aber trotzdem leicht in den Hüften.

»Schnappen Sie sich ihn, Miss Sadie!«, rief Bobbi Jill. »Zeigen Sie’s uns!«

Sie gab nach und ergriff meine Hände. Wir tanzten.

4

Um Mitternacht spielte die Band »Auld Lang Syne« – anders arrangiert als beim letzten Mal, aber das gleiche wehmütige Lied –, und die Ballons kamen herabgeschwebt. Um uns herum umarmten und küssten sich alle Paare. Das taten auch wir.

»Glückliches neues Jahr, G…« Sie wich stirnrunzelnd einen halben Schritt von mir zurück. »Was hast du?«

Vor meinem inneren Auge stand plötzlich das Texas School Book Depository, ein hässlicher Klinkerkasten mit Fenstern wie Augen. Es war das Jahr angebrochen, in dem das Schulbuchlager ein geschichtsträchtiger Ort werden würde.

Das wird es nicht. So weit lasse ich dich nicht kommen, Lee. Du gelangst nie an dieses Fenster im fünften Stock. Das ist mein guter Vorsatz.

»George?«

»Ich war nur kurz woanders«, sagte ich. »Glückliches neues Jahr.«

Ich wollte sie küssen, aber sie hielt mich noch einen Augenblick von sich weg. »Es ist bald so weit, oder? Wofür du hergekommen bist.«

»Ja«, sagte ich. »Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht gibt es nur uns. Also küss mich, Schatz. Und tanze mit mir.«

5

Ende 1962 und Anfang 1963 führte ich zwei Leben. Das gute in Jodie und im Candlewood in Kileen. Das andere in Dallas, einer Stadt, die mich immer mehr an Derry erinnerte.

Lee und Marina zogen wieder zusammen. Ihre erste Behausung in Dallas war ein Loch gleich um die Ecke bei der West Neely Street. De Mohrenschildt half ihnen beim Einzug. George Bouhe war nirgends zu sehen. Auch von den übrigen russischen Emigranten ließ sich keiner blicken. Lee hatte sie alle vergrault. Sie haben ihn gehasst, hatte Al in seinen Notizen geschrieben; darunter hatte er angefügt: Er wollte das so haben.

Der heruntergekommene Klinkerbau Elsbeth Street 604 war in vier oder fünf Wohnungen aufgeteilt worden, in denen es von armen Leuten wimmelte, die hart arbeiteten, viel tranken und Horden von rotznäsigen, schreienden Kindern hatten. Dieser Wohnbunker ließ sogar das Haus der Oswalds in Fort Worth noch gut aussehen.

Ich brauchte keine elektronischen Hilfsmittel, um den allmählichen Niedergang ihrer Ehe zu konstatieren. Auch als das Wetter kühl wurde, trug Marina weiter Shorts, als wollte sie ihn mit ihren blauen Flecken verspotten. Und natürlich mit ihrem Sex-Appeal. June saß meistens in ihrem Sportwagen zwischen ihnen. Wenn die beiden sich anbrüllten, weinte sie nicht mehr so viel; sie saß nur da und lutschte am Daumen oder an einem Schnuller.

Als ich an einem Tag im November 1962 aus der Bibliothek zurückkam, sah ich Lee und Marina, die sich an der Ecke West Neely und Elsbeth Street lautstark stritten. Mehrere Leute (um diese Tageszeit vor allem Frauen) waren auf ihre Balkons getreten, um zuzuhören. June saß in eine flauschige, rosa Decke gehüllt in ihrem Sportwagen: still und vergessen.

Die beiden stritten sich auf russisch, aber das neueste Streitobjekt war klar, wenn man Lees zustoßenden Zeigefinger beobachtete. Marina trug einen geraden, schwarzen Rock – ich weiß nicht, ob sie damals Bleistiftröcke genannt wurden oder nicht –, und der Reißverschluss an ihrer linken Hüfte war halb offen. Vermutlich hatte er sich nur im Stoff verhakt, aber wenn man Lee toben hörte, war er wohl der Ansicht, dass sie damit auf Männerfang ging.

Sie strich sich die Haare aus der Stirn, dann zeigte sie auf das Haus, in dem sie jetzt wohnten – mit löchrigen Regenrinnen, aus denen schwarzes Wasser tropfte, mit Müll und Bierdosen in dem unbepflanzten Vorgarten –, und kreischte auf englisch: »Du sagen schöne Lügen, dann bringen Frau und Baby in diese Schweinstall!«

Er lief bis zum Haaransatz hinauf rot an und verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust, als wollte er so die Hände fixieren, damit sie keinen Schaden anrichteten. Das wäre vielleicht auch gelungen – wenigstens vorübergehend –, wenn sie nicht gelacht und sich mit einer Geste, die in allen Kulturen unmissverständlich sein dürfte, an die Schläfe getippt hätte. Danach wollte sie sich abwenden. Er riss sie zurück und stieß dabei gegen den Kinderwagen, der dadurch fast umkippte. Dann boxte er sie ins Gesicht. Sie ging auf dem von Rissen durchzogenen Gehsteig zu Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht, als er sich über sie beugte. »Nein, Lee, nein! Nicht mehr schlagen!«

Er schlug sie nicht. Stattdessen riss er sie hoch und schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf vor und zurück flog.

»Sie!«, sagte jemand mit rostiger Stimme links neben mir. Sie ließ mich zusammenzucken. »Sie, junger Mann!«

Die Stimme gehörte einer alten Frau mit einem Gehgestell. Sie stand in einem rosa Flanellnachthemd, über dem sie eine Steppjacke trug, auf ihrer Veranda. Ihre nach allen Seiten vom Kopf abstehenden, eisgrauen Haare ließen mich an Frankensteins Braut und Elsa Lanchesters Do-it-yourself-Dauerwelle per 20000 Volt denken.

»Dieser Mann schlägt diese Frau! Gehen Sie dazwischen, damit das aufhört!«

»Nein, Ma’am«, sagte ich mit zittriger Stimme. Ich überlegte, ob ich hinzufügen sollte: Ich will mich nicht zwischen einen Mann und seine Frau drängen. Aber das wäre gelogen gewesen. In Wirklichkeit wollte ich nichts tun, was die Zukunft hätte verändern können.

»Sie Feigling!«, sagte sie.

Rufen Sie doch die Polizei, hätte ich fast gesagt, aber dann beherrschte ich mich gerade noch rechtzeitig. Wenn ich derjenige war, der die alte Dame auf diese Idee brachte, konnte das die Zukunft ebenfalls verändern. Würde die Polizei auch so kommen? In Als Notizen stand nichts darüber. Ich wusste nur, dass Oswald nie wegen Misshandlung seiner Ehefrau eingelocht werden würde. Vermutlich passierte das damals nur wenigen Amerikanern.

Mit einer Hand schleppte er sie zur Haustür, mit der anderen riss er den Sportwagen hinter sich her. Die alte Frau warf mir einen weiteren vernichtenden Blick zu, dann stapfte sie ins Haus zurück. Die restlichen Zuschauer folgten ihrem Beispiel. Ende der Vorstellung.

Ich schloss mich an, holte jedoch mein Fernglas und richtete es auf den hässlichen Klinkerbau schräg gegenüber. Zwei Stunden später, als ich die Überwachung gerade aufgeben wollte, kam Marina mit ihrem kleinen, rosa Koffer in der Hand und der in eine Decke gewickelten June auf dem anderen Arm aus dem Haus. Sie hatte den anstößigen Rock durch eine Hose ersetzt und schien zwei Pullover übereinander zu tragen – der Tag war kalt geworden. Sie hastete die Straße entlang und sah sich unterwegs mehrmals nach Lee um. Als feststand, dass er ihr nicht nachlaufen würde, folgte ich ihr.

Sie ging vier Straßen weiter bis zum Mister Car Wash in der West Davis Street und benutzte die dortige Telefonzelle. Ich saß mit einer Zeitung als Tarnung auf der Bank der Bushaltestelle gegenüber. Nach zwanzig Minuten fuhr der treue George Bouhe vor. Sie sprach in ernstem Ton mit ihm. Er führte sie zur Beifahrerseite seines Wagens und hielt ihr die Tür auf. Sie lächelte und hauchte ihm dann einen Kuss auf die Wange. Beides machte ihn bestimmt selig. Schließlich setzte er sich ans Steuer und fuhr mit ihr davon.

6

Am selben Abend gab es noch einmal Streit vor dem Haus in der Elsbeth Street, und die unmittelbaren Nachbarn liefen abermals zusammen, um ihn zu beobachten. Weil ich mich in der Menge sicher fühlte, mischte ich mich unter die Gaffer.

Irgendjemand – ziemlich sicher Bouhe – hatte George und Jeanne de Mohrenschildt mit dem Auftrag geschickt, den Rest von Marinas Sachen zu holen. Bouhe rechnete sich vermutlich aus, dass sie als Einzige in der Lage waren, den Auftrag ohne körperlichen Zwang gegen Lee auszuführen.

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich irgendwas rausrücke!«, brüllte Lee, ohne auf die Nachbarn zu achten, die jedes Wort begierig aufnahmen. An seinem Hals traten die Sehnen hervor; sein Gesicht war wieder knallrot angelaufen. Wie er diese Veranlagung hassen musste, wie ein kleines Mädchen zu erröten, das bei der Weitergabe eines Liebesbriefchens ertappt worden war!

De Mohrenschildt versuchte an seinen Verstand zu appellieren. »Sei vernünftig, mein Freund. So gibt es noch eine Chance. Wenn sie die Polizei schickt …« Er zuckte die Achseln und hob die Hände gen Himmel.

»Dann lasst mir eine Stunde Zeit«, sagte Lee. Er ließ Zähne sehen, aber sein Gesichtsausdruck hatte absolut nichts mit einem Lächeln gemein. »Bis dahin kann ich alle ihre Kleider zerschneiden und alles Spielzeug zertrümmern, das uns diese Geldsäcke geschickt haben, um meine Tochter zu kaufen.«

»Was ist hier los?«, fragte mich ein junger Mann. Er war ungefähr zwanzig und mit einem Schwinn-Fahrrad unterwegs.

»Ehekrach, schätze ich.«

»Heißt Osmont oder so ähnlich, stimmt’s? Seine russische Frau hat ihn verlassen? Höchste Zeit, würd ich sagen. Dieser Kerl ist verrückt. Er ist ein Roter, wussten Sie das?«

»Irgendwas in dieser Art hab ich auch schon gehört.«

Lee marschierte mit erhobenem Kopf und zurückgenommenen Schultern die Verandatreppe hinauf – Napoleon beim Rückzug vor Moskau –, als Jeanne de Mohrenschildt ihm scharf zurief: »Schluss damit, Blödmann!«

Lee wandte sich ihr zu. Der Blick seiner weit aufgerissenen Augen war ungläubig … und verletzt. Er starrte de Mohrenschildt vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: Hast du deine Frau nicht im Griff? Aber de Mohrenschildt sagte nichts, sondern wirkte amüsiert. Wie ein verwöhnter Theaterbesucher, der ein Bühnenstück sah, das nicht allzu schlecht war. Nicht großartig, kein Shakespeare, aber ein recht brauchbarer Zeitvertreib.

Jeanne: »Wenn du deine Frau liebst, Lee, musst du um Himmels willen aufhören, dich wie ein verzogenes Kind aufzuführen. Benimm dich!«

»So kannst du nicht mit mir reden.« Unter Stress wurde sein Südstaatenakzent stärker und verschliff die Wörter.

»Das kann ich, das werde ich, das tue ich«, sagte sie. »Lass uns ihre Sachen abholen, sonst rufe ich selbst die Polizei.«

»Sag ihr, dass sie die Klappe halten und sich um ihren eigenen Kram kümmern soll, George«, sagte Lee.

De Mohrenschildt lachte fröhlich. »Heute bist du unser Kram, Lee.« Dann wurde er wieder ernst. »Ich fang an, den Respekt vor dir zu verlieren, Genosse. Lass uns endlich rein. Wenn du meine Freundschaft schätzt wie ich deine, solltest du uns jetzt endlich reinlassen.«

Lee ließ die Schultern hängen und trat beiseite. Jeanne marschierte die Stufen hinauf, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber de Mohrenschildt blieb stehen und zog Lee, der jetzt erschreckend abgemagert war, in eine kraftvolle Umarmung. Nach zwei, drei Sekunden erwiderte Oswald sie. Ich sah (mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu), dass der Junge – mehr war er eigentlich nicht – zu weinen begonnen hatte.

»Was sind die beiden?«, fragte der junge Mann auf dem Fahrrad. »Irgendwie komisch veranlagt?«

»Das sind sie«, sagte ich. »Nur nicht so, wie Sie meinen.«

7

Als ich später in diesem Monat von einem meiner herrlichen Wochenenden mit Sadie zurückkam, entdeckte ich, dass Marina und June in die Bruchbude in der Elsbeth Street zurückgekehrt waren. Einige Zeit lang schien die Familie in Frieden zu leben. Lee ging zur Arbeit – statt Windfangtüren aus Aluminium zusammenzuschrauben, vergrößerte er jetzt Fotos – und kam abends pünktlich nach Hause, manchmal sogar mit Blumen. Marina begrüßte ihn mit Küssen. Einmal zeigte sie ihm den Vorgarten, in dem sie allen Müll aufgesammelt hatte, und er applaudierte ihr. Darüber musste sie lachen, und als sie das tat, sah ich, dass ihre Zähne saniert waren. Ich weiß nicht, wie viel George Bouhe damit zu tun hatte, aber vermutlich eine ganze Menge.

Als ich diese Szene von der Straßenecke aus beobachtete, erschreckte mich wieder die Stimme der alten Dame mit der Gehhilfe. »Das hält bestimmt nicht.«

»Da könnten Sie recht haben«, sagte ich.

»Wahrscheinlich bringt er sie um. So was kenn ich.« Die Augen unter ihren gesträubten Haaren musterten mich mit kalter Verachtung. »Und Sie würden nicht eingreifen, stimmt’s, Sie Waschlappen?«

»Doch, das tue ich«, sagte ich zu ihr. »Wenn’s schlimm genug wird, greife ich ein.«

Das war ein guter Vorsatz, den zu halten ich entschlossen war, allerdings nicht um Marinas willen.

8

Am Tag nach dem zweiten Weihnachtstag lag in meinem Briefkasten eine Mitteilung von Oswald, auch wenn sie mit A. Hidell unterschrieben war. Dieser Deckname stand in Als Notizen. Das A bedeutete Alek – Marinas Kosename für ihn, als sie noch in Minsk gelebt hatten.

Seine Mitteilung machte mir keine Sorge, weil alle Bewohner unserer Straße sie erhalten zu haben schienen. Die Handzettel waren auf grellrosa Papier gedruckt (vermutlich an Lees jetzigem Arbeitsplatz geklaut), und ich sah ein gutes Dutzend davon im Rinnstein flattern. Im Stadtteil Oak Cliff in Dallas hielt man nicht viel davon, Abfälle ordentlich zu entsorgen.

PROTESTIERT GEGEN DEN FASCHISMUS AUF KANAL 9! BASIS DES SEGREGATIONISTEN BILLY JAMES HARGIS! PROTESTIERT GEGEN DEN FASCHISTISCHEN EXGENERAL EDWIN WALKER!

Am Donnerstagabend wird Kanal 9 während der Ausstralung von Billy James Hargis’ sogenanntem »Christlichen Kreuzzug« GENERAL EDWIN WALKER, einem rechtsextremen Faschisten, der JFK ermunert hat, das friedliche kubanische Volk zu überfallen, und der im gesamten Süden eine gegen Schwarze und gegen Integration gerichtete »HASS-JARGON« gefördert hat, Sennezeit überlassen. (Lesen Sie im »TV Guide« nach, wenn Sie dieser Information nicht trauen.) Diese beiden Männer verkörpern alles, wogegen wir im 2. WK gekämpft haben, und ihr FASCHISTISCHES GEIFERN hat keinen Platz in einer Ausstralung. EDWIN WALKER war einer der WEISSEN HERRENMENSCHEN, die versucht haben, James Meredith daran zu hindern, sich an der »OLE MISS« einzuschreiben. Wenn Sie Amerika lieben, protestieren Sie dagegen, dass Männer, die HASS und GEWALT predigen, kostenlose Sennezeit erhalten. Schreiben Sie einen Brief! Oder noch besser, kommen Sie am 27. Dezember zu einem »Sit-in« zu Channel 9!

A. Hidell Präsident von »Hände weg von Kuba« Ortsgruppe Dallas/Fort Worth

Ich dachte kurz über die Rechtschreibfehler nach, dann faltete ich das Flugblatt zusammen und legte es in die Kassette zu meinen Manuskripten.

Falls es zu Protesten vor dem Sender kam, wurden sie am Tag nach Hargis’ und Walkers »Ausstralung« nicht vom Slimes Herald gemeldet. Ich bezweifle, dass überhaupt jemand kam, vermutlich nicht einmal Lee. Ich jedenfalls nicht, aber ich schaltete am Donnerstagabend Channel 9 ein, weil ich neugierig darauf war, den Mann zu sehen, auf den Lee bald ein Attentat verüben würde.

Anfangs wurde nur Hargis gezeigt, der an einem Schreibtisch so tat, als würde er sich wichtige Notizen machen, während ein Tonbandchor »The Battle Hymn of the Republic« sang. Er war ein dicklicher Kerl, der seine dichten, schwarzen Haare zurückgekämmt trug und mit Pomade bändigte. Als der Chor ausgeblendet wurde, legte er seinen Füller weg, blickte in die Kamera und sagte: »Willkommen zum Christlichen Kreuzzug, Nachbarn. Ich habe gute Nachrichten – Jesus liebt euch. Ja, er liebt jeden Einzelnen von Ihnen. Wollen Sie nicht gemeinsam mit mir beten?«

Hargis belaberte den Allmächtigen mindestens zehn Minuten lang. Er handelte das übliche Zeug ab, indem er Gott für die Chance dankte, das Evangelium zu verkünden, und ihn aufforderte, alle zu segnen, die »Liebesgaben« eingeschickt hätten. Dann kam er zur Sache und bat Gott, sein auserwähltes Volk mit Schwert und Schild der Rechtschaffenheit zu bewaffnen, damit wir den Kommunismus besiegen könnten, der sein hässliches Haupt nur neunzig Meilen vor der Küste Floridas erhebe. Er forderte Gott auf, President Kennedy die Weisheit zu schenken (die Hargis, der dem Großen Boss näher stand, schon besaß), dort einzugreifen und das Unkraut der Gottlosigkeit mitsamt den Wurzeln auszureißen. Er verlangte auch, Gott solle die wachsende kommunistische Gefahr an amerikanischen Colleges eindämmen – Folkmusic schien etwas damit zu tun zu haben, aber bei diesem Thema verlor Hargis ein bisschen den Faden. Zum Schluss dankte er Gott für seinen Gast an diesem Abend: General Edwin Walker, der Held von Anzio und der Schlacht um den Changjin-Stausee.

Walker trat nicht in Uniform auf, aber sein Khakianzug war deutlich einer nachempfunden. Mit der messerscharfen Bügelfalte seiner Hose hätte man sich rasieren können. Sein steinernes Gesicht erinnerte mich an den Westernschauspieler Randolph Scott. Er schüttelte Hargis die Hand, und sie sprachen über den Kommunismus, der nicht nur an Colleges, sondern auch im Kongress und unter Wissenschaftlern weit verbreitet sei. Sie streiften das Thema Wasserfluoridierung. Danach schwafelten sie über Kuba, das Walker als das Krebsgeschwür der Karibik bezeichnete.

Ich konnte sehen, weshalb Walker im Vorjahr bei der Gouverneurswahl in Texas so jämmerlich durchgefallen war. Vor einer Schulklasse hätte er die Schüler schon in der ersten Stunde, in der sie noch am frischesten waren, in Tiefschlaf versetzt. Aber Hargis führte ihn geschickt und rief immer dann »Gelobt sei Jesus Christus!« und »Gott ist unser Zeuge, mein Bruder!« aus, wenn ein Thema etwas kitzlig wurde. Sie diskutierten über einen Operation Midnight Ride genannten Erweckungskreuzzug durch den Süden, und danach lud der Prediger Walker ein, »gewisse niederträchtige Vorwürfe in Bezug auf Rassentrennung, die in der New Yorker Presse und anderswo aufgetaucht sind«, richtigzustellen.

Walker vergaß schließlich, dass er im Fernsehen war, und erwachte zum Leben. »Sie wissen, dass das nichts als ein Haufen Linkenpropaganda ist.«

»Wie wahr!«, rief Hargis aus. »Und Gott will, dass Sie davon erzählen, mein Bruder!«

»Ich habe mein Leben in der U.S. Army verbracht und werde bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, im Herzen Soldat bleiben.«

(Wenn Lee seinen Willen bekam, würde das in ungefähr drei Monaten der Fall sein.)

»Als Soldat habe ich stets und immer meine Pflicht getan. Als President Eisenhower mich während der Unruhen des Jahres 1957 – die bekanntlich mit der erzwungenen Integration an der Central High School zusammenhingen – nach Little Rock entsandt hat, habe ich meine Pflicht getan. Aber Billy, ich bin auch ein Soldat Gottes …«

»Ein christlicher Soldat! Gelobt sei Jesus Christus!«

»… und als Christ weiß ich, dass diese erzwungene Integration ganz und gar unrecht ist. Sie ist verfassungsmäßig unrecht, bundesstaatlich unrecht und biblisch unrecht.«

»Klären Sie uns auf«, sagte Hargis und wischte sich eine Träne von der Wange. Vielleicht auch nur einen Schweißtropfen, der durch sein Make-up gesickert war.

»Hasse ich die Negerrasse? Die das behaupten – und dafür gearbeitet haben, mich aus dem Militärdienst, den ich geliebt habe, zu vertreiben –, sind Lügner und Kommunisten. Sie wissen es besser, Billy, die Männer, mit denen ich gedient habe, wissen es besser, und Gott weiß es besser.« Er beugte sich im Gästesessel vor. »Glauben Sie, dass die Negerlehrer in Alabama und Arkansas und Louisiana und unserem schönen Texas die Integration wollen? Das tun sie nicht. Sie sehen sie als Ohrfeige für die eigenen Fähigkeiten und ihre harte Arbeit. Glauben Sie, dass Negerschüler mit Weißen, die von Natur aus begabter im Lesen, Schreiben und Rechnen sind, in eine Schule gehen wollen? Glauben Sie, dass echte Amerikaner die Rassen-Bastardisierung wollen, die aus dieser Art Vermengung entstehen wird?«

»Natürlich wollen sie das nicht! Gelooobt sei Jesus Christus!«

Ich musste an den Wegweiser zu einem durch Giftefeu führenden Pfad denken, den ich in North Carolina gesehen hatte. Farbige hatte darauf gestanden. Walker verdiente es nicht, ermordet zu werden, aber eine ordentliche Abreibung hatte er sich durchaus verdient. Das hätte ich jedem mit einem kräftigen alten Gelobt sei Jesus Christus! bestätigt.

Meine Gedanken waren abgeschweift, aber etwas, was Walker sagte, brachte sie sofort wieder zurück.

»Es war Gott, nicht General Edwin Walker, der die Stellung der Neger in Seiner Welt verfügt hat, als Er ihnen eine andere Hautfarbe und andere Fertigkeiten gegeben hat. Mehr sportliches Talent. Was erzählt uns die Bibel über diesen Unterschied und dazu, warum die Negerrasse zu so viel Schmerz und Mühsal verdammt worden ist? Wir brauchen nur in Kapitel neun der Schöpfungsgeschichte nachzulesen, Billy.«

»Gelobt sei Gott für Seine Heilige Schrift.«

Walker schloss die Augen und hob die Rechte, als würde er vor Gericht aussagen. ›Und da Noah von dem Wein trank, ward er trunken, und lag in der Hütte aufgedeckt. Da nun Ham sah seines Vaters Blöße, sagte er’s seinen beiden Brüdern draußen.‹ Aber Sem und Japeth – der eine Vater der arabischen Rasse, der andere Vater der weißen Rasse, ich weiß, dass Sie das wissen, Billy, aber das tut nicht jeder, nicht jeder besitzt die gute alte Bibelkenntnis, die wir uns auf den Knien unserer Mütter erworben haben …«

»Gelobt sei Gott für christliche Mütter, erzählen Sie weiter!«

»Sem und Japeth sahen nicht hin. Und als Noah aufwachte und erfuhr, was geschehen war, sagte er: ›Verflucht sei Kanaan und sei ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern, ein Hauer von Holz und ein Schöpfer von Wa…‹«

Ich stellte den Fernseher ab.

9

Was ich im Januar und Februar 1963 von Lee und Marina sah, ließ mich an ein T-Shirt denken, das Christy im letzten Jahr unserer Ehe manchmal getragen hatte. Auf der Vorderseite hatte unter dem Kopf eines wild grinsenden Piraten gestanden: ES SETZT WEITER PRÜGEL, BIS DIE STIMMUNG SICH BESSERT. In jenem Winter setzte es im Haus Elsbeth Street 604 reichlich Schläge. Wir in der näheren Nachbarschaft hörten Lees Brüllen und Marinas Schreie – manchmal die des Zorns, manchmal die des Schmerzes. Niemand unternahm etwas, auch ich nicht.

Nicht dass sie die einzige Ehefrau gewesen wäre, die in Oak Cliff regelmäßig geschlagen wurde; die Freitag- und Samstagabende schienen in dieser Hinsicht eine lokale Tradition zu haben. In diesen grauen Monaten ist mir als einziger Wunsch im Gedächtnis geblieben, dass diese schmierige Seifenoper bitte bald zu Ende gehen möge, damit ich ganz mit Sadie zusammen sein konnte. Ich würde mich vergewissern, dass Oswald das Attentat auf General Walker allein verübte, und dann meinen Auftrag ausführen. Wenn Lee beim ersten Mal allein handelte, bewies das zwar nicht unbedingt, dass er beide Male als Alleintäter handeln würde, aber ich musste mich mit dieser Annahme zufriedengeben. Sobald die letzten Zweifel beseitigt waren – zumindest größtenteils –, würde ich Zeit und Ort auswählen und Lee Oswald so kaltblütig erschießen, wie ich Frank Dunning erschossen hatte.

Die Zeit verging. Langsam, aber sie verging. Und dann eines Tages, nicht lange vor dem Umzug der Oswalds in die Neely Street, sah ich Marina mit der alten Dame mit dem Gehgestell und den Elsa-Lanchester-Haaren sprechen. Beide lächelten dabei. Die alte Dame fragte etwas. Marina nickte lachend und deutete mit flachen Händen einen dicken Bauch an.

Ich stand am Fenster mit den zugezogenen Vorhängen, hielt mein Fernglas in einer Hand und bekam den Mund einige Sekunden lang nicht mehr zu. Von dieser Entwicklung stand in Als Notizen nichts, entweder weil sie ihm unbekannt oder weil sie ihm gleichgültig gewesen war. Aber mir war sie nicht gleichgültig.

Die Frau des Mannes, auf dessen Ermordung ich schon seit über vier Jahren wartete, war wieder schwanger.

Kapitel 21

1

Am 2. März 1963 wurden die Oswalds meine Über-mir-Nachbarn. Ihre Habe schleppten sie – hauptsächlich in Spirituosenkartons verpackt – aus dem verfallenden Klinkerkasten in der Elsbeth Straße herüber. Bald begannen die Spulen des kleinen japanischen Tonbandgeräts sich regelmäßig zu drehen, aber meistens lauschte ich mit aufgesetztem Kopfhörer. So kamen die über mir geführten Gespräche normal an, statt verlangsamt zu werden, aber ich verstand natürlich ohnehin nicht viel von dem, was die beiden sagten.

In der Woche nach dem Einzug der Oswalds in ihre neue Wohnung suchte ich eines der Pfandhäuser in der Greenville Avenue auf, um mir eine Schusswaffe zu kaufen. Der erste Revolver, den der Pfandleiher mir zeigte, war der gleiche .38er Police Special, den ich in Derry gekauft hatte.

»Eine gute Waffe zum Schutz gegen Straßenräuber und Einbrecher«, sagte der Pfandleiher. »Garantiert treffsicher bis zu einer Distanz von zwanzig Metern.«

»Fünfzehn«, sagte ich. »Ich hab fünfzehn gehört.«

Der Pfandleiher zog die Augenbrauen hoch. »Okay, sagen wir fünfzehn. Jeder, der dumm genug ist …«

… Sie um Ihr Geld erleichtern zu wollen, dürfte viel näher an Ihnen dran sein, lautet das Verkaufsargument.

»… sich mit Ihnen anzulegen, dürfte Ihnen beträchtlich näher sein, hab ich nicht recht?«

Mein erster Impuls, nur um diesen Eindruck von klingender, aber leicht misstönender Harmonie zu durchbrechen, war, nach einer anderen Waffe zu verlangen, vielleicht einem .45er. Aber die Harmonie zu durchbrechen war vielleicht keine gute Idee. Wer wusste das schon? Dagegen wusste ich, dass der .38er, den ich in Derry gekauft hatte, einwandfrei funktioniert hatte.

»Wie viel?«

»Sie können ihn für zwölf haben.«

Zwei Dollar mehr, als ich in Derry bezahlt hatte, aber das lag natürlich viereinhalb Jahre zurück. Inflationsbereinigt schienen zwölf in Ordnung zu sein. Ich forderte ihn auf, eine Schachtel Munition draufzulegen, dann sei der Handel perfekt.

Als der Pfandleiher sah, wie ich den Revolver und die Munition in der für diesen Zweck mitgebrachten Aktentasche verstaute, sagte er: »Warum lassen Sie mich Ihnen kein Halfter verkaufen, mein Sohn? Sie sind der Sprache nach nicht von hier und wissen’s vielleicht nicht, aber in Texas können Sie legal eine Waffe tragen, wenn Sie nicht vorbestraft sind. Sind Sie vorbestraft?«

»Nein, aber ich erwarte nicht, am helllichten Tag überfallen zu werden.«

Der andere lächelte finster. »Auf der Greenville Avenue weiß man nie, was passieren wird. Vor ein paar Jahren hat sich hier in der Nähe ein Mann auf offener Straße den halben Kopf weggepustet.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Sir, vor einer Bar, dem Desert Rose. ’türlich wegen ’ner Frau. Ist doch logisch, oder?«

»Kann sein«, sagte ich. »Aber manchmal gibt’s auch Streit um Politik.«

»Na, na, letztlich steckt immer ’ne Frau dahinter, mein Sohn.«

Ich hatte einen Parkplatz vier Straßen westlich des Leihhauses gefunden, und um zu meinem neuen (zumindest für mich neuen) Auto zurückzukommen, musste ich am Wettbüro Faith Financial vorbeigehen, wo ich im Herbst 1960 auf die Miracle Pirates gewettet hatte. Der Buchmacher, der mir die zwölfhundert Dollar ausbezahlt hatte, stand rauchend vor dem Eingang. Er trug wieder den grünen Augenschirm. Sein Blick glitt über mich hinweg, aber dem Anschein nach desinteressiert und ohne mich zu erkennen.

2

Das war am Freitagnachmittag, und ich fuhr von der Greenville Avenue direkt nach Kileen, wo Sadie sich in den Candlewood Bungalows mit mir traf. Wir verbrachten die Nacht dort, wie wir es in jenem Winter oft taten. Am nächsten Tag fuhr sie nach Jodie zurück, wo ich sie am Sonntag in die Kirche begleitete. Als wir nach dem Segen die Hände aller Umstehenden schüttelten und »Friede sei mit Ihnen« sagten, kehrten meine Gedanken – nicht mit gutem Gewissen – zu dem inzwischen im Kofferraum meines Wagens verstauten Revolver zurück.

Beim sonntäglichen Mittagessen fragte Sadie: »Wie lange noch? Bis du tust, was du tun musst?«

»Wenn alles so klappt, wie ich hoffe, nicht viel länger als einen Monat.«

»Und wenn nicht?«

Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare und trat ans Fenster. »Dann weiß ich es nicht. Möchtest du sonst noch was wissen?«

»Ja«, sagte sie ruhig. »Als Nachtisch gibt es Kirschkuchen. Möchtest du Schlagsahne auf deine?«

»Sehr gern«, sagte ich. »Ich liebe dich, Schatz.«

»Das will ich hoffen«, sagte sie und stand auf, um die Nachspeise zu holen. »Ich stehe bei der Sache nämlich ziemlich allein auf weiter Flur.«

Ich blieb am Fenster. Ein Wagen – ein oldie but a goodie, wie die DJs von K-Life sagen würden – rollte langsam die Straße hinunter, und ich meinte wieder den harmonischen Glockenklang zu hören. Aber das meinte ich in letzter Zeit häufig, und oft steckte nichts dahinter. Dabei fiel mir einer von Christys AA-Slogans ein: FEAR – false evidence appearing real. Falsche Anzeichen, die real erscheinen.

Diesmal rastete jedoch eine Assoziation mit hörbarem Klick ein. Der Wagen war ein weiß-roter Plymouth Fury, wie ich ihn auf dem Werksparkplatz der Worumbo-Weberei gesehen hatte – nicht weit von dem Trockenschuppen entfernt, bei dem sich der Kaninchenbau ins Jahr 1958 befand. Ich erinnerte mich daran, den Kofferraumdeckel berührt zu haben, um mich zu vergewissern, dass er real war. Dieser Wagen hier war nicht in Maine, sondern in Arkansas zugelassen, aber trotzdem … der Glockenklang. Dieses harmonische Klingen. Manchmal hatte ich das Gefühl, wenn ich nur wüsste, was der Glockenklang bedeutete, wüsste ich alles. Vermutlich dumm, aber wahr.

Der Gelbe-Karte-Mann hat es gewusst, dachte ich. Er hat es gewusst, und das war sein Tod.

Meine neueste Harmonie setzte den linken Blinker, bog am Stoppschild ab und verschwand in Richtung Main Street.

»Komm, iss dein Dessert«, sagte Sadie hinter mir, und ich zuckte zusammen.

Die Anonymen Alkoholiker sagten, dass FEAR auch etwas anderes bedeutete: Fuck everything and run. Lass alles stehen und liegen, und mach, dass du wegkommst.

3

Als ich abends in die Neely Street zurückkam, setzte ich den Kopfhörer auf und hörte mir die letzte Tonbandaufzeichnung an. Ich erwartete nichts als Russisch, aber diesmal war auch Englisch zu hören. Und lautes Planschen.

Marina: Spricht russisch.

Lee: Ich kann nicht, Mama, ich bin mit Junie in der Wanne!

Weiteres Planschen, Lees Lachen und das hohe Glucksen der Kleinen.

Lee: Mama, hier steht Wasser auf dem Fußboden! Junie spritzt! Böses Mädchen!

Marina: Wisch es auf! Ich beschafftigt! Beschafftigt!

Aber sie lacht ebenfalls.

Lee: Ich kann nicht, außer du willst, dass das Baby … Russisch.

Marina: Spricht russisch – schimpft die beiden lachend aus.

Noch mehr Planschen. Marina summt irgendeinen Popsong von KLIF. Das klingt süß.

Lee: Mama, bring uns unser Spielzeug!

Marina: Da, da, immer ihr wollt die Spielzeug.

Lautes Planschen. Die Badezimmertür muss jetzt weit geöffnet sein.

Marina: Spricht russisch.

Lee mit schmollender Kinderstimme: Mama, du hast unseren Gummiball vergessen!

Lautes Planschen … June kreischt vor Entzücken.

Marina: So, alle Spielzeug für Priiinz und Priinzessa.

Lachen von allen dreien – bei ihrer Fröhlichkeit überläuft mich ein kalter Schauder.

Lee: Mama, bring uns einen (russisches Wort). Wir haben Wasser im Ohr.

Marina lachend: O Gott, was noch alles?

In jener Nacht lag ich lange wach und dachte an die drei Oswalds. Ausnahmsweise einmal glücklich, aber warum auch nicht? Das Haus West Neely Street 214 war nichts Besonderes, aber doch ein Fortschritt. Vielleicht schliefen sie sogar im selben Bett, und June war ausnahmsweise glücklich, statt zu Tode geängstigt zu sein.

Und jetzt gab es im Bett einen Vierten. Einer, der in Marinas Bauch heranwuchs.

4

Die Dinge beschleunigten sich, genau wie damals in Derry, nur flog der Zeitpfeil diesmal nicht auf Halloween, sondern auf den 10. April 1963 zu. Die Notizen von Al, auf die ich mich bisher hatte verlassen können, wurden weniger hilfreich. Vor dem Attentat auf Walker konzentrierten sie sich fast ausschließlich darauf, was Lee tat und wo er sich aufhielt, aber in jenem Winter passierte im Leben der Oswalds wesentlich mehr – vor allem in Marinas Leben.

Zum einen hatte sie endlich Freundschaft geschlossen – nicht mit einem Möchtegern-Sugardaddy wie George Bouhe, sondern mit einer Frau. Sie hieß Ruth Paine und war eine Quäkerin. Spricht russisch, hatte Al lakonisch vermerkt, was nicht zum früheren Stil seiner Notizen passte. Haben sich im Februar 63 auf einer Party kennengelernt. Marina trennt sich von Lee und lebt zum Zeitpunkt des Attentats auf Kennedy bei Paine. Und dann, als wäre das fast nebensächlich: Lee hat M-C in Paines Garage versteckt. In Wolldecke gewickelt. Darin sollen Vorhangstangen sein.

Mit M-C meinte er das Gewehr von Mannlicher-Carcano aus dem Versandhandel, mit dem Oswald vorhatte, General Walker zu erschießen.

Ich weiß nicht, wer die Party gegeben hat, auf der Lee und Marina die Paines kennenlernten. Ich weiß nicht, wer sie mit ihnen bekannt gemacht hat. De Mohrenschildt? Bouhe? Vermutlich einer der beiden, denn die anderen Emigranten machten inzwischen einen weiten Bogen um die Oswalds. Der Ehemann war ein zynischer Besserwisser, die Ehefrau – sein Punchingball – hatte wer weiß wie viele Gelegenheiten verpasst, ihn sitzen zu lassen.

Ich weiß jedoch, dass Marina Oswalds potenzielle Rettungsluke an einem regnerischen Tag Mitte März eintraf, und zwar am Steuer eines weiß-roten Chevrolet-Kombis. Sie parkte am Randstein und sah sich zweifelnd um, als wäre sie sich nicht ganz sicher, an der richtigen Adresse zu sein. Ruth Paine war groß (wenn auch nicht so groß wie Sadie) und erschreckend dünn. Ihre bräunlichen Haare trug sie mit Fransen über der auffällig hohen Stirn und seitlich zurückgekämmt – eine Frisur, die ihr nicht schmeichelte. Auf ihrer sommersprossigen Nase saß eine randlose Brille. Als ich sie durch den Vorhangspalt beobachtete, erschien sie mir als eine Art Frau, die fleischlos lebte und bei Demonstrationen gegen Atomwaffen mitmarschierte … und das beschrieb Ruth Paine wohl ziemlich genau: eine New-Age-Frau, bevor New Age als cool galt.

Marina musste Ausschau nach ihr gehalten haben, denn sie kam mit June, deren Kopf sie mit einer übergeworfenen Decke vor dem Nieselregen schützte, die Außentreppe heruntergepoltert. Ruth Paine lächelte zögernd, sprach sehr deutlich und machte nach jedem Wort eine kleine Pause. »Hallo, Mrs. Oswald, ich bin Ruth Paine. Erinnern Sie sich an mich?«

»Da«, sagte Marina. »Ja.« Dann fügte sie etwas auf russisch hinzu. Ruth antwortete in derselben Sprache … allerdings stockend.

Marina bat sie hinauf. Ich wartete, bis ich das Knarren ihrer Schritte über mir hörte, dann setzte ich den mit der Wanze in der Lampe verbundenen Kopfhörer auf. Was ich hörte, war eine auf englisch und russisch geführte Unterhaltung. Marina verbesserte Ruth mehrmals, manchmal lachend. Ich verstand genug, um mitzubekommen, weshalb Ruth hier war. Sie wollte wie Paul Gregory Russischstunden nehmen. Das häufige Lachen der beiden und ihre zunehmend lässige Unterhaltung sagten mir noch etwas anderes: Sie mochten einander.

Ich freute mich für Marina. Wenn ich Oswald nach seinem Anschlag auf General Walker erschoss, würde die New-Age-Frau Ruth Paine sie vielleicht bei sich aufnehmen. Darauf konnte ich zumindest hoffen.

5

Ruth kam nur zweimal zum Unterricht in die Neely Street. Danach stiegen Marina und June in den Kombi, und Ruth fuhr mit ihnen davon. Vermutlich in ihr Haus im feudalen Vorort Irving (zumindest im Vergleich zu Oak Cliff). Diese Adresse stand nicht in Als Notizen – er schien sich wenig für Marinas Beziehung zu Ruth interessiert zu haben, vermutlich weil er vorgehabt hatte, Lee zu erledigen, lange bevor das Gewehr in der Garage der Paines versteckt wurde –, aber ich fand sie im Telefonbuch: West Fifth Street 2515.

An einem bedeckten Märznachmittag, ungefähr zwei Stunden nachdem Marina und Ruth sich aus dem Staub gemacht hatten, fuhren George de Mohrenschildt und Lee in de Mohrenschildts Wagen vor. Lee stieg mit einer braunen Papiertüte aus, die mit einem Sombrero und PEPINO’S BEST MEXICAN bedruckt war. De Mohrenschildt hatte einen Sechserpack Dos Equis. Sie gingen redend und lachend die Außentreppe hinauf. Mit rasendem Herzen schnappte ich mir den Kopfhörer. Anfangs war nichts zu hören, aber dann schaltete einer von ihnen die Lampe an. Ab diesem Augenblick hörte ich sie so glasklar, als wäre ich als unsichtbarer Dritter mit ihnen im Zimmer.

Bitte verabredet euch nicht dazu, Walker zu erschießen, dachte ich. Bitte macht mir die Arbeit nicht schwerer, als sie schon ist.

»Entschuldige die Unordnung«, sagte Lee. »Sie tut im Moment nicht viel außer schlafen, fernsehen und über diese Frau reden, der sie Russischstunden gibt.«

De Mohrenschildt sprach einige Zeit über die Bohrrechte, die er sich auf Haiti sichern wolle, und verurteilte das repressive Regime Duvaliers. »Nachts fahren Lastwagen über die Marktplätze und sammeln die Toten auf. Viele davon sind Kinder, die verhungert sind.«

»Dem werden Castro und die Front ein Ende machen«, sagte Lee grimmig.

»Möge die Vorhersehung diesen Tag bald kommen lassen.« Sie stießen klirrend mit ihren Flaschen an – vermutlich darauf, dass die Vorhersehung sich beeilen möge. »Wie geht’s in der Arbeit, Genosse? Und wie kommt es, dass du heute Nachmittag nicht dort bist?«

Er war nicht dort, erzählte Lee, weil er hier sein wolle. So einfach sei das. Er habe einfach die Stechuhr betätigt und sei gegangen. »Was können die schon groß dagegen tun? Ich bin der beste verdammte Fototechniker, den der olle Bobby Stovall hat, und das weiß er genau. Der Vorarbeiter, er heißt (den Namen verstand ich nicht richtig – Graff? Grafe?), sagt: ›Hör mit deinen Versuchen auf, die Arbeiter zu organisieren, Lee.‹ Weißt du, was ich tue? Ich lache und sage ›Okay, swinojob‹ und geh einfach. Er ist ein Schweineschwanz, das wissen alle.«

Trotzdem war klar, dass Lee sein Job gefiel, obwohl er über die patriarchalische Einstellung des Chefs klagte und darüber, dass Dienstalter mehr zähle als Talent. Einmal behauptete er: »In Minsk, bei Chancengleichheit, wäre ich in einem Jahr Betriebsleiter, ehrlich.«

»Das weiß ich, mein Sohn – das ist unverkennbar.«

Er schleimte sich ein. Stachelte ihn auf. Davon war ich überzeugt. Und es gefiel mir nicht.

»Hast du heute Morgen Zeitung gelesen?«, fragte Lee.

»Ich habe den ganzen Vormittag nichts als Telegramme und Mitteilungen gesehen. Glaub mir, ich bin nur hier, um mal vom Schreibtisch wegzukommen.«

»Walker hat’s getan«, sagte Lee. »Er hat sich Hargis’ Kreuzzug angeschlossen – möglicherweise ist es auch Walkers Kreuzzug, dem Hargis sich angeschlossen hat. Das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls dieses Scheißunternehmen Midnight Ride. Diese beiden Schwachköpfe wollen den gesamten Süden bereisen und den Leuten erzählen, dass die NAACP eine kommunistische Tarnorganisation ist. Damit werfen sie die Integration und das Stimmrecht um zwanzig Jahre zurück.«

»Klar! Und schüren Hass. Wie lange es wohl dauert, bis die Massaker beginnen?«

»Oder jemand Ralph Abernathy und Dr. King erschießt!«

»Natürlich wird King erschossen«, sagte de Mohrenschildt fast lachend. Ich stand da, drückte mir den Kopfhörer auf die Ohren und spürte, wie mir der Schweiß übers Gesicht lief. Das hier war in der Tat vermintes Gelände – haarscharf am Rand einer Verschwörung. »Das ist bloß eine Frage der Zeit.«

Einer von ihnen benutzte den Flaschenöffner, um ein weiteres mexikanisches Bier zu öffnen, und Lee sagte: »Irgendjemand sollte die beiden Scheißkerle stoppen.«

»Du liegst nicht ganz richtig, wenn du unseren General Walker einen Schwachkopf nennst«, sagte de Mohrenschildt in belehrendem Ton. »Hargis, ja, okay. Hargis ist eine Witzfigur. Wie ich höre, ist er – wie solche Leute so oft – ein Mann mit verqueren sexuellen Trieben, der sich gern morgens mit einer Kleinmädchenfotze und nachmittags mit einem Kleinjungenarsch vergnügt.«

»Mann, das ist widerlich!« Beim letzten Wort überschlug sich Lees Stimme, als wäre er im Stimmbruch. Er lachte darüber.

»Aber Walker, ah, der ist ganz ein anderes Kaliber. Der gehört zu den führenden Leuten der John Birch Society …«

»Diese antisemitischen Faschisten!«

»… und ich kann mir vorstellen, dass er sie eines nicht allzu fernen Tages führen wird. Wenn er erst das Vertrauen und die Zustimmung der anderen rechtsextremen Spinnergruppen gewonnen hat, kandidiert er vielleicht sogar wieder … aber diesmal nicht als Gouverneur von Texas. Ich vermute, dass er ehrgeiziger ist. Der Senat? Vielleicht. Sogar das Weiße Haus?«

»Das könnte nie passieren.« Aber Lee klang unsicher.

»Es wird wahrscheinlich nicht passieren«, verbesserte de Mohrenschildt ihn. »Aber unterschätz nie die Bereitschaft der amerikanischen Bourgeoisie, sich für Faschismus im Gewand des Populismus zu begeistern. Oder die Macht des Fernsehens. Ohne das Fernsehen hätte Kennedy niemals gegen Nixon gewonnen.«

»Kennedy und seine eiserne Faust«, sagte Lee. Seine Zustimmung zum amtierenden Präsidenten schien abgeflaut zu sein. »Er wird niemals Ruhe geben, solange Fidel in Batistas Klo scheißt.«

»Und unterschätz nie die panische Angst des weißen Amerikas vor einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Rassen allgemeines Gesetz geworden ist.«

»Nigger, Nigger, Nigger, Bohnenfresser, Bohnenfresser, Bohnenfresser!«, stieß Lee mit einer Wut hervor, die an Seelenqual grenzte. »Das ist alles, was ich in der Arbeit höre.«

»Das kann ich mir denken. Wenn die Morning News von dem großen Staat Texas spricht, meint sie den Hass-Staat Texas. Und die Leute hören ihr zu. Für einen Mann wie Walker – einen Kriegshelden wie Walker – ist ein Tölpel wie Hargis nur ein Sprungbrett. Wie Hindenburg ein Sprungbrett für Hitler war. Mit den richtigen PR-Leuten, die seine Kanten glätten, kann Walker es weit bringen. Weißt du, was ich glaube? Dass der Mann, der General Edwin ›Rassistisches Amerika‹ Walker beseitigt, der Gesellschaft einen Gefallen täte.«

Ich sank schwer auf den Stuhl neben dem Tisch, auf dem das kleine Bandgerät mit seinen sich drehenden Spulen stand.

»Wenn du wirklich glaubst …«, begann Lee, und dann folgte ein lautes Summen, das mich dazu brachte, den Kopfhörer herunterzureißen. Weil in der Wohnung über mir keine besorgten oder empörten Ausrufe, keine eiligen Schritte zu hören waren – außer die beiden verstanden sich sehr gut auf sofortige Tarnung –, konnte ich annehmen, dass sie die Wanze in der Lampe nicht entdeckt hatten. Ich setzte den Kopfhörer wieder auf. Nichts. Ich versuchte es mit dem Richtmikrofon, indem ich die Tupperware-Schale auf einem Stuhl stehend an die Decke hielt. Ich konnte zwar hören, dass Lee redete und de Mohrenschildt gelegentlich antwortete, aber nicht verstehen, was sie sagten.

Mein Ohr in der Wohnung der Oswalds war taub geworden.

Die Vergangenheit war unerbittlich.

Nach weiterer zehnminütiger Diskussion – vielleicht über Politik, vielleicht über ärgerliche Marotten von Ehefrauen, vielleicht über die beste Methode, General Edwin Walker zu beseitigen – trampelte de Mohrenschildt die Außentreppe hinunter und fuhr davon.

Lees Schritte durchquerten den Raum über mir – poch, stampf, poch. Ich folgte ihnen ins Schlafzimmer und richtete das Mikrofon auf die Stelle, wo sie verstummt waren. Nichts … nichts … dann leise, aber unverkennbare Schnarchgeräusche. Als Ruth Paine zwei Stunden später Marina und June absetzte, schlief er immer noch den Dos-Equis-Schlaf. Marina weckte ihn nicht. Ich an ihrer Stelle hätte den übellaunigen kleinen Hundesohn auch nicht geweckt.

6

Nach diesem Tag ging Lee immer häufiger nicht zur Arbeit. Falls Marina davon wusste, war es ihr offenbar egal. Vielleicht merkte sie es aber auch gar nicht. Sie ging ganz in der Beziehung zu ihrer neuen Freundin Ruth auf. Es gab weniger Schläge, aber nicht etwa weil die Stimmung sich gebessert hatte, sondern weil Lee fast ebenso oft unterwegs war wie sie. Oft nahm er seine Kamera mit. Dank Als Notizen wusste ich, wohin er fuhr und was er dort tat.

Als er eines Tages einmal wieder zur Bushaltestelle unterwegs war, sprang ich in mein Auto und fuhr in die Oak Lawn Avenue. Ich wollte schneller sein als Lees Bus quer durch die Stadt, und das gelang mir auch. Mühelos. Auf beiden Seiten der Avenue gab es reichlich Schrägparkplätze, aber mein roter Heckflossen-Chevy war auffällig, und ich wollte nicht riskieren, dass Lee ihn sah. Ich stellte ihn um die Ecke in der Wycliff Avenue auf dem Parkplatz eines Alpha-Beta-Lebensmittelmarkts ab. Dann schlenderte ich zum Turtle Creek Boulevard hinüber. Die dortigen Häuser waren Neo-Hazienden mit Torbogen und Rauputz. Es gab Einfahrten zwischen Palmen, weite Rasenflächen, sogar ein paar Springbrunnen.

Vor dem Haus Nummer 4011 arbeitete ein schlanker Mann (der dem Westernschauspieler Randolph Scott erstaunlich ähnlich sah) mit einem Handrasenmäher. Als Edwin Walker sah, dass ich ihn beobachtete, legte er kurz die Rechte zu einem Militärgruß an die Schläfe. Ich erwiderte den Gruß auf gleiche Weise. Lee Oswalds Zielperson mähte weiter, und ich schlenderte davon.

7

Die Straßen, die den Wohnblock in Dallas begrenzten, für den ich mich interessierte, waren der Turtle Creek Boulevard (wo der General wohnte), die Wycliff Avenue (wo ich geparkt hatte), die Avondale Avenue (die ich erreichte, nachdem ich Walkers Gruß erwidert hatte) sowie die Oak Lawn Avenue, eine Straße mit kleinen Geschäften, die direkt hinter dem Haus des Generals vorbeiführte. Diese Avenue interessierte mich am meisten, weil sie am Abend des 10. April Lees Anmarsch- und Rückzugsroute sein würde.

Ich stand vor dem Schaufenster von Texas Shoes & Boots, hatte den Kragen meiner Jeansjacke hochgeschlagen und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Nach ungefähr drei Minuten Wartezeit hielt der Bus an der Kreuzung Oak Lawn und Wycliff Avenue. Kaum schwenkten die Türblätter nach innen, stiegen auch schon zwei Frauen mit Einkaufsbeuteln aus. Hinter ihnen tauchte Lee auf. Er trug eine braune Papiertüte, die der Pausentüte eines Arbeiters ähnelte.

An der Ecke stand eine große, steinerne Kirche. Lee schlenderte zu ihrem schmiedeeisernen Zaun hinüber, las die Mitteilungen auf der Anschlagtafel, zog ein kleines Notizbuch aus der Gesäßtasche und schrieb etwas hinein. Dann kam er auf mich zu, während er sein Notizbuch wieder einsteckte. Darauf war ich nicht gefasst. Al hatte angenommen, dass Lee sein Gewehr gut eine halbe Meile von hier an den Bahngleisen jenseits der Oak Lawn Avenue verstecken würde. Aber vielleicht war diese Annahme falsch gewesen, denn Lee sah nicht ein einziges Mal dort hinüber. Er war noch siebzig bis achtzig Meter entfernt, kam jedoch rasch näher.

Er wird mich bemerken und mich ansprechen, dachte ich. Er wird sagen: »Sind Sie nicht der Kerl, der unter uns wohnt? Was machen Sie hier?« Wenn er das tat, würde die Zukunft eine andere Richtung nehmen. Nicht gut.

Während ich die Schuhe und Stiefel im Schaufenster anstarrte, wurde mein Genick feucht, und ich spürte, wie mir die Schweißperlen über den Rücken liefen. Als ich schließlich einen verstohlenen Blick nach links riskierte, war Lee verschwunden. Wie durch einen Zaubertrick.

Ich ging langsam die Straße entlang weiter. Ich wünschte mir, ich hätte eine Mütze aufgesetzt, vielleicht sogar eine Sonnenbrille – warum hatte ich das nicht getan? Was für eine halb gare Art Geheimagent war ich überhaupt?

Ungefähr in der Mitte des Straßenblocks erreichte ich ein Café, in dessen Fenster für FRÜHSTÜCK GANZTÄGIG geworben wurde. Lee war nicht darin. Nach dem Café lag die Einmündung einer Gasse. Ich schlenderte daran vorbei, sah nach rechts und entdeckte ihn. Lee kehrte mir den Rücken zu. Er hatte seine Kamera aus der Tüte genommen, fotografierte aber nicht damit, zumindest noch nicht. Er begutachtete Mülltonnen. Er nahm die Deckel ab, sah hinein und schloss sie wieder.

Jede Faser meines Körpers – jeder meiner tief verborgenen Instinkte, das wäre wohl richtiger – drängte mich dazu, rasch weiterzugehen, bevor er sich umdrehte und mich bemerkte, aber eine machtvolle Faszination zwang mich dazu, noch etwas länger auszuharren. Ich denke, dass es den meisten Leuten wohl ähnlich ergangen wäre. Wie oft hatten wir schließlich Gelegenheit, einen Kerl bei seinen Vorbereitungen für einen eiskalten Mord zu beobachten?

Lee ging weiter in die Gasse hinein und blieb dann vor einem eisernen Gullydeckel stehen. Er versuchte ihn anzuheben. Aussichtslos.

Die etwa zweihundert Meter lange Gasse war nicht asphaltiert und wies zahlreiche Schlaglöcher auf. Nach halber Länge wich der Maschendrahtzaun, der verunkrautete Gärten und unbebaute Grundstücke schützte, einem hohen Bretterzaun. Der Efeu, mit dem er bewachsen war, wirkte nach dem langen, kalten Winter nicht gerade üppig grün. Lee schob die Efeumatte beiseite und zog an einem der Bretter. Es ließ sich zur Seite ziehen, und er spähte in das Loch dahinter.

Lehrsätze darüber, dass eben Späne fielen, wo gehobelt werde, waren schön und gut, aber ich hatte das Gefühl, mein Glück genug strapaziert zu haben. Ich kehrte um und ging zurück. Am Ende des Blocks blieb ich vor der Kirche stehen, für die Lee sich interessiert hatte. Es war eine Mormonenkirche. Auf der Anschlagtafel stand, dass es außer den regulären Sonntagsgottesdiensten jeweils mittwochs um 19 Uhr spezielle Begrüßungsgottesdienste für neue Gemeindemitglieder gebe. Bei dem jeweils anschließenden kleinen Empfang stünden Erfrischungen bereit.

Der 10. April war ein Mittwoch, und Lees Plan (falls es nicht de Mohrenschildts war) schien jetzt klar zu sein: Er würde das Gewehr frühzeitig in der Gasse verstecken und dann warten, bis der Begrüßungsgottesdienst – und natürlich der kleine Empfang – vorbei war. Er würde die Gottesdienstbesucher hören können, wenn sie aus der Kirche kamen und lachend und plaudernd zur Bushaltestelle gingen. Die Busse fuhren alle Viertelstunde, sodass es nie lange dauern würde, bis einer kam. Lee würde seinen Schuss abgeben, das Gewehr wieder hinter dem losen Brett (nicht in der Nähe der Bahngleise) verstecken und sich unter die Kirchgänger mischen. Und mit dem nächsten Bus war er dann fort.

Ich blickte rechtzeitig nach rechts, um zu sehen, wie er aus der Gasse kam. Die Kamera steckte wieder in der Tüte. Lee ging zur Bushaltestelle und lehnte sich dort an den Telefonmast. Ein Mann kam vorbei und fragte ihn etwas. Daraus entwickelte sich ein Gespräch. Eine Unterhaltung mit einem Fremden … oder war das ein weiterer Freund de Mohrenschildts? Nur irgendein Kerl auf der Straße oder ein Mitverschwörer? Vielleicht sogar der berühmte Unbekannte Schütze, der nach Ansicht der Verschwörungstheoretiker auf dem Grashügel an der Dealey Plaza gelauert hatte, als Kennedys Autokolonne näher gekommen war? Ich sagte mir, dass das verrückte Ideen waren. Was vermutlich auch stimmte, aber es war unmöglich, sich darüber Gewissheit zu verschaffen. Das war das Schlimme daran.

Überhaupt stand nichts sicher fest, und diese Ungewissheit würde anhalten, bis ich mit eigenen Augen sah, dass Oswald am Abend des 10. April allein war. Nicht einmal dann würden meine letzten Zweifel ausgeräumt sein, aber es würde ausreichen, um weiterzumachen.

Ausreichen, um Junes Vater erschießen zu können.

Ein Bus kam herangebrummt und hielt. Geheimagent X-19 – auch als Lee Harvey Oswald, der berühmte Marxist und Frauenmisshandler, bekannt – stieg ein. Sobald der Bus außer Sicht war, ging ich zu der Gasse zurück und schritt sie ganz ab. Sie endete an einem großen, nicht eingezäunten Gartengrundstück. Dort war ein 57er oder 58er Chevy Biscayne neben einer Erdgaspumpstation zu sehen. Auf einem Dreibein stand eine Grillschale, dann kam die Rückseite eines großen, dunkelbraunen Hauses. Das Haus des Generals.

Ich sah zu Boden und bemerkte eine frische Schleifspur im Staub. An ihrem Ende stand eine Mülltonne. Ich hatte nicht gesehen, wie Lee die Tonne bewegt hatte, aber ich wusste, dass er es gewesen war. Am Abend des Zehnten wollte er den Gewehrlauf darauf ruhen lassen.

8

Am Montag, dem 25. März, kam Oswald mit einem langen, in braunes Papier eingeschlagenen Paket die Neely Street entlang. Durch einen winzigen Vorhangspalt konnte ich die in großen, roten Lettern aufgestempelten Wörter EINSCHREIBEN und VERSICHERT lesen. Lee wirkte zum ersten Mal gehetzt und nervös; er sah sich sogar um, statt nur das unheimliche Mobiliar tief im Inneren seines Kopfes zu betrachten. Ich wusste, was dieses Paket enthielt: ein 6,5-mm-Gewehr der Marke Carcano – auch als Mannlicher-Carcano bekannt – mit Zielfernrohr, das er bei Klein’s Sporting Goods in Chicago bestellt hatte. Fünf Minuten nachdem er die Außentreppe in den ersten Stock hinaufgestiegen war, stand das Gewehr, mit dem Lee die Geschichte verändern würde, in einem Kleiderschrank über meinem Kopf. Die berühmten Fotos von Lee mit seinem Gewehr machte Marina sechs Tage später vor meinem Wohnzimmerfenster, aber davon war ich nicht Zeuge. Es war ein Sonntag, an dem ich in Jodie war. Als der 10. April heranrückte, waren die Wochenenden mit Sadie die wichtigsten, die liebsten Dinge in meinem Leben geworden.

9

Ich wachte mit einem Ruck auf und hörte jemand halblaut murmeln: »Noch nicht zu spät.« Dann merkte ich, dass ich das gewesen war, und hielt den Mund.

Sadie protestierte undeutlich brummelnd und drehte sich im Bett um. Das vertraute Quietschen der Sprungfedern rief mir Ort und Zeit ins Gedächtnis zurück: Candlewood Bungalows, 5. April 1963. Ich tastete nach meiner Armbanduhr auf dem Nachttisch und las die Leuchtziffern ab. Es war Viertel nach zwei – also hatten wir bereits den 6. April.

Noch nicht zu spät.

Wofür? Für einen Rückzieher? Dafür, die Finger von dieser schlimmen Sache zu lassen? Der Gedanke an einen Rückzieher war weiß Gott verlockend. Wenn ich weitermachte und die Sache schiefging, konnte dies meine letzte Nacht mit Sadie sein. Für immer.

Selbst wenn du ihn erschießen musst, brauchst du es nicht sofort zu tun.

Wohl wahr. Nach dem Anschlag auf den General würde Oswald für einige Zeit nach New Orleans umziehen – in ein weiteres beschissenes Haus, das ich schon besichtigt hatte –, aber erst nach zwei Wochen. Also hatte ich reichlich Zeit, ihn zu erledigen. Aber ich spürte, dass es ein Fehler wäre, damit zu lange zu warten. Ich könnte hundert Gründe finden, noch länger zu warten. Der beste lag nackt neben mir in diesem Bett: lang, schön und geschmeidig glatt. Vielleicht war sie nur eine weitere Falle, die die unerbittliche Vergangenheit mir gestellt hatte, aber das spielte keine Rolle, denn ich liebte sie. Und ich konnte mir ein Szenario vorstellen – nur allzu deutlich –, in dem ich nach dem Mord an Oswald flüchten musste. Wohin flüchten? Natürlich zurück nach Maine. In der Hoffnung, dass ich meinen Vorsprung vor der Polizei lange genug halten konnte, um den Kaninchenbau zu erreichen und in eine Zukunft zu entkommen, in der Sadie Dunhill … nun … ungefähr achtzig sein würde. Wenn sie überhaupt noch lebte. Wenn sie weiterqualmte wie bisher, würde das einem Hauptgewinn im Lotto entsprechen.

Ich stand auf und trat ans Fenster. An diesem Wochenende im Vorfrühling waren nur wenige der Bungalows belegt. Vor einem stand ein schlammbespritzter Pick-up mit einem Anhänger voller landwirtschaftlicher Geräte. Vor einem anderen ein Motorrad Marke Indian mit Beiwagen. Dazu ein paar Kombis. Und ein zweifarbig lackierter Plymouth Fury. Der Mond verschwand immer wieder hinter dünnen Wolken, und in diesem ungewissen Licht war unmöglich zu erkennen, welche Farbe die untere Wagenhälfte hatte, aber ich glaubte ohnehin mit einiger Sicherheit, sie zu kennen.

Ich zog Hose, Unterhemd und Schuhe an. Dann verließ ich leise den Bungalow und überquerte den Innenhof. Auf meiner bettwarmen Haut war die Nachtluft empfindlich kalt, aber ich achtete kaum darauf. Ja, der Wagen war ein Fury, und ja, er war weiß-rot, aber er kam nicht aus Maine oder Arkansas; er war in Oklahoma zugelassen, und der Aufkleber auf der Heckscheibe forderte GO, SOONERS!. Ich warf einen Blick ins Wageninnere und sah ein Durcheinander von Lehrbüchern. Irgendein Student, der vielleicht nach Süden unterwegs war, um in den Semesterferien seine Familie zu besuchen. Oder ein ralliges Lehrerpaar, das die liberale Gästepolitik der Candlewood Bungalows ausnutzte.

Wieder ein nicht ganz tonreines Klingen, als die Vergangenheit sich mit sich selbst in Einklang brachte. Ich berührte den Kofferraumdeckel, wie ich es schon in Lisbon Falls getan hatte, dann kehrte ich in den Bungalow zurück. Sadie hatte die Decke bis zur Taille hinuntergeschoben, und als ich hereinkam, wurde sie vom kalten Luftzug geweckt. Sie setzte sich auf und zog die Bettdecke dabei bis zum Hals hoch, ließ sie aber wieder los, als sie sah, dass ich es war.

»Kannst du nicht schlafen, Schatz?«

»Ich hab schlecht geträumt und war draußen, um frische Luft zu schnappen.«

»Was hast du denn geträumt?«

Ich zog den Reißverschluss meiner Jeans auf und streifte die Mokassins ab. »Weiß ich nicht mehr.«

»Versuch dich zu erinnern. Meine Mutter hat immer gesagt, dass Träume, die man erzählt, nicht wahr werden.«

Ich schlüpfte nur mit meinem Unterhemd bekleidet zu ihr unter die Decke. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass man seinen Schatz küssen muss, damit die bösen Träume nicht wahr werden.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nein.«

»Na ja, möglich könnte es immerhin sein«, sagte sie nachdenklich. »Komm, wir versuchen es.«

Wir versuchten es.

Eines führte zum anderen.

10

Danach zündete sie sich eine Zigarette an. Ich beobachtete neben ihr liegend, wie der Rauch aufstieg und sich im Mondschein, der manchmal durch die halb offenen Vorhänge einfiel, bläulich färbte. In der Neely Street würde ich die Vorhänge nie so lassen, dachte ich. In der Neely Street, in meinem anderen Leben, bin ich ständig allein und achte trotzdem darauf, sie immer zu schließen. Das heißt, außer wenn ich nach draußen spähe. Und lauere.

In diesem Augenblick konnte ich mich selbst nicht sehr gut leiden.

»George?«

Ich seufzte. »Das ist nicht mein richtiger Name.«

»Ich weiß.«

Ich sah sie an. Sie machte einen tiefen Zug und genoss ihre Zigarette ohne Schuldgefühle, wie es die Menschen im Land des Einst eben taten. »Ich besitze keine Insiderinformationen, falls du das denkst. Aber das ist nur logisch. Schließlich ist deine übrige Vergangenheit auch erfunden. Und ich bin froh darüber. Den Namen George mag ich nicht sonderlich. Er ist – wie sagst du manchmal? – irgendwie dröge.«

»Würde dir Jake gefallen?«

»Wie in Jacob?«

»Ja.«

»Der gefällt mir.« Sadie wandte sich mir zu. »In der Bibel ringt Jakob mit einem Engel. Und du ringst auch mit etwas, nicht wahr?«

»Das stimmt wohl, aber nicht mit einem Engel.« Allerdings gab Lee Oswald auch keinen sehr guten Teufel ab. In dieser Rolle gefiel mir George de Mohrenschildt besser. In der Bibel war der Satan der Versucher, der ein Angebot unterbreitete und dann beiseitetrat. Ich hoffte, dass de Mohrenschildt sich ähnlich verhalten würde.

Sadie drückte ihre Zigarette aus. Sie klang ruhig, aber ihr Blick drückte Sorge aus. »Kannst du dabei verletzt werden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Musst du fortgehen? Ich weiß nicht, ob ich es aushalten könnte, wenn du fortgehen müsstest. Als ich dort war, wäre ich lieber gestorben, als das zuzugeben, aber Reno war ein Albtraum. Dich endgültig zu verlieren …« Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, das könnte ich bestimmt nicht ertragen.«

»Ich will dich heiraten«, sagte ich.

»Mein Gott«, sagte sie leise. »Als ich mich gerade damit abfinden will, dass das nie passieren wird, will Jake-alias-George mich auf einmal heiraten.«

»Nicht sofort, aber wenn die kommende Woche so verläuft, wie ich hoffe … Willst du?«

»Natürlich. Aber ich habe noch eine klitzekleine Frage.«

»Ob ich ledig bin? Vor dem Gesetz unverheiratet? Willst du das wissen?«

Sie nickte.

»Das bin ich«, sagte ich.

Sie ließ zufrieden lächelnd einen komischen Seufzer hören. Dann wurde sie wieder ernst. »Kann ich dir helfen? Lass mich dir helfen.«

Bei dieser Vorstellung überlief es mich kalt, und das sah sie mir offenbar an.

Sie biss sich auf die Unterlippe. »So schlimm ist es also«, sagte sie nachdenklich.

»Ich will es mal so ausdrücken: Im Augenblick bin ich in der Nähe einer großen Maschine voller scharfer Zähne, die auf Hochtouren läuft. Solange ich daran herumpfusche, will ich dich nicht in meiner Nähe haben.«

»Wann ist es so weit?«, fragte sie. »Dein … ich weiß nicht … dein Rendezvous mit dem Schicksal?«

»Das steht noch nicht fest.« Obwohl ich das Gefühl hatte, schon zu viel gesagt zu haben, ging ich noch etwas weiter. »Am Mittwochabend wird etwas passieren. Etwas, was ich beobachten muss. Danach entscheide ich, wie es weitergeht.«

»Kann ich dir wirklich nicht helfen?«

»Ich glaube nicht, Schatz.«

»Sollte es doch eine Möglichkeit geben …«

»Danke«, sagte ich. »Das weiß ich zu schätzen. Und du willst mich wirklich heiraten?«

»Nachdem ich jetzt weiß, dass du Jake heißt? Natürlich.«

11

Am Montagmorgen gegen zehn Uhr hielt der Chevrolet am Randstein, und Marina fuhr mit Ruth Paine nach Irving hinaus. Ich hatte selbst etwas zu erledigen und wollte eben die Wohnung verlassen, als ich schwere Schritte die Außentreppe herunterpoltern hörte. Es war Lee, der blass und grimmig aussah. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht von einem schlimmen Ausbruch postpubertärer Akne getüpfelt. Er trug Jeans und dazu einen absurden Trenchcoat, der um seine Schienbeine flatterte. Er hielt einen Arm an den Körper gedrückt, als täten ihm die Rippen weh.

Oder als hätte er etwas unter dem Mantel. Vor dem Attentat hat Lee irgendwo in der Umgebung von Love Field sein neues Gewehr eingeschossen, hatte Al geschrieben. Mir war egal, wo genau er es einschießen ging. Viel mehr beschäftigte mich die Tatsache, dass ich ihm um ein Haar begegnet wäre. Erst dachte ich relativ unbekümmert, ich hätte einfach übersehen, dass er das Haus verlassen hatte, um zur Arbeit zu fahren, und …

Wieso war er an einem Montagmorgen eigentlich nicht in der Arbeit?

Ich verwarf diese Frage und verließ das Haus mit meiner Lehreraktentasche. Sie enthielt meinen Roman, den ich nie beenden würde, Als Notizen und die bis zur Gegenwart fortgeführte Schilderung meiner Abenteuer im Land des Einst.

Wenn Lee am Abend des 10. April nicht allein war, konnte ich von einem Mitverschwörer – vielleicht sogar von de Mohrenschildt selbst – entdeckt und ermordet werden. Das hielt ich zwar nach wie vor für unwahrscheinlich, aber die Chancen dafür, dass ich nach der Ermordung Oswalds flüchten musste, waren hoch. Ebenso wahrscheinlich war, dass ich verhaftet und wegen Mordes angeklagt wurde. Falls etwas Derartiges passierte, sollten Als Notizen und meine eigenen Aufzeichnungen niemand – beispielsweise der Polizei – in die Hände fallen.

An diesem 8. April hatte ich etwas Wichtiges zu erledigen: Ich musste meinen Papierkram aus der Wohnung schaffen und möglichst weit entfernt von dem verwirrten und aggressiven jungen Mann über mir deponieren. Ich fuhr zur First Corn Bank of Dallas und war nicht überrascht, als der Bankangestellte, der mir behilflich war, dem Hometown-Trust-Banker, der mir in Lisbon Falls geholfen hatte, täuschend ähnlich sah. Dieser Kerl hieß zwar Link statt Dusen, aber er sah dem alten kubanischen Orchesterleiter Xavier Cugat trotzdem fast unheimlich ähnlich.

Ich erkundigte mich nach Schließfächern. Wenig später lagen die Manuskripte im Schließfach 775. Ich fuhr in die Neely Street zurück, wo ich einen Augenblick echter Panik erlebte, weil ich auf einmal den gottverdammten Schließfachschlüssel nicht mehr finden konnte.

Reg dich ab, ermahnte ich mich. Er steckt irgendwo in einer Tasche, und selbst wenn er verloren ist, gibt dein neuer Kumpel Richard Link dir gern einen Zweitschlüssel. Kostet dich vielleicht ’nen Dollar.

Als hätte dieser Gedanke ihn zutage gefördert, fand ich den Schlüssel in einer Hosentasche unter losem Kleingeld. Ich fädelte ihn in meinen Schlüsselring ein, wo er sicher war. Sollte ich wirklich zum Kaninchenbau flüchten und nach einem kurzen Abstecher in die Gegenwart wieder in die Vergangenheit zurückmüssen, würde ich ihn immer noch haben … obwohl alles, was sich in den letzten viereinhalb Jahren ereignet hatte, durch den Neustart gelöscht werden würde. Die jetzt in dem Bankschließfach liegenden Manuskripte würden in der Zeit verloren gehen. Was vermutlich eine gute Nachricht war.

Die schlechte Nachricht war, dass mir auch Sadie abhandenkäme.

Kapitel 22

1

Der Nachmittag des 10. April 1963 war klar und warm, ein Vorgeschmack auf den Sommer. Ich zog Slacks und ein Sportsakko an, das ich in meinem Jahr als Lehrer an der Denholm Consolidated gekauft hatte. Der .38er Police Special wanderte voll geladen in meine Aktentasche. Ich kann mich nicht erinnern, nervös gewesen zu sein; als der Tag nun endlich da war, fühlte ich mich wie ein Mensch in einer Isolierhülle. Ich sah auf meine Uhr: halb vier.

Ich wollte wieder den Alpha-Beta-Parkplatz an der Wycliff Avenue benutzen. Den konnte ich bis 16.15 Uhr erreichen, auch wenn der Verkehr quer durch die Stadt dicht war. Dann würde ich die Gasse erkunden. Falls sie menschenleer war, was ich um diese Tageszeit erwartete, würde ich den Hohlraum hinter dem losen Brett kontrollieren. Stimmte Als Aussage, dass Lee das Carcano im Voraus versteckt hatte (obwohl er in Bezug auf den Ort danebenlag), würde es dort sein.

Anschließend würde ich für einige Zeit zu meinem Wagen zurückgehen und für den Fall, dass Lee frühzeitig kam, die Bushaltestelle beobachten. Sobald um 19 Uhr der Begrüßungsgottesdienst in der Mormonenkirche begann, würde ich zu dem Café schlendern, in dem es ganztägig Frühstück gab, und mir einen Fensterplatz suchen. Ich würde eine Kleinigkeit essen, obwohl ich keinen Hunger haben würde, und mir dabei viel Zeit lassen, die Busse beobachten und hoffen, dass Lee, wenn er endlich kam, allein ausstieg. Und natürlich würde ich darauf hoffen, dass ich George de Mohrenschildts Straßenkreuzer nicht zu Gesicht bekommen würde.

Zumindest war das der Plan.

Ich griff nach der Aktentasche und sah dabei nochmals auf meine Armbanduhr. Drei Uhr dreiunddreißig. Der Chevy war aufgetankt und abfahrbereit. Wäre ich wie geplant hinausgegangen und eingestiegen, hätte mein Telefon in einer leeren Wohnung geklingelt. Aber das tat ich nicht, weil jemand anklopfte, als ich eben nach dem Türknopf griff.

Als ich aufmachte, stand draußen Marina Oswald.

2

Im ersten Augenblick glotzte ich sie nur an, unfähig zu sprechen oder mich zu bewegen. Das lag vor allem an ihrem unerwarteten Besuch, hatte aber auch noch einen weiteren Grund. Bis sie in Person vor mir stand, war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ihre großen, blauen Augen denen Sadies ähnelten.

Marina ignorierte meine überraschte Reaktion oder nahm sie gar nicht wahr. Sie hatte selbst Probleme. »Bitte entschuldigen, haben Sie mein musch gesehen?« Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte leicht den Kopf. »Äh-Mann.« Sie versuchte zu lächeln, und obwohl sie jetzt mit hübsch überkronten Zähnen lächeln konnte, war dieser Versuch nicht sehr erfolgreich. »Sorry, Sir, nicht gut sprechen. Bin Weißrussland.«

Ich hörte jemand – vermutlich war ich das – fragen, ob sie den Mann meine, der über mir wohne.

»Ja, bitte, mein Äh-Mann, Lee. Wir leben oben in erste Stock. Diese unser malyschka … unser Baby.« Sie zeigte auf June, die am Fuß der Treppe in ihrem Sportwagen saß und zufrieden an einem Schnuller nuckelte. »Seit seine Arbeit verlieren, er gehen immer fort.« Sie versuchte sich wieder an einem Lächeln, und als sie dabei die Augen leicht zukniff, quoll eine Träne aus dem linken Augenwinkel und rollte über ihre Wange.

Aha. Der olle Bobby Stovall konnte anscheinend doch ohne seinen besten Fototechniker auskommen.

»Ich habe ihn nicht gesehen, Mrs. …« Beinahe hätte ich Oswald gesagt, konnte mich aber gerade noch beherrschen. Und das war auch gut, denn woher hätte ich ihren Namen wissen sollen? Sie bekamen anscheinend nie etwas ins Haus geliefert. Auf der Veranda gab es zwei Briefkästen, aber auf keinem stand ihr Name. Auch meiner stand auf keinem der beiden. Und auch ich bekam nichts ins Haus geliefert.

»Os’wal«, sagte sie und streckte mir die Hand hin. Ich schüttelte sie, war aber mehr denn je davon überzeugt, das alles nur im Traum zu erleben. Aber ihre kleine trockene Hand war nur allzu real. »Marina Os’wal. Ich bin freuen, Sie kennenlernen, Sir.«

»Tut mir leid, Mrs. Oswald, ich habe ihn heute nicht gesehen.« Das stimmte nicht: Ich hatte ihn kurz nach Mittag weggehen sehen, nicht lange nachdem Ruth Paines Kombi Marina und June nach Irving entführt hatte.

»Ich in Sorge für ihn«, sagte sie. »Er … ich weiß nicht … sorry. Will nicht Sie belästigen.« Sie lächelte wieder – das süßeste, traurigste Lächeln – und wischte sich langsam die Träne ab.

»Wenn ich ihn sehe …«

Jetzt wirkte sie besorgt. »Nein, nein, nicht ihm sagen. Ich nicht reden sollen mit Fremde. Er kommen heim zu Abendessen, vielleicht sicher.« Sie ging die Stufen hinunter und sprach auf russisch zu der Kleinen, die lachend ihre molligen Arme nach ihr ausstreckte. »Goodbye, Mister Sir. Viele Dank. Sie nicht etwas sagen?«

»Okay«, sagte ich. »Ich halte dicht!« Das verstand sie zwar nicht, aber sie wirkte erleichtert, als ich einen Finger auf die Lippen legte.

Ich schloss in Schweiß gebadet die Tür. Irgendwo konnte ich nicht nur den Flügelschlag eines Schmetterlings, sondern den eines ganzen Schwarms spüren.

Vielleicht hat es nichts zu bedeuten.

Ich beobachtete, wie Marina den Sportwagen mit June in Richtung Bushaltestelle schob, vielleicht um dort auf ihren Äh-Mann zu warten … der irgendetwas im Schilde führte. So viel wusste sie. Das hatte auf ihrem Gesicht gestanden.

Sobald sie außer Sicht war, griff ich nach dem Türknopf, und in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Ich hätte den Hörer fast nicht abgenommen, aber nur sehr wenige Leute wussten meine Nummer, und zu denen gehörte eine Frau, die mir sehr viel bedeutete.

»Hallo?«

»Hallo, Mr. Amberson«, sagte ein Mann mit leichtem Südstaatenakzent. Ich weiß nicht, ob ich sofort wusste, wer es war. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich glaube schon. »Hier ist jemand, der Ihnen etwas zu sagen hat.«

Ende 1962 und Anfang 1963 führte ich zwei Leben, eines in Dallas und eines in Jodie. Sie kamen am Nachmittag des 10. April um 15.39 Uhr zusammen. In meinem Ohr begann Sadie zu kreischen.

3

Sie wohnte im Westen von Jodie in der Bee Tree Lane in einem ebenerdigen Fertighaus im Ranchstil, das zu einer vier oder fünf Zeilen großen Wohnsiedlung aus identischen Häusern gehörte. In einem Geschichtsbuch aus dem Jahr 2011 hätte unter einer Luftaufnahme des Wohngebiets ERSTKÄUFERHÄUSER AUS DER JAHRHUNDERTMITTE stehen können. Nach einer Besprechung mit ihren Bibliothekshelfern, die nach dem Unterricht stattgefunden hatte, kam sie an diesem Nachmittag gegen drei Uhr nach Hause. Ich bezweifle, dass ihr der weiß-rote Plymouth Fury auffiel, der in einiger Entfernung am Randstein stand.

Schräg gegenüber, zwei oder drei Häuser weiter, wusch Mrs. Holloway ihren Wagen (eine Renault Dauphine, die die anderen Nachbarn mit gewissem Misstrauen betrachteten). Sadie winkte ihr zu, als sie aus ihrem VW Käfer stieg. Mrs. Holloway winkte zurück. Als einzige Besitzerinnen ausländischer (und irgendwie fremdartiger) Autos in diesem Viertel fühlten sie sich sonderbar verbunden.

Sadie folgte dem Weg zu ihrer Haustür und blieb einen Augenblick stirnrunzelnd davor stehen. Sie stand weit offen. Hatte sie sie so zurückgelassen? Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Das Schloss schnappte nicht ein, weil es aufgebrochen worden war, aber das merkte sie nicht. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt jetzt der Wand über dem Sofa. Dort standen mit ihrem Lippenstift geschrieben zwei Wörter in fast ein Meter hohen Lettern: DRECKIGE FOTZE.

Sie hätte jetzt wegrennen sollen, aber ihre Wut und Verzweiflung waren so groß, dass sie keinen Raum für Angst ließen. Sie wusste, wer das gewesen war, aber Johnny war sicher längst fort. Der Mann, den sie geheiratet hatte, schreckte vor körperlichen Auseinandersetzungen zurück. Oh, es hatte viele Beschimpfungen und manchmal auch einen Schlag ins Gesicht gegeben, aber darüber hinaus nichts.

Außerdem war ihre Unterwäsche über den ganzen Fußboden verstreut.

Sie bildete eine lückenhafte Fährte vom Wohnzimmer über den kurzen Flur bis in ihr Schlafzimmer. Alle Wäschestücke – Unterröcke, Halbröcke, Büstenhalter, Schlüpfer und der Hüfthalter, den sie eigentlich nicht brauchte, aber manchmal trug – waren zerschnitten oder aufgeschlitzt. Die Badezimmertür am Ende des Flurs stand offen. Der Handtuchhalter war heruntergerissen. Wo er montiert gewesen war, stand auf den Kacheln – wieder mit ihrem Lippenstift geschrieben – eine weitere Botschaft: DRECKIGER FICKER.

Auch ihre Schlafzimmertür stand offen. Sie näherte sich ihr und blieb auf der Schwelle stehen, ohne zu ahnen, dass hinter der Tür Johnny Clayton lauerte – mit einem Messer in der einen und einem Smith & Wesson Victory Kaliber .38 in der anderen Hand. Mit einem Revolver derselben Marke und desselben Modells, den er an diesem Tag trug, würde Lee Oswald in Dallas den Polizeibeamten J. D. Tippit erschießen.

Ihr kleines Schminktäschchen lag offen auf dem Bett, und sein Inhalt, hauptsächlich Make-up, war auf der Tagesdecke verstreut. Die Falttüren ihres Kleiderschranks standen offen. Einige ihrer Kleider hingen noch traurig schlaff auf den Bügeln, aber die meisten lagen auf dem Boden. Auch sie waren alle zerfetzt.

»Johnny, du Mistkerl!« Sie wollte diese Worte kreischen, aber der Schock war zu groß. Sie konnte nur flüstern.

Sie wollte zum Kleiderschrank gehen, kam aber nicht weit. Ein Arm schlang sich von hinten um ihren Hals, und ein kleiner Kreis aus Stahl bohrte sich ihr in die Schläfe. »Beweg dich nicht, wehr dich nicht. Wenn doch, bring ich dich um.«

Sie versuchte sich loszureißen, und er schlug ihr mit dem kurzen Revolverlauf auf den Kopf. Gleichzeitig drückte der Arm um ihren Hals fester zu. Sie sah das Messer in der Faust am Ende des Arms, der sie würgte, und hörte auf, sich zu wehren. Der Angreifer war Johnny – sie erkannte ihn an der Stimme –, aber er war nicht wirklich Johnny. Er hatte sich verändert.

Ich hätte auf ihn hören sollen, dachte sie (und meinte damit mich). Warum habe ich nicht auf ihn gehört?

Er trieb sie – sein Arm weiter um ihren Hals – vor sich her ins Wohnzimmer, dann drehte er sie um und stieß sie aufs Sofa, auf das sie mit gespreizten Beinen plumpste.

»Zieh dein Kleid runter. Ich kann deinen Strumpfhalter sehen, Hure.«

Er trug eine Latzhose (schon das genügte, damit sie sich wie in einem Traum fühlte) und hatte sich die Haare bizarr orange-blond gefärbt. Sie hätte beinahe gelacht.

Er setzte sich auf das Fußkissen vor ihr. Der Revolver zielte auf ihre Körpermitte. »Wir rufen jetzt deinen Stecher an.«

»Ich weiß nicht, was …«

»Amberson. Der Kerl, mit dem du in dem Stundenhotel drüben in Kileen Salamiverstecken spielst. Ich weiß alles darüber. Ich hab euch lange beobachtet.«

»Johnny, wenn du jetzt gehst, hole ich nicht die Polizei. Ich versprech’s dir. Obwohl du meine Kleider ruiniert hast.«

»Hurenkleider«, sagte er wegwerfend.

»Ich … ich weiß seine Nummer nicht.«

Ihr Adressbuch, das seinen Platz üblicherweise neben der Schreibmaschine in ihrem kleinen Arbeitszimmer hatte, lag aufgeschlagen neben dem Telefon. »Ich schon. Sie steht auf der ersten Seite. Ich hab erst unter S wie Stecher nachgesehen, aber dort steht sie nicht. Das Gespräch melde ich an, damit du nicht auf die Idee kommst, etwas zu der Telefonistin zu sagen. Dann redest du mit ihm.«

»Das werde ich nicht, Johnny, nicht wenn du vorhast, ihm etwas zu tun.«

Er beugte sich vor. Seine bizarr orangeblonden Haare fielen ihm in die Augen, und er strich sie mit der Revolverhand zurück. Dann benutzte er die Messerhand, um den Hörer von der Gabel zu nehmen. Der Revolver zielte weiter fest auf ihre Körpermitte. »Die Sache ist folgende, Sadie«, sagte er in fast sachlichem Ton. »Ich werde einen von euch beiden umbringen. Der andere darf weiterleben. Du entscheidest, wen es treffen soll.«

Das war sein voller Ernst. Sie sah es auf seinem Gesicht. »Was … was ist, wenn er nicht zu Hause ist?«

Er schmunzelte über ihre Dummheit. »Dann stirbst du, Sadie.«

Sie muss gedacht haben: Ich werde auf Zeit spielen. Von Dallas nach Jodie sind es mindestens drei Stunden, bei starkem Verkehr auch mehr. Zeit genug, damit Johnny zur Vernunft kommen kann. Vielleicht. Oder dass er einen Augenblick unaufmerksam ist, damit ich ihm etwas an den Kopf werfen und aus dem Haus stürmen kann.

Ohne ins Adressbuch zu sehen (sein Zahlengedächtnis war schon immer nahezu perfekt gewesen), wählte er 0 und verlangte WEstbrook 7-5430. Hörte der Dame von der Vermittlung zu. Sagte: »Danke.«

Dann Stille. Irgendwo, über hundert Meilen weit nördlich, klingelte ein Telefon. Sie muss sich gefragt haben, wie oft Johnny es klingeln lassen würde, bevor er auflegte und sie in den Bauch schoss.

Dann veränderte sich seine Miene. Sie hellte sich auf, und er lächelte sogar etwas. Seine Zähne waren immer noch so weiß wie früher, fiel ihr auf. Kein Wunder, er hatte sie sich jeden Tag mindestens ein halbes Dutzend Mal geputzt. »Hallo, Mr. Amberson. Hier ist jemand, der Ihnen etwas zu sagen hat.«

Er stand von dem Sitzkissen auf und übergab Sadie den Hörer. Als sie ihn ans Ohr hob, stieß er blitzschnell wie eine zustoßende Schlange mit dem Messer zu und schlitzte ihr die Gesichtsseite auf.

4

»Was haben Sie ihr getan?«, brüllte ich. »Was haben Sie ihr getan, Sie Scheißkerl?«

»Still, Mr. Amberson.« Er klang amüsiert. Sadie kreischte nicht mehr, aber ich konnte sie schluchzen hören. »Sie wird’s überleben. Sie blutet ziemlich stark, aber das hört irgendwann auf. Er machte eine Pause, dann sprach er im Ton nüchterner Betrachtung weiter: »Natürlich wird sie dann nicht mehr so hübsch sein. Jetzt sieht sie nach dem aus, was sie ist, nur eine billige Vierdollarhure. Meine Mutter hat gesagt, dass sie eine ist, und meine Mutter hatte recht.«

»Lassen Sie sie frei, Clayton«, sagte ich. »Bitte.«

»Ich möchte sie laufen lassen. Nachdem ich sie gezeichnet habe, möchte ich das. Aber es gibt da eine Sache, von der ich ihr schon erzählt habe, Mr. Amberson. Ich werde einen von euch beiden umbringen. Sie hat mich meinen Job gekostet, müssen Sie wissen; ich musste kündigen und mich in einer Klinik mit Elektroschocks behandeln lassen, sonst hätten sie mich verhaftet.« Er machte eine Pause. »Ich habe ein Mädchen die Treppe runtergestoßen. Es hat versucht, mich zu berühren. Alles die Schuld dieser Schlampe, die jetzt hier sitzt und sich den Schoß vollblutet. Auch ich habe Blut an den Händen. Ich werde ein Desinfektionsmittel brauchen.« Darauf lachte er.

»Clayton …«

»Ich gebe Ihnen dreieinhalb Stunden Zeit, Stecher. Bis halb acht. Dann verpasse ich ihr zwei Kugeln. Eine in den Bauch und eine in ihre dreckige Fotze.«

Im Hintergrund hörte ich Sadie schreien: »Tu das nicht, Jacob!«

»SCHNAUZE!«, brüllte Clayton sie an. »HALT’S MAUL!« Dann fragte er mich in erschreckend lockerem Plauderton: »Wer ist Jacob?«

»Ich«, sagte ich. »Das ist mein zweiter Vorname.«

»Nennt sie Sie so im Bett, wenn sie Ihnen den Schwanz lutscht, Stecher?«

»Clayton«, sagte ich. »Johnny. Überlegen Sie, was Sie tun.«

»Darüber habe ich über ein Jahr lang nachgedacht. Darüber nachgedacht und davon geträumt. In der elektrischen Klinik haben sie mich mit Schocks behandelt, wissen Sie. Sie haben gesagt, sie würden die Träume stoppen, aber das haben sie nicht getan. Sie haben sie verschlimmert.«

»Wie schlimm ist die Wunde? Lassen Sie mich mit ihr reden.«

»Nein.«

»Wenn Sie mich mit ihr reden lassen, tue ich, was Sie verlangen. Wenn Sie sich weigern, tue ich es ganz sicher nicht. Sind Sie von Ihrer Schocktherapie zu bekloppt, das zu kapieren?«

Anscheinend war er das nicht. Ich hörte ein Schlurfen, dann war Sadie am Apparat. Ihre Stimme klang schwach und zittrig. »Es ist schlimm, aber ich werd’s überleben.« Sie senkte die Stimme. »Er hat mein Auge nur knapp ver…«

Dann war wieder Clayton zu hören. »Sehen Sie? Ihr kleines Flittchen ist okay. Sie springen also in Ihren aufgemotzten Chevrolet und fahren hier raus, so schnell die Räder rollen können, wie wäre das? Aber hören Sie mir gut zu, Mr. George Jacob Amberson Stecher. Wenn Sie die Polizei anrufen, wenn ich ein einziges rotes oder blaues Blinklicht sehe, erschieße ich erst diese Schlampe und dann mich selbst. Glauben Sie mir das?«

»Ja.«

»Gut. Ich sehe hier eine Gleichung mit gleich großen Seiten: der Stecher und die Nutte. Ich stehe in der Mitte. Ich bin das Gleichheitszeichen, Amberson, aber Sie müssen entscheiden. Welche Seite wird weggekürzt? Das ist Ihre Entscheidung.«

»Nein!«, kreischte Sadie. »Tu’s nicht! Wenn du herkommst, bringt er nur uns bei…«

In meinem Hörer klickte es.

5

Ich habe bisher die Wahrheit erzählt und werde sie weiterhin erzählen, auch wenn sie mich in denkbar schlechtem Licht erscheinen lässt: Als meine gefühllose Hand den Hörer auflegte, war mein erster Gedanke, dass er sich geirrt hatte, weil die Seiten nicht ausgeglichen waren. In einer Waagschale lag eine attraktive Highschool-Bibliothekarin. In der anderen ein Mann, der die Zukunft kannte und sie – zumindest theoretisch – ändern konnte. Eine Sekunde lang spielte ich irgendwie tatsächlich mit dem Gedanken, Sadie zu opfern und quer durch die Stadt zu fahren, um die zwischen Oak Lawn Avenue und Turtle Creek Boulevard verlaufende Gasse zu beobachten und festzustellen, ob der Mann, der die amerikanische Geschichte ändern würde, diesmal allein war.

Dann setzte ich mich in meinen Chevy, um nach Jodie zu fahren. Sobald ich auf dem Highway 77 war, brachte ich die Tachonadel auf siebzig Meilen und hielt sie dort. Unterwegs öffnete ich die Laschen meiner Aktentasche, holte meinen Revolver heraus und ließ ihn in die Innentasche meines Sportsakkos gleiten.

Inzwischen war mir klar, dass ich Dekes Hilfe brauchte. Er war zwar alt und nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, aber es gab einfach niemand andres. Und er würde hineingezogen werden wollen, sagte ich mir. Auch er liebte Sadie. Das merkte man ihm an, wenn er sie nur ansah.

Und er hat sein Leben gelebt, sagte mein eiskalter Verstand mir. Sie noch nicht. Außerdem bekommt er dieselbe Chance, die der Verrückte dir gegeben hat. Er braucht sich nicht einzumischen.

Aber er würde es tun. Manche Dinge, bei denen wir die Wahl zu haben schienen, ließen uns in Wirklichkeit überhaupt keine.

Mein längst entsorgtes Handy hatte ich mir nie sehnlicher zurückgewünscht als jetzt auf dieser Fahrt von Dallas nach Jodie. Die zweitbeste Lösung war ein Münztelefon in einer Tankstelle an der SR 109, ungefähr eine halbe Meile nach der Football-Werbetafel. Das Telefon am anderen Ende klingelte dreimal … viermal … fünfmal …

Als ich gerade den Hörer einhängen wollte, sagte Deke: »Hallo? Hallo?« Er klang gereizt und außer Atem.

»Deke? Ich bin’s, George,«

»He, Junge!« Jetzt klang die heutige Version von Bill Turcotte (aus dem beliebten Dauerbrenner Der mörderische Ehegatte) nicht mehr gereizt, sondern erfreut. »Ich war draußen im Garten, weißt du. Ich hätte des Telefon beinahe klingeln lassen, aber dann …«

»Halt den Mund und hör zu. Bei euch ist was Schlimmes passiert. Und es geht weiter. Sadie ist verletzt worden – schlimm, glaub ich.«

Nun folgte eine sehr kurze Pause. Als Deke wieder sprach, klang seine Stimme jünger: wie die des robusten Kerls, der er vor vierzig Jahren und zwei Ehen zweifellos gewesen war. Vielleicht suggerierte mir das auch nur meine Hoffnung. Heute Abend waren Hoffnung und ein Mann Ende sechzig alles, was ich hatte. »Du redest von ihrem Mann, stimmt’s? Daran bin ich schuld. Ich habe ihn gesehen, glaub ich, aber das ist schon zwei Wochen her. Und seine Haare waren viel länger als auf dem Foto in dem Schuljahrbuch. Es war auch anders gefärbt. Es war fast orange.« Eine weitere kurze Pause, dann folgte ein Wort, das ich noch nie von ihm gehört hatte: »Scheiße!«

Ich erzählte ihm, was Clayton verlange – und was ich dagegen tun wolle. Mein Plan war ziemlich simpel. Die Vergangenheit wollte mit sich selbst harmonieren? Na schön, meinetwegen. Das konnte bedeuten, dass Deke wie Turcotte einen Herzanfall bekäme, aber davon würde ich mich nicht aufhalten lassen. Nichts würde mich aufhalten können. Hier ging es um Sadie.

Ich wartete darauf, dass Deke fragen würde, ob es nicht besser sei, den Fall der Polizei zu übergeben, aber er wusste natürlich, dass das zwecklos gewesen wäre. Doug Reems, der dortige Polizeibeamte, sah schlecht, trug eine Beinschiene und war noch älter als Deke. Ebenso fragte Deke auch nicht, ob ich aus Dallas die State Police angerufen hätte. Hätte er gefragt, hätte ich ihm versichert, dass Claytons Drohung, Sadie beim ersten eintreffenden Blinklicht zu ermorden, durchaus ernst gemeint sei. Das stimmte zwar, aber es war nicht der wahre Grund. In Wirklichkeit wollte ich den Scheißkerl selbst erledigen.

Ich kochte vor Wut.

»Um welche Zeit erwartet er dich, George?«

»Bis spätestens halb acht.«

»Und jetzt ist es … nach meiner Uhr Viertel vor sieben. Also haben wir noch ein bisschen Zeit. Die Straße hinter der Bee Tree Lane heißt Apple Irgendwas. Den genauen Namen hab ich vergessen. Dort bist du dann?«

»Richtig. Vor dem Haus hinter ihrem.«

»Wir können uns dort in fünf Minuten treffen.«

»Klar, wenn du wie ein Verrückter rast. Sagen wir lieber zehn. Und bring ein Requisit mit. Irgendwas, was er durchs Wohnzimmerfenster sehen kann. Ich weiß nicht, vielleicht ein …«

»Wie wär’s mit einem Schmortopf?«

»Bestens. Wir sehen uns in zehn Minuten.«

Bevor ich den Hörer einhängen konnte, fragte er: »Hast du eine Waffe?«

»Ja.«

Seine Antwort klang wie ein Knurren. »Gut!«

6

Die Straße hinter Doris Dunnings Haus war die Wyemore Lane gewesen. Hinter Sadies Haus lag der Apple Blossom Way. Das Haus Wyemore Lane 202 war zu verkaufen gewesen. Vor dem Haus Apple Blossom Way 140 stand kein Zu-verkaufen-Schild, aber es war dunkel, und der ungepflegte Rasen war mit Löwenzahn gesprenkelt. Ich parkte davor und sah auf meine Uhr. Zehn vor sieben.

Zwei Minuten später hielt Dekes Ranch Wagon hinter meinem Chevy und stieg aus. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd und einen Bolo Tie. In den Händen hielt er einen Schmortopf mit Blumendekor. Er hatte einen Glasdeckel und schien drei bis vier Liter Eintopf fassen zu können.

»Deke, ich kann dir nicht genug …«

»Ich hab keinen Dank verdient. Ich verdiene einen Tritt in den Hintern. Als ich ihn gesehen habe, ist er aus dem Büro von Western Auto gekommen, als ich gerade reingegangen bin. Dieser Kerl muss Clayton gewesen sein. Der Tag war windig. Ein Windstoß hat ihm die Haare aus dem Gesicht geweht, und ich habe flüchtig die markant eingesunkenen Schläfen gesehen. Aber seine Haare … viel länger und komisch gefärbt … seine Cowboyklamotten … Scheiße.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde eben alt. Sollte Sadie was zustoßen, könnte ich mir das nie verzeihen.«

»Alles in Ordnung mit dir? Keine Brustschmerzen oder irgendwas in der Art?«

Er starrte mich an, als wäre ich verrückt. »Wollen wir hier stehen und über meinen Gesundheitszustand diskutieren, oder wollen wir versuchen, Sadie aus ihrer schlimmen Lage zu befreien?«

»Wir versuchen es nicht nur. Du gehst hintenrum zu ihrem Haus. Ich durchquere inzwischen den Garten hier, um durch die Hecke in Sadies zu gelangen.« Ich dachte dabei natürlich an das Haus der Dunnings in der Kossuth Street, aber noch während ich sprach, fiel mir ein, dass ja auch Sadies Garten von einer Hecke begrenzt wurde. Die hatte ich oft genug gesehen. »Du klopfst an und sagst etwas Fröhliches. So laut, dass ich es hören kann. Ich bin dann schon in der Küche.«

»Was ist, wenn die Hintertür abgeschlossen ist?«

»Sie hat unter der Treppe einen Schlüssel versteckt.«

»Okay.« Deke überlegte einen Augenblick lang mit gerunzelter Stirn, dann hob er den Kopf. »Ich werde ›Firma Avon, Schmortopfsonderzustellung‹ sagen. Und dabei den Topf hochheben, damit er ihn durchs Wohnzimmerfenster sehen kann. Genügt das?«

»Ja. Du sollst ihn nur ein paar Sekunden lang ablenken.«

»Schieß bloß nicht, wenn du Sadie treffen könntest! Nimm ihn dir selbst vor. Du bist ihm garantiert überlegen. Der Kerl, den ich gesehen habe, war dünn wie eine Bohnenstange.«

Wir wechselten einen trübseligen Blick. Ein Plan dieser Art konnte bei Rauchende Colts oder Maverick funktionieren, aber niemals im richtigen Leben. Im richtigen Leben kriegten manchmal die guten Kerle – oder Mädels – eine Abreibung. Oder ließen ihr Leben.

7

Der Garten hinter dem Haus am Apple Blossom Way war mit dem hinter dem Haus der Dunnings nicht ganz identisch, aber es gab Ähnlichkeiten. Beispielsweise gab es hier eine Hundehütte, über der allerdings nicht IHR KÖTER GEHÖRT HIERHER stand. Stattdessen standen über dem bogenförmigen Eingang in ungelenker Kinderschrift die Wörter BUTCH SEIN HAUSS. Aber es gab keine Kids, die Süßes oder Saures forderten. Falsche Jahreszeit.

Die Hecke sah jedoch genau gleich aus.

Ich zwängte mich hindurch und achtete kaum darauf, dass die steifen Zweige mir die Arme zerkratzten. Ich hetzte geduckt über Sadies Rasen und versuchte die Hintertür zu öffnen. Abgeschlossen. Als ich unter der Treppe nach dem Schlüssel tastete, war ich davon überzeugt, dass er nicht mehr dort liegen würde, weil die Vergangenheit zwar für Harmonie sorgte, aber auch unerbittlich war.

Der Schlüssel lag noch dort. Ich angelte ihn hervor, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn. Als der Riegel zurücksprang, war drinnen ein lautes Klicken zu hören. Ich erstarrte und wartete auf einen besorgten Ausruf. Er blieb aus. Im Wohnzimmer brannte Licht, aber ich hörte keine Stimmen. Vielleicht war Sadie schon tot und Clayton längst weg.

Gott, bitte nicht.

Aber als ich die Tür lautlos einen Spaltbreit öffnete, hörte ich ihn. So halblaut leiernd hörte er sich an wie Billy James Hargis auf Tranquilizern. Er erzählte ihr, was für eine Hure sie sei und wie sie sein Leben ruiniert habe. Vielleicht sprach er auch von der jungen Frau, die ihn zu berühren versucht hatte. Für Johnny Clayton waren sie alle gleich: sexhungrige Krankheitsträgerinnen. Die musste man in die Schranken weisen. Und dazu brauchte man den Besenstiel.

Ich streifte meine Schuhe ab und stellte sie aufs Linoleum. Die Lampe über der Spüle brannte. Ich überprüfte meinen Schatten, um sicherzugehen, dass er nicht vor mir her ins Wohnzimmer fiel. Ich zog den Revolver aus der Innentasche meines Sportsakkos und wollte damit neben der Wohnzimmertür stehend warten, bis eine fröhliche Stimme Firma Avon! sagte. Dann würde ich hineinstürmen.

Nur lief das alles nicht so ab. Als Deke etwas ausrief, klang er alles andere als fröhlich. Stattdessen hörte ich einen empörten Wutschrei. Und der kam nicht von draußen vor der Haustür, sondern von drinnen.

»O mein Gott! Sadie!«

Danach passierte alles sehr, sehr schnell.

8

Weil Clayton die Haustür aufgebrochen hatte, ließ sie sich nicht mehr schließen. Sadie hatte das nicht bemerkt, aber Deke merkte es sofort. Statt anzuklopfen, stieß er die Tür auf und trat mit dem Schmortopf in beiden Händen ein. Clayton saß weiter auf dem Fußkissen und bedrohte Sadie mit dem Revolver, hatte aber das Messer hinter sich auf dem Boden abgelegt. Deke sagte später aus, er habe nicht einmal gewusst, dass Clayton ein Messer gehabt habe. Ich gehe sogar davon aus, dass er auch Claytons Revolver nicht wahrnahm. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf Sadie konzentriert. Die obere Hälfte ihrer blauen Bluse war jetzt schlammig rotbraun verfärbt. Ihr Arm und die Sofalehne, auf die er gestützt war, waren mit Blut bedeckt. Das Schlimmste war jedoch ihr Gesicht, das sie ihm zukehrte. Ihre linke Wange hing wie ein zerrissener Vorhang in zwei Lappen herab.

»O mein Gott! Sadie!« Aus seinem spontanen Aufschrei sprach das reine Entsetzen.

Clayton drehte sich zu ihm um und zog knurrend die Oberlippe hoch. Er hob seinen Revolver. Das sah ich, als ich aus der Küche ins Wohnzimmer gestürmt kam. Und ich sah, wie Sadie ein Bein streckte und mit aller Kraft gegen das Sitzkissen trat. Clayton drückte ab, aber der Schuss ging in die Zimmerdecke. Als er aufzuspringen wollte, warf Deke den Schmortopf. Der Deckel flog weg. Nudeln, Hackfleisch, grüne Paprika und Tomatensauce spritzten fächerförmig heraus. Der noch gut halb volle Schmortopf traf Claytons rechten Arm. Das Nudelgericht lief heraus. Der Revolver flog davon.

Ich sah das Blut. Ich sah Sadies zerfetztes Gesicht. Ich sah Clayton auf dem mit Blut befleckten Teppich kauern und hob meinen Revolver.

»Nein!«, kreischte Sadie. »Bitte nicht!«

Das brachte mich wie eine Ohrfeige zu Bewusstsein. Wenn ich ihn erschoss, würde die Polizei gegen mich ermitteln, selbst wenn ich in Notwehr gehandelt hätte. Meine Identität als George Amberson würde sich verflüchtigen – und mit ihr jegliche Chance, das Attentat im November zu verhindern. Und wie hätte ich schon groß auf Notwehr plädieren können. Der Mann vor mir war entwaffnet.

Wenigstens glaubte ich das, denn auch ich sah das Messer nicht. Es war unter dem umgekippten Sitzkissen verborgen. Selbst wenn es offen dagelegen hätte, hätte ich es übersehen können.

Ich steckte den Revolver in meine Gesäßtasche und riss Clayton hoch.

»Sie dürfen mich nicht schlagen!« Speichel flog von seinen Lippen. Seine Lider flatterten wie bei einem epileptischen Anfall. Seine Blase entleerte sich; ich hörte ihren Inhalt auf den Teppich platschen. »Ich bin geistesgestört, ich bin für nichts verantwortlich, mich kann niemand zur Rechenschaft ziehen, ich habe eine Bescheinigung, sie liegt im Handschuhfach meines Wagens, ich zeige sie Ih…«

Seine winselnde Stimme, das nackte Entsetzen auf seinem Gesicht, nachdem er nun entwaffnet war, seine orangeblonden Haare, die ihm strähnig ins Gesicht hingen, sogar der Geruch des Nudelgerichts … alle diese Dinge machten mich wütend. Aber schlimmer als alles andere war Sadie, die mit Blut bedeckt auf dem Sofa hockte. Ihre Haare hingen aus der aufgelösten Frisur herab und waren vor der linken Gesichtshälfte zu einem blutigen Knoten verklumpt. Sie würde ihre Narbe an derselben Stelle tragen wie Bobbi Jill, natürlich würde sie das, weil die Vergangenheit harmonisierte, aber Sadies Verletzung sah so viel schlimmer aus!

Ich schlug ihm mit der Rechten so fest ins Gesicht, dass ihm der Speichel aus dem linken Mundwinkel flog. »Du verdammter Scheißkerl, das ist für den Besen!«

Dann kam meine Linke dran. Diesmal flog ihm der Speichel aus dem rechten Mundwinkel, und ich genoss sein Heulen auf die verbitterte, unglückliche Weise, die nur für die schlimmsten Fälle reserviert war. In denen die Untat so groß war, dass es keine Wiedergutmachung geben konnte. Auch keine Vergebung. »Das ist für Sadie!«

Ich ballte die Faust. In irgendeiner anderen Welt brüllte Deke ins Telefon. Und rieb er sich dabei die Brust, wie Turcotte sich seine gerieben hatte? Nein. Zumindest noch nicht. In dieser gleichen anderen Welt stöhnte Sadie laut. »Und das ist für mich!«

Ich boxte ihm ins Gesicht, und – ich habe versprochen, die Wahrheit zu sagen, bis ins kleinste Detail – als sein Nasenbein zersplitterte, war sein gellender Aufschrei Musik in meinen Ohren. Ich ließ ihn los, und er sackte zusammen.

Dann wandte ich mich Sadie zu.

Sie versuchte aufzustehen, sank aber wieder zurück. Sie versuchte die Arme nach mir auszustrecken, war aber auch dafür zu schwach. Sie sanken auf ihre durchblutete Kleidung hinab. Als sie die Augen verdrehte, war ich mir sicher, dass sie ohnmächtig werden würde, aber sie hielt durch. »Du bist gekommen«, flüsterte sie. »Oh, Jake, du bist gekommen, um mich zu retten. Ihr seid beide gekommen.«

»Bee Tree Lane!«, brüllte Deke ins Telefon. »Nein, ich weiß die Nummer nicht, hab sie vergessen, aber draußen steht ein alter Mann mit Nudeln auf dem Anzug und schwenkt die Arme! Beeilt euch! Sie hat verdammt viel Blut verloren!«

»Bleib sitzen«, sagte ich. »Versuch nicht, dich …«

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah über meine Schulter. »Vorsicht! Jake, hinter dir!«

Ich warf mich herum und versuchte gleichzeitig, meinen Revolver zu ziehen. Auch Deke, der den Telefonhörer wie eine Keule in seinen von Arthritis knotigen Händen hielt, drehte sich um. Aber obwohl Clayton das Messer in der Hand hielt, mit dem er Sadie entstellt hatte, würde er nie mehr jemand angreifen. Das heißt, niemand außer sich selbst.

Es war eine weitere Szene, die ich schon einmal erlebt hatte: auf der Greenville Avenue, nicht lange nach meiner Ankunft in Texas. Hier tönte nicht Muddy Waters aus dem Desert Rose, aber hier gab es eine weitere schwer verletzte Frau und einen weiteren Mann, dessen zertrümmerte Nase blutete und dessen aus der Hose gezogenes Hemd bis fast zu den Knien flatterte. Er hielt statt einer Pistole ein Messer in der Hand, aber sonst waren die Bilder sich verblüffend ähnlich.

»Nein, Clayton!«, rief ich. »Weg damit!«

Seine zwischen orangeblonden Haarsträhnen sichtbaren Augen drohten aus ihren Höhlen zu quellen, während er die benommene, halb bewusstlose Frau auf dem Sofa anstarrte. »Ist es das, was du willst, Sadie?«, schrie er. »Wenn du das willst, sollst du’s kriegen!«

Verzweifelt grinsend setzte er die Klinge an seine Kehle … und schnitt sie sich durch.

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