1
Genau wie zuvor ging ich die Seite des Trockenschuppens entlang. Ich schlüpfte unter der Kette hindurch, an der genau wie zuvor ein Schild mit der Aufschrift AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST hing. Als ich genau wie zuvor um die Ecke des großen, grün gestrichenen, würfelförmigen Gebäudes bog, prallte etwas mit mir zusammen. Ich bin nicht besonders schwer für meine Größe, aber ich habe etwas Fleisch auf den Knochen – »Dich bläst so leicht kein Sturm um«, pflegte mein Vater zu sagen –, und trotzdem holte mich der Mann mit der gelben Karte fast von den Beinen. Es war, als würde man von einem schwarzen Mantel voller flatternder Vögel angegriffen. Dazu schrie er etwas, aber ich war zu erschrocken (nicht wirklich verängstigt, dazu passierte alles viel zu schnell), als dass ich ihn verstanden hätte.
Ich stieß ihn weg, und er torkelte rückwärts gegen den Trockenschuppen, wobei sein schwarzer Mantel um seine Beine wirbelte. Sein Hinterkopf schlug dumpf an Metall, und sein schmuddeliger Fedora fiel zu Boden. Er folgte ihm nach unten – nicht in einem Durcheinander aus Armen und Beinen, sondern indem er sich ziehharmonikaartig zusammenfaltete. Was ich getan hatte, bedauerte ich, schon bevor mein Herz zu seinem normalen Rhythmus zurückgefunden hatte. Ich bedauerte es noch mehr, als er den Hut aufhob und ihn mit seiner schmutzigen Hand abzureiben begann. Dieser Hut würde nie mehr sauber werden – und sein Besitzer vermutlich erst recht nicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich, aber als ich mich bückte, um seine Schulter zu berühren, robbte er hastig den Schuppen entlang von mir weg. Ich würde sagen, er habe wie eine verkrüppelte Spinne ausgesehen, aber so sah er nicht aus. Er sah genau aus wie das, was er war: ein Säufer mit Gehirnerweichung. Ein Mann, der dem Tod vielleicht so nahe war wie Al Templeton, weil es im Amerika der Fünfzigerjahre für Kerle wie ihn vermutlich keine von Wohltätigkeitsorganisationen getragenen Obdachlosen- oder Pflegeheime gab. Hätte er jemals eine Uniform getragen, würde die Veterans Administration sich um ihn kümmern – aber wer würde ihn zur VA schaffen? Vermutlich niemand, obwohl jemand – am ehesten ein Vorarbeiter der Weberei – ihn vielleicht von den Cops abholen lassen würde. Die würden ihn vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden lang in die Ausnüchterungszelle stecken. Wenn er dort drinnen nicht an von Delirium tremens ausgelösten Krämpfen starb, würden sie ihn entlassen und so den nächsten Zyklus beginnen. Ich wünschte mir unwillkürlich, meine Exfrau wäre hier – sie hätte ein AA-Meeting gefunden und ihn dorthin mitgeschleppt. Nur würde Christy erst in einundzwanzig Jahren geboren werden.
Ich nahm meine Aktentasche zwischen die Beine und streckte die Hände aus, um ihm zu zeigen, dass sie leer waren, aber er wich noch weiter den Trockenschuppen entlang vor mir zurück. Speichel glänzte an seinem stoppeligen Kinn. Ich vergewisserte mich mit einem kurzen Blick, dass wir keine Aufmerksamkeit erregten, stellte fest, dass wir diesen Teil des Fabrikhofs für uns allein hatten, und versuchte es noch einmal. »Ich habe Sie nur weggestoßen, weil Sie mich erschreckt haben.«
»Scheiße, wer bist du?«, krächzte er, wobei seine Stimme durch ungefähr fünf Tonlagen wechselte. Hätte ich diese Frage nicht bei meinem letzten Besuch gehört, hätte ich keine Ahnung gehabt, was er da fragte … Und war die Betonung dieses Mal nicht etwas anders, auch wenn er so undeutlich sprach wie zuvor? Anscheinend, auch wenn ich mir meiner Sache nicht ganz sicher war. Er ist harmlos, aber nicht wie alle anderen, hatte Al gesagt. Als ob er etwas wüsste. Nach Als Ansicht kam das daher, dass der Kerl sich am 9. September 1958 um 11.58 Uhr zufällig in der Nähe des Kaninchenbaus gesonnt hatte und für dessen Einfluss empfindlich war. Wie man auf einem Fernsehschirm Bildstörungen erzeugen konnte, wenn man in seiner Nähe einen Mixer laufen ließ. Vielleicht war es das. Oder, zum Teufel, vielleicht kam das auch nur vom Suff.
»Niemand, der wichtig ist«, sagte ich mit meiner sanftesten Stimme. »Niemand, der dir was Böses will. Mein Name ist George. Wie heißt du?«
»Arschloch!«, knurrte er und kroch noch weiter von mir weg. Wenn er so hieß, hatte er zweifellos einen ungewöhnlichen Namen. »Du gehörst nicht hierher!«
»Keine Sorge, ich gehe schon«, sagte ich. Als ich meine Aktentasche in die Hand nahm, um meine Aufrichtigkeit zu beweisen, zog er seine schmalen Schultern bis zu den Ohren hoch, als rechnete er damit, ich würde damit nach ihm werfen. Er war wie ein Hund, der so oft geschlagen worden war, dass er keine andere Behandlung mehr erwartete. »Ich tu dir nichts, okay?«
»Verschwinde, Scheißkerl! Geh zurück, wo du herkommst, und lass mich in Ruhe!«
»Abgemacht.« Ich war noch dabei, mich von dem Schrecken zu erholen, den er mir eingejagt hatte, und das Restadrenalin vermischte sich auf üble Weise mit dem Mitleid, das ich empfand – von meiner Verärgerung ganz zu schweigen. Derselbe Ärger, den ich jedes Mal über Christy empfunden hatte, wenn ich sie beim Heimkommen trotz aller Versprechen, sich zusammenzureißen, sich zu bessern und keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren, schwer angetrunken, fast schon besoffen antraf. Zusammen mit der Hitze dieses Spätsommertags bewirkten alle diese Emotionen, dass mir ein bisschen schlecht war. Vielleicht nicht der beste Auftakt für einen Rettungsversuch.
Ich dachte an die Kennebec Fruit und daran, wie gut das Root Beer gewesen war; ich konnte die leichte Dampfwolke aus der Eiscremekühlung vor mir sehen, als Frank Anicetti senior das große bereifte Glas herausgeholt hatte. Außerdem war es dort drinnen herrlich kühl gewesen. Ich setzte mich ohne weitere Umstände dorthin in Bewegung, wobei meine neue (aber an den Ecken sorgfältig gealterte) Aktentasche leicht gegen meine rechte Knieseite schlug.
»He! He, du, Arschgesicht!«
Ich drehte mich um. Der Säufer kämpfte sich auf die Beine, indem er sich mühsam an der Seite des Trockenschuppens hochzog. Er hatte seinen Hut an sich gerafft und hielt ihn zerdrückt an die Brust gepresst. Jetzt begann er daran herumzufummeln. »Ich hab ’ne gelbe Karte vom Greenfront, also gib mir ’nen Dollar, Arschloch, heute ist nämlich Zwei-für-eins-Tag.«
Wir waren zum Drehbuch zurückgekehrt. Das war beruhigend. Trotzdem achtete ich darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen. Ich wollte ihn nicht erschrecken oder einen weiteren Angriff provozieren. Ich machte zwei Schritte vor ihm halt und streckte die Hand aus. Das Geldstück, das Al mir mitgegeben hatte, glänzte in meiner Handfläche. »Ich hab keinen Dollar übrig, aber hier ist ein halber.«
Er zögerte, jetzt mit dem Hut in der linken Hand. »Verlang jetzt bloß keinen Blowjob.«
»Verlockend, aber ich kann der Versuchung irgendwie widerstehen.«
»Hä?« Er starrte das Fünfzigcentstück, dann mein Gesicht, dann wieder das Geldstück an. Als er die rechte Hand hob, um sich den Sabber vom Kinn zu wischen, sah ich eine weitere winzige Veränderung im Vergleich zum letzten Mal. Nichts Weltbewegendes, aber doch genug, dass ich mich fragte, ob Als Behauptung, dass jede Rückkehr einen kompletten Neustart bedeutete, zutreffend war.
»Ob du’s nimmst oder nicht, ist mir egal, aber entscheide dich«, sagte ich. »Ich hab viel zu tun.«
Er schnappte sich das Geldstück und wich dann wieder an die Wand des Trockenschuppens zurück. Seine weit aufgerissenen Augen waren feucht. Die Sabberspur an seinem Kinn war wieder da. Auf der Welt gab es wirklich nichts Glamouröseres als einen Alkoholiker im Endstadium; ich habe nie verstanden, warum Jim Beam, Seagram’s und Mike’s Hard Lemonade sie nicht für ihre Werbung benutzten. Trinkt Beam, und ihr seht hübschere weiße Mäuse.
»Wer bist du? Was machst du hier?«
»Hoffentlich etwas Nützliches. Hör zu, hast du mal versucht, mit deinem kleinen Trinkproblem zu den Anonymen Alkoholikern zu …«
»Verpiss dich, Jimla!«
Ich hatte keine Ahnung, was ein Jimla sein könnte, aber der Verpiss-dich-Teil kam laut und deutlich rüber. Ich marschierte in Richtung Tor davon und machte mich darauf gefasst, dass er mir weitere Fragen nachbrüllte. Das hatte er beim letzten Mal nicht getan, aber die jetzige Begegnung war überhaupt auffällig anders gewesen.
Weil er nicht der Mann mit der gelben Karte gewesen war, nicht diesmal. Als er die Hand gehoben hatte, um sich das Kinn abzuwischen, war die Karte, die seine Finger umklammerten, nicht gelb gewesen.
Diesmal hatte sie in einem schmuddeligen, aber kräftigen Orangerot geleuchtet.
2
Ich schlängelte mich durch die Autos auf dem Werksparkplatz und berührte dabei auch wieder den Kofferraumdeckel des weiß-roten Plymouth Furys, als könnte mir das Glück bringen. Ich würde bestimmt alles Glück brauchen, das ich kriegen konnte. Ich überquerte die Bahngleise und hörte wieder das Wuff-tschuff eines Zuges – diesmal jedoch etwas weiter entfernt, weil meine Begegnung mit dem Mann mit der gelben Karte – der jetzt der Mann mit der orangeroten Karte war – etwas länger gedauert hatte. Die Luft stank wie zuvor nach Fabrikausdünstungen, und derselbe Überlandbus schnaubte vorbei. Weil ich dieses Mal etwas spät dran war, konnte ich nicht lesen, wohin er fuhr, aber ich erinnerte mich, dass dort als Ziel LEWISTON EXPRESS gestanden hatte. Ich fragte mich ohne sonderliches Interesse, wie oft Al genau diesen Bus mit denselben Fahrgästen an den Fenstern gesehen haben mochte.
Ich hastete über die Straße und wedelte dabei den blauen Auspuffqualm des Busses weg, so gut ich konnte. Der Rockabilly-Rebell war auf seinem Posten neben dem Ladeneingang, und ich fragte mich kurz, was er wohl sagen würde, wenn ich ihm seinen Spruch klaute. In gewisser Weise wäre das jedoch so gemein gewesen, als hätte man den Säufer drüben am Trockenschuppen absichtlich gequält; wenn man solchen Jugendlichen ihre Geheimsprache klaute, blieb ihnen nicht mehr viel. Dieser hier konnte nicht einmal frustriert abziehen, um auf seine Xbox einzuhämmern. Deshalb nickte ich nur.
Er nickte ebenfalls. »Hi-ho, Daddy-O.«
Ich betrat den Laden. Die Türglocke bimmelte. Ich ging an den heruntergesetzten Comicheften vorbei zur Getränketheke, hinter der Frank Anicetti senior stand. »Was kann ich heute für Sie tun, mein Freund?«
Im ersten Augenblick war ich verwirrt, weil er bei meinem vorigen Besuch etwas anderes gesagt hatte. Dann wurde mir die Ursache dafür klar. Beim letzten Mal hatte ich eine Zeitung aus dem Ständer mitgenommen. Dieses Mal nicht. Gut möglich, dass jede Rückkehr ins Jahr 1958 den Meilenzähler auf lauter Nullen zurücksetzte (mit Ausnahme des Kartenmanns), aber sobald man irgendetwas veränderte, konnte alles Mögliche passieren. Eine beängstigende und zugleich befreiende Vorstellung.
»Ich könnte ein Root Beer brauchen«, sagte ich.
»Und ich kann den Umsatz brauchen, also sind wir auf derselben Wellenlänge. Für fünf oder für zehn Cent?«
»Zehn, würde ich sagen.«
»Nun, ich glaube, damit liegen Sie richtig.«
Das bereifte Bierglas wurde aus dem Gefrierschrank geholt. Anicetti benutzte den hölzernen Löffelstiel, um den Schaum abzustreifen. Er füllte das Glas bis oben hin und stellte es vor mich. Alles genau wie zuvor.
»Macht ’nen Dime plus einen Cent für den Gouverneur.«
Ich legte ihm einen von Als alten Dollarscheinen hin, und Frank 1.0 gab mir heraus. Als ich mich umsah, erkannte ich den ehemaligen Gelbe-Karte-Mann, der vor dem Spirituosenladen stand – dem mit der grünen Fassade – und von einer Seite zur anderen schwankte. Er erinnerte mich an einen Hindufakir aus irgendeinem alten Film, der in eine Flöte geblasen hatte, um eine Brillenschlange aus ihrem Korb zu locken. Und genau nach Plan kam Anicetti der Jüngere den Gehsteig entlang.
Ich drehte mich wieder um, trank einen Schluck Root Beer und seufzte. »Das kommt genau richtig.«
»Ja, es gibt nichts Besseres als ein kaltes Bier an einem heißen Tag. Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«
»Nein, Wisconsin.« Ich streckte ihm die Hand hin. »George Amberson.«
Er schüttelte sie, als die Türglocke bimmelte. »Frank Anicetti. Und hier kommt mein Junge. Frank junior. Sag Hallo zu Mr. Amberson aus Wisconsin, Frankie.«
»Hallo, Sir.« Er nickte mir lächelnd zu, dann wandte er sich an seinen Dad. »Titus hat den Truck auf der Hebebühne. Bis fünf ist er fertig, sagt er.«
»Nun, das ist gut.« Ich wartete darauf, dass Anicetti 1.0 sich eine Zigarette anzünden würde, und wurde nicht enttäuscht. Er nahm einen Zug, dann wandte er sich wieder mir zu. »Reisen Sie geschäftlich oder zum Vergnügen?«
Ich antwortete nicht gleich, aber das lag nicht daran, dass mir keine Antwort eingefallen wäre. Mich verblüffte, wie diese Szene immer wieder vom Originaldrehbuch abwich, aber gleich im nächsten Moment wieder dahin zurückkehrte. Jedenfalls schien Anicetti kein Zögern zu bemerken.
»So oder so haben Sie sich die beste Zeit ausgesucht. Die meisten Sommergäste sind weg, und wenn’s so weit ist, entspannen wir uns alle. Möchten Sie eine Kugel Vanilleeis in Ihr Root Beer? Die kostet gewöhnlich fünf Cent extra, aber dienstags setze ich den Preis auf einen Nickel herab.«
»Der ist schon seit zehn Jahren verschlissen, Paps«, sagte Frank junior freundlich.
»Danke, so schmeckt’s sehr gut«, sagte ich. »Tatsächlich bin ich geschäftlich unterwegs. Wegen eines Immobilienkaufs in … Sabbatus? So heißt die Gemeinde, glaube ich. Kennen Sie diese Kleinstadt?«
»Nur mein ganzes Leben lang«, sagte Frank. Er stieß Rauch aus den Nasenlöchern aus und musterte mich mit scharfem Blick. »Weite Reise wegen eines Immobilienkaufs.«
Ich bedachte ihn mit einem Lächeln, das Wenn du wüsstest, was ich weiß besagen sollte. Das tat es offenbar, denn er blinzelte mir zu. Die Türglocke bimmelte, und die Obst kaufenden Frauen kamen herein. Die Wanduhr mit der Werbung TRINK CHEER-UP COFFEE zeigte 12.28 an. Der Teil des Skripts, in dem Frank junior und ich über die Geschichte von Shirley Jackson diskutiert hatten, war offenbar gestrichen worden. Während ich mein Root Beer mit großen Schlucken austrank, spürte ich plötzlich krampfartige Bauchschmerzen. Romanfiguren mussten selten aufs Klo, aber im richtigen Leben löste Stress oft körperliche Reaktionen aus.
»Hören Sie, Sie haben hier nicht zufällig eine Herrentoilette, oder?«
»Sorry, nein«, sagte Frank. »Ich will schon lange eine einbauen lassen, aber im Sommer haben wir zu viel zu tun, und im Winter ist nie genug Bargeld für alle Renovierungen da.«
»Sie könnten um die Ecke zu Titus gehen«, schlug Frank junior vor. Er war dabei, Eiscremekugeln in einen Mixbecher zu geben, um sich einen Milchshake zu machen. Das hatte er vorher nicht getan, und ich dachte mit einigem Unbehagen an den sogenannten Schmetterlingseffekt. Ich glaubte zu sehen, wie dieser Schmetterling seine Flügel direkt vor meinen Augen ausbreitete. Wir veränderten die Welt. Nur in winzigen Schritten – auf kaum wahrnehmbare Weise –, aber ja, wir veränderten sie.
»Mister?«
»Sorry«, sagte ich. »Das war ein Seniorenmoment.«
Er wirkte verständnislos, dann lachte er. »Den Ausdruck hab ich noch nie gehört, aber der ist ziemlich gut.« Deswegen würde er ihn vermutlich benutzen, wenn er irgendwann einmal selbst den Faden verlor. Und so würde ein Ausdruck, der eigentlich erst in den Siebziger- oder Achtzigerjahren im amerikanischen Slang auftauchen sollte, ein frühes Debüt erleben. Von einem vorzeitigen Debüt konnte man eigentlich nicht reden, denn in diesem Zeitstrom würde er genau rechtzeitig auftauchen.
»Titus’ Chevron-Tankstelle ist gleich rechts um die Ecke«, sagte Anicetti senior. »Wenn es … äh … eilig ist, können Sie gern unsere Toilette im ersten Stock benutzen.«
»Danke, nicht nötig«, sagte ich, und obwohl ich schon auf die Wanduhr gesehen hatte, warf ich demonstrativ einen Blick auf meine Bulova mit dem coolen Speidel-Band. Nur gut, dass die beiden mein Gesicht nicht sehen konnten, denn ich hatte vergessen, sie zu stellen, sodass sie nach wie vor die Zeit im Jahr 2011 anzeigte. »Aber ich muss jetzt weiter. Hab viel zu erledigen. Wenn ich nicht sehr viel Glück habe, brauche ich dafür länger als einen Tag. Können Sie mir ein gutes Motel in der Nähe empfehlen?«
»Meinen Sie einen Autohof?«, fragte Anicetti senior. Er drückte seine Zigarette in einem der mit WINSTON TASTES GOOD bedruckten Aschenbecher auf der Theke aus.
»Ja.« Diesmal erschien mir mein Lächeln nicht überlegen, sondern dämlich … und mein Unterleib verkrampfte sich wieder. Wenn ich mich nicht bald um dieses Problem kümmerte, konnte es sich zu einer echten Notrufsituation auswachsen. »In Wisconsin sagen wir Motels dazu.«
»Nun, ich kann Ihnen den Tamarack-Autohof etwa fünf Meilen von hier an der 196 in Richtung Lewiston empfehlen«, sagte Anicetti senior. »In der Nähe vom Autokino.«
»Danke für den Tipp«, sagte ich und stand auf.
»Nichts zu danken. Und falls Sie sich vor Ihren Besprechungen die Haare schneiden lassen wollen, sollten Sie’s mit Baumer’s Barber Shop versuchen. Dort kriegen Sie einen erstklassigen Schnitt.«
»Danke. Noch ein guter Tipp.«
»Tipps sind kostenlos, Root Beer wird gegen bar veräußert. Genießen Sie Ihren Aufenthalt in Maine, Mr. Amberson. Und Frankie? Trink deinen Milchshake aus und sieh zu, dass du in die Schule zurückkommst.«
»Mach ich, Paps.« Diesmal war es der Junior, der mir zublinzelte.
»Frank?«, rief eine der Frauen mit einer Juhu-Stimme. »Sind diese Orangen frisch?«
»Frisch wie Ihr Lächeln, Leola«, antwortete er, und die Frauen gackerten. Ich versuche nicht, mich drollig auszudrücken; sie gackerten wirklich.
Ich ging an dem Frauentrio vorbei und murmelte im Vorbeigehen: »Ladys.« Die Türglocke bimmelte, und ich trat in die Welt hinaus, die vor meiner Geburt existiert hatte. Aber statt die Straße zu überqueren, um auf den Fabrikhof mit dem Zugang zum Kaninchenbau zu gelangen, ging ich tiefer in diese Welt hinein. Auf der anderen Straßenseite sprach der Säufer in dem langen, schwarzen Mantel gestikulierend mit dem Verkäufer in dem kurzen, weißen Kittel. Die Karte, die er dabei schwenkte, mochte orangerot statt gelb sein, aber sonst hielt er sich wieder an das Drehbuch.
Ich wertete das als gutes Zeichen.
3
Titus’ Chevron-Tankstelle lag hinter dem Red & White Supermarket, in dem Al immer und immer wieder dieselben Vorräte für seinen Diner gekauft hatte. Ein Schild im Schaufenster verkündete, dass Hummer 69 Cent das Pfund koste. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand auf einem Grundstück, das 2011 unbebaut war, eine große, braune Scheune mit weit geöffneten Torflügeln, hinter denen sich Unmengen von Gebrauchtmöbeln türmten – Kinderbettchen, Bambus-Schaukelstühle und ausladende Polstersessel vom Typ »Dad’s relaxin’« schienen besonders reichlich vorrätig zu sein. Auf dem Schild über dem Tor stand THE JOLLY WHITE ELEPHANT. Ein weiteres Schild, das so aufgestellt war, dass es alle sehen mussten, die auf der Straße nach Lewiston fuhren, stellte eine kühne Behauptung auf: WAS WIR NICHT HABEN, BRAUCHEN SIE NICHT. Ein Kerl, den ich für den Besitzer hielt, saß in einem der Schaukelstühle, rauchte eine Pfeife und sah zu mir herüber. Er trug ein T-Shirt mit aufgedruckten Hosenträgern und eine braune Schlabberhose. Außerdem hatte er einen Spitzbart, den ich für diese spezielle Insel im Zeitstrom für ziemlich gewagt hielt. Seine Haare waren zwar zurückgekämmt und mit Brillantine gebändigt, trotzdem kräuselten sie sich bis zum Nacken hinunter und erinnerten mich an ein altes Rock-’n’-Roll-Video, das ich mal gesehen hatte: Jerry Lee Lewis, der auf sein Klavier sprang, während er »Great Balls of Fire« sang. Der Besitzer des Jolly White Elephant stand vermutlich in dem Ruf, der Gemeinde-Beatnik zu sein.
Ich hob grüßend die Hand. Er nickte mir kaum wahrnehmbar zu und paffte weiter seine Pfeife.
In der Chevron-Tankstelle (wo Normal 19,9 Cent die Gallone und Super einen Cent mehr kostete) arbeitete ein Mann in blauem Overall und mit sehr kurzem Bürstenhaarschnitt an einem Truck – vermutlich dem der Anicettis – auf der Hebebühne.
»Mr. Titus?«
Er sah sich kurz um. »Was?«
»Mr. Anicetti meint, ich könnte Ihre Toilette benutzen.«
»Schlüssel hängt im Kassenhäuschen neben der Tür.« Tü-ah.
»Danke.«
Der Schlüssel hing an einem länglichen Stück Holz, auf dem MÄNNER stand. Auf dem Etikett des zweiten Schlüssels stand MÄDELS. Ich stellte mir schadenfroh vor, wie meine Exfrau sich darüber aufgeregt hätte.
Die Toilette war sauber, roch aber nach abgestandenem Rauch. Neben dem Klosett stand ein Stehascher. Die im Sand steckenden Kippen ließen vermuten, dass ziemlich viele Besucher dieses stillen Örtchens es genossen, beim Kacken zu rauchen.
Als ich herauskam, sah ich auf dem kleinen Grundstück neben der Tankstelle ungefähr zwei Dutzend Gebrauchtwagen stehen. Über ihnen flatterte in der leichten Brise eine Wimpelgirlande. Wagen, die im Jahr 2011 als gesuchte Klassiker Tausende gebracht hätten, kosteten hier fünfundsiebzig oder hundert Dollar. Ein Caddy, der fast fabrikneu aussah, sollte achthundert kosten. Das Schild über der kleinen Verkaufsbude (in der eine hübsche junge Frau mit Pferdeschwanz Kaugummi kauend in ein Photoplay-Heft vertieft war) versprach: ALLE DIESE WAGEN LAUFEN GUT UND WERDEN MIT DER BILL-TITUS-GARANTIE GELIEFERT – WARTUNG GEHÖRT ZUM SERVICE!
Ich hängte den Schlüssel auf, bedankte mich bei Titus (der etwas grunzte, ohne sich von dem Truck auf der Hebebühne abzuwenden) und ging in Richtung Main Street zurück, weil ich es für eine gute Idee hielt, mir die Haare schneiden zu lassen, bevor ich zur Bank ging. Dabei fiel mir wieder der Beatnik mit Spitzbart ein. Ich gab einem Impuls nach und überquerte die Straße in Richtung Gebrauchtmöbelkaufhaus.
»Morgen«, sagte ich.
»Nun, eigentlich ist es schon Nachmittag, aber was immer Ihnen gefällt.« Er paffte seine Pfeife, und die leichte Spätsommerbrise trug einen Hauch von Cherry Blend zu mir herüber. Auch eine Erinnerung an meinen Großvater, der diesen Tabak geraucht hatte, als ich klein gewesen war. Manchmal hatte er mir etwas davon ins Ohr geblasen, um Ohrenschmerzen zu lindern – ein Verfahren, das die US-Ärztevereinigung vermutlich nicht gebilligt hätte.
»Verkaufen Sie auch Koffer?«
»Oh, ich hab ein paar auf Lager. Knapp zweihundert, würd ich sagen. Ganz hinten rechts.«
»Wenn ich einen kaufe, kann ich ihn dann hier bei Ihnen lassen, während ich ein paar Einkäufe erledige?«
»Ich hab bis fünf offen«, sagte er und wandte sein Gesicht wieder der Sonne zu. »Danach müssen Sie selbst zusehen, wie Sie zurechtkommen.«
4
Ich tauschte zwei von Als Dollarscheinen gegen einen Lederkoffer ein, ließ ihn hinter dem Ladentisch des Beatniks zurück und ging mit meiner Aktentasche in der Hand zurück zur Main Street. Ich warf einen Blick in das Greenfront und sah den Verkäufer mit einer Zeitung neben der Kasse sitzen. Von meinem hageren Kumpel in dem schwarzen Mantel war nichts zu sehen.
Es wäre schwierig gewesen, sich im Einkaufsviertel zu verirren, denn es war nur eine Häuserzeile lang. Drei oder vier Ladenfronten von der Kennebec Fruit entfernt lag Baumer’s Barber Shop. Im Schaufenster drehte sich der spiralig rot-weiß gestreifte Stab der Friseurszunft. Daneben hing ein Parteiplakat, auf dem Edmund Muskie abgebildet war. Ich hatte ihn als müden alten Mann mit hängenden Schultern in Erinnerung, aber in dieser Version wirkte er fast zu jung, um wählen zu dürfen – von gewählt werden zu können ganz zu schweigen. Auf dem Plakat stand: SCHICKT ED MUSKIE IN DEN US-SENAT, WÄHLT DEMOKRATISCH! Unten hatte jemand das Plakat mit einem weißen Papierstreifen überklebt und mit der Hand darauf geschrieben: SIE HABEN GESAGT, IN MAINE WÄRE DAS UNMÖGLICH, ABER WIR HABEN’S GESCHAFFT! WEITER GEHT’S 1960 MIT HUMPHREY!
Drinnen saßen zwei alte Kerle auf Stühlen an der Wand, während ein ebenso alter Kerl seinen Haarkranz geschnitten bekam. Die beiden Wartenden qualmten wie Dampfloks. Das tat auch der Friseur (Baumer, vermutete ich), der beim Schnippeln wegen des aufsteigenden Rauchs ein Auge zukniff. Alle vier begutachteten mich auf vertraute Weise: mit dem prüfenden, aber nicht wirklich argwöhnischen Blick, den Christy einmal als das Yankee-Starren bezeichnet hatte. Gut zu wissen, dass manche Dinge sich nicht verändert hatten.
»Ich bin nicht von hier, aber ein Sympathisant«, erklärte ich ihnen. »Ich hab mein Leben lang immer nur die Demokraten gewählt.« Ich hob die Hand, als wollte ich das beschwören.
Baumer grunzte belustigt. Asche stäubte von seiner Zigarette. Er wischte sie geistesabwesend von seinem Kittel auf den Boden, wo zwischen abgeschnittenen Haaren mehrere zertretene Zigarettenkippen lagen. »Harold hier ist Republikaner. Sehen Sie sich vor, dass er Sie nicht beißt.«
»Dafür fehlen ihm die richtigen Beißerchen«, sagte einer der anderen, und sie lachten alle meckernd.
»Woher sind Sie, Mister?«, fragte Harold der Republikaner.
»Wisconsin.« Um weiterer Konversation vorzubeugen, griff ich nach einem Heft von Man’s Adventure. Auf dem Umschlag trat ein als Untermensch dargestellter Asiate mit einer Peitsche in der behandschuhten Hand auf eine an einen Pfahl gefesselte blonde Schönheit zu. Die dazugehörige Story hieß DER JAPSE UND DIE SEXSKLAVEN DES PAZIFIKS. Der Geruch des Salons war eine süßliche, wundervolle Mischung aus Talkumpuder, Pomade und Zigarettenrauch. Als Baumer mich aufforderte, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, war ich in die Sexsklavengeschichte vertieft. Sie war weniger aufregend als das Cover.
»Sie waren wohl auf Reisen, Mr. Wisconsin?«, fragte er, während er einen weißen Frisierumhang über mich ausbreitete und mir einen Papierkragen um den Hals legte.
»Sogar ziemlich ausgedehnt«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Nun, jetzt sind Sie in Gottes eigenem Land. Wie kurz wollen Sie sie haben?«
»Kurz genug, damit ich nicht aussehe wie ein …« Wie ein Hippie, hätte ich beinahe gesagt, aber Baumer hätte nicht gewusst, wovon ich sprach. »… wie ein Beatnik.«
»Sie haben’s ein bisschen wuchern lassen, finde ich.« Er begann zu schneiden. »Noch etwas länger, dann würden Sie wie der Schwule aussehen, dem der Jolly White Elephant gehört.«
»Das würde ich nicht wollen«, sagte ich.
»Nosir, der sieht echt verboten aus.«
Als Baumer fertig war, puderte er meinen Nacken, fragte mich, ob ich Vitalis, Brylcreem oder Wildroot Cream Oil wolle, und verlangte vierzig Cent.
Das nenne ich einen Deal.
5
Dass ich beim Hometown Trust tausend Dollar einzahlte, erregte kein Aufsehen. Mein frischer Haarschnitt trug vermutlich dazu bei, aber ich glaube, es lag hauptsächlich daran, dass es sich hier um eine Bargeldgesellschaft handelte, in der die eben erst erfundenen Kreditkarten von den sparsamen Yankees vermutlich noch misstrauisch beäugt wurden. Eine bildhübsche Kassiererin mit eng eingedrehten Locken und einer Kamee am Hals zählte mein Geld, trug den Betrag ins Kassenbuch ein und rief dann den stellvertretenden Filialleiter herüber, der das Geld nachzählte, das Kassenbuch prüfte und mir als Nachweis über die Einzahlung und den Kontostand meines neuen Girokontos eine Quittung ausstellte.
»Für ein Girokonto ist das ein sehr hohes Guthaben, wenn ich das mal sagen darf, Mr. Amberson. Möchten Sie nicht auch ein Sparkonto eröffnen? Im Augenblick bieten wir drei Prozent Zinsen, die vierteljährlich berechnet werden.« Er riss die Augen auf, um mir zu zeigen, was für ein wundervoller Deal das war. Er sah aus wie der alte kubanische Bandleader Xavier Cugat.
»Danke, aber ich habe ziemlich viele Geschäfte abzuwickeln.« Ich senkte die Stimme. »Immobilienkäufe. Hoffe ich jedenfalls.«
»Viel Erfolg«, sagte er in demselben vertraulichen Ton. »Von Lorraine bekommen Sie noch Schecks. Reichen fünfzig für den Anfang?«
»Fünfzig wären schön.«
»Später können wir Ihnen Schecks mit Namen und Adresse drucken lassen.« Seine hochgezogenen Augenbrauen machten daraus eine Frage.
»Ich denke, dass ich in Derry sein werde. Ich melde mich dann wieder.«
»Schön. Mich erreichen Sie unter Drexel acht vier-sieben-sieben-sieben.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, bis er seine Geschäftskarte unter der gläsernen Trennwand hindurchschob. Unter Gregory W. Dusen, stellv. Filialleiter in Prägedruck stand seine Telefonnummer: DRexel 8-4777.
Lorraine brachte mir die Schecks in einer Schutzhülle aus Alligatorlederimitat. Ich bedankte mich und ließ die Hülle in meine Aktentasche fallen. Beim Hinausgehen sah ich mich noch einmal um. Einige Kassierer arbeiteten an Rechenmaschinen, aber sonst wurden die meisten Geschäftsvorgänge handschriftlich bearbeitet. Wenn man von ein paar Neuerungen absah, hätte Charles Dickens sich hier wie zu Hause fühlen können. Zugleich wurde mir klar, dass dieses Leben in der Vergangenheit eine gewisse Ähnlichkeit damit hatte, unter Wasser zu leben und durch einen Schlauch zu atmen.
6
Ich kaufte die von Al empfohlenen Kleidungsstücke bei Mason’s Menswear, wo mir der Verkäufer erklärte, dass ich sehr gern mit einem Scheck bezahlen dürfe, wenn er auf eine hiesige Bank ausgestellt sei. Dank Lorraine konnte ich mit einem dienen.
Nach meiner Rückkehr zum Jolly White Elephant beobachtete der Beatnik schweigend, wie ich den Inhalt von drei Tragetaschen in meinen neuen Koffer packte. Erst als ich die Verschlüsse zuschnappen ließ, äußerte er sich dazu. »Komische Art, Einkäufe zu machen, Mann.«
»Schon möglich«, sagte ich. »Aber wir leben in einer komischen alten Welt, oder etwa nicht?«
Darüber musste er lächeln. »Ich schätze, deshalb hat Gott sie schräg gestellt, bevor er sie losließ. Gib mir Haut, Jackson.« Dazu streckte er mir seine Hand mit der Innenseite nach oben hin.
Einen Augenblick lang kam ich mir vor wie in der Bank, als ich zu erraten versucht hatte, was das Wort Drexel in Verbindung mit ein paar Ziffern bedeuten könnte. Dann erinnerte ich mich an Dragstrip Girl und verstand, dass der Beatnik mir die in den Fünfzigerjahren übliche Version des Abklatschens anbot. Ich fuhr mit der Handfläche über seine, spürte die Wärme und den Schweiß und dachte wieder: Das hier ist real. Es passiert wirklich.
»Haut, Mann«, sagte ich.
7
Mit dem neu gepackten Lederkoffer in der einen und meiner Aktentasche in der anderen Hand ging ich wieder zu Titus’ Chevron-Tankstelle hinüber. In der Welt des Jahres 2011, aus der ich kam, war es erst später Vormittag, aber ich fühlte mich bereits erschöpft. Zwischen der Tankstelle und dem Autoverkaufsplatz stand eine Telefonzelle. Ich betrat sie, schloss die Tür und las den handgeschriebenen Zettel über dem altmodischen Münztelefon: DENKEN SIE DARAN, DASS ANRUFE JETZT DANK »MA« BELL EINEN DIME KOSTEN.
Ich blätterte in den Gelben Seiten des örtlichen Telefonbuchs und fand die Firma Lisbon Taxi. In ihrer Anzeige war ein Cartoontaxi mit Augen als Scheinwerfer und einem breiten Lächeln als Kühlergrill abgebildet. Der dazugehörige Text sicherte SCHNELLEN, FREUNDLICHEN SERVICE zu. Das klang gut, fand ich. Ich grub nach Kleingeld, aber als Erstes fiel mir etwas in die Hand, was ich hätte zurücklassen sollen: mein Nokia-Handy. Nach den Begriffen des Jahres 2011 war es völlig veraltet – ich hatte es längst gegen ein iPhone eintauschen wollen –, aber hier hatte es nichts zu suchen. Falls es jemand zu sehen bekäme, würde man mir hundert Fragen stellen, die ich nicht beantworten konnte. Ich verstaute es in meiner Aktentasche. Dort war es vorerst vermutlich gut aufgehoben, aber ich würde es demnächst entsorgen müssen. Es zu behalten wäre, wie mit einer scharfen Bombe herumzulaufen.
Ich fand einen Dime, steckte ihn in den Einwurfschlitz und hörte ihn klappernd in die Geldrückgabe fallen. Als ich ihn herausfischte, genügte ein Blick, um mir zu zeigen, wo das Problem lag. Wie mein Nokia stammte dieser Dime aus der Zukunft: ein Kupfersandwich, eigentlich nicht mehr als ein glorifiziertes Centstück. Ich holte mein ganzes Kleingeld heraus, rührte mit dem Zeigefinger darin herum und fand endlich einen Dime aus dem Jahr 1953 – wahrscheinlich Wechselgeld von dem Root Beer, das ich in der Kennebec Fruit getrunken hatte. Als ich ihn einwerfen wollte, jagte mir ein Gedanke einen kalten Schauer über den Rücken. Was wäre gewesen, wenn mein Dime aus dem Jahr 2002 stecken geblieben wäre, statt in die Geldrückgabe durchzufallen? Und was wäre gewesen, wenn der Mann von AT&T, der die Münztelefone in Lisbon Falls wartete, die Münze gefunden hätte?
Er hätte sie für einen Scherz gehalten, das ist alles. Nur für einen gut ausgeklügelten Streich.
Irgendwie bezweifelte ich das – der Dime war zu perfekt. Der Mann hätte ihn herumgezeigt; irgendwann wäre die Münze vielleicht sogar im Lokalblatt abgebildet worden. Dieses Mal hatte ich Glück gehabt, aber beim nächsten Mal würde ich vielleicht keines haben. Ich musste vorsichtiger sein. Mit wachsendem Unbehagen dachte ich wieder an mein Nokia. Dann warf ich den Dime von 1953 ein und hörte prompt ein Freizeichen. Während ich langsam und vorsichtig die Nummer wählte, versuchte ich mich zu erinnern, ob ich schon einmal ein Telefon mit Wählscheibe benutzt hatte. Vermutlich nicht. Immer wenn ich den Finger herauszog, gab das Telefon ein eigenartig surrendes Geräusch von sich, während die Scheibe sich zurückdrehte.
»Lisbon Taxi, wo jede Fahrt mit einem Lächeln beginnt«, sagte eine Frau. »Was können wir heute für Sie tun?«
8
Während ich auf mein Taxi wartete, besichtigte ich Titus’ Gebrauchtwagenangebot. Besonders gut gefiel mir ein 1954er Ford, ein rotes Cabrio – ein Sunliner, wie der Schriftzug unter dem verchromten Scheinwerfer auf der Fahrerseite besagte. Er hatte Weißwandreifen und ein echtes Segeltuchverdeck, das die Cool Cats in Dragstrip Girl als Ragtop bezeichnet hätten.
»Der ist nicht schlecht, Mister«, sagte Bill Titus hinter mir. »Geht ab wie der Teufel, das kann ich selbst bestätigen.«
Ich drehte mich um. Er wischte sich die Hände an einem roten Lappen ab, der fast so fettig zu sein schien wie seine Hände.
»Die Schweller sind ein bisschen rostig«, sagte ich.
»Yeah, nun, dieses Klima.« Ein Was-soll-man-machen-Schulterzucken. »Aber die Hauptsache: Der Motor ist in einem prima Zustand, und die Reifen sind fast neu.«
»V8?«
»Y-Block«, sagte er, und ich nickte, als verstünde ich, wovon er sprach. »Hab ihn von Arlene Hadley drüben in Durham gekauft, nachdem ihr Mann gestorben war. Wenn Bill Hadley sich auf eins verstanden hat, dann war es Autopflege … Aber Sie werden die Hadleys nicht kennen, weil Sie nicht aus dieser Gegend sind, nicht wahr?«
»Stimmt. Komme aus Wisconsin. George Amberson.« Ich streckte ihm die Hand hin.
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Amberson, aber ich will nicht, dass Sie fettige Finger kriegen. Betrachten Sie sie als geschüttelt. Wollen Sie was kaufen oder sich nur umsehen?«
»Weiß ich noch nicht«, sagte ich, aber das war unaufrichtig. Ich hielt den Sunliner für den coolsten Wagen, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich öffnete den Mund, um nach seinem Verbrauch zu fragen, aber dann wurde mir klar, dass das in einer Welt, in der eine Tankfüllung zwei Dollar kostete, eine bedeutungslose Frage war. Stattdessen wollte ich wissen, ob der Ford Handschaltung hatte.
»Oh, und ob. Und wenn Sie in den Zweiten schalten, müssen Sie auf die Cops achten. Im Zweiten geht er ab wie der Teufel. Möchten Sie ’ne kleine Probefahrt machen?«
»Geht nicht«, sagte ich. »Ich hab eben ein Taxi gerufen.«
»So kann man doch nicht reisen«, sagte Titus. »Kaufen Sie den Ford, dann können Sie stilvoll nach Wisconsin zurückfahren, ohne sich um den Zug kümmern zu müssen.«
»Wie viel verlangen Sie? Da steht kein Preis auf der Windschutzscheibe.«
»Genau, den hab ich nämlich erst vorgestern in Kommission genommen. Bin noch nicht dazu gekommen.« Er holte seine Zigaretten heraus. »Eigentlich soll er drei fünfzig bringen, aber darüber würd ich mit mir reden lassen.«
Ich biss die Zähne zusammen, um zu verhindern, dass mir die Kinnlade herabfiel, und versprach dann, mir die Sache zu überlegen. Sollten meine Überlegungen in die richtige Richtung gehen, sagte ich, würde ich morgen zurückkommen.
»Kommen Sie lieber früh, Mr. Amberson, die flotte Kiste wird hier nicht sehr lange stehen.«
Ein weiterer Trost: Ich hatte Kleingeld, das in Münztelefonen durchfiel, Bankgeschäfte wurden noch überwiegend manuell abgewickelt, und die Telefone surrten eigenartig, wenn die Wählscheibe sich zurückdrehte, aber manche Dinge änderten sich nie.
9
Der Taxifahrer war ein fetter Kerl, der eine abgewetzte Baseballmütze mit einem Aufnäher trug, auf dem TAXIKONZESSION stand. Er rauchte eine Lucky Strike nach der anderen und hatte im Radio WJAB eingestellt. Wir hörten »Sugartime« von den McGuire Sisters, »Bird Dog« von den Everly Brothers und »Purple People Eater« von irgendeiner Kreatur, die sich Sheb Wooley nannte. Auf diesen Song hätte ich verzichten können. Nach jedem zweiten Song sangen drei junge Frauen nicht ganz tonrein: »Four-teen for-ty, WJA-beee … the Big Jab!« Ich erfuhr, dass bei Romanow’s der große Sommerschlussverkauf mit Hammerpreisen lief und bei F. W. Woolworth’s eine neue Lieferung von Hula-Hoops eingetroffen war – für eins neununddreißig fast geschenkt.
»Die gottverdammten Dinger sind für nichts gut, außer dass die Halbwüchsigen lernen, mit den Hüften zu wackeln«, sagte der Fahrer und ließ den Fensterspalt die Asche von seiner Zigarette saugen. Das blieb sein einziger Versuch, zwischen Titus’ Chevron-Tankstelle und dem Tamarack-Autohof Konversation zu machen.
Ich kurbelte mein Fenster herunter, um den Zigarettenrauch zu verdünnen, und beobachtete, wie draußen eine andere Welt vorbeizog. Der Siedlungsbrei zwischen Lisbon Falls und der Stadtgrenze von Lewiston existierte noch nicht. Abgesehen von einigen Tankstellen, dem Drive-in-Restaurant Hi-Hat und dem Autokino (das mit einer Doppelvorstellung von Vertigo – Aus dem Reich der Toten und Der lange heiße Sommer warb – beide in Cinemascope und Technicolor) lag beiderseits der Straße nur das ländliche Maine. Ich sah mehr Kühe als Menschen.
Der Autohof lag abseits der Straße und wurde nicht etwa von Tamarack-Lärchen, sondern von riesigen, majestätischen Ulmen beschattet. Sie erinnerten nicht exakt an eine Herde Dinosaurier, aber fast. Während ich sie anglotzte, zündete Mr. Taxikonzession sich eine weitere Kippe an. »Brauchn Sie Hilfe mittem Gepäck, Sir?«
»Danke, ich komme zurecht.« Der auf dem Taxameter angezeigte Fahrpreis war weniger stattlich als die Ulmen, aber trotzdem verblüffend. Ich gab dem Kerl zwei Dollar und wollte fünfzig Cent zurück. Damit schien er zufrieden zu sein; schließlich bekam er für das Trinkgeld ein Päckchen Luckies.
10
Ich checkte ohne Probleme ein – Cash auf die Theke, Ausweis nicht erforderlich – und hielt anschließend in meinem Zimmer, in dem die Klimaanlage aus einem Ventilator auf dem Fensterbrett bestand, ein langes Nickerchen. Ich wachte erfrischt auf (gut) und fand dann abends keinen Schlaf (nicht gut). Nach Sonnenuntergang herrschte auf dem Highway praktisch kein Verkehr mehr, und die Stille war so tief, dass sie mich beunruhigte. Der Fernseher war ein Tischgerät von Zenith, das bestimmt einen Zentner wog. Auf dem Gerät stand eine Zimmerantenne, deren Form an Hasenohren erinnerte. An ihrem Sockel lehnte ein Schild mit der Aufschrift: ANTENNE PER HAND VERSTELLEN; KEINE »ALUFOLIE« VERWENDEN! DANKE, DIE DIREKTION.
Es gab drei Sender. Das NBC-Bild war förmlich unter Schnee vergraben, auch wenn ich noch so viel an der Antenne herumstellte, und das CBS-Bild rollte nach oben weg, was sich auch mit dem Bildlaufknopf nicht korrigieren ließ. Im Gegensatz dazu gab es auf ABC ein wunderbar klares Bild; dort lief gerade eine Folge von Wyatt Earp greift ein mit Hugh O’Brian in der Hauptrolle. Er erschoss ein paar Banditen, und dann kam eine Werbeeinblendung für Viceroy-Zigaretten. Steve McQueen erklärte, Viceroys hätten Filter für den denkenden und Geschmack für den rauchenden Mann. Als er sich eine anzündete, stand ich vom Bett auf und schaltete den Fernseher aus.
Danach war nur noch das Zirpen der Grillen zu hören.
Ich zog mich bis auf die Unterhose aus, legte mich hin und versuchte zu schlafen. In Gedanken war ich bei meinen Eltern. Dad war im Augenblick sechs und lebte in Eau Claire. Mutter, erst fünf, wohnte in Iowa in einem Farmhaus, das in drei oder vier Jahren völlig abbrennen würde. Danach würde ihre Familie nach Wisconsin ziehen – näher an den Schnittpunkt zweier Leben heran, aus dem schließlich … ich entstehen würde.
Du bist verrückt, dachte ich. Du bist Patient irgendeiner Nervenheilanstalt und hast schrecklich detaillierte Wahnvorstellungen. Vielleicht schreibt ein Arzt über deinen Fall in einem Fachjournal. Statt »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« bist du »Der Mann, der glaubte, im Jahr 1958 zu sein«.
Aber ich fuhr mit einer Hand über die genoppte Tagesdecke, die ich noch zurückschlagen musste, und wusste, wo ich war. Ich dachte an Lee Harvey Oswald, aber Oswald wartete noch in weiter Zukunft, und er war nicht das, was mich in diesem Museumsstück von einem Motelzimmer beunruhigte.
Ich saß auf der Bettkante, öffnete meine Aktentasche und holte das Handy heraus: ein Zeitreisegerät, das hier absolut wertlos war. Trotzdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, es aufzuklappen und einzuschalten. Auf dem Display erschien natürlich KEIN NETZZUGANG – was hatte ich anderes erwartet? Fünf Balken? Eine klagende Stimme, die mich aufforderte: Komm heim, Jake, bevor du etwas anrichtest, was du nicht wiedergutmachen kannst? Eine dumme, abergläubische Idee. Wenn ich Schaden anrichtete, konnte ich ihn wiedergutmachen, weil jeder Trip einen Neustart bedeutete. Gewissermaßen waren das Zeitreisen mit eingebautem Sicherheitsschalter.
Das war beruhigend, aber in einer Welt, in der Farbfernseher der größte technische Durchbruch in der Unterhaltungselektronik waren, ein solches Handy mit sich herumzutragen war keineswegs tröstlich. Sollte ich damit angetroffen werden, würde ich zwar nicht als Hexe auf dem Scheiterhaufen enden, aber ich konnte von der hiesigen Polizei verhaftet und eingesperrt werden, bis einige von Edgar J. Hoovers Jungs aus Washington eintrafen, um mich zu vernehmen.
Ich legte es aufs Bett, dann holte ich alles Kleingeld aus meiner rechten Hosentasche. Die Münzen teilte ich in zwei Häufchen. Die von 1958 und früher wanderten wieder in meine Tasche. Die aus der Zukunft kamen in einen Briefumschlag aus der Schreibtischschublade (in der auch eine Gideon-Bibel und die Speisekarte des Hi-Hat lagen). Ich zog mich an, nahm den Schlüssel mit und verließ das Zimmer.
Draußen war das Zirpen der Grillen viel lauter. Am Nachthimmel hing eine schmale Mondsichel. Die Sterne am übrigen Himmel hatte ich noch nie so funkelnd und nahe gesehen. Auf der 196 brummte ein Lastwagen vorbei, dann herrschte wieder Stille. Ich war hier auf dem Land, und das Land schlief. In der Ferne pfiff ein Güterzug ein Loch in die Nacht.
Auf dem Hof standen nur zwei Wagen, und die dazugehörigen Zimmer waren dunkel. Das Gleiche galt für die Rezeption. Ich kam mir wie ein Verbrecher vor, als ich das Feld hinter dem Rasthof betrat. Hohes Gras streifte die Beine meiner Jeans, die ich morgen gegen die neuen Ban-Lon-Slacks eintauschen würde.
Ein Gitterzaun begrenzte das Motelgrundstück. Dahinter lag ein kleiner Teich, eigentlich nur ein Weiher. In seiner Nähe schliefen ein halbes Dutzend Kühe in der warmen Nacht. Eine davon sah zu mir, als ich über den Zaun kletterte und zu dem Weiher ging. Dann verlor sie das Interesse an mir und ließ den Kopf wieder sinken. Sie reagierte auch nicht, als mein Nokia-Handy ins Wasser klatschte. Den Umschlag mit den Münzen klebte ich zu und warf ihn hinterher. Dann ging ich auf demselben Weg zurück und blieb an einer Ecke des Hauptgebäudes stehen, um mich zu vergewissern, dass der Hof weiter leer war. Das war er.
Ich schlüpfte in mein Zimmer, zog mich aus und war fast augenblicklich eingeschlafen.
1
Am nächsten Morgen holte mich der kettenrauchende Taxifahrer ab, und als er mich bei Titus’ Chevron-Tankstelle absetzte, war das Cabrio noch da. Damit hatte ich gerechnet, aber es war trotzdem eine Erleichterung. Ich trug ein unscheinbares, graues Sportsakko, das ich bei Mason’s Menswear von der Stange gekauft hatte. Meine neue Geldbörse aus Straußenleder steckte sicher in der Innentasche und war mit fünfhundert Dollar aus Als Bargeldbeständen gespickt. Titus kam herüber, während ich den Ford bewunderte, und wischte sich die Hände mit einem Lappen ab, der dem gestrigen täuschend ähnlich sah.
»Ich habe darüber geschlafen, und ich will ihn«, sagte ich.
»Das ist gut«, sagte er, dann machte er ein bedauerndes Gesicht. »Aber ich hab auch drüber geschlafen, Mr. Amberson, und es entsprach wohl nicht ganz der Wahrheit, als ich gesagt hab, über den Preis könnten wir noch reden. Wissen Sie, was meine Frau heute Morgen gesagt hat, als wir unsere Pfannkuchen gegessen haben? Sie hat gesagt: ›Bill, du wärst ein Idiot, wenn du den Sunliner für weniger als drei fünfzig hergeben würdest.‹ Und sie hat gesagt, es sei verdammt dämlich von mir gewesen, den Preis so niedrig anzusetzen.«
Ich nickte, als hätte ich das erwartet. »Okay«, sagte ich.
Er wirkte überrascht.
»Ich sage Ihnen, was ich tun kann, Mr. Titus. Ich kann Ihnen einen Scheck über drei fünfzig ausstellen – einen gedeckten Scheck, Hometown Trust, Sie können anrufen und sich erkundigen – oder dreihundert Dollar in bar auf die Hand zahlen. Weniger Papierkram, wenn wir es so machen. Was sagen Sie dazu?«
Titus grinste und ließ dabei verblüffend weiße Zähne sehen. »Ich sage, dass sie sich draußen in Wisconsin aufs Handeln verstehen. Sagen wir drei zwanzig, dann lege ich eine Plakette und ein Zweiwochenkennzeichen drauf, und Sie können gleich losbrausen.«
»Drei zehn.«
»Ah, Sie quetschen mich aus«, sagte er, aber ich merkte ihm an, dass ihm das Spaß machte. »Legen Sie einen Fünfer drauf, dann sind wir uns einig.«
Ich streckte ihm die Hand hin. »Dreihundertfünfzehn – abgemacht!«
»Jawollja!« Diesmal schüttelte er mir die Hand, ohne auf das Schmierfett zu achten. Dann deutete er auf die Verkaufsbude. Die hübsche Kleine mit dem Pferdeschwanz las heute das Confidential Magazine. »Zahlen können Sie bei dieser jungen Dame, die zufällig meine Tochter ist. Sie stellt Ihnen eine Quittung aus. Sobald Sie fertig sind, kommen Sie zu mir, und ich bringe die Plakette an. Und spendiere Ihnen auch noch eine Tankfüllung.«
Vierzig Minuten später fuhr ich am Steuer eines 1954er Ford-Cabrios, das jetzt mir gehörte, nach Norden in Richtung Derry. Ich hatte mit Handschaltung gelernt, sodass mir die keine Probleme bereitete, aber dieser Wagen war mein erster mit Lenkradschaltung. Das war anfangs seltsam, aber sobald ich mich daran gewöhnt hatte (genau wie ich mich daran würde gewöhnen müssen, dass der Abblendschalter mit dem linken Fuß betätigt wurde), gefiel es mir. Und Bill Titus hatte recht, was den zweiten Gang betraf: Im Zweiten ging der Sunliner ab wie eine Rakete. In Augusta hielt ich kurz, um das Verdeck zu öffnen. In Waterville aß ich einen ausgezeichneten Hackbraten, der mit Beilagen und Apfelkuchen mit Eiscreme fünfundneunzig Cent kostete. Im Vergleich dazu erschien Als Fatburger überteuert. Ich sang mit den Skyliners, den Coasters, den Del Vikings und den Elegants mit. Die Sonne schien warm, der Fahrtwind zerzauste meinen neuen Kurzhaarschnitt, und der Turnpike (mit dem Spitznamen »The Mile-A-Minute Highway«, wie auf den Werbetafeln stand) gehörte praktisch mir allein. Alle meine Sorgen und Zweifel vom Vorabend schienen mit meinem Mobiltelefon und dem Münzgeld aus der Zukunft in dem Kuhweiher versunken zu sein. Ich fühlte mich gut.
Bis ich Derry sah.
2
Mit dieser Kleinstadt war irgendetwas nicht in Ordnung, und ich glaube, dass ich das von Anfang an wusste.
Als der Mile-A-Minute Highway zu einer zweispurigen Straße mit vielfach geflickter Asphaltdecke wurde, nahm ich die Route 7. Ungefähr zwanzig Meilen nördlich von Newport kam ich über einen Hügel und sah Derry zusammengeduckt am Westufer des Kenduskeags liegen, förmlich begraben unter einer Wolke aus Rauch und Schmutz von weiß Gott wie vielen Papier- und Textilfabriken, die alle auf Hochtouren liefen. Mitten durch die Stadt verlief eine grüne Ader, die aus der Ferne wie eine Narbe aussah. Die Stadt um diesen ausgefransten Grünzug herum schien nur aus rußigen Grau- und Schwarztönen zu bestehen, unter einem Himmel, den die Abgase aus all diesen Fabrikkaminen uringelb gefärbt hatten.
Ich passierte mehrere Obst- und Gemüsestände, deren Verkaufspersonal ebenso wie die Leute, die nur am Straßenrand standen und mich im Vorbeifahren anglotzten, mehr an die sich durch Inzucht vermehrenden Hinterwäldler aus Beim Sterben ist jeder der Erste erinnerten als an Farmer aus Maine. Als ich am letzten Stand vorbeifuhr – BOWERS ROADSIDE PRODUCE –, kam hinter aufgestapelten Tomatenkörben ein riesiger Mischlingshund hervorgestürmt und jagte mich, wobei er sabbernd nach den Hinterreifen des Sunliners schnappte. Er sah wie eine missratene Bulldogge aus. Bevor ich ihn aus den Augen verlor, konnte ich noch beobachten, wie eine hagere Frau in einer Latzhose ihm nachlief und ihm ein Brett über den Schädel zog.
Dies war die Kleinstadt, in der Harry Dunning aufgewachsen war, und ich hasste sie auf den ersten Blick. Ohne bestimmten Grund; ich tat’s einfach. Das am Fuß dreier steiler Hügel liegende Einkaufsviertel in der Innenstadt wirkte erbärmlich und beklemmend. Mein kirschroter Ford schien der hellste Farbklecks auf der Straße zu sein: ein ablenkender (und, nach den meisten scheelen Blicken zu urteilen, unwillkommener) farbiger Akzent zwischen den schwarzen Plymouths, braunen Chevrolets und schmutzigen Lieferwagen. Durch die Stadtmitte verlief auch ein Kanal, der fast bis zur Krone seiner mit Moos bewachsenen Seitenwände mit schwarzem Wasser angefüllt war.
Ich fand einen Parkplatz in der Canal Street. Mit einem in die Parkuhr eingeworfenen Nickel sicherte ich mir eine Stunde Einkaufszeit. Ich hatte vergessen, mir in Lisbon Falls einen Hut zu kaufen, und sah hier zwei oder drei Läden weiter ein Geschäft, das sich Derry Dress & Everyday – das eleganteste Herrenartikelgeschäft von Central Maine – nannte. Ich bezweifelte, dass es hier auf diesem Gebiet viel Konkurrenz gab.
Ich hatte vor dem Drugstore geparkt und blieb kurz stehen, um das große Schild in der Auslage zu lesen. Irgendwie fasste es meinen Eindruck von Derry – das säuerliche Misstrauen, ein Gefühl von mühsam unterdrückter Gewaltbereitschaft – besser zusammen als alles andere, obwohl ich fast zwei Monate dort verbringen und (vielleicht mit Ausnahme einiger weniger Leute, die ich kennenlernte) alles an dieser Kleinstadt verabscheuen sollte. Der Text lautete:
LADENDIEBSTAHL IST KEIN »NERVENKITZEL« ODER »SPASS« UND AUCH KEINE »MUTPROBE«!
LADENDIEBSTAHL IST EINE STRAFTAT, UND WIR BRINGEN JEDEN FALL ZUR ANZEIGE!
NORBERT KEENE
BESITZER & GESCHÄFTSFÜHRER
Und der hagere, bebrillte Mann in dem weißen Kittel, der mich durchs Schaufenster beobachtete, konnte eigentlich nur Mr. Keene sein. Sein Gesichtsausdruck sagte nicht: Tritt ein, Fremder, sieh dich um und kauf etwas oder lass dir einen Eisbecher mit Sirup und Sodawasser schmecken. Diese harten Augen und die heruntergezogenen Mundwinkel sagten: Verschwinde, für Leute wie deinesgleichen gibt’s hier nichts zu kaufen. Ich wollte glauben, ich bildete mir das nur ein; aber irgendwie wusste ich, dass es die Wahrheit war. Als Experiment hob ich grüßend die Hand.
Der Mann in dem weißen Kittel zeigte keine Reaktion.
Ich stellte mir vor, dass der Kanal, den ich gesehen hatte, direkt unter diesem eigenartig tief liegenden Innenstadtbereich weiterverlief. Mit den Fußsohlen konnte ich spüren, wie ein unsichtbares Gewässer den Gehsteig vibrieren ließ. Ein unangenehmes Gefühl, als wäre dieser kleine Fleck Erde aufgeweicht.
In der Auslage von Derry Dress & Everyday stand ein Schaufensterpuppenmann, der einen Smoking trug. Er hatte ein Monokel ins linke Auge geklemmt und hielt in einer seiner Gipshände einen Schulwimpel. Auf dem Wimpel war zu lesen: DIE DERRY TIGERS WERDEN DIE BANGOR RAMS ABSCHLACHTEN! Obwohl ich ein Fan von Korpsgeist in der Schule war, erschien mir das etwas übertrieben. Die Bangor Rams schlagen, gewiss – aber sie abschlachten?
Nur ein dummer Spruch, versicherte ich mir selbst und ging hinein.
Ein Verkäufer, der ein Maßband um den Hals trug, kam auf mich zu. Seine Klamotten waren viel eleganter als meine, aber im trüben Licht der Deckenbeleuchtung wirkte sein Teint gelblich. Ich empfand plötzlich den absurden Drang, ihn zu fragen: Können Sie mir einen hübschen Strohhut verkaufen, oder soll ich einfach gehen und mich selbst ficken? Aber dann fragte er lächelnd, was er für mich tun könne, und alles erschien wieder fast normal. Er hatte, was ich brauchte, und ich nahm es für nur drei Dollar siebzig in Besitz.
»Schade, dass Sie ihn nur so kurz werden tragen können, bevor das Wetter kalt wird«, sagte er.
Ich setzte den Hut auf und rückte ihn vor dem Spiegel neben dem Ladentisch zurecht. »Vielleicht bekommen wir einen langen Altweibersommer.«
Sanft und fast entschuldigend rückte er den Hut in die andere Richtung. Die Veränderung betrug nur zwei Fingerbreit oder sogar weniger, aber sie bewirkte, dass ich nicht länger aussah wie ein Bauernlümmel auf Besuch in der Großstadt, sondern wie … nun, wie der eleganteste Zeitreisende von Central Maine. Ich bedankte mich bei ihm.
»Nichts zu danken, Mr. …?«
»Amberson«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. Sein kurzer, schlaffer Händedruck hinterließ irgendeine Art Talkumpuder bei mir. Ich widerstand dem Drang, meine Hand am Sportsakko abzuwischen, nachdem er sie losgelassen hatte.
»Geschäftlich in Derry?«
»Ja. Sind Sie denn von hier?«
»Seit meiner Geburt«, sagte er und seufzte, als wäre das eine Last. Aufgrund meiner ersten Eindrücke konnte ich mir das gut vorstellen. »In welcher Branche sind Sie tätig, Mr. Amberson, wenn ich fragen darf?«
»Immobilien. Aber wenn ich schon mal hier bin, wollte ich einen alten Kameraden aus der Army besuchen. Er heißt Dunning. Seinen Vornamen habe ich vergessen; wir haben ihn immer nur Skip genannt.« Der Spitzname war frei erfunden, aber ich wusste tatsächlich nicht, wie Harry Dunnings Vater mit Vornamen hieß. In seinem Aufsatz hatte Harry seine Schwester und seine Brüder beim Namen genannt, aber der Mann mit dem Hammer war immer nur »mein Vater« oder »mein Dad« gewesen.«
»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen, Sir.« Er klang jetzt distanziert. Das Geschäftliche war erledigt, und obwohl der Laden leer war, wollte er mich loswerden.
»Nun, vielleicht können Sie mir bei etwas anderem behilflich sein. Wie heißt das beste Hotel der Stadt?«
»Das wäre das Derry Town House. Am besten fahren Sie zur Kenduskeag Avenue zurück, biegen rechts ab und fahren den Up-Mile Hill hinauf zur Main Street. Achten Sie auf die Kutschenlampen beiderseits des Eingangs.«
»Up-Mile Hill?«
»Ja, so nennen wir ihn, Sir. Wenn Sie sonst nichts mehr brauchen, hinten in der Werkstatt warten noch mehrere Änderungen auf mich.«
»Danke, das war’s. Sie haben mir sehr geholfen.«
Als ich das Geschäft verließ, wurde es bereits dunkel. An eine Sache aus den Monaten September und Oktober, die ich 1958 in Derry verbrachte, erinnere ich mich besonders lebhaft: wie die Abende immer zu früh zu kommen schienen.
Gleich neben Derry Dress & Everyday lag Machen’s Sporting Goods, wo es WAFFEN-HERBSTANGEBOTE gab. Drinnen sah ich zwei Männer mit Jagdgewehren zielen, während ein älterer Verkäufer mit einer schmalen Krawatte (und einem dürren Hals, um den er sie trug) sie beifällig beobachtete. Das gegenüberliegende Kanalufer schien mit schäbigen Bars gesäumt zu sein – von der Sorte, wo man ein Bier und einen Schnaps für fünfzig Cent bekam und die Rock-Ola-Jukebox nur Country & Western spielte. Dort gab es den Happy Nook, den Wishing Well (den die Einheimischen den Bucket of Blood nannten, wie ich später erfuhr), den Two Brothers, den Golden Spoke und den Sleepy Silver Dollar.
Vor Letzterem standen vier Typen aus der Arbeiterklasse, um frische Luft zu schnappen und mein Cabrio anzustarren. Sie waren mit Bierkrügen und Zigaretten ausgestattet. Ihre Gesichter lagen im Schatten flacher Tweedmützen. Sie hatten klobige Arbeitsstiefel von unbestimmter Farbe an, die meine Schüler im Jahr 2011 Shitkicker nannten. Drei aus dem Quartett trugen Hosenträger. Alle vier beobachteten mich ausdruckslos. Ich musste kurz an den Mischlingshund denken, der meinen Wagen sabbernd und zuschnappend verfolgt hatte, dann überquerte ich die Straße.
»Gents«, sagte ich. »Was wird da drin ausgeschenkt?«
Zunächst reagierte keiner. Als ich schon dachte, niemand würde antworten, sagte der Mann ohne Hosenträger: »Bud und Mick, was sonst? Sie sind nicht von hier, was?«
»Wisconsin«, sagte ich.
»Schön für Sie«, murmelte einer.
»Spät im Jahr für Touristen«, sagte ein anderer.
»Ich bin geschäftlich in der Stadt, aber ich dachte, ich könnte bei dieser Gelegenheit einen alten Kameraden aus der Army besuchen.« Keine Antwort, außer man wollte die Tatsache, dass einer der Männer seine Kippe auf den Gehsteig fallen ließ und sie dann mit einem Schleimbatzen von der Größe einer kleinen Muschel ausspuckte, als Antwort werten. Trotzdem sprach ich weiter. »Skip Dunning, so heißt er. Kennt einer von euch Jungs einen Dunning?«
»Sie solltn hübsch lächln und ’n Schwein knutschn«, sagte Keine Hosenträger.
»Wie bitte?«
Er verdrehte die Augen und zog die Mundwinkel herunter: der ungeduldige Gesichtsausdruck eines Menschen, der es mit einem unverbesserlichen Dummkopf zu tun hatte. »Derry ist voller Dunnings. Sehen Sie im gottverdammten Telefonbuch nach.« Er machte Anstalten hineinzugehen. Die anderen drei folgten ihm. Keine Hosenträger hielt ihnen die Tür auf, dann wandte er sich noch einmal mir zu. »Was für ’nen Ford haben Sie da? V8?«
»Y-Block.« Das klang hoffentlich so, als wüsste ich, wovon ich redete.
»Läuft ziemlich ordentlich?«
»Nicht schlecht.«
»Dann sollten Sie vielleicht einsteigen und den Hügel rauffahren. Dort gibt’s ein paar nette Lokale. Diese Bars hier sind für Arbeiter.« Keine Hosenträger musterte mich auf die kalte Art, auf die ich mich in Derry gefasst zu machen lernte, auch wenn ich mich nie daran gewöhnen konnte. »Hier würde Sie nur jeder beäugen. Vielleicht mehr als nur das, wenn die Elf-bis-sieben-Schicht von Striar und Boutillier von der Arbeit kommt.«
»Danke. Sehr freundlich von Ihnen.«
Die kalte Musterung ging weiter. »Sie wissen nicht viel, was?«, bemerkte er, dann verschwand er nach drinnen.
Ich ging zu meinem Cabrio zurück. Auf dieser grauen Straße, mit dem Gestank von Industrierauch in der Luft und in der herabsinkenden Abenddämmerung, wirkte Derry nur unwesentlich reizvoller als eine tote Nutte auf einer Kirchenbank. Ich stieg ein, trat die Kupplung, ließ den Motor an und spürte den starken Drang, einfach zu verschwinden. Nach Lisbon Falls zurückzufahren, die Treppe in den Diner hinaufzusteigen und Al Templeton aufzufordern, sich einen anderen Helfer zu suchen. Nur dass er das nicht mehr so richtig konnte. Er hatte keine Kraft und fast keine Zeit mehr. Ich war, wie man in Neuengland sagte, der letzte Schuss des Trappers.
Also fuhr ich hinauf zur Main Street, sah die Kutschenlampen (die in dem Augenblick eingeschaltet wurden, als ich sie entdeckte) und hielt auf der halbkreisförmigen Einfahrt vor dem Derry Town House. Fünf Minuten später hatte ich eingecheckt. Meine Zeit in Derry hatte begonnen.
3
Bis ich meine neuen Besitztümer ausgepackt hatte (ein Teil des Bargelds kam in meine Geldbörse, den Rest verstaute ich im Futter meines Lederkoffers), war ich ziemlich hungrig, aber bevor ich zum Essen hinunterging, warf ich noch einen Blick ins hiesige Telefonbuch. Was ich darin sah, ließ meinen Mut sinken. Keine Hosenträger war nicht sehr freundlich gewesen, aber er hatte recht gehabt. Hier und in den vier oder fünf Weilern, die ebenfalls im Telefonbuch standen, weil sie zu Derry gehörten, kam der Name Dunning bis zum Überdruss vor. Was nicht verwunderlich war, sprossen in Kleinstädten doch bestimmte Familiennamen wie Löwenzahn auf einem Junirasen. In meinen ersten fünf Jahren als Englischlehrer an der LHS musste ich zwei Dutzend Starbirds und Lempkes gehabt haben – manche Geschwister, die meisten Cousins und Cousinen ersten, zweiten und dritten Grades. Sie heirateten untereinander und vermehrten sich dadurch buchstäblich.
Bevor ich mich in die Vergangenheit aufmachte, hätte ich Harry Dunning anrufen und nach dem Vornamen seines Vaters fragen sollen – so einfach wäre das gewesen. Das hätte ich bestimmt auch getan, wenn ich durch Als Enthüllungen und das, was er von mir verlangte, nicht komplett geplättet gewesen wäre. Aber dann sagte ich mir: Wie schwierig kann das schon sein? Man brauchte kein Sherlock Holmes zu sein, um eine Familie aufzuspüren, deren Kinder Troy, Arthur (alias Tugga), Ellen und Harry hießen.
Mit diesem tröstlichen Gedanken ging ich ins Hotelrestaurant hinunter und bestellte ein Shore Dinner, das aus Muscheln und einem Hummer etwa von der Größe eines Außenbordmotors bestand. Den Nachtisch ließ ich zugunsten eines Biers an der Bar aus. In den Kriminalromanen, die ich gelesen hatte, waren Barkeeper oft ausgezeichnete Informationsquellen. Wenn der Mann, der im Town House hinter der Bar stand, allerdings wie die anderen Leute war, die ich bisher in diesem grimmigen kleinen Kaff kennengelernt hatte, würde ich nicht weit kommen.
Das war er aber nicht. Der junge, untersetzte Mann, der aufhörte, Gläser zu polieren, um mich zu bedienen, hatte unter seinem Bürstenhaarschnitt ein freundliches Mondgesicht. »Was darf ich Ihnen bringen, mein Freund?«
Das F-Wort klang angenehm, und ich erwiderte sein Lächeln mit ehrlicher Begeisterung. »Miller Lite?«
Er wirkte etwas verwirrt. »Nie davon gehört, aber ich habe High Life.«
Natürlich kannte er Miller Lite nicht; es war noch nicht erfunden. »Ja, das meine ich. Hab wohl einen Augenblick lang vergessen, dass ich hier an der Ostküste bin.«
»Woher kommen Sie?« Er öffnete die Flasche mit einem Kapselheber und stellte mir ein bereiftes Bierglas hin.
»Wisconsin, aber ich werde einige Zeit hier sein.« Obwohl wir allein waren, senkte ich die Stimme. Das sollte vertraulich wirken. »Bin auf der Suche nach Immobilien. Will mich ein bisschen umsehen.«
Er nickte respektvoll und schenkte mir ein, bevor ich es selbst tun konnte. »Na, dann viel Erfolg. Hier sind weiß Gott viele Immobilien zu verkaufen – die meisten recht billig. Ich selbst verschwinde von hier. Ende des Monats. Will zu einem Ort mit etwas weniger Ecken und Kanten.«
»Derry wirkt nicht gerade allzu einladend, aber ich dachte, das wäre nur eine Yankee-Sache«, sagte ich. »In Wisconsin sind wir freundlicher, und um das zu beweisen, spendiere ich Ihnen ein Bier.«
»Bei der Arbeit trinke ich nie Alkohol, aber ich könnte eine Coke trinken.«
»Also los.«
»Oh, vielen Dank. Nett, einen freundlichen Gast zu haben, wenn sonst nicht viel los ist.« Ich beobachtete, wie er die Cola herstellte, indem er Sirup in ein Glas pumpte, das er dann mit Sodawasser auffüllte. Er rührte die Mischung durch, nahm einen Schluck und schmatzte mit den Lippen. »Ich hab’s gern süß.«
Angesichts seines stattlichen Bauchs war das keine große Überraschung.
»Diese Sache, dass Yankees abweisend sind, ist ohnehin Blödsinn«, sagte er. »Ich bin in Fort Kent aufgewachsen, und das ist die freundlichste kleine Stadt, die man besuchen kann. Wenn die Touristen dort oben aus der Boston and Maine steigen, begrüßen wir sie praktisch mit ’nem Kuss. Hab dort die Barkeeperschule besucht, bin dann nach Süden gegangen, um mein Glück zu machen. Das hier war ein guter Anfängerjob, und der Lohn ist nicht schlecht, aber …« Er sah sich um, konnte niemand in unserer Nähe entdecken, senkte aber trotzdem die Stimme. »Wollen Sie die Wahrheit hören, Jackson? Diese Stadt stinkt.«
»Ich weiß, was Sie meinen. All diese Fabriken.«
»Es geht um viel mehr als nur das. Sehen Sie sich um. Was sehen Sie?«
Ich kam seiner Aufforderung nach. In einer Ecke saß ein Kerl, der wie ein Handelsvertreter aussah, vor einem Whiskey Sour, aber das war schon alles.
»Nicht viel«, sagte ich.
»So ist es hier die ganze Woche über. Die Bezahlung ist gut, weil’s keine Trinkgelder gibt. In den Bierkneipen unten in der Stadt brummt der Laden, und wir haben an Freitag- und Samstagabenden ein paar Gäste, aber das war’s dann schon. Die besseren Leute trinken anscheinend zu Hause.« Er senkte die Stimme noch mehr. Bald würde er flüstern. »Wir hatten hier einen schlimmen Sommer, mein Freund. Die Einheimischen reden möglichst wenig darüber – sogar die Zeitung hält sich zurück –, aber es hat üble Dinge gegeben. Morde. Mindestens ein halbes Dutzend Tote. Alles noch Kinder. Erst neulich ist ein Junge in den Barrens aufgefunden worden. Patrick Hockstetter, so hieß er. Schon ganz verwest.«
»In den Barrens?«
»Das ist der sumpfige Streifen, der sich mitten durch die Stadt zieht. Wahrscheinlich haben Sie ihn vom Flugzeug aus gesehen.«
Ich war mit dem Auto gekommen, wusste aber trotzdem, was er meinte.
Der Barkeeper machte plötzlich große Augen. »Das ist aber nicht die Immobilie, für die Sie sich interessieren, oder?«
»Darf ich leider nicht verraten«, sagte ich. »Wenn ich etwas durchsickern lasse, kann ich mich sofort nach einem neuen Job umsehen.«
»Verstehe, verstehe.« Er trank seine Coke halb aus und unterdrückte anschließend mit dem Handrücken ein Rülpsen. »Aber ich hoffe, dass es so ist. Diesen gottverdammten Sumpf müsste man aufschütten. Nichts als stinkendes Wasser und Mücken. Damit täten Sie der ganzen Stadt einen Gefallen. Sie würde ein bisschen attraktiver.«
»Sind dort unten noch weitere Kinder aufgefunden worden?«, fragte ich. Ein Serienmörder, der es auf Kinder abgesehen hatte, hätte viel von dem Trübsinn erklären können, den ich seit dem Überqueren der Stadtgrenze wahrgenommen hatte.
»Nicht dass ich wüsste, aber die Leute sagen, dass einige der Verschwundenen oft dort waren, wo die großen Abwasserpumpstationen sind. Manche Leute behaupten, dass es unter Derry so viele Abwasserkanäle gibt – die meisten während der Weltwirtschaftskrise gebaut –, dass niemand weiß, wie sie alle verlaufen. Und Sie wissen ja, wie Kinder sind.«
»Abenteuerlustig.«
Er nickte nachdrücklich wie ein zufriedener Quizmaster. »Die Antwort ist rrrichtig. Manche Leute sagen, der Täter wäre irgendein Landstreicher gewesen, der seither weitergezogen ist. Andere behaupten zu wissen, dass er ein Einheimischer ist, der sich als Clown verkleidet, um nicht erkannt zu werden. Das erste Opfer – das war letztes Jahr, bevor ich hergekommen bin – ist an der Kreuzung von Witcham und Jackson Street mit einem glatt abgerissenen Arm aufgefunden worden. Denbrough war sein Name, George Denbrough. Armer kleiner Kerl.« Er bedachte mich mit einem bedeutungsvollen Blick. »Und er wurde gleich neben einem dieser Regenwasserkanäle entdeckt, die in die Barrens münden.«
»Himmel!«
»Allerdings.«
»Mir fällt auf, dass Sie das alles in der Vergangenheitsform erzählen.«
Ich machte mich bereit, ihm zu erklären, was ich meinte, aber dieser junge Mann hatte anscheinend nicht nur in der Barkeeperschule, sondern auch im Englischunterricht aufgepasst. »Die Morde scheinen aufgehört zu haben – dreimal aufs Holz geklopft!« Er klopfte tatsächlich mit den Fingerknöcheln auf die Theke. »Vielleicht hat der Täter seine Sachen gepackt und ist weitergezogen. Möglicherweise hat der Dreckskerl sich auch selbst umgebracht, das tun sie manchmal. Das wäre gut. Aber es war kein Wahnsinniger in einem Clownskostüm, der den kleinen Corcoran umgebracht hat. Der Clown, der diesen Jungen ermordet hat, war sein eigener Vater.«
Das kam dem Grund für meine Reise hierher so nahe, dass es sich mehr wie Schicksal als wie Zufall anfühlte. Ich trank bedächtig einen Schluck Bier. »Ach, wirklich?«
»Darauf können Sie Gift nehmen. Dorsey Corcoran, so hieß der Kleine. Erst vier Jahre alt, und wissen Sie, was sein gottverdammter Vater getan hat? Hat ihn mit einem Schonhammer erschlagen.«
Ein Hammer. Er hat es mit einem Hammer gemacht. Ich wirkte weiterhin höflich interessiert – zumindest hoffte ich das –, aber ich konnte spüren, wie mir eine Gänsehaut die Arme hinauflief. »Wie schrecklich!«
»Kann man wohl sagen, und das ist noch nicht das Schlimm…« Er brach ab und sah über meine Schulter. »Noch einen, Sir?«
Er meinte den Handelsvertreter. »Nicht für mich«, sagte der und legte einen Dollar auf die Theke. »Ich gehe ins Bett, und morgen verschwinde ich aus diesem Kaff. Hoffentlich wissen sie in Waterville und Augusta noch, wie man Eisenwaren bestellt, denn hier haben sie’s echt vergessen. Behalten Sie das Wechselgeld, mein Junge, und sparen Sie damit auf einen DeSoto.« Er stapfte mit gesenktem Kopf hinaus.
»Sehen Sie? Ein Musterbeispiel dafür, was wir in dieser Oase kriegen.« Der Barkeeper sah dem Vertreter betrübt nach. »Ein Drink, dann ab ins Bett, und morgen heißt’s Seeya later, alligator, after awhile, crocodile. Wenn das so weitergeht, wird dieses Nest noch eine Geisterstadt.« Er richtete sich auf und versuchte, die Schultern durchzustrecken – ein unmögliches Vorhaben, weil sie so rund wie der Rest seines Körpers waren. »Aber wen kümmert’s? Am ersten Oktober bin ich hier weg. Weiter die Straße entlang. Viel Glück unterwegs, bis wir uns wiedersehen.«
»Der Vater dieses Jungen, Dorseys Vater … Kommt der für die anderen Morde nicht infrage?«
»Nein, er hatte für jedes Mal ein Alibi. Übrigens war er der Stiefvater des Jungen, wenn ich’s mir recht überlege. Dicky Macklin. Von Johnny Keeson am Empfang – bei ihm haben Sie vermutlich eingecheckt – weiß ich, dass er früher manchmal hier an der Bar gesessen hat. Bis er Lokalverbot bekam, weil er sich an eine Stewardess rangemacht und hässlich reagiert hat, als die sich energisch gegen seine Zudringlichkeiten sperrte. Danach ist er vermutlich Stammgast im Spoke oder im Bucket geworden. In den beiden Kneipen nehmen sie jeden.«
Er beugte sich so weit über die Theke, dass ich das Aqua Velva auf seinen Wangen riechen konnte.
»Wollen Sie das Schlimmste hören?«
Das wollte ich eigentlich nicht, aber ich sah mich dazu verpflichtet. Also nickte ich.
»In dieser verkorksten Familie hat’s auch einen älteren Bruder gegeben. Eddie. Er ist im Juni verschwunden. Einfach so. Spurlos weg, keine Nachsendeadresse, wenn Sie wissen, was ich meine. Manche Leute glauben, er ist vor Macklin weggelaufen, aber wer auch nur ein bisschen Grips hat, weiß, dass er dann in Portland oder Castle Rock oder Portsmouth aufgetaucht wäre, weil kein Zehnjähriger sich längere Zeit versteckt halten kann. Glauben Sie mir, Eddie Corcoran hat genau wie sein kleiner Bruder den Hammer gekriegt. Macklin hat die Tat nur noch nicht gestanden.« Er grinste ein jähes, sonniges Grinsen, das sein Mondgesicht fast attraktiv machte. »Habe ich Ihnen schon ausgeredet, in Derry Immobilien zu kaufen, Mister?«
»Das hängt nicht von mir ab«, sagte ich. Inzwischen flog ich mit Autopilot. Hatte ich nicht schon einmal von einer Serie von Kindermorden in diesem Teil Maines gelesen oder gehört? Oder vielleicht einen Fernsehfilm darüber gesehen – mit nur einem Viertel meines Gehirns, während der Rest darauf wartete, dass meine schwierige Frau nach einem weiteren »Abend mit den Mädels« ins Haus gewankt oder gar getorkelt kam? Das war gut möglich, aber sicher wusste ich nur, dass es in Derry Mitte der Achtzigerjahre eine große Überschwemmung geben würde, die die halbe Stadt zerstörte.
»Nein?«
»Nein, ich bin nur der Vermittler.«
»Na, dann viel Erfolg. Die Stadt ist nicht mehr so schlimm, wie sie mal war – noch im Juli waren die Leute so angespannt wie Doris Days Keuschheitsgürtel –, aber von normal ist sie trotzdem noch weit entfernt. Ich bin ein freundlicher Kerl und mag freundliche Leute. Deshalb ziehe ich Leine.«
»Auch Ihnen alles Gute«, sagte ich und legte zwei Dollar auf den Tresen.
»Oh, das ist viel zu viel, Sir!«
»Für gute Unterhaltung zahle ich immer einen Aufschlag.« In Wirklichkeit gab es den für das freundliche Gesicht. Die Unterhaltung war eher beunruhigend gewesen.
»Besten Dank auch!« Er strahlte, dann streckte er die Hand aus. »Ich habe mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Fred Toomey.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Fred. Ich bin George Amberson.« Er hatte einen kräftigen Händedruck. Ohne Talkumpuder.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Klar.«
»Vermeiden Sie es während Ihres Aufenthalts in dieser Stadt möglichst, mit Kindern zu reden. Seit dem vergangenen Sommer riskiert ein Fremder, der mit Kindern spricht, einen Besuch von der Polizei, wenn er dabei beobachtet wird. Oder bezieht gleich eine Tracht Prügel. Wär sicher auch nicht ausgeschlossen.«
»Sogar ohne Clownskostüm, was?«
»Nun, das ist der Zweck einer Verkleidung, nicht wahr?« Sein Lächeln war verschwunden. Jetzt sah er blass und grimmig aus. Mit anderen Worten: wie jedermann in Derry. »Wenn man ein Clownskostüm anzieht und eine rote Nase aufsetzt, kann niemand ahnen, wie man darunter aussieht.«
4
Darüber musste ich nachdenken, während der altmodische Aufzug quietschend in den zweiten Stock hinaufratterte. Es stimmte. Und würde irgendjemand überrascht sein, wenn ein weiterer Vater mit einem Hammer über seine Familie herfiel, wenn der Rest dessen, was Fred Toomey erzählt hatte, ebenfalls der Wahrheit entsprach? Wohl kaum. Die Leute würden einfach sagen, Derry bleibe eben Derry. Und möglicherweise hatten sie damit recht.
Als ich die Zimmertür aufsperrte, befiel mich eine echte Schreckensvorstellung: Was, wenn ich den Lauf der Dinge in den kommenden sieben Wochen nur so weit beeinflusste, dass Harrys Vater auch Harry ermordete, statt ihn bloß mit einem Hinken und leicht geistig behindert zurückzulassen?
Das wird nicht passieren, redete ich mir gut zu. Das lasse ich nicht zu. Wie Hillary Clinton 2008 gesagt hat: Ich trete an, um zu siegen.
Nur hatte sie natürlich verloren.
5
Am folgenden Morgen frühstückte ich im Riverview Restaurant des Hotels, in dem außer mir nur der Handelsvertreter vom Vorabend saß. Er war in die hiesige Zeitung vergraben. Als er sie auf dem Tisch zurückließ, schnappte ich sie mir. Mich interessierte nicht die Titelseite, auf der von weiterem Säbelrasseln auf den Philippinen berichtet wurde (obwohl ich mich kurz fragte, ob Lee Oswald irgendwo dort drüben sein mochte). Was ich wollte, war der Lokalteil. Im Jahr 2011 hatte ich das Lewiston Sun Journal gelesen, in dem die letzte Seite des Lokalteils »Schulnachrichten« gewidmet war. Unter dieser Überschrift konnten stolze Eltern die Namen ihrer Kinder lesen, wenn sie einen Preis gewonnen, einen Klassenausflug unternommen oder an einem Müllsammelprojekt in der Gemeinde teilgenommen hatten. Falls es in den Derry Daily News eine ähnliche Seite gab, war es nicht ausgeschlossen, dass ich eines der Dunning-Kinder aufgeführt finden würde.
Die letzte Seite der News enthielt jedoch nur Nachrufe.
Ich versuchte es mit dem Sportteil und las alles über das große Footballspiel am kommenden Wochenende: Derry Tigers gegen Bangor Rams. Troy Dunning war fünfzehn, wie ich aus dem Aufsatz des Hausmeisters wusste. Ein Fünfzehnjähriger konnte ohne Weiteres im Team mitspielen, allerdings vielleicht nicht in der Startaufstellung.
Ich fand seinen Namen nicht, und obwohl ich jedes Wort eines kleineren Berichts über das hiesige Peewee-Footballteam (die Tiger Cubs) las, fand ich auch Arthur »Tugga« Dunning nicht.
Ich bezahlte mein Frühstück und fuhr mit der geliehenen Zeitung unter dem Arm und dem Gefühl, ein lausiger Detektiv zu sein, in mein Zimmer hinauf. Nachdem ich die Dunnings im Telefonbuch gezählt hatte (es waren neunundsechzig), wurde mir etwas anderes bewusst: Ich war durch eine alles durchdringende Internetgesellschaft, auf die ich mich so zu verlassen gelernt hatte, dass ich sie für selbstverständlich hielt, behindert und vielleicht sogar gelähmt worden. Wie schwierig wäre es im Jahr 2011 gewesen, die Familie Dunning ausfindig zu machen? Einfach Tugga Dunning und Derry in meine bevorzugte Suchmaschine einzugeben hätte vermutlich genügt: Ich hätte Eingabe gedrückt und Google, den Big Brother des 21. Jahrhunderts, den Rest erledigen lassen.
Im Derry des Jahres 1958 hatten die leistungsfähigsten Computer die Größe einer kleinen Wohnsiedlung, und die Lokalzeitung half mir nicht weiter. Was blieb mir also? Ich erinnerte mich an einen Soziologieprofessor am College – ein sarkastischer alter Bastard –, der oft gesagt hatte: Wenn alles andere fehlschlägt, gib auf und geh in die Bibliothek.
Ich ging dorthin.
6
Am späten Nachmittag, als meine Hoffnungen sich zerschlagen hatten (wenigstens vorläufig), ging ich langsam den Up-Mile Hill hinauf und blieb an der Kreuzung von Jackson und Witcham Street stehen, um den Gully zu betrachten, an dem ein kleiner Junge namens George Denbrough einen Arm und das Leben verloren hatte (zumindest laut Fred Toomey). Als ich den Hügel erklommen hatte, raste mein Herz, und ich war außer Atem. Was nicht etwa daran lag, dass ich außer Form war; es kam vom Gestank der Fabriken.
Ich war niedergeschlagen und etwas ängstlich. Natürlich hatte ich noch reichlich Zeit, die richtige Familie Dunning zu finden, und ich traute mir das auch zu – und wenn ich dazu alle Dunnings im Telefonbuch anrufen musste, würde ich es eben tun, auch wenn ich damit riskierte, Harrys Zeitbombe von einem Vater zu alarmieren –, aber ich begann zu spüren, was schon Al gespürt hatte: dass etwas gegen mich arbeitete.
Ich folgte der Kansas Street so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht gleich merkte, dass rechts von mir keine Häuser mehr standen. Das Gelände fiel hier steil zu dem grün überwucherten Sumpfgebiet hin ab, das Toomey die Barrens genannt hatte. Nur ein wackeliger, weißer Holzzaun sicherte den Gehsteig gegen den Steilhang ab. Ich legte die Hände darauf und starrte auf den Wildwuchs hinunter. Ich konnte schimmernde Pfützen mit stehendem schlammigem Wasser sehen, dazu Schilfklumpen von solcher Höhe, dass sie prähistorisch wirkten, und wild wucherndes Brombeergestrüpp. Die Bäume dort unten waren verkümmert, weil sie um Sonne kämpfen mussten. Es würde Giftefeu, wilde Müllkippen und vermutlich einzelne Landstreicherlager geben. Und Pfade, die nur manche der hiesigen Jungen und Mädchen kannten. Die Abenteuerlustigen.
Ich stand da, sah hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen, und hörte leise Musik, ohne sie richtig wahrzunehmen – irgendein Stück für Blechbläser. Ich dachte daran, wie wenig ich an diesem Vormittag erreicht hatte. Du kannst die Vergangenheit ändern, hatte Al mir erklärt, aber das ist nicht so leicht, wie du vielleicht denkst.
Was war das für eine Musik? Etwas Heiteres, das ein bisschen schmissig klang. Es ließ mich an Christy denken – an die Anfangszeit, als ich in sie vernarrt gewesen war. Als wir ineinander vernarrt gewesen waren. Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam … Vielleicht Glenn Miller?
Ich war in der Stadtbücherei gewesen, weil ich gehofft hatte, dort Volkszählungsunterlagen zu finden. Die letzte nationale Zählung, die vor acht Jahren im Jahr 1950 stattgefunden hatte, würde drei der vier Dunning-Kinder erfasst haben: Troy, Arthur und Harold. Nur Ellen, die zum Zeitpunkt der Morde sieben gewesen war, hatte 1950 noch nicht existiert und konnte damit auch nicht gezählt werden. Es würde eine Adresse geben. Natürlich konnte die Familie in den seither vergangenen acht Jahren umgezogen sein, aber in diesem Fall würden die Nachbarn mir sagen können, wohin. Derry war eine Kleinstadt.
Nur standen die Volkszählungsunterlagen nicht dort. Die Bibliothekarin, eine freundliche Frau namens Mrs. Starrett, erklärte mir, ihrer Meinung nach gehörten sie eindeutig in die Bücherei, aber der Stadtrat habe aus irgendwelchen Gründen beschlossen, dass sie im Rathaus stehen müssten. Dorthin seien sie 1954 gekommen, erzählte sie.
»Das klingt nicht hoffnungsvoll«, meinte ich lächelnd. »Sie kennen die Redensart – gegen das Rathaus kommt man nicht an.«
Aber Mrs. Starrett erwiderte mein Lächeln nicht. Sie war hilfsbereit, sogar charmant, aber so wachsam zurückhaltend wie jedermann, dem ich bisher in dieser merkwürdigen Stadt begegnet war – mit Fred Toomey als einziger Ausnahme, die die Regel bestätigte. »Seien Sie nicht albern, Mr. Amberson. Eine Volkszählung in den Vereinigten Staaten wird nicht unter Verschluss gehalten. Sie marschieren dort rüber und sagen der Urkundsbeamtin, dass Regina Starrett Sie schickt. Ihr Name ist Marcia Guay. Sie hilft Ihnen weiter. Allerdings sind die Unterlagen vermutlich im Keller gelagert, wo sie nicht sein sollten. Der Keller dort ist feucht, und mich würd’s nicht wundern, wenn es dort Mäuse gibt. Sollte es Schwierigkeiten geben – welche auch immer –, kommen Sie wieder zu mir.«
Also ging ich ins Rathaus hinüber, wo ein Plakat in der Eingangshalle mahnte: ELTERN, HALTET EURE KINDER DAZU AN, NICHT MIT FREMDEN ZU SPRECHEN UND NUR MIT FREUNDEN ZU SPIELEN. Vor den meisten Schaltern standen Leute. (Die meisten rauchten. Natürlich.) Marcia Guay empfing mich mit einem verlegenen Lächeln. Mrs. Starrett hatte um meinetwillen schon bei ihr angerufen und war entsprechend entsetzt gewesen, als Miss Guay ihr sagte, was sie jetzt mir erzählte: Die Unterlagen über die Volkszählung von 1950 waren mit fast allen sonstigen im Rathauskeller gelagerten Dokumenten als unbrauchbar entsorgt worden.
»Letztes Jahr hatten wir schrecklichen Regen«, sagte sie. »Eine ganze Woche lang. Der Kanal ist über die Ufer getreten und hat die ganze Unterstadt – so nennen die Alteingesessenen das Stadtzentrum, Mr. Amberson – überschwemmt. Unser Keller sah fast einen Monat lang aus wie der Canal Grande in Venedig. Mrs. Starrett hat recht, diese Unterlagen hätten in der Bibliothek bleiben sollen, und niemand scheint zu wissen, weshalb und auf wessen Anweisung sie ausgelagert worden sind. Tut mir schrecklich leid.«
Es war unmöglich, sich nicht so zu fühlen, wie Al sich gefühlt hatte, während er Carolyn Poulin zu retten versuchte: als befände man sich in einer Art Gefängnis mit elastischen Wänden. Ich würde mir einen Weg ins Freie bahnen müssen, aber wie? Sollte ich im Umkreis der hiesigen Schulen herumlungern und darauf hoffen, einen Jungen zu sehen, der dem Hausmeister glich, der vor Kurzem mit über sechzig Jahren in den Ruhestand gegangen war? Ausschau nach einer Siebenjährigen halten, die ihre Schulfreundinnen ständig zum Lachen brachte? Darauf warten, dass ich einen Jungen He, Tugga, wart auf mich rufen hörte?
Klar doch. Ein Fremder, der sich in einer Stadt, in der man beim Betreten des Rathauses als Erstes ein Plakat sah, das Eltern vor der Fremden-Gefahr warnte, in der Umgebung von Schulen herumtrieb. Falls es etwas gab, was als Direktflug ins Radar bezeichnet werden konnte, wäre es genau das gewesen.
Eines stand jedoch fest: Ich musste aus dem Derry Town House ausziehen. Zu den Preisen von 1958 konnte ich es mir leicht leisten, dort sieben Wochen zu wohnen, aber ich wusste, das könnte zu Gerede führen. Also beschloss ich, den Anzeigenmarkt zu studieren und ein Zimmer zu finden, das ich monatsweise mieten konnte. Ich wandte mich ab, um in die Unterstadt zurückzugehen, dann blieb ich stehen.
Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …
Das war eindeutig Glenn Miller. Es war »In the Mood«, ein Stück, das ich aus bestimmten Gründen gut kannte. Neugierig geworden, ging ich auf die Klänge zu.
7
Am Ende des wackeligen Holzzauns zwischen dem Gehsteig der Kansas Street und dem Steilhang hinunter zu den Barrens lag ein kleiner Picknickplatz. Seine Ausstattung bestand aus einem gemauerten Grill und zwei Picknicktischen, zwischen denen ein rostiger Abfallkorb stand. Auf einem der Tische stand ein tragbarer Plattenspieler, auf dem sich eine große 78er-Schallplatte drehte.
Auf dem Rasen tanzten ein schlaksiger Junge, dessen Brille mit Klebeband geflickt war, und ein bildhübsches, rothaariges Mädchen. An der LHS nannten wir die Neuntklässler im ersten Jahr »Heranwachsende«, und genau das waren diese beiden. Aber sie tanzten elegant wie Erwachsene. Und sie tanzten auch keinen Jitterbug, sondern Swing. Ich war bezaubert, aber zugleich auch … was? Erschrocken? Vielleicht ein wenig. Aber dazu kam noch etwas anderes, etwas Größeres. Eine Art Ehrfurcht, als hätte ich den Saum irgendeines großen Verständnisses zu fassen bekommen. Oder einen Blick (wie durch dunkles Glas, versteht sich) auf das eigentliche Uhrwerk des Universums geworfen.
Ich hatte Christy nämlich bei einem Swing-Tanzkurs in Lewiston kennengelernt, und dies war eines der Stücke, nach denen wir gelernt hatten. Später – in unserem besten Jahr, sechs Monate vor der Hochzeit und sechs Monate danach – hatten wir an Tanzwettbewerben teilgenommen und in der New England Swing-Dancing Competition den vierten Platz belegt (laut Christy auch als »Erster unter ferner liefen« bekannt). Unser Stück war »Boogie Shoes« von K. C. and the Sunshine Band in einem verlangsamten Tanzmix gewesen.
Das war kein Zufall, dachte ich, während ich die beiden beobachtete. Der Junge trug Jeans und ein T-Shirt mit rundem Ausschnitt; sie hatte eine weiße Bluse an, deren Schöße über eine ausgebleichte, rote Caprihose fielen. Ihr wundervoll üppiges Haar war zu dem gleichen niedlich-kecken Pferdeschwanz gebändigt, den Christy immer getragen hatte, wenn wir wettbewerbsmäßig tanzen gingen. Zu ihren weißen Söckchen und dem Tellerrock aus der damaligen Zeit, versteht sich.
Das kann kein Zufall sein.
Sie tanzten eine Lindy-Variante, die ich als Hellzapoppin kannte. Eigentlich ein schneller Tanz – blitzschnell, wenn man das nötige Stehvermögen und die körperliche Beweglichkeit dafür besaß –, aber sie tanzten ihn langsam, weil sie noch dabei waren, die Schritte zu lernen. Ich sah jede einzelne Figur voraus. Ich kannte sie alle, obwohl ich sie seit mindestens fünf Jahren nicht mehr selbst getanzt hatte. Aufeinander zukommen, sich an den Händen fassen. Er beugt sich leicht vor und schwingt den linken Fuß nach vorn, während sie das Gleiche tut, wobei beide den Oberkörper so verdrehen, dass sie sich in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen scheinen. Auseinander, weiter an den Händen gefasst, dann dreht sie sich erst nach links, dann nach rechts …
Aber sie verpatzten das Zurückdrehen, und die Rothaarige landete im Gras. »Verdammt, Richie, nie machst du das richtig! Du bist echt hoffnungslos, Mann!« Aber sie lachte dabei. Sie warf sich auf den Rücken und starrte in den Himmel.
»Tut mir so leid, Miss Scawlett!«, rief der Junge mit kreischender Negerbabystimme, die im politisch korrekten 21. Jahrhundert auf wenig Gegenliebe gestoßen wäre. »Ich bin bloß ein Tölpel vom Land, aber ich werd diesen Tanz lernen, und wenn er mich umbringt!«
»Wahrscheinlich bringt er eher mich um«, sagte sie. »Leg die Platte noch mal auf, bevor ich meine …« Dann entdeckten die beiden mich.
Es war ein merkwürdiger Augenblick. In Derry gab es einen Schleier, den ich inzwischen so gut kannte, dass ich ihn fast sehen konnte. Die Einheimischen waren auf einer Seite; Außenstehende (wie Fred Toomey oder wie ich) waren auf der anderen. Manchmal kamen die Einheimischen dahinter hervor wie Mrs. Starrett, die Bibliothekarin, die ihrer Empörung über die ausgelagerten Volkszählungsunterlagen Ausdruck verliehen hatte, aber wenn man zu viele Fragen stellte – und vor allem wenn man sie erschreckte –, zogen sie sich wieder hinter ihn zurück.
Aber obwohl ich diese beiden erschreckt hatte, zogen sie sich nicht hinter den Schleier zurück. Statt sich zu verschließen, blieben ihre Gesichter offen, voller Neugier und Interesse.
»Sorry, sorry«, sagte ich. »Ich wollte euch nicht überraschen. Ich habe die Musik gehört und gesehen, wie ihr den Lindy-Hop tanzt.«
»Wie wir ihn zu tanzen versuchen, meinen Sie«, sagte der Junge. Er zog das Mädchen hoch. Dann machte er eine kleine Verbeugung. »Richie Tozier, zu Ihren Diensten. Meine Freunde sagen alle: ›Richie-Richie, he live in a ditchie‹, aber was wissen die schon.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte ich. »George Amberson.« Und dann fügte ich einer plötzlichen Eingebung folgend hinzu: »Meine Freunde sagen alle: ›Georgie-Georgie, he wash his clothes in a Norgie‹, aber auch die wissen natürlich nichts.«
Das Mädchen ließ sich kichernd auf die Bank eines der Picknicktische fallen. Der Junge riss die Arme hoch und trompetete: »Fremder Erwachsener führt sich glänzend ein! Wacka-wacka-wacka! Entzückend! Ed McMahon, was haben wir für diesen wundervollen Burschen? Nun, Johnny, die heutigen Preise bei Who Do You Trust sind eine komplette Ausgabe der Encyclopædia Britannica und ein Elektrolux-Staubsauger, mit dem man sie aufsaugen …«
»Piep-piep, Richie«, sagte das Mädchen. Sie wischte sich Lachtränen aus den Augen.
Das bewirkte eine deplatzierte Rückkehr zu der kreischenden Negerbabystimme. »Tut mir so leid, Miss Scawlett, bitte nich auspeitschn! Hab noch Striemen vom letzten Mal.«
»Und wer bist du, Miss?«, fragte ich.
»Bevvie-Bevvie, I live on the levee«, antwortete sie und begann wieder zu kichern. »Sorry – Richie ist ein Dummkopf, aber ich habe keine Ausrede. Beverly Marsh. Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«
Das war etwas, was hier jeder sofort zu erkennen schien. »Nein, und ihr beide wirkt auch nicht, als wärt ihr von hier. Ihr seid die ersten Einheimischen, die ich kennenlerne, die nicht … griesgrämig sind.«
»Ja, Sir, dies ist ein griesgrämiges Nest«, sagte Richie und nahm den Tonarm von der Schallplatte. Die Nadel war endlos wieder in die letzte Rille zurückgesprungen.
»Wie ich höre, machen die Leute sich hier große Sorgen um ihre Kinder«, sagte ich. »Beachtet bitte, dass ich Abstand wahre. Ihr auf dem Rasen, ich auf dem Gehsteig.«
»Als die Morde passiert sind, haben sie sich nicht groß Sorgen gemacht«, murrte Richie. »Sie wissen von den Morden?«
Ich nickte. »Ich wohne im Town House. Jemand, der dort arbeitet, hat mir davon erzählt.«
»Echt, seit das mit den Morden aufgehört hat, machen sich plötzlich alle Leute Sorgen um ihre Kinder.« Er setzte sich neben Bevvie, die auf dem Deich wohnte. »Aber als die Mordserie im Gang war, hat man kein Scheißwörtchen von ihnen gehört.«
»Richie«, sagte sie. »Piep-piep.«
Diesmal versuchte der Junge es mit einer wirklich grässlichen Humphrey-Bogart-Imitation. »Nun, es ist wahr, Schweetheart. Und du weißt, dass es wahr ist.«
»Das alles ist vorüber«, erklärte mir Bevvie. Dabei klang sie so ernsthaft wie eine Sprecherin der hiesigen Industrie- und Handelskammer. »Sie wissen’s nur noch nicht.«
»Sind mit sie nur die Einheimischen oder Erwachsene im Allgemeinen gemeint?«
Sie zuckte die Achseln, als wollte sie fragen: Worin liegt der Unterschied?
»Aber ihr wisst es.«
»Das tun wir tatsächlich«, sagte Richie. Er musterte mich herausfordernd, aber in den Augen hinter seiner geflickten Brille glitzerte weiter etwas von seinem kauzigen Humor. Ich konnte mir vorstellen, dass der den Jungen nie ganz verließ.
Ich betrat den Rasen. Keiner der beiden Jugendlichen ergriff schreiend die Flucht. Stattdessen rutschte Beverly auf der Bank etwas zur Seite (und stieß Richie mit dem Ellbogen an, damit er es ihr nachtat), um mir Platz zu machen. Entweder waren sie sehr tapfer oder sehr dumm, allerdings sahen sie keineswegs dumm aus.
Dann sagte das Mädchen etwas, was mich verblüffte. »Kenne ich Sie? Kennen wir Sie?«
Bevor ich antworten konnte, meldete Richie sich zu Wort. »Nein, das ist es nicht. Es ist … ich weiß nicht. Wollen Sie etwas, Mr. Amberson? Ist es das?«
»Tatsächlich möchte ich etwas. Ein paar Informationen. Aber woher wisst ihr das? Und woher wisst ihr, dass ich nicht gefährlich bin?«
Sie wechselten einen Blick, und ich meinte, eine wortlose Kommunikation zwischen ihnen zu spüren. Sie war unmöglich zu enträtseln, aber zwei Dinge schienen sicher zu sein: Sie hatten in mir eine Andersartigkeit entdeckt, die darüber hinausging, dass ich ein Fremder in ihrer Stadt war … aber im Gegensatz zum Gelbe-Karte-Mann fürchteten sie sich nicht davor. Im Gegenteil: Sie waren ganz fasziniert davon. Ich ahnte, dass diese beiden attraktiven, furchtlosen Teenager einiges zu erzählen gehabt hätten, und habe mich später noch oft gefragt, was für Geschichten das gewesen wären.
»Sie sind’s einfach nicht«, sagte Richie, und als er zu dem Mädchen hinübersah, nickte es zustimmend.
»Und ihr wisst bestimmt, dass die … die schlimmen Zeiten … vorüber sind?«
»Überwiegend«, sagte Beverly. »Die Dinge bessern sich. In Derry sind die schlimmen Zeiten, glaube ich, vorbei, Mr. Amberson – die Stadt ist in vieler Beziehung hart.«
»Nehmen wir mal an, ich würde euch erzählen – nur hypothetisch –, dass noch eine schlimme Sache bevorsteht. Etwas von der Art, wie es einem kleinen Jungen namens Dorsey Corcoran zugestoßen ist.«
Sie fuhren zusammen, als hätte ich sie an einer Stelle gezwickt, wo die Nerven dicht unter der Haut lagen. Beverly wandte sich Richie zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Weil sie hastig und leise sprach, konnte ich sie nicht genau verstehen, aber es klang wie: Das war nicht der Clown. Dann sah sie wieder mich an.
»Welche schlimme Sache? Wie damals, als Dorseys Vater …«
»Schon gut. Ihr müsst das nicht wissen.« Es war Zeit, den Sprung zu wagen. Diese beiden würden mir helfen. Ich wusste nicht, woher diese Gewissheit kam, aber sie war da. »Kennt ihr ein paar Kinder, die Dunning heißen?« Ich zählte sie an den Fingern ab. »Troy, Arthur, Harry und Ellen. Arthur hat den Spitznamen …«
»Tugga«, sagte Beverly nüchtern. »Klar kennen wir ihn, er geht in unsere Schule. Den Lindy-Hop üben wir für die Talentshow unserer Schule, die kurz vor Thanksgiving stattfindet …«
»Miss Scawlett, sie glaubt, dass man nie zu früh mit dem Üben anfangen kann«, warf Richie ein.
Beverly Marsh achtete nicht auf ihn. »Tugga ist auch für die Show angemeldet. Er will zur Musik von ›Splish-Splash‹ den Text singen.« Sie verdrehte die Augen. Das konnte sie gut.
»Wo wohnt er? Wisst ihr das?«
Sie wussten es natürlich, aber erst einmal verriet es mir keiner der beiden. Und wenn ich ihnen nicht etwas mehr verriet, würden sie es gar nicht tun. Das konnte ich in ihren Gesichtern lesen.
»Nehmen wir mal an, ich würde euch erzählen, dass es sehr leicht möglich ist, dass Tugga nie in der Lage sein wird, an der Talentshow teilzunehmen, wenn nicht jemand auf ihn aufpasst. Das gilt auch für seine Geschwister. Würdet ihr mir das glauben?«
Die beiden Jugendlichen sahen sich abermals an und hielten wieder ihre stumme Zwiesprache mit Blicken. Das dauerte sehr lange – vielleicht zehn Sekunden lang. Es war ein langer Blick von der Art, wie Liebende ihn tauschten, aber diese Teenager waren bestimmt kein Liebespaar. Allerdings gewiss gute Freunde. Enge Freunde, die gemeinsam etwas Schlimmes durchgemacht hatten.
»Tuggas Familie wohnt in der Cossut Street«, sagte Richie schließlich. So klang es jedenfalls.
»Cossut?«
»So wird es hier ausgesprochen«, erklärte Beverly mir. »K-O-S-S-U-T-H. Cossut.«
»Verstanden.« Die einzige Frage war nun, wie viel diese beiden über unsere verrückte Unterhaltung am Rand der Barrens ausplaudern würden.
Beverly betrachtete mich mit ernstem, beunruhigtem Blick. »Aber ich kenne Tuggas Dad, Mr. Amberson. Er arbeitet im Center Street Market. Er ist ein netter Mann, der immer lächelt. Er …«
»Der nette Mann wohnt nicht mehr daheim«, unterbrach Richie sie. »Seine Frau hat ihn rausgeworfen.«
Sie wandte sich ihm mit erstaunt aufgerissenen Augen zu. »Hat Tug dir das erzählt?«
»Nee. Ben Hanscom. Tug hat’s ihm erzählt.«
»Er bleibt trotzdem ein netter Mann«, sagte Beverly mit dünner Stimme. »Lacht viel, macht immer Scherze und ist kein Grapscher.«
»Auch Clowns reißen Witze«, sagte ich. Beide fuhren zusammen, als hätte ich sie wieder in das empfindliche Nervenbündel gezwickt. »Das macht sie noch längst nicht nett.«
»Das wissen wir«, flüsterte Beverly. Sie betrachtete ihre Hände. Dann sah sie zu mir auf. »Wissen Sie von der Schildkröte?« Sie sprach das Wort Schildkröte mit eigenartiger Betonung aus.
Ich weiß von den Teenage Mutant Ninja Turtles, wollte ich sagen, ließ es dann aber doch bleiben. Für Leonardo, Donatello, Raphael und Michelangelo war es Jahrzehnte zu früh. Ich schüttelte nur den Kopf.
Sie sah zweifelnd zu Richie hinüber. Er musterte mich, dann sah er wieder sie an. »Aber er ist gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gut ist.« Sie berührte mein Handgelenk. Ihre Finger waren kalt. »Mr. Dunning ist ein netter Mann. Und dass er nicht mehr zu Hause lebt, bedeutet nicht, dass er das nicht ist.«
Ein überzeugendes Argument. Meine Frau hatte mich verlassen, aber nicht, weil ich nicht nett war. »Das weiß ich.« Ich stand auf. »Ich werde eine Zeit lang in Derry sein, und es wäre gut, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Könnt ihr beide für euch behalten, worüber wir gesprochen haben? Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber …«
Sie wechselten einen Blick, dann brachen sie in Gelächter aus.
Als Beverly wieder sprechen konnte, sagte sie: »Wir können ein Geheimnis bewahren.«
Ich nickte. »Das könnt ihr bestimmt. Ihr habt diesen Sommer eine ganze Reihe bewahrt, möchte ich wetten.«
Darauf gaben sie keine Antwort.
Ich wies mit dem Daumen auf die Barrens. »Habt ihr jemals dort unten gespielt?«
»Früher mal«, sagte Richie. »Jetzt nicht mehr.« Er stand auf und klopfte sich die Sitzfläche seiner Jeans ab. »War nett, mit Ihnen zu reden, Mr. Amberson. Lassen Sie sich hier nicht übers Ohr hauen.« Er zögerte. »Seien Sie vorsichtig in Derry. Ist zwar besser geworden hier, aber ich glaube kaum, dass jemals alles, Sie wissen schon, ganz in Ordnung kommt.«
»Danke. Ich danke euch beiden. Vielleicht hat auch die Familie Dunning eines Tages Grund, euch zu danken, aber wenn alles so klappt, wie ich hoffe …«
»… wird sie nie etwas ahnen«, ergänzte Beverly für mich.
»Genau.« Dann fiel mir etwas ein, was Fred Toomey gesagt hatte: »Die Antwort ist rrrichtig. Passt gut auf euch beide auf.«
»Das tun wir«, sagte Beverly und kicherte dann wieder. »Waschen Sie weiter Ihre Sachen in Ihrem Norgie, Georgie.«
Ich tippte lässig mit zwei Fingern an die Krempe meines neuen Strohhuts und machte Anstalten zu gehen. Dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich noch einmal zu ihnen um. »Spielt der Plattenspieler auch Dreiunddreißiger?«
»Sie meinen Langspielplatten?«, fragte Richie. »Nee. Das kann unsere Stereoanlage zu Hause. Der von Bevvie ist nur eine kleine Kiste, die mit Batterien läuft.«
»Pass auf, wie du von meinem Plattenspieler sprichst, Tozier«, sagte Beverly. »Ich hab lange genug auf ihn gespart.« Sie wandte sich an mich. »Er spielt nur Achtundsiebziger und Fünfundvierziger. Nur hab ich leider das Ding für das Loch in den Fünfundvierzigern verloren, sodass er jetzt nur Achtundsiebziger spielt.«
»Fünfundvierzig Umdrehungen müssten genügen«, sagte ich. »Lasst die Platte wieder von vorn laufen, aber diesmal mit kleinerer Geschwindigkeit.« Das Tempo zu verringern, während man neue Figuren übte, war ein Trick, den Christy und ich in unseren Tanzkursen gelernt hatten.
»Crazy, Daddy«, sagte Richie. Er verstellte den kleinen Hebel neben dem Plattenteller und setzte die Nadel wieder auf. Diesmal klang die Musik, als hätten alle Musiker von Glenn Millers Band Quaaludes geschluckt.
»Also dann …« Ich streckte Beverly die Hände hin. »Pass gut auf, Richie.«
Sie ergriff vertrauensvoll die dargebotenen Hände und sah dabei mit großen blauen Augen leicht amüsiert zu mir auf. Ich fragte mich, wer und wo sie im Jahr 2011 war. Wenn sie überhaupt noch lebte. Würde sie sich dann an den Fremden erinnern, der seltsame Fragen gestellt und einst an einem sonnigen Septembernachmittag zu einer verlangsamten Version von »In the Mood« mit ihr getanzt hatte?
»Ihr habt bisher schon langsam getanzt, und das neue Tempo verlangsamt euch noch mehr, aber ihr könnt trotzdem im Takt bleiben«, sagte ich. »Reichlich Zeit für jeden Schritt.«
Zeit. Reichlich Zeit. Lasst die Platte von vorn laufen, aber langsamer.
Ich zog sie an den Händen zu mir her. Ließ sie wieder zurücktreten. Wir beugten uns wie unter Wasser nach vorn und kickten nach links, während das Glenn Miller Orchestra bahhhhh … dahhh … dahhhh … bahhhh … dahhhh … daaaa … diee … dammmmmm … spielte. In demselben langsamen Tempo, wie ein fast abgelaufenes Aufziehspielzeug, drehte sie sich unter meinen erhobenen Händen nach links.
»Stopp!«, sagte ich, und sie erstarrte mit dem Rücken zu mir und ohne meine Hände loszulassen. »Jetzt drück meine rechte Hand, um mich daran zu erinnern, was als Nächstes kommt.«
»Cool!«, sagte sie. »Jetzt soll ich zwischen Ihre Beine gleiten, und Sie ziehen mich wieder heraus. Und ich mache einen Überschlag. Deshalb üben wir auf Gras, damit ich mir nicht das Genick breche, wenn ich falsch aufkomme.«
»Diesen Teil überlasse ich euch«, sagte ich. »Ich bin zu alt, um irgendwas anderes als Kosten zu überschlagen.«
Richie riss wieder die Arme hoch. »Wacka-wacka-wacka! Fremder Erwachsener glänzt mit weiterer …«
»Piep-piep, Richie«, sagte ich. Das brachte ihn zum Lachen. »Jetzt bist du an der Reihe. Und vereinbart Handzeichen für alle Figuren, die über den Jitterbug-Twostepp hinausgehen, der möglicherweise beim hiesigen Tanztee getanzt wird. Dann seht ihr zumindest gut aus, selbst wenn ihr die Talentshow vielleicht nicht gewinnt.«
Richie ergriff Beverlys Hände und versuchte es. Rein und raus, Seite an Seite, Drehung nach links, nach rechts zurück. Perfekt. Sie glitt geschmeidig wie ein Fisch zwischen Richies gespreizte Beine, und er zog sie wieder heraus. Sie schloss einen spektakulären Überschlag an, nach dem sie stehend aufkam. Richie fasste sie erneut an den Händen, und sie wiederholten das Ganze. Diesmal sah es noch besser aus.
»Beim Runter-und-raus kommen wir aus dem Takt«, beschwerte Richie sich.
»Nicht mehr, wenn die Platte mit normaler Geschwindigkeit läuft. Verlasst euch darauf.«
»Mir gefällt das«, sagte Beverly. »Als hätte man die ganze Sache unter Glas.« Sie drehte eine kleine Pirouette auf den Spitzen ihrer Turnschuhe. »Ich fühle mich wie Loretta Young zu Beginn ihrer Show, wenn sie mit einem wirbelnden Rock hereinkommt.«
»Man nennt mich Arthur Murray, ich bin aus Miss-UUU-ri«, sagte Richie. Auch er wirkte erfreut.
»Ich lasse die Platte jetzt normal laufen«, sagte ich. »Denkt an die Handzeichen. Und bleibt im Takt. Es geht immer nur um den Zeitablauf.«
Glenn Miller spielte die alte Schnulze, und die beiden tanzten. Ihre Schatten tanzten im Gras neben ihnen. Raus … rein … beugen … kicken … links drehen … rechts drehen … zwischen die Beine … sofort wieder raus … und Überschlag. Diesmal waren sie nicht perfekt, und sie würden noch viel üben müssen, bis sie die Schritte völlig beherrschten, aber sie waren nicht schlecht.
Ach, zum Teufel damit. Sie waren wunderschön anzusehen. Zum ersten Mal, seit ich auf der Route 7 über den Hügel gekommen war und Derry erblickt hatte, wie es am Westufer des Kenduskeags aufragte, war ich glücklich. Das war ein gutes Gefühl, auf dem man aufbauen konnte, deshalb ging ich von den beiden weg und erteilte mir dabei den bewährten alten Rat: Sieh dich nicht um, sieh dich niemals um. Wie oft nehmen Leute sich das nach einem außergewöhnlich schönen (oder außergewöhnlich schlimmen) Erlebnis vor? Oft, vermute ich. Und der gute Rat wird selten befolgt. Menschen sind dafür gebaut, sich umzusehen; dafür ist unser Hals beweglich.
Ich ging einen halben Block weit, dann drehte ich mich in der Erwartung, dass sie mir nachstarrten, um. Sie tanzten immer noch. Und das war gut.
8
An der Kansas Street lag einige Straßen weiter eine Cities-Service-Tankstelle, und ich betrat das Kassenhäuschen, um nach dem Weg zur Kossuth Street – wie Cossut ausgesprochen – zu fragen. Aus der Werkstatt nebenan waren das Surren eines Kompressors und blechern klingende Schlagermusik zu hören, aber der Raum war leer. Das war mir nur recht, weil ich neben der Registrierkasse etwas Nützliches sah: einen Drahtständer mit Landkarten. Im obersten Fach steckte ein einzelner Stadtplan, der schmuddelig und vergessen aussah. Auf der Vorderseite war eine außerordentlich hässliche Kunststoffstatue von Paul Bunyan abgebildet. Paul trug seine Axt auf der Schulter und blinzelte grinsend in die Sommersonne. Nur Derry, sagte ich mir, würde eine Plastikfigur eines mythischen Holzfällers zu seinem Wahrzeichen wählen.
Gleich neben dem Eingang war ein Zeitungsständer aufgebaut. Ich nahm mir als Requisite ein Exemplar der Daily News und warf einen Nickel auf den Zeitungsstapel, auf dem schon viele lagen. Ich weiß nicht, ob die Leute im Jahr 1958 ehrlicher waren, aber sie waren jedenfalls verdammt viel vertrauensseliger.
Laut Stadtplan lag die Kossuth Street nicht allzu weit von der Kansas Street entfernt, und der Weg dorthin erwies sich von der Tankstelle aus als angenehmer viertelstündiger Spaziergang. Ich schlenderte unter Ulmen dahin, die noch nicht von dem großen Sterben erfasst waren, das in den Siebzigerjahren fast alle dahinraffen würde: Bäume, die noch so grün waren wie im Juli. Kinder rasten auf Fahrrädern an mir vorbei oder spielten Jacks in den Einfahrten. An Straßenecken warteten Grüppchen von Erwachsenen an Bushaltestellen, die durch weiße Streifen an Telefonmasten gekennzeichnet waren. Derry kümmerte sich um seinen Kram und ich mich um meinen – nur ein Kerl in einem unauffälligen Sportsakko, der seinen Sommerstrohhut leicht nach hinten geschoben hatte und eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand hielt. Er konnte Ausschau nach einem Garten- oder Garagenflohmarkt halten oder auf der Suche nach einem Immobilienschnäppchen sein. Jedenfalls sah er so aus, als gehörte er hierher.
Das hoffte ich zumindest.
Die Kossuth Street war eine von Hecken gesäumte Straße mit altmodischen Saltbox-Häusern im New-England-Stil. In den Gärten drehten sich Rasensprenger. Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar (und der unvermeidlichen Zigarette im Mundwinkel) wusch das Familienauto und bespritzte gelegentlich den Familienhund, der kläffend zurückwich. Die Kossuth Street hätte das Set für die Außenaufnahmen irgendeiner unscharfen alten Sitcom sein können.
Zwei kleine Mädchen ließen ein Springseil kreisen, während ein drittes flink darüber hinwegsprang und mühelos im Stottertakt steppte, während es skandierte: »Charlie Chaplin went to France! Just to watch the ladies dance! Salute to the Cap’un! Salute to the Queen! My old man drives a sub-ma-rine!« Das Springseil klatsch-klatsch-klatschte auf den Asphalt. Ich spürte, dass mich jemand beobachtete. Die Frau mit den Lockenwicklern hatte die Arbeit eingestellt und stand einfach nur da, mit dem Schlauch in der einen und einem großen schaumigen Schwamm in der anderen Hand. Und beobachtete, wie ich mich den seilspringenden Mädchen näherte. Ich machte einen weiten Bogen um das Trio und sah sie daraufhin ihre Arbeit wieder aufnehmen.
Du hast verdammt viel riskiert, als du diese Teenager in der Kansas Street angesprochen hast, dachte ich. Nur glaubte ich das selbst nicht. Etwas zu nahe an den seilspringenden Mädchen vorbeizugehen … das wäre verdammt riskant gewesen. Aber Richie und Bev waren die Richtigen gewesen. Das hatte ich fast im ersten Moment, als ich sie erblickte, gewusst, und sie hatten es ebenfalls gewusst. Wir hatten übereingestimmt.
Kennen wir Sie?, hatte das Mädchen gefragt, das auf dem Deich wohnte. Bevvie-Bevvie, who lived on the levee.
Die Kossuth Street endete als Sackgasse vor einem großen Gebäude, das West Side Recreation Hall hieß. Das Freizeitzentrum stand leer, und auf dem verunkrauteten Rasen verkündete eine Tafel: IN STÄDTISCHEM AUFTRAG ZU VERKAUFEN. Bestimmt ein Objekt, für das sich jeder Immobilienjäger mit Selbstachtung interessieren musste. Zwei Häuser davor auf der rechten Straßenseite fuhr ein kleines Mädchen mit karottenroten Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen auf einem Kinderfahrrad mit Stützrädern eine asphaltierte Einfahrt hinunter und hinauf. Dabei sang sie endlose Variationen eines immer gleichen Satzes: »Bing-bang, I saw the whole gang, ding-dang, I saw the whole gang, ring-rang, I saw the whole gang …«
Ich ging auf die leere Recreation Hall zu, als interessierte sie mich mehr als alles andere auf der Welt, aber aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich weiterhin das Rotkäppchen. Sie beugte sich im Sattel mal nach links, mal nach rechts, als versuchte sie herauszubekommen, wie weit sie das treiben konnte, ohne umzukippen. Ihre verschorften Schienbeine ließen darauf schließen, dass sie dieses Spiel bestimmt nicht zum ersten Mal spielte. Auf dem Briefkasten ihres Hauses stand kein Name, nur die Nummer 379.
Ich blieb vor dem Zu-Verkaufen-Schild stehen und notierte mir einige Informationen auf dem Rand meiner Zeitung. Dann machte ich kehrt und ging auf demselben Weg zurück. Als ich an dem Haus Kossuth Street 379 vorbeikam (auf der gegenüberliegenden Straßenseite und scheinbar in meine Zeitung vertieft), erschien eine Frau auf der Veranda. Neben ihr stand ein Junge, der von etwas abbiss, was in eine Serviette gewickelt war. In der freien Hand hielt er das Daisy-Luftgewehr, mit dem er in nicht allzu ferner Zukunft versuchen würde, seinen tobenden Vater aufzuhalten.
»Ellen!«, rief die Frau. »Steig von diesem Ding ab, bevor du runterfällst! Komm rein, und hol dir ein Plätzchen.«
Ellen Dunning stieg ab, ließ ihr Fahrrad achtlos in der Einfahrt umfallen und lief ins Haus, wobei sie mit beachtlicher Stimmgewalt »Sing-sang, I saw the whole gang!« trompetete. Ihre Haare, von einem weit unvorteilhafteren Rot als die von Beverly Marsh, wippten wie rebellierende Sprungfedern.
Ihr folgte der Junge, der dabei war heranzuwachsen, um unter Schmerzen einen Aufsatz zu schreiben, der mich zu Tränen rühren würde. Der Junge, der als Einziger aus seiner Familie überleben würde.
Es sei denn, ich verhinderte das. Und nachdem ich sie nun gesehen hatte – reale Menschen, die ihr reales Leben lebten –, blieb mir wohl keine andere Wahl.
1
Wie soll ich von meinen sieben Wochen in Derry erzählen? Wie schildern, auf welche Weise ich es hassen und fürchten lernte?
Es lag nicht daran, dass Derry Geheimnisse hütete (obwohl es das tat), und auch nicht daran, dass hier schreckliche Verbrechen, einige davon immer noch nicht aufgeklärt, verübt worden waren (obwohl auch das stimmte). Das ist alles vorüber, hatte das Mädchen namens Beverly mir erklärt, der Junge namens Richie hatte zugestimmt, und ich gelangte zu derselben Ansicht … obwohl ich gleichzeitig zu der Überzeugung kam, dass die Schatten niemals ganz von diesem Kaff mit seiner seltsam tief liegenden Innenstadt weichen würden.
Es war die Ahnung eines bevorstehenden Misserfolgs, die mich Derry hassen ließ. Und das Gefühl, in einem Gefängnis mit elastischen Wänden zu stecken. Wenn ich abhauen wollte, würde es mich gehen lassen (bereitwillig!), aber wenn ich blieb, würde es mich zunehmend einengen. Es würde mich zusammenquetschen, bis es mir die Luft abschnürte. Und – das war die schlechte Nachricht – ein Fortgehen kam nicht mehr infrage, weil ich jetzt Harry gesehen hatte, bevor er hinkte, bevor er ein vertrauensvolles, aber leicht verwirrtes Lächeln zur Schau trug. Ich hatte ihn gesehen, bevor er »Hoptoad Harry, hoppin’ down the av-a-new« geworden war.
Und ich hatte auch seine Schwester gesehen. Jetzt war sie mehr als nur ein Name in einem mühsam zu Papier gebrachten Aufsatz, mehr als ein gesichtsloses kleines Mädchen, das gern Blumen pflückte und sie dann in Vasen stellte. Manchmal lag ich wach und dachte daran, wie sie an Halloween als Prinzessin Summerfall Winterspring gehen wollte. Wenn ich nichts unternahm, würde es nie dazu kommen. Es gab schon einen Sarg, der auf sie wartete, nach langem, aber vergeblichem Kampf ums Leben. Auch auf ihre Mutter, deren Vornamen ich noch immer nicht wusste, wartete einer. Und auf Troy. Und auf Arthur, auch bekannt als Tugga.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich mit mir selbst weiterleben könnte, wenn ich das zuließ. Also blieb ich, obwohl das nicht leicht war. Und jedes Mal, wenn ich daran dachte, mir das alles noch einmal anzutun, nämlich in Dallas, drohte mein Verstand zu blockieren. Wenigstens würde Dallas nicht wie Derry sein, sagte ich mir. Weil kein Ort der Welt wie Derry sein konnte.
Also, wie schildere ich es am besten?
In meinem Leben als Lehrer hatte ich nachdrücklich die Idee der Einfachheit propagiert. Bei Sachbüchern wie bei Romanen gab es nur eine Frage und eine Antwort. Was ist geschehen?, fragt der Leser. Dies ist geschehen, antwortet der Autor. Dies … und dies … und auch dies. Alles einfach ausdrücken. Das war der einzig sichere Weg zum Erfolg.
Also will ich es versuchen, obwohl man dabei nie vergessen darf, dass in Derry die Realität nur eine dünne Eisschicht auf einem tiefen See mit dunklem Wasser war. Aber trotzdem:
Was ist geschehen?
Dies ist geschehen. Und dies. Und auch dies.
2
Am Freitag, meinem zweiten kompletten Tag in Derry, ging ich zum Center Street Market hinunter. Damit wartete ich bis fünf Uhr nachmittags, weil ich glaubte, dass um diese Zeit dort Hochbetrieb herrschen würde – schließlich war der Freitag Zahltag, und das bedeutete für viele Leute (damit meine ich Ehefrauen, denn 1958 galt noch die strikte Regel: Männer kaufen keine Lebensmittel ein), es war Zeit, einkaufen zu gehen. Je mehr Einkäufer dort waren, umso besser konnte ich in der Menge untertauchen. Um das noch zu befördern, ging ich zu W. T. Grant’s und ergänzte meine Garderobe um einige Chinos und blaue Arbeitshemden. Weil ich mich an Keine Hosenträger und seine Kumpel vor dem Sleepy Silver Dollar erinnerte, kaufte ich mir auch Arbeitsstiefel von Wolverine. Auf dem Weg zum Supermarkt trat ich immer wieder absichtlich gegen den Randstein, bis die Zehenkappen abgeschürft waren.
Der Laden war so überfüllt, wie ich gehofft hatte: Vor allen drei Kassen warteten Schlangen, und die Gänge waren voller Frauen, die Einkaufswagen vor sich herschoben. Die wenigen Männer, die ich sah, hatten nur Einkaufskörbe, also nahm ich mir auch einen. In meinen legte ich eine Tüte Äpfel (spottbillig) und ein Netz Orangen (fast so teuer wie Orangen im Jahr 2011). Unter meinen Schuhsohlen quietschte der geölte Holzboden.
Was genau machte Mr. Dunning im Center Street Market? Das hatte Bevvie-on-the-levee nicht gesagt. Der Filialleiter war er nicht; ein Blick in den Glaskasten gleich hinter der Lebensmittelabteilung zeigte mir einen weißhaarigen Gentleman, der vielleicht Ellen Dunnings Großvater, aber bestimmt nicht ihr Vater hätte sein können. Und auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch stand MR. CURRIE.
Als ich an den Milchprodukten vorbei (wo mich ein Schild mit der Aufschrift HABEN SIE SCHON »JOGHURT« PROBIERT? WENN NICHT, WERDEN SIE BEGEISTERT SEIN! amüsierte) durch den Markt nach hinten ging, hörte ich von irgendwo Lachen. Weibliches Lachen von der sofort identifizierbaren Oh-Sie-Frechdachs-Art. Ich bog auf den letzten Gang ab und sah eine kleine Schar von Frauen, die ganz ähnlich gekleidet waren wie die Frauen in der Kennebec Fruit, vor der Fleischtheke versammelt. FLEISCH & WURST stand auf einem handgeschnitzten Holzschild, das an dekorativ verchromten Ketten über der Theke hing. NACH HAUSMACHERART TRANCHIERT. Und in der untersten Zeile: FRANK DUNNING, CHEF-METZGER.
Manchmal produzierte das Leben Zufälle, die kein Romanschriftsteller zu kopieren wagen würde.
Es war Frank Dunning, der die Damen zum Lachen brachte. Die Ähnlichkeit mit dem Hausmeister, der seinen Englischkurs für Erwachsene bei mir gemacht hatte, war groß genug, um unheimlich zu sein. Er hätte Harry sein können, nur hatte die Version hier pechschwarze statt graue Haare, und anstelle des harmlosen, stets leicht verwirrten Lächelns prangte in seinem Gesicht ein ordinäres, angeberhaftes Grinsen. Kein Wunder, dass die Frauen alle ganz aufgeregt waren. Selbst Bevvie-on-the-levee hielt viel von ihm – und warum auch nicht? Sie war vielleicht erst zwölf oder dreizehn, aber sie war ein weibliches Wesen, und Frank Dunning war ein Charmeur. Das wusste er selbst am besten. Es musste Gründe dafür geben, dass die Blüte der hiesigen Weiblichkeit die Lohnschecks ihrer Ehemänner lieber im Center Street Market als in dem etwas preiswerteren A&P ausgab, und einer davon stand hier. Mr. Dunning war ein gut aussehender Mann. Mr. Dunning trug eine blütenweiße Fleischerjacke (mit leichten Blutflecken an den Manschetten, aber schließlich war er Fleischer). Mr. Dunning trug eine raffinierte Mütze, ein Mittelding zwischen Kochmütze und Künstlerbarett. Er hatte sie sich bis fast zu einer Augenbraue heruntergezogen. Bei Gott ein modisches Statement.
Insgesamt war Mr. Frank Dunning mit seinen rosigen, glatt rasierten Wangen und seinem untadelig frisierten schwarzen Haar für die kleine Hausfrau ein Geschenk Gottes. Als ich näher heranschlenderte, verschnürte er mit Bindfaden von einer Rolle neben seiner Waage ein Wurstpaket und schrieb mit schwarzem Fettstift schwungvoll den Preis darauf. Dann überreichte er es einer Dame von ungefähr fünfzig Sommern, die zu einem Hauskleid mit aufgedruckten rosa Rosen im Großformat Nylonstrümpfe mit Naht trug und wie ein Schulmädchen errötete.
»Bitte sehr, Mrs. Levesque, ein Pfund deutsche Mortadella, dünn geschnitten.« Er beugte sich vertraulich über die Theke, weit genug, dass Mrs. Levesque (und die anderen interessierten Damen) den betäubenden Duft seines Rasierwassers riechen konnten. War es Aqua Velva, Fred Toomeys Marke? Ich bezweifelte das. Ein Charmeur wie Frank Dunning benutzte sicher etwas Teureres. »Wissen Sie, was das Problem mit deutscher Mortadella ist?«
»Nein«, sagte sie und zog das Wort dabei etwas in die Länge. Die anderen Damen zwitscherten erwartungsvoll.
Dunnings Blick glitt kurz zu mir herüber, schien aber nichts wahrzunehmen, was ihn hätte interessieren können. Als er sich wieder Mrs. Levesque zuwandte, stand in seinen Augen wieder das patentierte Zwinkern.
»Eine Stunde nachdem man davon gesessen hat, ist man gierig nach Macht.«
Ich weiß nicht, ob alle Frauen die Anspielung verstanden, aber sie kreischten alle begeistert auf. Dunning schickte Mrs. Levesque glücklich fort, und bevor ich außer Hörweite kam, wandte er seine Aufmerksamkeit einer Mrs. Bowie zu. Die darüber ebenso glücklich sein würde, dessen war ich mir sicher.
Er ist ein netter Mann. Lacht viel, macht immer Scherze.
Aber der nette Mann hatte kalte Augen. Im Umgang mit seinem faszinierten Damenharem waren sie blau gewesen. Aber als er seine Aufmerksamkeit auf mich konzentriert hatte – auch wenn es nur ein kurzer Moment gewesen war –, hätte ich schwören können, dass sie grau wurden: die Farbe von Wasser unter einem Himmel, aus dem es bald schneien würde.
3
Der Supermarkt schloss um 18 Uhr, und als ich ihn mit meinen wenigen Einkäufen verließ, war es erst zwanzig nach fünf. Gleich um die Ecke in der Witcham Street gab es ein U-Needa-Lunch. Ich bestellte einen Hamburger, eine Coke aus dem Zapfhahn und ein Stück Schokoladenkuchen. Der Kuchen war ausgezeichnet – echte Schokolade, echte Schlagsahne. Er füllte meinen Mund, wie Frank Anicettis Root Beer es getan hatte. Ich trödelte so lange wie möglich herum, dann ging ich zum Kanal hinunter, an dem einige Bänke standen. Wenn ich mich leicht nach vorn beugte, konnte ich von dort aus auch den Central Street Market im Auge behalten. Obwohl ich satt war, aß ich eine meiner Orangen. Ich warf die Stücke der Schale über die Betonbrüstung und beobachtete, wie das Wasser sie mitnahm.
Um Punkt sechs gingen die Lichter in den großen Schaufenstern des Supermarkts aus. Um Viertel nach sechs hatten die letzten Frauen den Laden verlassen und trugen ihre Einkaufstaschen den Up-Mile Hill hinauf oder warteten an einem der Telefonmasten mit dem aufgemalten weißen Streifen. Ein Bus mit dem Hinweisschild RUNDFAHRT EINE TARIFZONE kam vorbei und sammelte sie auf. Um Viertel vor sieben kamen die Ersten vom Personal aus dem Supermarkt. Ganz zuletzt kamen Mr. Currie, der Filialleiter, und Dunning. Sie schüttelten sich die Hand, dann gingen sie auseinander. Currie ging durch die Gasse zwischen dem Supermarkt und dem benachbarten Schuhgeschäft, vermutlich zu seinem Auto, und Dunning zur Bushaltestelle.
Inzwischen warteten dort nur noch zwei weitere Leute, und ich wollte mich nicht zu ihnen gesellen. Dank der Einbahnstraßenregelung in der Unterstadt war das auch nicht nötig. Ich ging zum nächsten Telefonmast mit einem weißen Strich, diesmal vor dem Kino The Strand (das als Doppelvorstellung Machine-Gun Kelly und Reform School Girl zeigte; die Reklame am Vordach warb mit BRANDHEISSER ACTION), und wartete dort mit einigen Arbeitern, die angeregt über mögliche Paarungen bei den World Series diskutierten. Ich hätte ihnen eine Menge darüber erzählen können, aber ich hielt den Mund.
Ein Stadtbus tauchte auf und hielt gegenüber dem Center Street Market. Dunning stieg ein. Der Bus fuhr hügelabwärts weiter und hielt erneut, diesmal vor dem Filmtheater. Ich ließ die Arbeiter vor mir einsteigen, damit ich sehen konnte, wie viel jeder in den Münzbehälter warf, der neben dem Fahrersitz auf einer niedrigen Säule montiert war. Dabei kam ich mir vor wie ein Außerirdischer in einem Science-Fiction-Film, der sich als Erdling auszugeben versuchte. Das war irgendwie dämlich – ich wollte mit dem Stadtbus fahren, nicht das Weiße Haus mit Todesstrahlen in die Luft jagen –, was aber nichts an meinem seltsamen Gefühl änderte.
Einer der Kerle, die vor mir einstiegen, wies eine kanariengelbe Zeitkarte vor, die mich flüchtig an den Gelbe-Karte-Mann denken ließ. Die anderen warfen fünfzehn Cent in den Münzbehälter, der sie klimpernd verschluckte. Das tat auch ich, obwohl dieser Vorgang bei mir länger dauerte, weil der Dime an meiner feuchten Handfläche festklebte. Ich bildete mir ein, dass mich alle beobachteten, doch als ich dann aufsah, lasen alle Zeitung oder starrten blicklos aus dem Fenster. Das Businnere war mit einer blaugrauen Wolke aus Zigarettenqualm angefüllt.
Frank Dunning, der rechts ungefähr in der Mitte saß, trug jetzt eine gut sitzende, graue Stoffhose, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Schick. Er war dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, und sah nicht auf, als ich an ihm vorbeiging und mir einen Platz im rückwärtigen Teil suchte. Der Bus ratterte durch das Einbahnstraßensystem der Unterstadt und fuhr dann auf der Witcham Street den Up-Mile Hill hinauf. Sobald wir das Wohngebiet im Westen der Stadt erreichten, stiegen die ersten Fahrgäste aus. Es waren allesamt Männer; die Frauen waren vermutlich zu Hause und räumten ihre Einkäufe weg oder bereiteten das Abendessen zu. Als der Bus immer leerer wurde und Frank Dunning rauchend auf seinem Platz sitzen blieb, fragte ich mich, ob wir zuletzt die beiden einzigen Fahrgäste sein würden.
Ich hatte mir zu früh Sorgen gemacht. Als der Bus sich der Haltestelle an der Ecke Witcham Street und Charity Avenue näherte (in Derry gab es auch Faith und Hope Avenues, wie ich später feststellte), ließ Dunning seine Kippe fallen, trat sie auf dem Boden aus und erhob sich von seinem Platz. Er ging im Mittelgang nach vorn, ohne die Haltegriffe zu benutzen, und glich das Schwanken des langsam fahrenden Busses mühelos aus. Manche Männer verloren die körperliche Beweglichkeit ihrer Jugend erst in relativ hohem Alter. Dunning schien einer davon zu sein. Er wäre ein ausgezeichneter Swingtänzer gewesen.
Er schlug dem Busfahrer auf die Schulter und begann, ihm einen Witz zu erzählen. Der Witz war kurz, und das meiste davon ging im Zischen der Druckluftbremse unter, aber ich verstand den Satzfetzen Drei Nigger stecken in einem Aufzug fest und erriet, dass es keiner war, den er seinem Hauskleider tragenden Harem erzählt hätte. Der Fahrer explodierte vor Lachen und betätigte den langen, verchromten Hebel, der die vordere Tür öffnete. »Also bis Montag, Frank«, sagte er.
»Wenn’s keine Sintflut gibt«, antwortete Dunning, dann stieg er die zwei Stufen hinunter und sprang über den Grünstreifen auf den Gehsteig. Ich konnte sehen, wie die Muskeln unter seinem Hemd spielten. Was für eine Chance würden eine Frau und vier Kinder gegen ihn haben? Keine große war mein erster Gedanke zu diesem Thema, aber das stimmte nicht. Die richtige Antwort lautete: Gar keine.
Als der Bus wieder anfuhr, sah ich Dunning die Stufen zum Eingang des ersten Gebäudes in der Charity Avenue emporsteigen. Auf der breiten Veranda des Hauses saßen acht oder neun Männer und Frauen in Schaukelstühlen. Mehrere von ihnen begrüßten den Metzger, der anfing, Hände zu schütteln wie ein Politiker auf Besuch. Das Haus war ein zweistöckiges Gebäude im viktorianischen Stil mit einem großen Schild unter der Dachtraufe der Veranda. Ich hatte gerade noch Zeit, es zu lesen.
GÄSTEHAUS EDNA PRICE
WÖCHENTLICH ODER MONATLICH
AUCH MIT KLEINER KÜCHE
KEINE HAUSTIERE!
Unter diesem großen Schild hing an Haken ein kleineres orangerotes Schild mit der simplen Botschaft: BELEGT.
An der übernächsten Haltestelle stieg auch ich aus. Ich bedankte mich bei dem Fahrer, der darauf nur ein mürrisches Grunzen von sich gab. Wie ich herausfand, galt das in Derry, Maine, als höfliche Erwiderung. Es sei denn, versteht sich, man konnte ein paar Witze über im Aufzug festsitzende Nigger oder die polnische Marine erzählen.
Ich ging langsam in Richtung Stadt zurück und machte einen Umweg von zwei Straßen, um Edna Price’ Gästehaus auszuweichen, dessen Bewohner sich nach dem Abendessen auf der Veranda versammelten – genau wie die Leute in einer der Kurzgeschichten von Ray Bradbury über das idyllische Greentown, Illinois. Und ähnelte Frank Dunning nicht einem dieser guten Leute? Gewiss, das tat er. Aber auch in Bradburys Greentown hatte es verborgene Schrecken gegeben.
Der nette Mann wohnt nicht mehr daheim, hatte Richie-from-the-ditchie gesagt, und diese Information stimmte. Der nette Mann wohnte in einem Gästehaus, in dem jeder ihn für ganz reizend zu halten schien.
Meiner Schätzung nach stand das Gästehaus Price keine fünf Straßen westlich des Hauses Kossuth Street 379, vielleicht sogar näher. Saß Frank Dunning am Fenster seines Pensionszimmers, wenn die übrigen Bewohner zu Bett gegangen waren, und sah nach Osten wie einer der Gläubigen, die sich der Kibla zuwandten? Und hatte er dabei sein He-großartig-Sie-zu-sehen-Lächeln aufgesetzt? Das bezweifelte ich. Und waren seine Augen blau, oder hatten sie wieder diese kalte, nachdenkliche graue Farbe angenommen? Wie erklärte er den Leuten, die die Abendluft auf Edna Price’ Veranda genossen, dass er Herd und Heim verlassen hatte? Hatte er sich eine Geschichte zurechtgelegt, in der seine Frau ein bisschen übergeschnappt oder ein ausgemachtes Luder war? Das hielt ich für wahrscheinlich. Und glaubten die Leute ihm das? Diese Frage war leicht zu beantworten. Ob man von 1958, 1985 oder 2011 sprach, spielte keine Rolle. In Amerika, wo der Schein stets als Realität galt, wurde Kerlen wie Frank Dunning immer geglaubt.
4
Am folgenden Dienstag mietete ich ein Apartment, das in den Derry Daily News als »teilmöbliert, in guter Wohnlage« beschrieben wurde, und am Mittwoch, dem 17. September, zog Mr. George Amberson dort ein. Goodbye, Derry Town House; hello, Harris Avenue. Ich lebte nun seit über einer Woche im Jahr 1958 und begann mich dort wohlzufühlen, wenn auch nicht gerade heimisch.
Die Teilmöblierung bestand aus einem Bett (mit leicht fleckiger Matratze, aber ohne Bettwäsche), einem Sofa, einem Küchentisch, dessen eines Bein unterlegt werden musste, damit er nicht wackelte, und einem einzelnen Stuhl mit gelbem Kunststoffpolster, das ein komisches schmatzendes Geräusch machte, wenn es sich beim Aufstehen von meinem Hosenboden löste. Weiter gab es einen Herd und einen ratternden Kühlschrank. Im Vorratsschrank in der Küche entdeckte ich das Klimagerät meines Apartments: ein GE-Ventilator mit ausgefranstem Kabel, das absolut tödlich aussah.
Das genau in der Einflugschneise des Flughafens Derry liegende Apartment war mit fünfundsechzig Dollar im Monat etwas überteuert, fand ich, aber ich nahm es, weil Mrs. Joplin, die Vermieterin, bereit war, über Mr. Ambersons Mangel an Referenzen hinwegzusehen. Dass er anbieten konnte, drei Monatsmieten im Voraus zu zahlen, war dabei sicher nützlich. Trotzdem bestand sie darauf, sich die Angaben auf meinem Führerschein zu notieren. Falls sie es seltsam fand, dass ein freiberuflicher Immobilienmakler aus Wisconsin einen Führerschein aus Maine hatte, behielt sie das für sich.
Ich war froh, dass Al mir reichlich Bargeld mitgegeben hatte. Bargeld wirkte so beruhigend auf Fremde.
Vor allem reichte es 1958 auch bedeutend weiter. Für nur dreihundert Dollar konnte ich mein teilmöbliertes Apartment in ein vollständig möbliertes verwandeln. Neunzig dieser dreihundert gab ich für einen gebrauchten Tischfernseher von RCA aus. An diesem Abend sah ich die Steve Allen Show in prachtvollem Schwarz-Weiß, dann schaltete ich den Fernseher aus, saß am Küchentisch und hörte zu, wie ein Flugzeug mit pfeifenden Propellern zur Landung anschwebte. Aus meiner Gesäßtasche zog ich ein kleines Blue-Horse-Schreibheft, das ich in der Unterstadt in dem Drugstore (in dem Ladendiebstahl kein Nervenkitzel oder Spaß und auch keine Mutprobe war) gekauft hatte. Ich schlug die erste Seite auf und klickte die Mine meines ebenso neuen Parker-Kugelschreibers heraus. So saß ich ungefähr eine Viertelstunde lang da – lange genug, dass ein weiteres Flugzeug geräuschvoll und anscheinend so tief anfliegen konnte, dass ich fast erwartete, seine Räder über das Dach poltern zu hören.
Die Seite blieb leer. Mein Verstand ebenso. Immer wenn ich ihn anzukurbeln versuchte, war der einzige zusammenhängende Gedanke, zu dem ich imstande war: Die Vergangenheit will nicht geändert werden.
Nicht sonderlich hilfreich.
Schließlich stand ich auf, holte den Ventilator aus dem Schrank und stellte ihn auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Ich war mir erst nicht sicher, ob er laufen würde, aber er tat es. Das Summen des Elektromotors war eigenartig beruhigend. Außerdem übertönte es das nervtötende Rattern des Kühlschranks.
Als ich mich wieder hinsetzte, war mein Verstand klarer, und diesmal konnte ich ein paar Worte zu Papier bringen.
OPTIONEN
1. zur Polizei gehen
2. anonymer Anruf bei dem Fleischer (»Ich behalte Sie im Auge, Freundchen, wenn Sie was tun, verpfeife ich Sie«)
3. dem Fleischer eine Straftat anhängen
4. den Fleischer irgendwie außer Gefecht setzen
Hier machte ich eine Pause. Der Kühlschrank hörte zu arbeiten auf. Es gab keine anfliegenden Flugzeuge, keinen Verkehr auf der Harris Avenue mehr. Vorübergehend war ich mit meinem Ventilator und meiner unvollständigen Liste allein. Schließlich notierte ich mir den letzten Punkt:
5. den Fleischer ermorden
Dann zerknüllte ich den Zettel, öffnete die für den Gasherd bestimmte Schachtel Streichhölzer und riss eines an. Der Ventilator blies es prompt aus, und ich dachte wieder daran, wie schwierig es war, Dinge zu ändern. Ich stellte den Ventilator ab, riss ein weiteres Streichholz an und hielt es an das zusammengeknüllte Notizpapier. Als es aufflammte, ließ ich es in den Ausguss fallen, wartete, bis die Flamme erloschen war, und spülte die Asche dann mit Wasser weg.
Danach ging Mr. George Amberson ins Bett.
Aber er konnte lange nicht einschlafen.
5
Als das letzte Flugzeug des Abends um 0.30 Uhr übers Dach zur Landung anschwebte, lag ich noch wach und dachte über meine Liste nach. Zur Polizei zu gehen kam nicht infrage. Das konnte bei Oswald funktionieren, der in Dallas und New Orleans seine unverbrüchliche Liebe zu Fidel Castro erklären würde, aber der Fall Dunning lag anders. Dunning war ein angesehener und beliebter Mitbürger. Und wer war ich? Ein Neuling in einer Stadt, die keine Außenstehenden mochte. Als ich an diesem Nachmittag aus dem Drugstore gekommen war, hatte ich Keine Hosenträger und seine Kumpel wieder vor dem Sleepy Silver Dollar stehen sehen. Obwohl ich meine Arbeiterklamotten getragen hatte, hatten sie mich mit dem gleichen Wer-zum-Teufel-bist-du-Blick gemustert.
Und was hätte ich bei der Polizei sagen sollen, selbst wenn ich nicht erst seit acht Tagen, sondern seit acht Jahren in Derry gewohnt hätte? Dass ich eine Vision gehabt habe, Frank Dunning werde seine Familie an Halloween ermorden? Das wäre bestimmt gut angekommen.
Die Idee, den Metzger selbst anonym anzurufen, gefiel mir etwas besser, aber es war eine beängstigende Option. Sobald ich Frank Dunning anrief – an seinem Arbeitsplatz oder bei Edna Price, wo er zweifellos ans Gemeinschaftstelefon im Aufenthaltsraum gerufen werden würde –, griff ich in den Lauf der Ereignisse ein. Dieser Anruf konnte zwar möglicherweise verhindern, dass er seine Familie ermordete, aber ich hielt es für ebenso wahrscheinlich, dass der Anruf die entgegengesetzte Wirkung entfaltete und Dunning vom schmalen Grat der Zurechnungsfähigkeit kippte, auf dem er sich hinter seinem freundlichen George-ClooneyLächeln bewegen musste. Statt die Morde zu verhindern, würde ich vielleicht nur erreichen, dass sie vorgezogen wurden. Jetzt wusste ich noch, wo und wann. Falls ich ihn jedoch irgendwie warnte, wäre ich ahnungslos.
Ihm eine Straftat anhängen? Das funktionierte vielleicht in einem Spionagethriller, aber ich war kein CIA-Agent; ich war ein gottverdammter Englischlehrer.
Fleischer außer Gefecht setzen stand als Nächstes auf der Liste. Okay, aber wie? Ihn mit dem Sunliner anfahren, vielleicht wenn er mit einem Hammer in der Hand und Mord im Sinn von der Charity Avenue zur Kossuth Street unterwegs war? Wenn ich nicht unverschämtes Glück hatte, würde man mich schnappen und einsperren. Und Verletzte erholten sich im Allgemeinen irgendwann wieder. Dann konnte er es noch einmal versuchen. Dieses Szenario fand ich nur allzu plausibel. Weil die Vergangenheit sich nicht ändern lassen wollte. Sie war unerbittlich.
Die einzig sichere Methode war, ihm zu folgen, einen Augenblick abzuwarten, in dem er allein war, und ihn umzubringen. Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?
Aber auch diese Option war nicht ohne Probleme. Das größte war, dass ich nicht wusste, ob ich dazu imstande sein würde. Ich traute mir eine Tötung im Affekt zu – um mich selbst oder andere zu verteidigen –, aber vorsätzlichen Mord? Selbst wenn ich wusste, dass mein potenzielles Opfer seine Frau und seine Kinder ermorden würde, wenn ich ihn nicht daran hinderte?
Und … was war, wenn ich es tat und erwischt wurde, bevor ich in die Zukunft entkommen konnte, in der ich statt George Amberson wieder Jake Epping war? Ich würde vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und ins Shawshank State Prison eingeliefert werden. Dort würde ich noch an dem Tag einsitzen, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde.
Selbst damit war ich der Sache noch nicht absolut auf den Grund gegangen. Ich stand auf, ging durch die Küche in mein Bad von der Größe einer Telefonzelle, setzte mich auf den heruntergeklappten Klodeckel und stützte den Kopf in die Hände. Ich war davon ausgegangen, dass Harrys Aufsatz der Wahrheit entsprach. Auch Al hatte das getan. Vermutlich stimmte das auch, denn Harry war geistig eindeutig zwei, drei Stufen unter dem Durchschnitt, und solche Leute neigten weniger dazu, Fantasien wie die von der Ermordung einer ganzen Familie als Realität hinzustellen. Trotzdem …
Neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit sind nicht hundert, hatte Al gesagt und dabei von Oswald gesprochen. Der war ungefähr der Einzige, der überhaupt als der Attentäter infrage kam, wenn man all die wirren Verschwörungstheorien ausklammerte, und trotzdem hatte Al diese letzten Restzweifel gehabt.
Ich hatte Harrys Geschichte nie überprüft. In der computerfreundlichen Welt des Jahres 2011 wäre das leicht gewesen, trotzdem hatte ich es nie getan. Und selbst wenn sie hundertprozentig der Wahrheit entsprach, konnte es wichtige Details geben, in denen er sich geirrt oder die er ganz ausgelassen hatte. Dinge, die zu Fallstricken für mich werden konnten. Was, wenn ich, statt wie Sir Galahad zur Rettung der Familie zu reiten, nur dafür sorgte, dass ich zusammen mit ihr ermordet wurde? Das würde zu einigen interessanten Veränderungen in der Zukunft führen, nur würde ich sie leider nicht mehr beobachten können.
Dann hatte ich plötzlich eine neue Idee, die mir auf verrückte Weise sehr ansprechend erschien. Ich konnte an Halloween gegenüber dem Haus Kossuth Street 379 Stellung beziehen … und einfach nur zusehen. Um sicherzugehen, dass es wirklich passierte, ja, aber auch, um alle Einzelheiten zu registrieren, die der einzige Überlebende – ein traumatisierter kleiner Junge – vielleicht übersehen hatte. Dann konnte ich nach Lisbon Falls zurückfahren, die Treppe hinaufgehen und sofort am 9. September 1958 um 11.58 Uhr zurückkehren, um wieder den Sunliner zu kaufen und wieder nach Derry zu fahren, diesmal jedoch mit allen nötigen Informationen versehen. Natürlich hatte ich schon ziemlich viel von Als Geld ausgegeben, aber der Rest würde locker reichen.
Die Idee kam gut aus den Startlöchern, strauchelte dann aber schon vor der ersten Kurve. Der ganze Sinn dieses Trips hatte darin bestanden, herauszufinden, wie die Rettung der Angehörigen des Hausmeisters sich auf die Zukunft auswirken würde. Wenn ich Frank Dunning die Morde verüben ließ, würde ich das nie erfahren. Außerdem stand mir bereits eine Rückkehr ins Jahr 1958 bevor, denn es würde einen dieser Neustarts geben, wenn – falls – ich wiederkam, um Oswald zu stoppen. Einmal war schlimm. Zweimal würde noch schlimmer sein. Dreimal war undenkbar.
Und noch etwas anderes: Harry Dunnings Mutter und seine Geschwister waren schon einmal gestorben. Wollte ich sie dazu verurteilen, ein zweites Mal zu sterben? Auch wenn jedes Mal ein Neustart war, sodass sie nichts davon wussten? Und wer konnte überhaupt sicher sein, dass sie es nicht auf irgendeiner unteren Bewusstseinsebene doch ahnten?
Die Schmerzen. Das Blut. Rotkäppchen, das unter dem Schaukelstuhl auf dem Boden lag. Harry, der versuchte, sich den Tobenden mit einem Daisy-Luftgewehr vom Leib zu halten. Lass mich in Ruhe, Dad, sonst erschieß ich dich.
Ich schlurfte durch die Küche zurück und blieb kurz stehen, um den Stuhl mit dem gelben Kunststoffpolster anzusehen. »Ich hasse dich, Stuhl«, sagte ich zu ihm und ging dann wieder ins Bett.
Diesmal schlief ich fast augenblicklich ein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien eine Neunuhrsonne durch mein noch vorhangloses Schlafzimmerfenster, die Vögel zwitscherten wichtigtuerisch, und ich glaubte zu wissen, was ich zu tun hatte. Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?
6
Mittags band ich meine Krawatte um, setzte meinen Strohhut im richtigen Winkel flott auf und ging hinunter zu Machen’s Sporting Goods, wo es weiterhin WAFFEN-HERBSTANGEBOTE gab. Ich erklärte dem Verkäufer, dass ich eine Handfeuerwaffe brauche, weil ich in der Immobilienbranche tätig sei und manchmal ziemlich hohe Bargeldbeträge transportieren müsse. Er zeigte mir mehrere, darunter einen .38er Colt Police Special. Kosten sollte der Revolver neun neunundneunzig. Das erschien mir absurd wenig, bis mir einfiel, was ich in Als Aufzeichnungen gelesen hatte: Oswalds italienisches Gewehr aus dem Versandhandel, mit dem er schließlich Geschichte machte, hatte weniger als zwanzig Dollar gekostet.
»Eine gute Waffe zum Selbstschutz«, sagte der Verkäufer, klappte die Trommel heraus und ließ sie sich drehen: klickklickklickklick. »Garantiert treffsicher bis auf fünfzehn Meter, und jeder, der dumm genug ist, Sie um Ihr Geld erleichtern zu wollen, dürfte viel näher an Ihnen dran sein.«
»Gekauft.«
Ich war darauf gefasst, meine kümmerlichen Papiere vorweisen zu müssen, aber ich hatte wieder einmal vergessen, in welch entspanntem und angstfreiem Amerika ich zurzeit lebte. Die Sache lief folgendermaßen ab: Ich zahlte an der Kasse und verließ den Laden mit dem Revolver. Kein Papierkram, keine Wartezeit. Ich sollte nicht einmal meine gegenwärtige Adresse angeben.
Oswald hatte sein Gewehr in eine Wolldecke gewickelt und in der Garage des Hauses versteckt, in dem seine Frau bei einer gewissen Ruth Paine lebte. Aber als ich Machen’s mit meinem Revolver in der Aktentasche verließ, glaubte ich zu wissen, wie er sich gefühlt haben musste: wie ein Mann mit einem großen Geheimnis. Ein Mann, der heimlich einen eigenen Tornado besaß.
Ein Kerl, der in einer der Fabriken hätte arbeiten sollen, stand in der Tür vom Sleepy Silver Dollar, rauchte eine Zigarette und las die Zeitung. Zumindest schien er sie zu lesen. Ich konnte nicht beschwören, dass er mich beobachtete, aber auch das Gegenteil hätte ich nicht beschwören können.
Es war Keine Hosenträger.
7
An diesem Abend bezog ich wieder Posten in der Nähe des Kinos mit dem Namen The Strand, dessen Vordachreklame jetzt verkündete: AB MORGEN NEUES PROGRAMM! LETZTE FAHRT NACH MEMPHIS (MITCHUM) & DIE WIKINGER (DOUGLAS). Derrys Kinogänger konnten sich auf weitere BRANDHEISSE ACTION freuen.
Dunning ging wieder zu der Bushaltestelle hinüber und stieg dort ein. Diesmal folgte ich ihm nicht. Das war nicht nötig; ich wusste, wohin er fuhr. Stattdessen ging ich zurück zu meinem neuen Apartment und sah mich unterwegs ab und zu nach Keine Hosenträger um. Aber er war nirgends zu sehen, und so sagte ich mir, dass es nur ein Zufall gewesen war, dass er praktisch gegenüber dem Sportgeschäft gestanden hatte. Nicht einmal ein großer. Schließlich war der Sleepy seine Stammkneipe. Weil alle Fabriken in Derry sechs Tage in der Woche in Betrieb waren, hatten die Arbeiter wechselweise einen Tag frei. Der freie Tag von Keine Hosenträger konnte diese Woche der Donnerstag gewesen sein. Nächste Woche würde er vielleicht am Freitag vor dem Sleepy herumlungern. Oder am Dienstag.
Am folgenden Abend war ich wieder vor dem Strand und gab vor, das Plakat für Letzte Fahrt nach Memphis (Robert Mitchum röhrt den heißesten Highway der Welt hinunter!) zu studieren. Hauptsächlich deshalb, weil ich nicht wusste, wohin ich sonst hätte gehen sollen; Halloween war noch sechs Wochen entfernt, und ich schien jetzt in die Programmphase eingetreten zu sein, in der ich Zeit totschlagen musste. Aber statt zur Bushaltestelle ging Frank Dunning diesmal zur Dreierkreuzung von Center, Kansas und Witcham hinunter und blieb dort scheinbar unschlüssig stehen. In dunkler Freizeithose, weißem Hemd, blauer Krawatte und einem Sportsakko mit hellgrauem Karomuster sah er wieder flott aus. Den Hut trug er leicht in den Nacken geschoben. Ich dachte schon, er würde aufs Kino zuhalten, um sich die Werbung für den heißesten Highway der Welt anzusehen, was für mich das Signal gewesen wäre, in Richtung Canal Street davonzuschlendern. Aber er bog in die Witcham Street ab. Ich konnte ihn pfeifen hören. Er pfiff sehr gut.
Ich musste ihm nicht folgen, denn am 19. September würde er keine Hammermorde verüben. Aber ich war neugierig und hatte nichts Besseres zu tun. Er verschwand im Bar & Grill namens Lamplighter, der nicht so vornehm war wie der im Town House, jedoch auch bei Weitem nicht so schäbig wie die Kneipen in der Canal Street. In jeder Kleinstadt gab es ein paar Lokale, in denen Arbeiter und Angestellte sich auf Augenhöhe begegneten, und dies hier schien eines davon zu sein. Auf der Speisekarte stand meistens irgendeine heimische Spezialität, bei der sich Fremde nur den Kopf kratzen konnten. Im Lamplighter schien diese Spezialität etwas zu sein, was sich gegrilltes Hummerklein nannte.
Ich schlenderte an den großen Fenstern zur Straße vorbei und konnte beobachten, wie Dunning sich durch den Raum grüßte. Er schüttelte Hände und klopfte auf Schultern; einem Mann nahm er den Hut ab und ließ ihn zu einem Kerl hinübersegeln, der an der Tischkegelbahn stand und ihn geschickt unter allgemeinem Gelächter auffing. Ein netter Mann. Immer zu einem Scherz aufgelegt. Lache, und die ganze Welt lacht mit dir, hätte sein Motto sein können.
Ich sah, wie er an einem Tisch gleich neben der Tischkegelbahn Platz nahm, und wäre fast weitergegangen. Aber ich war durstig. Ein Bier war jetzt genau das Richtige, und die Bar im Lamplighter befand sich von dem großen Tisch aus, an dem sich Dunning zu der Männerrunde gesellt hatte, ganz am anderen Ende des Lokals, jenseits des belebten Gastraums. Er würde mich nicht sehen, aber ich konnte ihn im Spiegel hinter der Bar im Auge behalten. Auch wenn ich nichts wirklich Verblüffendes zu sehen bekommen würde.
Abgesehen davon, wurde es Zeit, dass ich anfing dazuzugehören, wenn ich noch sechs Wochen in Derry bleiben wollte. Also kehrte ich um und betrat die Bar zum Klang fröhlicher Stimmen, leicht angeheiterten Gelächters und Dean Martins Song »That’s Amore«. Bedienungen machten die Runde mit Bierkrügen und vollen Tellern mit etwas, was ich für gegrilltes Hummerklein hielt. Und überall stiegen natürlich blaue Rauchschwaden auf.
Im Jahr 1958 gab es überall Rauch.
8
»Wie ich sehe, interessiert Sie der Tisch dort drüben«, sagte jemand neben mir. Ich war schon lange genug im Lamplighter, um mein zweites Bier und die »Juniorportion« gegrilltes Hummerklein bestellt zu haben. Ich wusste, dass ich ewig neugierig bleiben würde, wenn ich das Zeug nicht wenigstens einmal probierte.
Ich wandte mich der Stimme zu und sah einen kleinen Mann mit Brillantine im zurückgekämmten Haar, rundem Gesicht und lebhaften schwarzen Augen. Er sah wie ein fröhliches Streifenhörnchen aus. Er grinste mich an und streckte mir eine kindergroße Hand hin. Auf seinem Unterarm wedelte eine barbusige Meerjungfrau mit ihrem Schuppenschwanz und kniff dabei ein Auge zu. »Charles Frati. Aber Sie können Chaz zu mir sagen. Das tun alle.«
Ich schüttelte ihm die Hand. »George Amberson, aber Sie können George zu mir sagen. Das tun auch alle.«
Er lachte. Ich lachte mit. Eigentlich galt es als ungehörig, über eigene Scherze zu lachen (vor allem über so winzige), aber manche Leute hatten eine so gewinnende Art, dass sie nie allein lachen mussten. Chaz Frati war einer von ihnen. Als die Bedienung ihm ein Bier brachte, hob er seinen Krug. »Auf Ihr Wohl, George.«
»Darauf trinke ich gern«, sagte ich und stieß mit ihm an.
»Jemand, den Sie kennen?«, fragte er mit einem Blick in den großen Spiegel hinter der Bar.
»Nee.« Ich wischte mir Schaum von der Oberlippe. »Diese Leute da scheinen nur mehr Spaß zu haben als alle anderen hier, das ist alles.«
Chaz lächelte. »Das ist Tony Trackers Tisch. Er könnte seinen Namen gleich in die Tischplatte gravieren lassen. Tony und seinem Bruder Phil gehört eine Spedition. Außerdem gehören ihnen in Derry – und den umliegenden Orten – mehr Hektar Land, als Carter Leberpillen hat. Phil lässt sich hier selten blicken, er ist meistens auf der Straße unterwegs, aber Tony versäumt nicht viele Freitag- und Samstagabende. Hat auch ’ne Menge Freunde. Sie amüsieren sich immer gut, aber keiner bringt so viel Leben in die Bude wie Frankie Dunning. Einer, der Witze auf Lager hat. Den alten Tony mag jeder, aber Frankie lieben sie geradezu.«
»Sie scheinen hier alle zu kennen.«
»Seit Jahren. Ich kenne die meisten in Derry, aber Sie nicht.«
»Weil ich hier noch ziemlich neu bin. Ich bin in der Immobilienbranche.«
»Gewerbeimmobilien, vermute ich.«
»Sie vermuten richtig.« Die Bedienung stellte mir mein gegrilltes Hummerklein hin und hastete davon. Das Zeug auf dem Teller sah wie etwas aus, was auf der Straße überfahren worden war, aber es roch lecker und schmeckte noch besser. Vermutlich eine Milliarde Gramm Cholesterin in jedem Bissen, aber darum scherte sich im Jahr 1958 niemand, was erholsam war. »Helfen Sie mir dabei«, forderte ich den kleinen Mann auf.
»Nein, diese Portion gehört Ihnen. Sie sind aus Boston? New York?«
Ich zuckte die Achseln, und er lachte.
»Sie bleiben zugeknöpft, wie? Kann ich Ihnen nicht verübeln, mein Freund. Vorsicht, Feind hört mit, was? Aber ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon, was Sie im Schilde führen.«
Ich hielt mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund inne. Im Lamplighter war es warm, aber mir war plötzlich kalt. »Tatsächlich?«
Er beugte sich weiter zu mir herüber. Ich konnte Vitalis in seinem Haar und Sen-Sen in seinem Atem riechen. »Wenn ich Grundstück für ein Einkaufszentrum sagen würde – wäre das ein Treffer?«
Mich durchlief eine Woge der Erleichterung. Auf die Idee, ich könnte in Derry ein Grundstück für ein Einkaufszentrum suchen, wäre ich nie gekommen, aber sie war gut. Ich blinzelte Chaz Frati zu. »Darf ich nicht sagen.«
»Nein, nein, natürlich nicht. Kein Geschäft ohne Diskretion, sage ich immer. Wechseln wir also das Thema. Sollten Sie aber jemals in Erwägung ziehen, einem der hiesigen Bauerntölpel mehr zu verraten, würde ich sehr gern zuhören. Und nur um Ihnen zu zeigen, dass ich das Herz auf dem rechten Fleck habe, will ich Ihnen einen kleinen Tipp geben. Falls Sie sich das alte Eisenwerk Kitchener noch nicht angesehen haben, sollten Sie’s tun. Ideale Lage. Und Einkaufszentren? Wissen Sie, was Einkaufszentren sind, mein Sohn?«
»Der Trend der Zukunft«, sagte ich.
Er zielte mit dem Zeigefinger wie mit einer Pistole auf mich und kniff ein Auge zu. Ich lachte wieder, war einfach machtlos dagegen. Vielleicht lag das mit an schlichter Erleichterung darüber, dass nicht alle Erwachsenen in Derry vergessen hatten, wie man zu einem Fremden freundlich sein konnte. »Mit einem Schlag eingelocht.«
»Und wem gehört das Grundstück mit dem alten Eisenwerk Kitchener, Chaz? Wohl den Brüdern Tracker?«
»Ich habe gesagt, dass ihnen jede Menge Grundstücke gehören, aber beileibe nicht alle.« Er sah auf die Meerjungfrau hinunter. »Milly, soll ich George erzählen, wem dieses erstklassige Grundstück in einem ausgeschriebenen Gewerbegebiet nur zwei Meilen vom Zentrum dieser Metropole entfernt gehört?«
Milly wackelte mit ihrem Schuppenschwanz und ließ ihre üppigen Brüste wippen. Dafür musste Chaz Frati nicht die Hand zur Faust ballen; seine Unterarmmuskeln schienen sich ganz von allein zu bewegen. Das war ein guter Trick. Ich fragte mich, ob er auch Hasen aus einem Zylinderhut zaubern konnte.
»Also gut, Schätzchen.« Er sah wieder zu mir auf. »Eigentlich wäre das meine Wenigkeit. Ich kaufe das Beste und überlasse den Brüdern Tracker den Rest. Darf ich Ihnen meine Karte geben, George?«
»Unbedingt.«
Das tat er. Auf seiner Karte stand lediglich: CHARLES »CHAZ« FRATI ANKAUF VERKAUF TAUSCH. Ich steckte sie in meine Hemdtasche.
»Wenn Sie mit allen diesen Leuten hier bekannt sind, warum sitzen Sie dann nicht an ihrem Tisch, statt sich mit einem Neuankömmling an der Bar zu unterhalten?«, fragte ich.
Er wirkte überrascht, aber auch wieder amüsiert. »Sind Sie in einem Koffer geboren und dann aus dem Zug geworfen worden, mein Freund?«
»Nur neu in der Stadt. Kenn mich noch nicht mit den Gepflogenheiten aus. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel.«
»Würde ich mir nie einfallen lassen. Die Leute machen Geschäfte mit mir, weil mir die Hälfte aller Autohöfe der Stadt, beide Kinos und das Autokino, eine der Banken und alle Leihhäuser im mittleren und östlichen Maine gehören. Aber weder essen oder trinken sie mit mir noch laden mich in ihre Häuser oder ihren Country Club ein. Ich bin nämlich Stammesmitglied.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Vom Stamme Juda, mein Freund. Ich bin Jude.« Er sah meinen Gesichtsausdruck und grinste. »Sie haben nichts geahnt. Nicht mal, als ich nichts von Ihrem Hummer wollte. Ich bin gerührt.«
»Ich versuche nur rauszukriegen, wieso das eine Rolle spielen sollte«, sagte ich.
Frati lachte, als wäre das der bisher beste Witz des Jahres. »Dann sind Sie statt in einem Koffer unter einem Kohlblatt geboren.«
Im Spiegel sprach Frank Dunning mit Tony Tracker, dessen Freunde breit grinsend zuhörten. Als sie dann in brüllendes Gelächter ausbrachen, fragte ich mich, ob er den Witz über die drei in einem Aufzug festsitzenden Nigger erzählt hatte oder etwas noch Amüsanteres und Satirischeres – vielleicht über drei Jidden auf dem Golfplatz.
Chaz sah, wen ich beobachtete. »Frank ist eine richtige Stimmungskanone. Wissen Sie, wo er arbeitet? Nein, Sie sind neu in der Stadt. Hätte ich fast vergessen. Center Street Market. Er ist der Chef-Metzger. Und auch zur Hälfte Mitbesitzer, obwohl er das für sich behält. Und wissen Sie, was? Dass der Laden floriert und Gewinn macht, ist hauptsächlich ihm zu verdanken. Zieht die Damen an wie Honig die Bienen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, und Männer mögen ihn auch. Das ist nicht immer der Fall. Don Juans sind bei Männern nicht sehr beliebt.«
Das erinnerte mich an die starke Fixierung meiner Exfrau auf Johnny Depp.
»Aber es ist nicht mehr wie in alten Zeiten, als er bis zur Sperrstunde mit ihnen getrunken und dann bis zum Morgengrauen auf dem Güterbahnhof mit ihnen gepokert hat. Heutzutage trinkt er ein Bier – vielleicht zwei – und geht dann wieder. Sie werden’s erleben.«
Dieses Verhaltensmuster kannte ich von Christys sporadischen Versuchen, ihren Alkoholkonsum einzudämmen, statt ihn ganz aufzugeben, aus eigener Erfahrung. Es hatte jeweils eine Zeit lang funktioniert, aber früher oder später endete es jedes Mal unweigerlich mit einem Absturz.
»Alkoholproblem?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht, aber er hat ganz sicher eine Persönlichkeitsstörung.« Er sah auf seine Tätowierung hinunter. »Milly, ist dir jemals aufgefallen, wie viele Spaßvögel einen bösartigen Zug haben?«
Milly schlug mit dem Schwanz. Chaz nickte mir ernst zu. »Sehen Sie? Die Frauen wissen immer Bescheid.« Er stibitzte ein Stück Hummer und sah sich theatralisch um, ob ihn jemand dabei beobachtete. Ich fand ihn sehr amüsant und wäre nie auf die Idee gekommen, er könnte etwas anderes sein, als er zu sein schien. Aber wie Chaz selbst schon angedeutet hatte, war ich ein bisschen naiv. Jedenfalls für Derry-Verhältnisse. »Das dürfen Sie aber nicht Rabbi Schnarchtviel erzählen.«
»Ihr Geheimnis ist bei mir sicher.«
Dass die Männer an Trackers Tisch sich zu Frank hinüberbeugten, ließ darauf schließen, dass er schon den nächsten Witz erzählte. Er gehörte zu den Leuten, die viel mit den Händen redeten. Er hatte große Hände. Man konnte sich leicht vorstellen, wie er mit einer davon einen Hammer Marke Craftsman schwang.
»In der Highschool hat er mächtig getobt und gewütet«, sagte Chaz. »Sie haben einen Kerl vor sich, der weiß, wovon er redet, weil ich mit ihm auf der alten County Consolidated war. Aber meine Mama hat keine Dummköpfe großgezogen, deshalb bin ich ihm meistens aus dem Weg gegangen. Ein Ausschluss vom Unterricht nach dem anderen. Immer wegen Prügeleien. Er sollte auf die University of Maine gehen, aber dann hat er ein Mädchen geschwängert und ist stattdessen Ehemann geworden. Nach ein, zwei Jahren hat sie das Baby mitgenommen und ist abgehauen. Vermutlich ein cleverer Entschluss, wenn man bedenkt, wie er damals war. Frankie war einer dieser Kerle, denen es gutgetan hätte, gegen die Deutschen oder die Japaner zu kämpfen – da hätte er sich wirklich austoben können. Aber er ist als 4-F gemustert worden. Keine Ahnung, warum. Plattfüße? Herzrauschen? Hoher Blutdruck? Das weiß kein Mensch. Aber Sie wollen diese alten Geschichten vermutlich gar nicht hören.«
»Doch«, sagte ich. »Die sind interessant.« Das waren sie wirklich. Ich war in den Lamplighter gekommen, um meine Kehle zu befeuchten, und war stattdessen auf eine Goldmine gestoßen. »Nehmen Sie sich noch ein Stück Hummer.«
»Bevor ich mich schlagen lasse …«, sagte er und steckte sich eines in den Mund. Während er kaute, wies er mit dem Daumen auf sein Spiegelbild. »Und warum auch nicht? Sehen Sie sich bloß die Kerle dort drüben an – die Hälfte von denen sind Katholiken, trotzdem essen sie Burger und Käse-Schinken-Sandwichs oder welche mit Salami. Am Freitag! Wer wird schon aus Religion schlau, mein Freund?«
»Ich ganz bestimmt nicht«, sagte ich. »Ich war mal Methodist. Mr. Dunning hat sein Studium wohl nie nachgeholt, was?«
»Nein. Nachdem seine erste Frau bei Nacht und Nebel abgehauen ist, hat er eine Fleischerlehre gemacht, und auf diesem Gebiet war er wirklich gut. Er hatte weiter Schwierigkeiten – jawohl, auch der Alkohol hatte damit zu tun, die Leute klatschen schrecklich viel, wissen Sie, und einem Mann, dem ein paar Leihhäuser gehören, wird alles zugetragen –, also hat Mr. Vollander, dem damals der Supermarkt gehörte, den ollen Frankie zu sich kommen lassen und ihm eine Standpauke gehalten.« Chaz schüttelte den Kopf und nahm sich ein weiteres Stück Hummer. »Hätte Benny Vollander damals gewusst, dass Frankie Dunning die Hälfte seines Ladens gehören würde, sobald dieser Korea-Scheiß vorbei sein würde, hätte ihn glatt der Schlag getroffen. Nur gut, dass wir nicht in die Zukunft sehen können, stimmt’s?«
»Das würde allerdings vieles kompliziert machen.«
Chaz kam mit seiner Geschichte in Fahrt, und als ich bei der Bedienung noch zwei Bier bestellte, sagte er nicht nein.
»Benny Vollander hat Frankie gesagt, er wär der beste Fleischerlehrling, den er jemals gehabt hat, aber wenn er noch mal Schwierigkeiten mit der Polizei kriegt, müsste er ihn trotzdem entlassen. Ein guter Rat genügt dem Verständigen, sagt man, und Frankie hat sich danach zusammengerissen. Ließ sich von seiner ersten Frau scheiden, nachdem die ein, zwei Jahre weg war, und hat bald wieder geheiratet. Inzwischen war der Krieg voll im Gang, und er hätte freie Auswahl unter den Damen gehabt – er besitzt diesen Charme, wissen Sie, und die meisten Konkurrenten waren ohnehin in Übersee –, aber er hat sich für Doris McKinney entschieden. Ein sehr hübsches Mädchen, wirklich wahr.«
»Das ist sie bestimmt immer noch.«
»Unbedingt, mein Freund. Bildhübsch. Sie haben drei oder vier Kinder. Nette Familie.« Chaz senkte vertraulich die Stimme. »Aber Frankie hat immer mal wieder diese Wutanfälle, und im Frühjahr muss er es sich endgültig mit ihr verscherzt haben, denn sie war mit Prellungen im Gesicht in der Kirche und hat ihn eine Woche später vor die Tür gesetzt. Jetzt wohnt er so nah wie möglich in einem Gästehaus. Schätzungsweise in der Hoffnung, dass sie ihn wieder aufnimmt. Was sie früher oder später tun wird. Er versteht sich darauf, Leute mit seinem Charme … Hoppla, sehen Sie, was hab ich gesagt! Jetzt haut er plötzlich ab.«
Dunning war aufgestanden. Die Männer am Tisch forderten ihn lautstark auf, sich wieder hinzusetzen, aber er schüttelte den Kopf und deutete auf seine Armbanduhr. Er kippte den letzten Rest aus seinem Glas, dann beugte er sich nach unten und küsste den neben ihm Sitzenden auf die Glatze. Das wurde mit johlendem Gelächter quittiert, auf dem Dunning zum Ausgang surfte.
Im Vorbeigehen schlug er Chaz auf die Schulter und sagte: »Sieh zu, dass deine Nase sauber bleibt, Chazzy – sie ist zu lang, als dass sie schmutzig werden dürfte.«
Dann war er fort. Chaz sah mich an. Er hatte sein fröhliches Streifenhörnchengrinsen aufgesetzt, aber seine Augen lächelten nicht mit. »Ist er nicht ein Spaßvogel?«
»Und ob«, sagte ich.
9
Ich gehöre zu den Leuten, die erst richtig wissen, was sie denken, wenn sie es niederschreiben, deshalb verbrachte ich den größten Teil des Wochenendes damit, mir Notizen darüber zu machen, was ich in Derry zu hören und zu sehen bekam, was ich so den Tag über trieb und was ich vorhatte. Die Aufzeichnungen wuchsen sich bald zu einer Erklärung aus, wie ich überhaupt hierhergekommen war, und am Sonntag wurde mir klar, dass ich einen Job angefangen hatte, der für ein Taschennotizbuch und einen Kugelschreiber zu viel war. Am Montag zog ich los und kaufte mir eine Kofferschreibmaschine. Eigentlich wollte ich dafür ursprünglich ins hiesige Bürowarengeschäft gehen, aber dann sah ich Chaz Fratis Karte auf dem Küchentisch und ging stattdessen zu ihm. Sein Leihhaus am East Side Drive war fast so groß wie ein Kaufhaus. Über dem Eingang prangten die traditionellen drei goldenen Kugeln, aber auch noch etwas anderes: eine Meerjungfrau aus Gips mit aufgestelltem Schuppenschwanz und einem zugekniffenen Auge. Weil sie öffentlich sichtbar war, trug sie ein Bustier. Frati selbst ließ sich nicht blicken, aber ich bekam eine erstklassige Smith-Corona für zwölf Dollar. Ich trug dem Verkäufer auf, Mr. Frati zu sagen, der Immobilienmakler George sei da gewesen.
»Sehr gern, Sir. Möchten Sie Ihre Karte hierlassen?«
Scheiße. Ich musste mir welche drucken lassen – was also doch einen Besuch bei Derry Business Supply erfordern würde. »Hab sie im anderen Sakko gelassen, aber ich glaube, er wird sich an mich erinnern«, sagte ich. »Wir haben im Lamplighter ein Bier miteinander getrunken.«
An diesem Nachmittag begann ich meine Notizen auszuweiten.
10
Ich gewöhnte mich an die Flugzeuge, die direkt über meinem Kopf zur Landung ansetzten. Ich bestellte eine Tageszeitung und ließ mir täglich Milch liefern: in dicken Glasflaschen, die einem vor die Haustür gebracht wurden. Wie das Root Beer, das Frank Anicetti mir bei meinem ersten Ausflug ins Jahr 1958 serviert hatte, schmeckte die Milch unglaublich üppig und gehaltvoll. Die Sahne war noch besser. Ich wusste nicht, ob Kaffeeweißer schon erfunden war, und hatte auch nicht vor, es rauszukriegen. Nicht, solange es dieses Zeug gab.
Die Tage verstrichen unmerklich. Ich las Al Templetons Aufzeichnungen über Oswald, bis ich ganze Abschnitte auswendig hätte zitieren können. Ich besuchte die Stadtbibliothek und las über die Fälle von Mord und rätselhaftem Verschwinden nach, unter denen Derry 1957 und 1958 gelitten hatte. Ich suchte Berichte über Frank Dunning und seine berüchtigten Wutanfälle, fand aber keine; falls er jemals verhaftet worden war, hatte es der entsprechende Polizeibericht nicht in die Zeitung geschafft, obwohl die Polizeinachrichten an den meisten Tagen ziemlich umfangreich waren und montags sogar wegen all der Vergehen vom Wochenende (die meist passierten, nachdem die Bars geschlossen hatten) eine ganze Seite einnahmen. Die einzige Story über den Vater des Hausmeisters betraf eine Wohltätigkeitsinitiative aus dem Jahr 1955. In jenem Herbst hatte der Center Street Market zehn Prozent seines Gewinns an das Rote Kreuz gespendet, nachdem die Wirbelstürme Connie und Diane die Ostküste verwüstet, über zweihundert Menschenleben gefordert und in Neuengland durch Überschwemmungen gewaltige Schäden angerichtet hatten. Harrys Vater war abgebildet, wie er dem Bezirksleiter des Roten Kreuzes einen überdimensionalen Scheck überreichte. Dunning lächelte dabei sein Filmstarlächeln.
Ich unternahm keine weiteren Einkaufstouren zum Center Street Market mehr, aber an zwei Wochenenden – dem letzten im September und dem ersten im Oktober – folgte ich Derrys Lieblingsfleischer, nachdem er bis Samstagmittag hinter der Fleischtheke gestanden hatte. Für diesen Zweck mietete ich bei Hertz am Flughafen jeweils einen unscheinbaren Chevrolet. Mein roter Ford Sunliner war für eine Beschattung wohl etwas zu auffällig, fürchtete ich.
Am ersten Samstagnachmittag fuhr er mit seinem Pontiac, den er in einer gemieteten Innenstadtgarage stehen hatte und wochentags nur selten benutzte, zu einem Flohmarkt nach Brewer. Am folgenden Sonntag fuhr er vor seinem Haus in der Kossuth Street vor, lud die Kinder ein und nahm sie zu einer Disney-Doppelvorstellung im Aladdin mit. Selbst aus einiger Entfernung war unübersehbar, dass Troy, der Älteste, beim Betreten des Kinos ebenso gelangweilt wirkte wie beim Herauskommen.
Dunning betrat das Haus weder beim Abholen noch beim Abliefern der Kinder. Stattdessen hupte er bei seiner Ankunft, damit sie herauskamen, und setzte sie beim Zurückkommen am Randstein ab und beobachtete, wie alle vier im Haus verschwanden. Selbst dann fuhr er nicht gleich davon, sondern blieb bei laufendem Motor in dem Bonneville sitzen und rauchte eine Zigarette. Vielleicht hoffte er, dass die liebreizende Doris noch herauskam und mit ihm redete. Als klar war, dass sie das nicht tun würde, wendete er in der Einfahrt eines Nachbarn und raste mit quietschenden Reifen davon, sodass blaue Rauchwölkchen aufstiegen.
Ich ließ mich tief in den Sitz meines Leihwagens sinken, aber diese Mühe hätte ich mir sparen können. Er sah im Vorbeifahren gar nicht zu mir herüber. Als er ein gutes Stück die Witcham Street entlanggefahren war, folgte ich ihm. Er stellte seinen Wagen in der gemieteten Garage ab, ging in den Lamplighter, um an der fast menschenleeren Bar ein einziges Bier zu trinken, und schlurfte dann mit hängendem Kopf zum Gästehaus Edna Price in der Charity Avenue zurück.
Am folgenden Samstag, dem 4. Oktober, holte er die Kinder ab und fuhr mit ihnen zu einem Footballspiel der University of Maine in Orono, ungefähr dreißig Meilen weit entfernt. Ich parkte in der Stillwater Avenue und wartete dort, bis das Spiel zu Ende war. Auf der Heimfahrt hielt er zum Abendessen beim Ninety-Fiver. Ich hielt am anderen Endes des Parkplatzes, wartete darauf, dass sie wieder herauskamen, und gelangte dabei zu dem Schluss, dass das Leben eines Privatdetektivs stinklangweilig sein musste, auch wenn das Kino uns etwas anderes vorzugaukeln versuchte.
Als Dunning seine Kinder zu Hause ablieferte, lag die Kossuth Street schon in der Abenddämmerung. Football hatte Troy offenbar mehr Spaß gemacht als Cinderellas Abenteuer. Er stieg grinsend und einen Wimpel der Black Bears schwenkend aus dem Pontiac seines Vaters. Auch Tugga und Harry hatten Wimpel; auch sie wirkten wie neu belebt. Ellen nicht so sehr. Sie schlief fest. Dunning trug sie auf den Armen zur Haustür. Diesmal tauchte Mrs. Dunning kurz auf – gerade lange genug, um ihm das kleine Mädchen aus den Armen zu nehmen.
Dunning sagte etwas zu Doris. Ihre Antwort schien ihm nicht zu behagen. Die Entfernung war zu groß, als dass ich seinen Gesichtsausdruck hätte sehen können, aber er drohte ihr mit dem Zeigefinger, als er sprach. Sie hörte zu, schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging ins Haus. Er blieb noch einen Augenblick stehen, dann riss er sich den Hut vom Kopf und klatschte ihn sich ans Bein.
Alles durchaus interessant – und für das Verhältnis der beiden bezeichnend –, aber darüber hinaus wenig hilfreich. Nicht das, wonach ich Ausschau hielt.
Das bekam ich am folgenden Tag. Ich hatte entschieden, mich an diesem Sonntag auf zwei Vorbeifahrten zu beschränken, weil ich das Gefühl hatte, sogar in einem dunkelbraunen Leihwagen, der fast mit dem Hintergrund verschmolz, könnte ich langsam auffallen. Beim ersten Mal sah ich nichts und vermutete, dass er im Gästehaus bleiben würde. Kein Wunder: Das Wetter war grau und nieselig geworden. Wahrscheinlich sah er sich mit den übrigen Bewohnern Sportsendungen im Fernsehen an, wobei sie den Gemeinschaftsraum bläulich einräucherten.
Aber ich hatte mich getäuscht. Als ich zum zweiten Mal auf die Witcham Street abbog, sah ich ihn in Richtung Unterstadt gehen – heute in Bluejeans und einer Windjacke und mit einem breitkrempigen, wasserdichten Hut. Ich fuhr an ihm vorbei und hielt in der Main Street ungefähr eine Straße von seiner Mietgarage entfernt. Zwanzig Minuten später folgte ich ihm die Stadt hinaus nach Westen. Der Verkehr war schwach, und ich hielt weiten Abstand.
Sein Ziel erwies sich als der Friedhof Longview, zwei Meilen hinter dem Autokino. Er hielt an einem Blumenstand gegenüber dem Eingang, und als ich vorbeifuhr, sah ich, wie er bei der alten Frau, die während dieser Transaktionen einen großen, schwarzen Schirm über beide hielt, zwei Körbe Herbstblumen kaufte. Im Rückspiegel konnte ich beobachten, wie er die Blumen auf den Beifahrersitz stellte und dann wieder einstieg, bevor er auf die Zufahrtsstraße zum Friedhof abbog.
Ich wendete und fuhr zum Longview zurück. Das war zwar riskant, aber ich musste das Risiko auf mich nehmen, weil diese Sache vielversprechend aussah. Der Parkplatz war leer bis auf zwei Pick-ups, die mit Gartengeräten unter Planen beladen waren, und einen alten Radlader, der noch aus dem Weltkrieg zu stammen schien. Nirgends eine Spur von Dunnings Pontiac. Ich fuhr über den Platz zu der unbefestigten Zufahrt, die auf das eigentliche Friedhofsgelände führte, das sich über mehrere Hektar Hügelland erstreckte.
Auf dem Friedhof selbst zweigten schmalere Wege von der Hauptzufahrt ab. Aus Senken und Tälern stieg Bodennebel auf, und das Nieseln ging allmählich in Regen über. Insgesamt kein guter Tag, um die lieben Verstorbenen zu besuchen, weshalb Dunning das Gelände für sich allein hatte. Sein Pontiac, der auf einem der Wege auf halber Höhe eines Hügels stand, war leicht zu entdecken. Er war dabei, die Blumenkörbe vor zwei nebeneinanderliegende Gräber zu stellen. Die seiner Eltern, vermutete ich, aber das war mir eigentlich egal. Ich bog ab und ließ ihn bei seiner Tätigkeit allein.
Als ich in mein Apartment in der Harris Avenue zurückkam, prasselte der erste schwere Regen dieses Herbsts auf die Stadt herab. In der Innenstadt würde der Kanal brausen, und das seltsame Vibrieren, das in der Unterstadt durch den Beton kam, würde noch spürbarer werden. Der Altweibersommer schien vorbei zu sein. Aber auch das war mir egal. Ich schlug mein Notizbuch auf, blätterte fast bis zum Ende, um eine freie Seite zu finden, und notierte darauf: 5. Oktober, 15.45 h, Dunning auf Friedhof Longview, stellt Blumen auf Gräber der Eltern (?). Regen.
Ich hatte, was ich wollte.
1
In den Wochen vor Halloween begutachtete Mr. George Amberson fast alle als Gewerbegrundstücke ausgewiesenen Immobilien in Derry und den umliegenden Gemeinden.
Mir war bewusst, dass ich nicht darauf hoffen durfte, schon als Einheimischer zu gelten, aber die Alteingesessenen sollten sich an den Anblick meines sportlichen Cabrios gewöhnen, bis es praktisch zum Stadtbild gehörte. Da fährt dieser Immobilienmann, der schon fast einen Monat hier ist. Falls er weiß, was er tut, gibt’s vielleicht für jemand hier gutes Geld zu verdienen.
Wenn mich Leute fragten, was ich suchte, kniff ich ein Auge zu und lächelte. Fragte mich jemand, wie lange ich noch bleiben wolle, antwortete ich, das sei schwer abzuschätzen. Ich lernte, mich in der Stadt zurechtzufinden, und eignete mir den Wortschatz des Jahres 1958 an. Ich lernte beispielsweise, dass der Krieg der Zweite Weltkrieg und der Konflikt der Koreakrieg war. Beide waren vorbei, Gott sei Dank. Die Leute machten sich Sorgen wegen Russland und der sogenannten Raketenlücke, aber nicht zu sehr. Die Leute machten sich Sorgen wegen der Jugendkriminalität, aber nicht zu sehr. Im Augenblick herrschte eine Rezession, aber die Leute hatten schon Schlimmeres erlebt. Wenn man mit jemand gefeilscht hatte, war es absolut in Ordnung zu sagen, man habe ihn »runtergejudet« (oder sei »zigeunermäßig« reingelegt worden). Bonbons für einen Cent konnten Tüpfel, Wachslippen oder Niggerbabys sein. Im Süden war Rassendiskriminierung an der Tagesordnung. Nikita Chruschtschow polterte Drohungen. In Washington machte President Eisenhower eintönig leiernd auf gute Laune.
Ich legte großen Wert darauf, das stillgelegte Eisenwerk Kitchener möglichst bald nach meinem Gespräch mit Chaz Frati zu besichtigen. Die Eisenhütte stand auf überwuchertem Ödland nördlich der Stadt – tatsächlich ein ideales Grundstück für ein Einkaufszentrum, sobald der Mile-A-Minute Highway daran vorbeiführte. Aber am Tag meines Besuchs – den ich zu Fuß absolvierte, weil ich den Wagen stehen lassen hatte, als die Zufahrtsstraße unzumutbar schlecht wurde – hätten dort die Ruinen einer alten Zivilisation stehen können: Seht meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt. Ziegelhaufen und rostige Maschinenteile ragten aus dem hohen Gras. Mitten auf dem Gelände lag ein umgestürzter aus Klinkersteinen gemauerter Fabrikschornstein, dessen rußgeschwärzte Innenseite ihn wie einen schwarzen Tunnel erscheinen ließ. Hätte ich den Kopf etwas eingezogen, hätte ich hineingehen können, obwohl ich nicht gerade klein bin.
In diesen Wochen vor Halloween sah ich viel von Derry – und fühlte auch viel von Derry. Die Einheimischen waren freundlich zu mir, aber – mit einer Ausnahme – niemals kumpelhaft. Diese Ausnahme war Chaz Frati, und im Nachhinein denke ich, dass seine unverlangten Enthüllungen mir seltsam hätten vorkommen sollen, aber ich hatte den Kopf voll anderer Dinge, und Frati kam mir nicht besonders wichtig vor. Ich dachte: Manchmal begegnet man eben einem freundlichen Menschen, das ist alles, und ließ es dabei bewenden. Jedenfalls ahnte ich nicht im Geringsten, dass ein gewisser Bill Turcotte ihn auf mich angesetzt hatte.
Bill Turcotte alias Keine Hosenträger.
2
Bevvie vom Deich hatte gesagt, sie glaube, dass die schlechten Zeiten in Derry vorbei seien, aber je mehr ich von Derry sah (und vor allem fühlte), desto mehr gelangte ich zu der Einschätzung, dass Derry nicht wie andere Kleinstädte war. Mit Derry stimmte irgendwas nicht. Anfangs versuchte ich mir einzureden, dass es an mir liege, nicht an Derry. Ich war ein aus dem Lot geratener Mensch, ein Zeitbeduine, da musste mir zwangsläufig jeder Ort leicht fremdartig und irgendwie schief vorkommen – wie die fast albtraumhaften Städte in den seltsamen Romanen von Paul Bowles. Das war anfangs zwar ganz reizvoll, aber als die Tage vergingen und ich meine Umgebung zusehends intensiver erforschte, nutzte dieser Reiz sich schnell ab. Ich begann sogar an Beverly Marshs Aussage zu zweifeln, dass die schlechten Zeiten überhaupt vorüber seien, und stellte mir vor (wenn ich nachts keinen Schlaf fand, was oft genug vorkam), dass sie selbst Zweifel an dieser Behauptung hegte. Hatte ich nicht angedeutete Zweifel in ihrem Blick gesehen? War das nicht der Blick eines Menschen gewesen, der etwas nicht recht glaubte, aber gern glauben mochte? Es vielleicht sogar glauben musste?
Etwas Falsches, etwas Böses.
Bestimmte leer stehende Häuser, die einen anzustarren schienen wie die Gesichter von Menschen, die an einer fürchterlichen Geisteskrankheit litten. Eine leere Scheune am Stadtrand, deren Heubodentür an rostigen Angeln langsam auf und zu schwang, sodass sie die Dunkelheit erst enthüllte, dann verbarg, dann wieder enthüllte. Ein zersplitterter Zaun in der Kossuth Street, nur eine Straße von dem Haus entfernt, in dem Mrs. Dunning und ihre Kinder wohnten. Ich fand, dass der Zaun aussah, als hätte etwas – oder jemand – ihn durchbrochen und wäre unten in den Barrens aufgekommen. Ein verlassener Spielplatz, auf dem das kleine Karussell sich langsam drehte, obwohl keine Kinder darin saßen, die es hätten drehen können, und kein spürbarer Wind herrschte. Während es sich drehte, quietschte es auf unsichtbaren Kugellagern. Eines Tages sah ich eine grob geschnitzte Jesusfigur den Kanal hinuntertreiben und in dem Tunnel unter der Canal Street verschwinden. Zu einem knurrenden Grinsen hochgezogene Lippen ließen die Zähne sehen. Eine Dornenkrone, unbeschwert schief aufgesetzt, umgab den Kopf; unter die unheimlichen, weißen Augen der Statue waren blutige Tränen gemalt worden. Sie sah wie ein Juju-Fetisch aus. In die sogenannte Kussbrücke im Bassey Park hatte jemand zwischen Beteuerungen von Schulgeist und ewiger Liebe die Worte ICH WERDE MEINE MUTTER BALD UMBRINGEN geschnitzt, und jemand anders hatte daruntergesetzt: NICHT BALD GENUG SIES VOLLER KRANKEIT. Als ich eines Nachmittags auf der Ostseite der Barrens spazieren ging, hörte ich ein schreckliches Jaulen, hob den Kopf und sah die Silhouette eines hageren Mannes, der nicht allzu weit von mir entfernt auf der Stahlbrücke der GS&WM-Eisenbahngesellschaft stand. In der Hand hielt er einen Knüppel, mit dem er unablässig zuschlug. Das Jaulen verstummte, und ich dachte: Das war sein Hund, und jetzt ist er mit ihm fertig. Er hat ihn an der Leine dort hingezerrt und auf ihn eingeprügelt, bis er verendet ist. Natürlich konnte ich das überhaupt nicht wissen … und trotzdem war ich mir meiner Sache sicher und bin es noch heute.
Etwas Falsches.
Etwas Böses.
Hat irgendwas von alldem etwas mit der Geschichte zu tun, die ich erzähle? Mit der Geschichte vom Vater des Hausmeisters und von Lee Harvey Oswald (der mit dem affektierten kleinen Ich-weiß-ein-Geheimnis-Lächeln und den seltsamen, grauen Augen, die anderen Blicken nie richtig begegnen konnten)? Das weiß ich nicht bestimmt, aber eines kann ich noch sagen: In dem umgestürzten Kamin auf dem Gelände des Eisenwerks Kitchener war irgendetwas. Ich weiß nicht, was, und will es auch gar nicht wissen, aber vor seiner oberen Öffnung hatten ein Häufchen Knochen und ein angekautes kleines Halsband mit einem Glöckchen daran gelegen. Ein Halsband, das bestimmt der geliebten Katze irgendeines Kindes gehört hatte. Und im Inneren der Röhre – tief in dem schwarzen Tunnel – hatte sich etwas bewegt und gescharrt.
Komm rein und besuch mich, schien dieses Etwas direkt in meinem Kopf zu flüstern. Kümmere dich nicht um alles andere, Jake – komm rein und besuch mich. Hier drinnen spielt die Zeit keine Rolle; hier drinnen schwebt sie nur davon. Du weißt, dass du es möchtest; du weißt, dass du neugierig bist. Vielleicht gibt es hier drinnen einen weiteren Kaninchenbau. Ein weiteres Portal.
Vielleicht stimmte das, aber ich bezweifle es. Ich glaube, dass dort drinnen Derry war – alles, was damit nicht stimmte, alles, was daran verquer war, hatte sich dort in dieser Röhre verkrochen. Überwinterte dort. Es ließ die Leute glauben, die schlimmen Zeiten wären vorüber, und wartete ab, bis sie sich entspannten und vergaßen, dass es überhaupt jemals schlimme Zeiten gegeben hatte.
Ich verschwand eilig und kehrte nie mehr in diesen Teil von Derry zurück.
3
An einem Tag in der zweiten Oktoberwoche – die Eichen und Ulmen in der Kossuth Street schwelgten inzwischen in Gold und Rot – besuchte ich wieder die leer stehende West Side Recreation Hall. Kein Immobilienfachmann, der etwas auf sich hielt und auf der Suche nach einem Schnäppchen war, durfte es versäumen, die Möglichkeiten eines Objekts in so ausgezeichneter Lage zu erkunden. Ich fragte mehrere Leute auf der Straße, wie das Gebäude innen aussehe (die Tür war natürlich mit einem Vorhängeschloss gesichert) und wie lange die Halle schon leer stehe.
Zu den Leuten, mit denen ich sprach, gehörte auch Doris Dunning. Bildhübsch, hatte Chaz Frati gesagt. Ein im Allgemeinen bedeutungsloses Klischee, aber in diesem Fall zutreffend. Im Lauf der Jahre hatte sie Fältchen um die Augen und tiefere Falten um die Mundwinkel bekommen, aber sie hatte einen makellosen Teint und eine tolle vollbusige Figur (im Jahr 1958, Jayne Mansfields Glanzzeit, galten große Brüste als attraktiv, nicht als eher peinlich). Wir sprachen auf dem Podest vor der Haustür miteinander. Mich ins Haus einzuladen, in dem sie allein war, weil die Kinder in der Schule waren, wäre ungehörig und zweifellos ein Thema für Nachbarschaftsklatsch gewesen – vor allem da ihr Mann »auswärts« wohnte. Sie hielt ein Staubtuch in einer Hand und eine Zigarette in der anderen. Aus ihrer Schürzentasche ragte eine Flasche Möbelpolitur. Wie die meisten Einwohner von Derry war sie höflich, aber distanziert.
Ja, sagte sie, als das West Side Rec noch in Betrieb gewesen sei, sei es eine wundervolle Einrichtung für die Kinder gewesen. Es sei für sie schön gewesen, ganz in der Nähe einen Ort zu haben, an den sie nach der Schule gehen und sich nach Herzenslust austoben konnten. Sie könne den Spielplatz und das Basketballfeld von ihrem Küchenfenster aus überblicken, und das unbelebte Gelände sei ein trauriger Anblick. Sie sagte, ihres Wissens sei die Rec im Rahmen einer Serie von Haushaltskürzungen geschlossen worden, aber wie sie dabei meinem Blick auswich und die Lippen zusammenkniff, suggerierte mir etwas anderes: dass die Halle während der Serie von Kindermorden und des Verschwindens von Kindern geschlossen worden war. Haushaltszwänge waren vermutlich zweitrangig gewesen.
Ich bedankte mich und überreichte ihr eine meiner erst vor Kurzem gedruckten Visitenkarten. Sie nahm sie, bedachte mich mit einem zerstreuten Lächeln und schloss die Haustür. Die Tür wurde leise geschlossen, nicht etwa zugeknallt, aber ich hörte dahinter ein Klirren und wusste, dass sie die Sicherungskette vorgelegt hatte.
Ich hielt die Rec in Bezug auf Halloween für meine Zwecke geeignet, auch wenn ich nicht hundertprozentig davon begeistert war. Ich rechnete damit, dass es leicht sein würde, dort einzudringen, und von einem der nach vorn hinausführenden Fenster würde ich die Straße gut überblicken können. Dunning würde vielleicht eher mit dem Auto als zu Fuß kommen, aber ich wusste ja, wie sein Wagen aussah. Wie Harry in seinem Aufsatz geschrieben hatte, würde es schon dunkel sein, aber die Kossuth Street war einigermaßen gut beleuchtet.
Natürlich brachten gute Sichtverhältnisse auch Nachteile. Falls Dunning nicht ganz auf sein Vorhaben fixiert war, würde er mich ziemlich sicher auf ihn zurennen sehen. Ich hatte den Revolver, aber der war nur bis auf fünfzehn Meter treffsicher. Ich würde sogar noch näher herankommen müssen, denn an Halloween würde es auf der Kossuth Street von Geistern und Kobolden im Miniaturformat nur so wimmeln. Trotzdem durfte ich nicht warten, bis er tatsächlich im Haus war, bevor ich mich aus der Deckung wagte, denn laut Harrys Aufsatz hatte Doris Dunnings entfremdeter Ehemann sich sofort an die Arbeit gemacht. Bis Harry aus dem Klo kam, war niemand mehr auf den Beinen, und alle außer Ellen waren tot. Wenn ich zu lange wartete, würde ich vermutlich zu sehen bekommen, was Harry gesehen hatte: das Gehirn seiner Mutter, das in die Couchpolster sickerte.
Ich war nicht über ein halbes Jahrhundert zurückgereist, um nur einen von ihnen zu retten. Was also, wenn er mich kommen sah? Ich war der Mann mit dem Revolver, er war der Mann mit dem Hammer – den er vermutlich aus dem Werkzeugschrank des Gästehauses mitgenommen hatte. Wenn er auf mich zugestürmt käme, wäre das nur gut. Ich würde dann den Rodeoclown spielen, der den Stier ablenkte. Ich würde herumspringen und brüllen, bis er auf Schussweite heran war, und ihm dann zwei Kugeln in die Brust verpassen.
Das heißt, falls ich imstande war, den Abzug zu betätigen.
Und vorausgesetzt, dass mein Revolver keine Ladehemmung hatte. Ich hatte ihn in einer Kiesgrube am Stadtrand ausprobiert, und er hatte einwandfrei funktioniert … aber die Vergangenheit war unerbittlich.
Sie wollte sich nicht ändern lassen.
4
Nach weiterer Überlegung gelangte ich zu der Einschätzung, dass es einen noch besseren Ort für meinen Hinterhalt an Halloween geben könnte. Dazu würde ich etwas Glück brauchen, aber vielleicht auch nicht allzu viel. Hier sind weiß Gott viele Immobilien zu verkaufen, hatte Barkeeper Fred Toomey an meinem ersten Abend in Derry gesagt. Meine Erkundungen hatten das bestätigt. Nach der Mordserie (und der großen Überschwemmung des Jahres 1957, um die nicht zu vergessen) schien die halbe Stadt zum Verkauf zu stehen. In einer weniger abweisenden Gemeinde hätte ein angeblicher Immobilienkäufer wie ich vermutlich längst die Schlüssel der Stadt und dazu ein wildes Wochenende mit Miss Derry erhalten.
Eine Straße, die ich noch nicht abgegrast hatte, war die Wyemore Lane, eine Häuserzeile südlich der Kossuth Street. Ihre Lage bedeutete, dass die dortigen Gärten an die Gärten der Häuser in der Kossuth Street stießen. Es konnte nicht schaden, sich dort umzusehen.
Die Wyemore Lane 206 direkt hinter dem Haus der Dunnings war bewohnt, aber die 202, das Haus links daneben, hätte die Antwort auf ein Gebet sein können. Die hellgraue Fassade war frisch gestrichen, das Dach neu gedeckt, aber die Jalousien waren heruntergelassen. Auf dem Rasen, von dem alles Laub abgerecht war, stand eines der gelb-grünen Schilder, die ich überall in der Stadt gesehen hatte: ZU VERKAUFEN DURCH DERRY HOME REAL ESTATE SPECIALISTS. Dieses Schild forderte mich auf, den Berater Keith Haney anzurufen und die Finanzierung mit ihm zu besprechen. Ich hatte nicht die Absicht, das zu tun, aber ich parkte meinen Sunliner auf der frisch asphaltierten Einfahrt (irgendjemand sparte keine Ausgaben, um dieses Objekt endlich zu verkaufen) und ging um das Haus herum in den Garten: mit erhobenem Kopf, die Schultern zurückgenommen, unübersehbar und fast überlebensgroß. Bei der Erkundung meiner neuen Umgebung hatte ich viele Erkenntnisse gewonnen – und dazu gehörte auch, dass man sich nur benehmen musste, als gehörte man an einen bestimmten Ort, damit die Leute glaubten, dass man tatsächlich dorthin gehörte.
Der Rasen hinter dem Haus war ordentlich gemäht und das Laub zusammengerecht, damit sein samtiges Grün gut zur Geltung kam. Unter dem Überhang des Garagenvordachs stand ein Handmäher, dessen rotierende Messer ordentlich mit einer grünen Plane abgedeckt waren. Neben dem Kellerabgang stand eine Hundehütte mit einem Schild, das den umsichtigen Keith Haney in Bestform zeigte: IHR KÖTER GEHÖRT HIERHER. In der Hütte lag ein kleiner Stapel neuer Laubsäcke, die mit einer Gartenschaufel und einer Heckenschere beschwert waren. Im Jahr 2011 wäre solches Werkzeug weggesperrt worden; im Jahr 1958 hatte sich jemand damit begnügt, dafür zu sorgen, dass es nicht nass wurde. Das Haus war bestimmt abgesperrt, aber das machte nichts. Ich hatte kein Interesse daran, mir gewaltsam Zutritt zu verschaffen.
Nach hinten hin wurde das Grundstück Wyemore Lane 202 durch eine keine zwei Meter hohe Hecke begrenzt. Mit anderen Worten, die Hecke war nicht ganz so groß wie ich, und obwohl sie üppig und damit ziemlich dicht war, konnte man sich leicht durch sie hindurchzwängen, wenn einem ein paar Kratzer nichts ausmachten. Das Beste kam jedoch erst noch: Als ich zur rechten Gartenecke hinter der Garage ging, konnte ich diagonal in den rückwärtigen Garten der Dunnings sehen. Dort erblickte ich zwei Fahrräder. Eines war ein Jungenrad von Schwinn und stand auf seinem Ständer. Das andere, das wie ein totes Pony auf der Seite lag, gehörte Ellen Dunning. Die Stützräder waren unverkennbar.
Drum herum lagen alle möglichen Spielsachen. Darunter auch Harry Dunnings Daisy-Luftgewehr.
5
Wer jemals bei einem Laientheater mitgespielt hat – oder, wie ich mehrmals an der LHS, bei Theateraufführungen in der Schule Regie geführt –, der weiß, wie sich für mich die Tage vor Halloween angefühlt haben. Anfangs verlaufen die Proben noch ziemlich locker. Es gibt Improvisationen, Scherze, Albereien und jede Menge Flirts, in denen auch die sexuelle Polarität austariert wird. Verhaspelt sich bei diesen frühen Proben jemand oder verpasst seinen Einsatz, wird darüber nur gelacht. Kommt jemand eine Viertelstunde zu spät zur Probe, erhält er oder sie einen milden Tadel, aber meist nicht mehr.
Dann beginnt der Premierenabend als tatsächliche Möglichkeit zu erscheinen statt nur als törichter Traum. Die Improvisationen fallen weg. Das tun auch die Albereien, und obwohl die Scherze bleiben, spricht aus dem Lachen, mit dem sie quittiert werden, eine nervöse Energie, die zuvor nicht da war. Auf verpatzte Zeilen gibt es immer öfter verärgerte statt amüsierte Reaktionen. Und falls sich jemand verspätet, wenn die Kulissen stehen und die Premiere nur noch wenige Tage entfernt ist, muss er oder sie sich darauf gefasst machen, vom Regisseur zusammengestaucht zu werden.
Dann kommt der Premierenabend. Die Schauspieler legen ihre Kostüme an und werden geschminkt. Manche sind regelrecht verängstigt; alle fühlen sich schlecht vorbereitet. Bald werden sie vor einem Saal voller Leute stehen, die alle sehen wollen, was sie draufhaben. Was in den Tagen, als noch auf leerer Bühne geprobt wurde, in weiter Ferne zu liegen schien, ist nun auf einmal da. Und bevor der Vorhang sich hebt, wird irgendein Hamlet, ein Willy Loman oder eine Blanche DuBois auf die nächste Toilette rennen und sich übergeben müssen. Das bleibt nie aus.
Man glaube mir, was die Sache mit der Übelkeit betrifft. Ich weiß, wovon ich rede.
6
In den frühen Morgenstunden von Halloween befand ich mich nicht in Derry, sondern auf dem Meer. Auf einem stürmischen Meer. Ich klammerte mich an die Reling eines größeren Schiffs – einer Jacht, glaube ich –, das kurz vor dem Kentern war. Von heulendem Wind getriebener Regen klatschte mir ins Gesicht. Riesige Brecher, unten schwarz, oben am Wogenkamm schaumig grün, rannten gegen mich an. Die Jacht wurde gehoben, kreiselte dabei und stürzte dann mit wilden Korkenzieherbewegungen wieder in die Tiefe.
Aus diesem Traum schrak ich mit jagendem Herzen und immer noch verkrampften Händen hoch, als wollte ich mich weiter an die Reling klammern, die mein Gehirn sich ausgedacht hatte. Nur dass es nicht nur mein Gehirn war, denn das Bett bewegte sich weiter auf und ab. Mein Magen schien sich von den Muskeln gelöst zu haben, die ihn an Ort und Stelle halten sollten.
In solchen Augenblicken war der Körper fast immer klüger als das Gehirn. Ich warf die Bettdecke zurück und spurtete ins Bad, wobei ich auf dem Weg durch die Küche mit einem Fuß den verhassten Stuhl mit dem gelben Polster umwarf. Meine Zehen würden später wehtun, aber in diesem Augenblick spürte ich fast nichts davon. Ich verriegelte meine Kehle, so gut es ging. Ich konnte ein unheimliches Geräusch hören, das aus der Kehle herauf in meinen Mund drängte. Es klang wie ulk-ulk-urp-ulk. Mein Magen war die Jacht, die erst in die Höhe gehoben wurde und dann in grässlichen Korkenzieherspiralen in die Tiefe stürzte. Ich sank vor der Kloschüssel auf die Knie und gab mein Abendessen von mir. Als Nächstes kamen das gestrige Mittagessen und mein Frühstück … o Gott, Rührei mit Schinken. Beim Anblick dieses fettig glänzenden Breis musste ich erneut heftig würgen. Danach gab es eine Pause, nach der anscheinend alles, was ich in der Vorwoche gegessen hatte, meinen Körper verließ.
Als ich eben zu hoffen wagte, dass es vorüber war, begann es in meinen Gedärmen schrecklich wässrig zu gurgeln. Ich rappelte mich auf, knallte die Klobrille runter und schaffte es gerade noch, mich draufzusetzen, bevor alles in einem flüssigen Strahl herausschoss.
Aber nein. Noch längst nicht alles. Mein Magen krampfte sich aufs Neue zusammen, als meine Eingeweide eben wieder zu arbeiten begannen. Mir blieb nur eines übrig, was ich auch prompt tat: Ich beugte mich nach vorn und übergab mich ins Waschbecken.
So ging es bis zum Mittag dieses Tages vor Allerheiligen weiter. Inzwischen drang aus den beiden Körperöffnungen nur noch dünnflüssige Grütze. Immer wenn ich mich übergeben musste, wenn meine Eingeweide sich verkrampften, dachte ich das Gleiche: Die Vergangenheit will sich nicht ändern lassen. Sie ist unerbittlich.
Aber wenn Frank Dunning heute Abend vor seinem Haus aufkreuzte, wollte ich dort sein. Auch wenn ich weiter graues Wasser würgte und kackte, wollte ich dort sein. Selbst wenn ich dabei umkam, wollte ich da sein.
7
Mr. Norbert Keene, Inhaber des Center-Street-Drugstores, stand hinter dem Ladentisch, als ich an diesem Freitagnachmittag hereinkam. Die Holzflügel des Deckenventilators über ihm bewegten sein spärliches Resthaar zu einem wogenden Tanz: Spinnweben in einer Sommerbrise. Allein dieser Anblick genügte, damit mein empfindlicher Magen sich erneut warnend verkrampfte. Keene in seinem weißen Kittel war mager – fast ausgezehrt –, und als er mich hereinkommen sah, verzog er die blassen Lippen zu einem Lächeln.
»Sie sehen ein bisschen verkatert aus, mein Freund.«
»Pepto-Bismol«, sagte ich mit heiserer Stimme, die nicht wie meine eigene klang. »Haben Sie das da?«
»Na, wir haben uns wohl eine kleine Infektion geholt?« Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich in den kleinen Gläsern seiner randlosen Brille und flitzte umher, wenn er den Kopf bewegte. Wie Butter in einer Pfanne, dachte ich, wobei mein Magen sich schon wieder verkrampfte. »Die macht im Augenblick in der Stadt die Runde. Sie müssen sich da leider auf scheußliche vierundzwanzig Stunden gefasst machen. Vermutlich ein Virus. Möglicherweise waren Sie auf einer öffentlichen Toilette und haben vergessen, sich die Hände zu waschen. So viele Leute sind nachlässig, was das …«
»Haben Sie Pepto-Bismol oder nicht?«
»Natürlich. Zweiter Gang.«
»Inkontinenzhosen – wie steht’s damit?«
Das schmallippige Grinsen wurde breiter. Inkontinenzhosen waren komisch, natürlich waren sie das. Außer man war derjenige, versteht sich, der sie brauchte. »Fünfter Gang. Aber wenn Sie in der Nähe Ihrer Wohnung bleiben, brauchen Sie keine. Ihrer Blässe nach zu urteilen, Sir … und wenn ich sehe, wie Sie schwitzen … wär’s vielleicht ratsam, das zu tun.«
»Danke«, sagte ich und stellte mir vor, wie meine Faust seinen Mund so heftig traf, dass er sein Gebiss verschluckte. Lutsch ein bisschen Polident, Kumpel.
Ich machte langsam beim Einkaufen, weil ich mein wässriges Inneres nicht mehr erschüttern wollte als unbedingt nötig. Ich holte mir das Pepto-Bismol (große Sparpackung? Abgehakt), dann die Inkontinenzhosen (Erwachsene, groß? Abgehakt). Die Hosen fand ich in der Abteilung Stoma-Versorgung zwischen Klistierbeuteln und deprimierenden Rollen aus gelbem Kunststoffrohr, dessen Funktion ich lieber nicht kennen wollte. Es gab auch Windeln für Erwachsene, vor denen ich jedoch zurückschreckte. Notfalls würde ich die Inkontinenzhosen mit Geschirrtüchern ausstopfen. Die Vorstellung fand ich so komisch, dass ich trotz meines elenden Zustands Mühe hatte, nicht zu lachen. In meiner jetzigen empfindlichen Verfassung zu lachen hätte eine Katastrophe heraufbeschwören können.
Als spürte der ausgezehrte Drogist meinen Notstand, tippte er meine Einkäufe im Zeitlupentempo in die Kasse ein. Ich bezahlte mit einem Fünfer, den ich ihm mit sichtbar zitternder Hand hinhielt.
»Noch irgendwas?«
»Nur eine Sache. Mir geht’s schlecht, Sie können sehen, dass ich mich elend fühle, warum zum Teufel grinsen Sie mich also an?«
Mr. Keene wich einen Schritt zurück. Sein Lächeln verschwand schlagartig. »Ich versichere Ihnen, dass ich nicht gegrinst habe. Ich wünsche Ihnen aufrichtig gute Besserung.«
Meine Eingeweide verkrampften sich. Ich schwankte leicht, griff nach der Tüte mit meinen Einkäufen und klammerte mich mit der freien Hand am Ladentisch fest. »Haben Sie eine Toilette?«
Das Lächeln erschien wieder. »Nicht für Kunden, leider. Warum versuchen Sie’s nicht in einem der … der Etablissements gegenüber?«
»Sie sind ein richtiger Dreckskerl, oder? Der perfekte gottverdammte Derry-Bürger.«
Er erstarrte, dann wandte er sich abrupt ab und stakste in die niederen Regionen davon, in denen seine Pillen, Pulver und Sirupe lagerten.
Ich ging langsam an der Getränketheke vorbei und dann zur Tür hinaus. Ich kam mir vor wie aus Glas. Der Tag war kühl, nicht wärmer als acht bis zehn Grad, aber die Sonne auf meiner Haut fühlte sich heiß an. Und klebrig. Meine Eingeweide verkrampften sich wieder. Ich blieb einen Augenblick lang stocksteif stehen, mit gesenktem Kopf, einen Fuß auf dem Gehsteig, den anderen im Rinnstein. Der Krampf ebbte langsam ab. Ich überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, und wurde dafür angehupt. Ich beherrschte mich und zeigte dem Hupenden nicht den Stinkefinger – aber nur weil ich auch so schon genügend Schwierigkeiten hatte. Ich durfte keine Auseinandersetzung riskieren; ich befand mich bereits in einer.
Der Krampf kam wieder und bohrte sich mir wie ein zweischneidiger Dolch in den Unterleib. Ich rannte los. Der Sleepy Silver Dollar war am nächsten, daher riss ich die Tür auf und stürzte meinen leidenden Körper in das Halbdunkel und den Hefegeruch von Bier. Aus der Jukebox sang Conway Twitty klagend, alles sei nur trügerischer Schein. Ich wünschte mir, er hätte recht.
Das Lokal war leer bis auf einen Gast, der allein an einem Tisch saß und mich überrascht anstarrte, und den Barkeeper, der am Ende der Theke stehend das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung löste. Er sah zu mir auf.
»Toilette«, sagte ich. »Schnell.«
Er wies mit dem Daumen hinter sich, und ich spurtete auf die Türen zu, die mit BUOYS und GULLS bezeichnet waren. Ich stieß die BUOYS-Tür mit ausgestrecktem Arm auf wie ein Footballspieler, der sich Raum für einen Sprint verschaffte. Drinnen stank es nach Scheiße, Zigarettenrauch und Chlor, von dem mir die Augen tränten. Die einzelne WC-Kabine hatte keine Tür, was wahrscheinlich gut war. Ich riss mir die Hose auf wie Superman, der es eilig hatte, einen Bankraub zu verhindern, drehte mich um und sank auf die Klobrille.
Gerade noch rechtzeitig.
Als der letzte Krampf abgeklungen war, zog ich die Riesenflasche Pepto-Bismol aus der Papiertüte und nahm drei große Schlucke. Mein Magen wollte rebellieren. Ich zwang ihn an seinen Platz zurück. Als ich mir sicher war, dass er unten bleiben würde, trank ich einen weiteren großen Schluck, rülpste und schraubte die Flasche dann langsam wieder zu. An die Wand links neben mir hatte jemand ein männliches Glied mit Hoden gezeichnet. Die aufgeschlitzten Hoden bluteten stark. Unter dieses reizende Bild hatte der Künstler geschrieben: HENRY CASTONGUAY – DAS KRIEGST DU NÄCHSTES MAL WENN DU NOCH MAL MEINE FRAU FICKST.
Ich schloss die Augen, und als ich das tat, meinte ich den Gast zu sehen, der mich beim Hereinstürmen verwundert angestarrt hatte. Aber war er ein Gast gewesen? Vor ihm auf dem Tisch hatte nichts gestanden; er hatte einfach nur dagesessen. Mit geschlossenen Augen sah ich sein Gesicht deutlich vor mir. Es war eines, das ich kannte.
Als ich ins Lokal zurückkam, war Conway Twitty durch Ferlin Husky abgelöst worden, und Keine Hosenträger war verschwunden. Ich ging zum Barkeeper und sagte: »Als ich reingekommen bin, hat dort drüben ein Kerl gesessen. Wer war das?«
Er sah von seinem Kreuzworträtsel auf. »Ich hab niemand gesehn.«
Ich zückte meine Geldbörse, zog einen Fünfer heraus und legte ihn neben einen Narrangansett-Bierdeckel auf die Theke. »Der Name?«
Er hielt kurz Zwiesprache mit sich selbst, sah zu der Trinkgeldbox neben dem Glas mit eingelegten Eiern hinüber, betrachtete den einzelnen Dime darin und ließ dann den Fünfer verschwinden. »Das war Bill Turcotte.«
Der Name sagte mir nichts. Der leere Tisch musste nichts zu bedeuten haben, aber andererseits …
Ich legte Honest Abes Zwillingsbruder auf die Theke. »Ist er reingekommen, um mich zu beobachten?« Falls die Antwort ja lautete, bedeutete das, dass er mich beschattet hatte. Und vielleicht nicht nur heute. Aber weshalb?
Der Barkeeper schob mir den Fünfer wieder hin. »Ich weiß nur, dass er hier reinkommt, um Bier zu trinken – und das reichlich.«
»Warum ist er dann verschwunden, ohne eins zu trinken?«
»Vielleicht hat er bei ’nem Blick in seine Geldbörse nichts als seinen Büchereiausweis gefunden. Seh ich vielleicht wie die gottverdammte Bridey Murphy aus? Warum bestellen Sie nicht selbst was oder verschwinden, jetzt, wo Sie mein Klo verpestet haben?«
»Es hat schon vorher ganz nett gestunken, mein Freund.«
Kein sehr wirkungsvoller Abgangsspruch, aber das Beste, was ich unter den Umständen zustande brachte. Ich ging hinaus, blieb auf dem Gehweg stehen und sah mich nach Turcotte um. Er war nirgends zu sehen, aber Norbert Keene stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Schaufenster seines Drugstores und beobachtete mich. Sein Lächeln war verschwunden.
8
Um zwanzig nach fünf an diesem Nachmittag stellte ich meinen Sunliner auf dem Parkplatz der Baptistenkirche in der Witcham Street ab. Dort hatte er reichlich Gesellschaft: Eine Anzeigetafel verkündete, dass seit 17 Uhr in dieser Kirche ein AA-Meeting stattfand. Im Kofferraum des Fords lagen alle Besitztümer, die ich in den sieben Wochen meines Lebens in diesem komischen Kaff, wie ich die Kleinstadt für mich nannte, angesammelt hatte. Unentbehrlich war jedoch nur die Lord-Buxton-Aktentasche, die Al mir mitgegeben hatte: seine Notizen, meine Notizen und das restliche Geld. Zum Glück hatte ich es größtenteils in bar aufbewahrt.
Neben mir auf dem Beifahrersitz lag eine Papiertüte mit der Flasche Pepto-Bismol – jetzt zu drei Vierteln leer – und den Inkontinenzhosen. Zum Glück würde ich sie anscheinend doch nicht brauchen. Magen und Darm schienen sich beruhigt zu haben, auch zitterten meine Hände nicht mehr. Im Handschuhfach lagen ein halbes Dutzend Payday-Schokoriegel auf meinem Police Special. Diese Gegenstände kamen mit in die Papiertüte. Wenn ich später hinter dem Haus Wyemore Lane 202 zwischen Garage und Hecke stand, würde ich den Revolver laden und in den Hosenbund stecken. Wie ein zweitklassiger Gangster in einem B-Movie wie die, die im Strand gezeigt wurden.
Im Handschuhfach lag noch etwas anderes: eine Ausgabe der Zeitschrift TV Guide mit Fred Astaire und Barrie Chase vorn drauf. Ungefähr zum zwölften Mal, seit ich das Heft am Kiosk in der Upper Main Street gekauft hatte, schlug ich das Programm von Freitagabend auf.
20.00, KANAL 2: Ellery Queens neue Abenteuer, George Nader, Les Tremayne. »So reich, so schön, so tot«. Ein schurkischer Börsenmakler (Whit Bissell) stellt einer reichen Erbin (Eva Gabor) nach, während Ellery und sein Vater ermitteln.
Ich steckte das Heft – hauptsächlich als Talisman – zu dem anderen Zeug in die Tüte, dann stieg ich aus, schloss die Tür ab und machte mich auf den Weg zur Wyemore Lane. Unterwegs begegnete ich mehreren Mamas und Papas, die ihre Kinder, die noch zu klein waren, um allein loszuziehen, auf der Jagd nach Süßem oder Saurem begleiteten. Vor vielen Haustüren grinsten ausgehöhlte Kürbisse mit geschnitzten Gesichtern fröhlich in die Gegend, und immer wieder starrte mich eine ausgestopfte Puppe mit Strohhut ausdruckslos an.
In der Wyemore Lane ging ich mitten auf dem Gehsteig, als hätte ich alles Recht, dort zu sein. Als mir ein Vater mit einem kleinen Mädchen an der Hand entgegenkam, das baumelnde Zigeunerohrringe, Mutters leuchtend roten Lippenstift und große schwarze Kunststoffohren auf einer Lockenperücke trug, grüßte ich Dad, indem ich den Hut lüftete, und beugte mich dann zu der Kleinen hinunter, die ebenfalls eine Papiertüte trug.
»Wer bist denn du, Schätzchen?«
»Annette Foonijello«, sagte sie. »Sie ist der hübscheste Mausketier.«
»Und du bist genauso hübsch«, versicherte ich ihr. »Also, was sagst du?«
Sie wirkte verwirrt, deshalb beugte ihr Vater sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Daraufhin lächelte sie. »Süßer Saures!«
»Genau«, sagte ich. »Aber heute Abend gibt’s nichts Saures.« Außer hoffentlich für den Mann mit dem Hammer.
Ich holte ein Payday aus meiner Tüte (in der ich den Revolver beiseiteschieben musste, um an den Schokoriegel zu kommen) und hielt es ihr hin. Sie öffnete ihre Tüte, und ich ließ den Schokoriegel hineinfallen. Ich war nur irgendein Kerl auf der Straße, ein völlig Fremder in einer Stadt, die erst vor Kurzem von schrecklichen Verbrechen heimgesucht worden war, aber ich sah dasselbe kindliche Vertrauen auf dem Gesicht von sowohl Vater als auch Tochter. Die Zeit, in der Schokoriegel mit LSD versetzt werden würden, lag noch in weiter Ferne – ebenso wie die von NICHT VERWENDEN, WENN SIEGEL ERBROCHEN.
Der Vater flüsterte noch etwas.
»Danke, Mister«, sagte Annette Foonijello.
»Oh, bitte sehr.« Ich blinzelte Dad zu. »Ich wünsche euch beiden noch einen schönen Abend.«
»Wahrscheinlich hat sie morgen Bauchweh«, sagte Dad, aber er lächelte dabei. »Komm jetzt, Mäuschen.«
»Ich bin Annette!«, sagte sie.
»Sorry, sorry. Komm jetzt, Annette.« Er bedachte mich mit einem Grinsen, lüftete nun seinerseits kurz den Hut, und dann waren sie wieder unterwegs, um weiter Beute zu machen.
Ich ging zur Nummer 202 weiter, aber nicht sonderlich schnell. Ich hätte vor mich hin gepfiffen, wenn meine Lippen nicht so trocken gewesen wären. An der Einfahrt riskierte ich einen Blick in die Runde. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich ein paar verkleidete Kinder, von denen sich jedoch keines auch nur im Geringsten für mich interessierte. Ausgezeichnet. Ich ging rasch die Einfahrt entlang. Sobald ich hinter dem Haus war, ließ ich einen tiefen Seufzer der Erleichterung hören, der von ganz unten aus den Fersen zu kommen schien. Ich bezog meinen Posten in der äußersten rechten Ecke des Gartens, wo ich zwischen Garage und Hecke sicher versteckt war. Oder es zumindest zu sein glaubte.
Ich spähte in den Garten hinter dem Haus der Dunnings. Die Fahrräder waren weg. Die meisten Spielsachen waren noch da – ein Kinderbogen und ein paar Pfeile mit Saugnäpfen, ein Baseballschläger, dessen Griff mit Klebeband umwickelt war, ein grüner Hula-Hoop-Reifen –, aber das Daisy-Luftgewehr fehlte. Harry hatte es mit ins Haus genommen. Er wollte es mitnehmen, wenn er später als Buffalo Bob unterwegs war, um Süßes oder Saures zu fordern.
Hatte Tugga ihn deswegen schon blöd angeredet? Hatte seine Mutter schon gesagt: Nimm’s mit, Harry, wenn du willst, es ist kein richtiges Gewehr. Wenn nicht, dann würde sie es noch tun. Was sie sagen würden, war bereits zu Papier gebracht. Mein Magen verkrampfte sich, diesmal nicht wegen des reihum gehenden Vierundzwanzigstundenvirus, sondern weil sich bei mir vollkommene Erkenntnis – von der Art, die man in den Eingeweiden spürte – eingestellt hatte. Dies alles würde wirklich passieren. Genau genommen geschah es bereits. Die Show hatte begonnen.
Ich sah auf meine Uhr. Mir kam es vor, als hätte ich den Ford vor einer Stunde auf dem Parkplatz an der Kirche abgestellt, aber es war erst Viertel vor sechs. Die Familie Dunning würde sich jetzt an den Esstisch setzen … aber wie ich Kinder kannte, würden die Jüngeren zu aufgeregt sein, um viel zu essen, und Ellen würde bereits ihr Prinzessin-Summerfall-Winterspring-Kostüm tragen. Sie hatte es vermutlich sofort angezogen, als sie aus der Schule heimgekommen war, und ihre Mutter seither mit Bitten genervt, ihr zu helfen, ihre Kriegsbemalung anzulegen.
Ich setzte mich so hin, dass ich mit dem Rücken an der Garagenwand lehnte, wühlte in meiner Tüte und holte ein Payday heraus. Ich hielt es hoch und betrachtete den darauf abgebildeten armen alten J. Alfred Prufrock. Ich wusste nicht recht, ob ich es wirklich riskieren durfte, diesen Schokoriegel zu essen. Andererseits hatte ich in den kommenden drei Stunden viel zu tun, und mein Magen war ein hohl rumpelndes Loch.
Scheiß drauf, dachte ich und packte den Riegel aus. Er schmeckte wundervoll – süß, würzig und knusprig. Den größten Teil verschlang ich mit zwei Bissen. Als ich den Rest in den Mund stecken wollte (und mich fragte, warum um Himmels willen ich nicht ein Sandwich und eine Cola mitgebracht hatte), nahm ich aus den Augenwinkeln heraus links eine Bewegung wahr. Ich wollte mich ihr zuwenden und griff dabei in die Tüte, um den Revolver herauszuholen, aber meine Reaktion kam zu spät. Etwas Spitzes und Kaltes bohrte sich leicht in die Höhlung meiner linken Schläfe.
»Nehmen Sie die Hand aus der Tüte.«
Diese Stimme erkannte ich sofort. Sie solltn hübsch grinsn und ’n Schwein knutschn, hatte ihr Besitzer gesagt, als ich gefragt hatte, ob er oder seine Freunde einen gewissen Dunning kannten. Er hatte gesagt, Derry sei voller Dunnings – was ich binnen Kurzem bestätigt gefunden hatte –, aber er hatte von Anfang an offenbar ziemlich genau gewusst, auf welchen von ihnen ich es abgesehen hatte. Und dies war der Beweis dafür.
Die Spitze der Klinge stach etwas tiefer in meine Haut, und ich spürte, wie mir ein Blutfaden über die Wange lief. Auf meiner kalten Haut fühlte sich das Blut warm an. Fast heiß.
»Los, raus damit, Kumpel! Ich weiß, was Sie in der Tüte haben, denk ich, und wenn Sie die Hand nicht leer rausziehen, bekommen Sie zu Halloween vierzig Zentimeter Japsenstahl zu schmecken. Diese Klinge ist verdammt scharf. Die kommt widerstandslos auf der anderen Seite von Ihrem Kopf wieder raus.«
Ich zog meine Hand aus der Tüte – leer – und drehte mich zur Seite, um Keine Hosenträger anzusehen. Seine Haare fielen ihm in fettigen Locken über Stirn und Ohren. Die dunklen Augen verschwammen in seinem blassen, stoppelbärtigen Gesicht. Ich empfand Bestürzung, die an Verzweiflung grenzte. Beinahe … aber nicht ganz. Selbst wenn ich dabei umkomme, dachte ich. Selbst wenn.
»In der Tüte sind bloß Schokoriegel«, sagte ich besänftigend. »Wenn Sie einen möchten, Mr. Turcotte, brauchen Sie’s nur zu sagen. Ich gebe Ihnen gern einen ab.«
Dann schnappte er sich die Tüte, bevor ich noch einmal hineingreifen konnte. Dafür benutzte er die freie Hand. In der anderen hielt er die Waffe, die sich als ein Bajonett erwies. Ich hatte keine Ahnung, ob das wirklich eine japanische Klinge war, aber so, wie sie im abnehmenden Dämmerlicht glänzte, war sie ganz sicher rasiermesserscharf.
Er wühlte in der Tüte herum und zog meinen Police Special heraus. »Bloß Schokoriegel, was? Der hier sieht aber nicht wie Schokolade aus, Mister Amberson.«
»Den brauche ich.«
»O ja, und Leute in der Hölle brauchen Eiswasser, aber sie kriegen’s nicht.«
»Reden Sie nicht so laut«, sagte ich.
Er steckte den Revolver in seinen Hosenbund – genau dorthin, wo ich ihn bei mir hatte unterbringen wollen, sobald ich durch die Hecke aufs Grundstück der Dunnings gelangt war –, und machte dann eine Bewegung, als wollte er mir das Bajonett in die Augen stoßen. Ich musste mich gewaltig beherrschen, um nicht zurückzuzucken. »Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll …« Er rappelte sich auf. Mit einer Faust rieb er sich erst den Magen, dann die Brust, zuletzt die stoppelbärtige Säule seines Halses, als steckte darin etwas fest. Als er schluckte, hörte ich in seiner Kehle ein Klicken.
»Mr. Turcotte? Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Woher wissen Sie meinen Namen?« Und dann, ohne meine Antwort abzuwarten: »Das war Pete, stimmt’s? Der Barkeeper im Sleepy. Er hat Ihnen meinen Namen verraten.«
»Ja. Und jetzt habe ich eine Frage an Sie. Wie lange beschatten Sie mich schon? Und weshalb?«
Er grinste humorlos, wobei er ein paar Zahnlücken entblößte. »Das sind zwei Fragen.«
»Beantworten Sie sie einfach.«
»Sie tun so …« Er zuckte zusammen, schluckte wieder und lehnte sich an die Rückwand der Garage. »… als hätten Sie hier das Sagen.«
Ich versuchte, Turcottes Blässe und seinen elenden Zustand abzuschätzen. Mr. Keene mochte ein Dreckskerl mit sadistischen Zügen sein, aber seine Diagnosen schienen ziemlich ins Schwarze zu treffen. Wer weiß schließlich besser, was gerade die Runde machte, als der örtliche Drogist? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das restliche Pepto-Bismol nicht mehr brauchen würde, aber Bill Turcotte würde es vielleicht dringend nötig haben. Ganz zu schweigen von Inkontinenzhosen, wenn das Virus sich wirklich an die Arbeit machte.
Das könnte sehr gut oder sehr schlecht sein, dachte ich. Aber das war Blödsinn. An dieser Sache gab es nichts Gutes.
Macht nichts. Sorg einfach dafür, dass er weiterredet. Und sobald er kotzen muss – falls es rechtzeitig anfängt, bevor er dir die Kehle durchschneidet oder dich mit deinem eigenen Revolver erschießt –, fällst du ihn an.
»Sagen Sie’s mir einfach«, verlangte ich. »Ich finde, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren, nachdem ich Ihnen nichts getan habe.«
»Sie haben’s auf ihn abgesehen, das ist das, was ich denke. All die Immobilien, die Sie sich in der Stadt angesehen haben – alles Schwachsinn. Sie sind auf der Suche nach ihm hergekommen.« Er nickte zu dem Haus jenseits der Hecke hinüber. »Das hab ich gleich gewusst, als Sie seinen Namen ausgespuckt haben.«
»Wie kommen Sie darauf? In dieser Stadt wimmelt es von Dunnings, das haben Sie selbst gesagt.«
»Schon, aber es gibt nur einen, aus dem ich mir was mache.« Er hob die Hand mit dem Bajonett und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. In diesem Augenblick hätte ich ihn wahrscheinlich überwältigen können, aber ich fürchtete, der Lärm unseres Gerangels könnte Aufmerksamkeit erregen. Und wenn der Revolver losging, würde vermutlich ich die Kugel abbekommen.
Außerdem war ich neugierig.
»Er muss Ihnen irgendwann einen verdammt großen Gefallen getan haben, wenn Sie sich jetzt als sein Schutzengel aufspielen«, sagte ich.
Er ließ ein trockenes Japsen hören, das wohl ein Lachen sein sollte. »Das ist ’ne heiße Vermutung, Mann, aber in gewisser Weise stimmt sie sogar. Ich bin ’ne Art Schutzengel für ihn. Zumindest vorläufig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Damit meine ich, dass er mir gehört, Amberson. Dieser Dreckskerl hat meine kleine Schwester ermordet, und wenn jemand ihn abknallt … oder mit dem Messer erledigt …« Er fuchtelte mit dem Bajonett vor seinem blassen, grimmigen Gesicht herum. »… bin ich dieser Jemand.«
9
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Von irgendwo aus der Ferne war eine Serie von Knattergeräuschen zu hören, weil irgendein Halloween-Schurke Knallfrösche zündete. Kinder und Jugendliche zogen lärmend die Witcham Street entlang. Aber hier hinten waren wir beide allein. Christy und die anderen Alkoholiker hatten sich als Freunde von Bill bezeichnet; wir waren die Feinde von Frank. Ein perfektes Team, könnte man sagen … nur sah Bill »Keine Hosenträger« Turcotte nicht wie ein guter Teamspieler aus.
»Sie …« Ich verstummte und schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Wenn Sie nur halb so clever sind, wie ich Sie einschätze, müssten Sie von selbst draufkommen. Oder hat Chazzy Ihnen nicht genug erzählt?«
Ich wusste nicht gleich, wen er meinte. Dann fiel es mir wieder ein: den kleinen Mann mit der Meerjungfrau auf dem Unterarm und dem fröhlichen Gesicht eines Streifenhörnchens. Nur hatte es weniger fröhlich gewirkt, als Frank Dunning ihm auf den Rücken geklopft und ihn aufgefordert hatte, seine Nase sauber zu halten, weil sie zu lang sei, um schmutzig werden zu dürfen. Und vorher, als Frank noch in der Männerrunde am Tisch der Brüder Tracker im rückwärtigen Teil vom Lamplighter Witze erzählt hatte, hatte Chaz Frati mich über Dunnings Wutanfälle aufgeklärt … die mir dank des Hausmeisteraufsatzes nicht neu waren. Er hat ein Mädchen geschwängert. Nach ein, zwei Jahren hat sie das Baby mitgenommen und ist abgehauen.
»Kommt allmählich was über die Radiowellen durch, Commander Cody? So sieht’s nämlich aus.«
»Frank Dunnings erste Frau war Ihre Schwester.«
»Na also! Der Mann sagt das Geheimwott und gewinnt hunnert Dollar.«
»Mr. Frati hat gesagt, sie hätte das Baby mitgenommen und ihn verlassen. Weil sie es satthatte, dass er jedes Mal, wenn er getrunken hatte, brutal wurde.«
»Na klar hat er Ihnen das erzählt, und das glauben die meisten Leute in Derry – auch Chazzy, schätz ich –, aber ich weiß es besser. Clara und ich sind immer sehr vertraut miteinander gewesen. In unserer Jugend sind wir immer füreinander eingestanden. Von so was verstehen Sie wahrscheinlich nichts, denn Sie kommen mir wie ein ziemlich kalter Fisch vor, aber bei uns war’s immer so.«
Ich dachte an das eine gute Jahr, das ich mit Christy gehabt hatte – sechs Monate vor der Hochzeit und sechs danach. »Nicht ganz so kalt. Ich weiß, wovon Sie reden.«
Turcotte rieb sich wieder den Oberkörper, aber ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war: vom Bauch zur Brust, Brust zur Kehle, wieder zur Brust hinunter. Sein Gesicht war kreidebleich. Ich fragte mich, was er mittags gegessen hatte, aber vermutlich würde ich nicht lange im Ungewissen bleiben; ich würde es vermutlich bald zu sehen bekommen.
»Oh, tatsächlich? Dann finden Sie’s vielleicht auch ein bisschen seltsam, dass sie mir nie geschrieben hat, nachdem sie mit Mikey irgendwo untergekommen war. Nicht mal ’ne Postkarte. Ich persönlich halt das für viel mehr als bloß seltsam. Weil sie mir ganz sicher geschrieben hätt. Sie hat gewusst, dass ich zu ihr halte. Und sie hat gewusst, wie lieb ich den Kleinen hatte. Sie war zwanzig, und Mikey war sechzehn Monate alt, als dieser Witze erzählende Hundesohn die beiden als vermisst gemeldet hat. Das war im Sommer 1938. Sie wär jetzt vierzig, mein Neffe einundzwanzig. Alt genug, um wählen zu dürfen, verdammt noch mal! Und Sie wollen mir erzählen, dass sie ihrem Bruder, der den geilen ollen Nosey Royce daran gehindert hat, sie zu vergewaltigen, als wir noch Kinder waren, keine einzige Zeile schreiben würde? Oder ihn um ein bisschen Geld bitten, damit sie in Boston oder New Haven oder sonst wo Fuß fassen kann? Mister, ich hätte …«
Er zuckte zusammen, ließ einen kleinen Urp-ulk-Laut hören, den ich sehr gut kannte, und taumelte rückwärts gegen die Garagenwand.
»Sie müssen sich hinsetzen«, sagte ich. »Sie sind krank.«
»Ich bin nie krank. Bin seit dem sechsten Schuljahr nicht mal mehr erkältet gewesen.«
Wenn das stimmte, würde dieses Virus einen Blitzkrieg gegen ihn führen wie die nach Warschau vorstoßenden Deutschen.
»Das ist eine Darmgrippe, Turcotte. Wegen der hab ich heute Nacht kein Auge zugetan. Mr. Keene im Drugstore sagt, dass sie die Runde macht.«
»Die alte Tunte mit ihrem schmalen Arsch hat doch keine Ahnung. Mir geht’s gut.« Er warf seine speckige Mähne zurück, um mir zu zeigen, wie gut es ihm ging. Aber sein Gesicht war blasser als je zuvor. Die Hand mit dem japanischen Bajonett zitterte, wie meine bis heute Mittag gezittert hatte. »Wollen Sie das hören oder nicht?«
»Klar.« Ich sah hastig auf meine Uhr. Es war zehn nach sechs. Die Zeit, die bisher so langsam gelaufen war, nahm jetzt Tempo auf. Wo war Frank Dunning in diesem Augenblick? Noch im Supermarkt? Das glaubte ich nicht. Ich vermutete, dass er heute früher gegangen war – vielleicht mit der Begründung, dass er mit seinen Kindern zu Süßes oder Saures losziehen wollte. Nur hatte er das nicht vor. Er hockte in irgendeiner Bar, wenn auch nicht im Lamplighter. Dort war er hingegangen, um ein Bier, höchstens zwei zu trinken. Die er zur Not vertrug, obwohl er – wenn meine Exfrau ein gutes Beispiel war, wovon ich ausging – jedes Mal mit trockenem Mund und dem brennenden Wunsch nach mehr gegangen war.
Nein, wenn er wirklich das Bedürfnis hatte, in dem Zeug zu baden, würde er in eine von Derrys düstere Kneipen gehen: in den Spoke, in den Sleepy, in den Bucket. Vielleicht sogar in eine der absoluten Spelunken, die über den verdreckten Kenduskeag hinausgebaut waren – Wally’s oder die schmierige Paramount Lounge, in der die meisten Barhocker um diese Zeit noch von alten Nutten mit wächsernem Gesicht besetzt waren. Und erzählte er dort Witze, über die das ganze Lokal lachen musste? Sprachen Leute ihn an, während er dabei war, Hochprozentiges auf die glühenden Kohlen seiner Wut in seinem Hinterkopf zu schütten? Lieber nicht, wenn sie keine unvorhergesehene Zahnbehandlung wollten.
»Bevor meine Schwester und mein Neffe verschwunden sind, haben sie mit Dunning in einem kleinen gemieteten Haus draußen an der Stadtgrenze nach Cashman gewohnt. Er hat schwer getrunken, und wenn er trinkt, setzt er seine Scheißfäuste ein. Ich hab blaue Flecken bei ihr gesehn, und Mikeys kleiner Arm war mal von der Hand bis zum Ellbogen ganz grün und blau. Ich sag ihr: ›Schwesterchen, schlägt er dich und das Baby? Falls ja, verprügle ich ihn.‹ Sie sagt nein, aber sie konnte mich dabei nicht ansehen. Sie sagt: ›Leg dich nicht mit ihm an, Billy. Er ist stark. Ich weiß, das bist du auch, aber du bist mager. Ein kräftiger Windstoß könnte dich umblasen. Er würde dir was antun.‹ Und kein halbes Jahr später war sie verschwunden. Einfach abgehauen, hat er gesagt. Aber dort draußen gibt es jede Menge Wälder. Beim Teufel, ist man erst mal in Cashman, gibt es nur noch Wälder. Sie wissen auch, was wirklich passiert ist, stimmt’s?«
Und ob. Andere würden es vielleicht nicht glauben, weil Dunning jetzt ein angesehener Bürger war, der seinen Alkoholkonsum seit vielen Jahren unter Kontrolle zu haben schien. Und weil er der Charme in Person war. Aber ich besaß immerhin Insiderinformationen.
»Ich schätze, dass er ausgerastet ist. Dass er betrunken heimgekommen ist, und sie hat etwas Falsches gesagt, vielleicht etwas eigentlich ganz Unkompromittierendes …«
»Unkompri-was?«
Ich spähte durch die Hecke in den Garten hinter dem Haus hinüber. Eine Frau ging am Küchenfenster vorbei und blieb verschwunden. In der Casa Dunning wurde das Abendessen serviert. Würde es eine Nachspeise geben? Wackelpudding mit Fertigsahne? Ritz-Cracker-Pie? Das glaubte ich nicht. Wer brauchte an Halloween eine Nachspeise? »Damit will ich sagen, dass er sie ermordet hat. Ist das nicht auch das, was Sie denken?«
»O ja …« Er wirkte verblüfft und misstrauisch zugleich. So wirkten Besessene wohl immer, wenn sie hörten, wie Dinge, die ihnen lange schlaflose Nächte beschert hatten, nicht nur ausgesprochen, sondern bestätigt wurden. Das musste ein Trick sein, dachten sie. Nur war dies kein Trick, sondern mein voller Ernst.
Ich sagte: »Wie alt war Dunning damals, zweiundzwanzig? Hatte das ganze Leben noch vor sich. Er muss gedacht haben: ›Nun, ich habe etwas Schlimmes getan, aber ich kann’s wieder in Ordnung bringen. Wir sind draußen im Wald, die nächsten Nachbarn sind eine Meile weit entfernt …‹ Waren sie eine Meile weit entfernt, Turcotte?«
»Mindestens.« Er sagte das widerstrebend. Mit einer Hand massierte er sich die Kehle über der Schlüsselbeingrube. Das Bajonett war herabgesunken. Es mit der rechten Hand an mich zu reißen wäre einfach gewesen, und vielleicht hätte ich ihm mit meiner anderen sogar den Revolver aus dem Hosenbund ziehen können, aber das wollte ich nicht tun. Ich vertraute darauf, dass das Virus Mr. Bill Turcotte rechtzeitig außer Gefecht setzte. Ich glaubte tatsächlich, dass die Sache so einfach sein würde. Wie leicht es doch ist, die Unerbittlichkeit der Vergangenheit völlig aus dem Sinn zu verlieren?
»Also hat er die Leichen in den Wald gefahren und verscharrt und behauptet, sie wären weggelaufen. Da wird es keine langen Ermittlungen gegeben haben.«
Turcotte drehte den Kopf zur Seite und spuckte aus. »Er stammt aus einer guten alten Familie in Derry. Meine ist mit ’nem alten, rostigen Pick-up aus dem Saint John Valley runtergekommen, als ich zehn und Clara acht war. Nur französisch sprechendes Gesindel. Was glauben Sie?«
Ich glaubte, dass auch das wieder mal typisch war für Derry – genau das dachte ich. Und während ich begriff, wie sehr Turcotte seine Schwester geliebt hatte und seinen Verlust bedauerte, redete er von einem lange zurückliegenden Verbrechen. Mich hingegen beschäftigte mehr das andere, das in weniger als zwei Stunden verübt werden sollte.
»Sie haben Frati auf mich angesetzt, stimmt’s?« Das war zwar enttäuschend, aber jetzt offenkundig. Ich hatte damals geglaubt, der Kerl wäre einfach nur freundlich und würde mir bei Bier und Hummerklein ein wenig Lokalklatsch erzählen. Irrtum. »Kumpel von Ihnen?«
Turcotte lächelte, aber das sah mehr wie eine Grimasse aus. »Ich soll mit ’nem Itzig befreundet sein, der ein reicher Pfandleiher ist? Zum Totlachen! Wollen Sie ’ne kleine Geschichte hören?«
Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich noch etwas Zeit hatte. Während Turcotte erzählte, würde das liebe Magenvirus kräftig weiterarbeiten. Sobald er sich das erste Mal nach vorn beugte, um zu kotzen, würde ich mich auf ihn stürzen.
»Nur zu.«
»Dunning, Chaz Frati und ich sind alle gleich alt – zweiundvierzig. Glauben Sie mir das?«
»Klar.« Außer dass Turcotte, der ein hartes Leben hinter sich hatte (und jetzt krank wurde, auch wenn er das nicht eingestehen wollte), zehn Jahre älter als die beiden wirkte.
»Als wir alle in der Abschlussklasse an der alten Consolidated waren, war ich stellvertretender Manager des Footballteams. Tiger Billy, das war mein Spitzname – niedlich, nicht wahr? In den beiden ersten Highschool-Jahren hatte ich versucht, ins Team zu kommen, bin aber nicht genommen worden. Zu mager für den Angriff, zu langsam für die Verteidigung. Die Geschichte meines verdammten Lebens, Mister. Aber ich hab das Spiel geliebt und konnt’s mir nicht leisten, Tickets für ’nen Dime zu kaufen – meine Familie hatte buchstäblich nichts –, also hab ich mich als stellvertretender Manager gemeldet. Netter Titel, aber wissen Sie, was er bedeutet?«
Natürlich wusste ich das. In meinem Leben als Jake Epping war ich kein Immobilienmakler, sondern Lehrer an einer Highschool, und manche Dinge änderten sich nun einmal nie. »Sie waren der Wasserträger.«
»Haargenau, ich hab ihnen Wasser gebracht. Und den Kotzeimer gehalten, wenn jemand spucken musste, egal, ob nach Trainingsrunden an einem heißen Tag oder weil er ’nen Helm in die Eier gekriegt hatte. Und ich war der Kerl, der etwas länger dageblieben ist, um ihren ganzen Mist vom Spielfeld zu räumen und im Duschraum ihre mit Scheiße verschmierten Eierschoner vom Boden aufzuheben.«
Er verzog das Gesicht. Ich stellte mir vor, wie sein Magen sich allmählich in eine Jacht in stürmischer See verwandelte. Da geht sie wieder hoch, ihr Maate. Dann die korkenzieherartige Abwärtsspirale.
»So bin ich an einem Tag im September oder Oktober 1934 ganz allein auf dem Platz unterwegs, sammle verlorene Polster und Elastikbinden und den übrigen Scheiß ein, den sie auf dem Rasen zurücklassen, und werfe alles in mein Wägelchen. Und was sehe ich plötzlich? Chaz Frati, der übers Fußballfeld hetzt und dabei seine Bücher wegwirft. Eine Horde Jungs ist hinter ihm her und … Himmel, was war das?«
Er sah sich um, wobei seine Augen ihm fast aus dem blassen Gesicht quollen. Ich hätte mir vielleicht wieder den Revolver schnappen können – das Bajonett ganz bestimmt –, aber ich ließ es bleiben. Er rieb sich wieder mit einer Hand die Brust. Nicht den Magen, sondern die Brust. Das hätte mir wahrscheinlich etwas sagen müssen, aber ich hatte zu viel im Kopf. Vor allem auch seine Geschichte. Das war der Fluch der lesenden Klasse. Eine gute Geschichte konnte uns selbst zur unrechten Zeit verführen.
»Nicht aufregen, Turcotte. Das sind nur Kinder, die Böller zünden. Heute ist Halloween, schon vergessen?«
»Mir geht’s nicht so gut. Vielleicht haben Sie mit diesem Virus doch recht.«
Wenn er es für möglich hielt, ausreichend krank zu werden, um außer Gefecht zu sein, konnte er etwas Unüberlegtes tun. »Reden wir nicht von dem Virus. Erzählen Sie mir von Frati.«
Er grinste. Es war ein beunruhigender Ausdruck auf diesem blassen, verschwitzten, stoppelbärtigen Gesicht. »Der olle Chazzy ist wie ein guter Halfback gerannt, der in einem unentschiedenen Spiel noch punkten will, aber sie haben ihn eingeholt. Ungefähr zwanzig Meter hinter den Torstangen fällt der Platz in einen tiefen Graben ab, in den haben sie ihn gestoßen. Wundert es Sie, wenn ich sage, dass einer von ihnen Frank Dunning war?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie haben ihn dort runtergestoßen und gehänselt. Dann haben sie angefangen, ihn zu schubsen und zu schlagen. Ich hab gerufen, dass sie damit aufhören sollen, und der olle Frankie, der sieht zu mir auf und schreit zurück: ›Komm runter und zwing uns dazu, Fickgesicht! Dann kriegst du doppelt so viel wie er.‹ Also bin ich in den Umkleideraum gerannt und hab einigen von den Footballspielern erzählt, dass ein paar Rowdys einen Jungen verprügeln wollen und ob sie nicht Lust haben, was dagegen zu unternehmen. Nun, denen war’s scheißegal, wer da verprügelt wurde, aber für eine Schlägerei waren diese Kerle immer zu haben. Also sind sie losgerannt, manche sogar in der Unterwäsche. Und wollen Sie was wirklich Komisches hören, Amberson?«
»Klar.« Ich sah wieder auf meine Uhr. Inzwischen fast Viertel vor sieben. Im Haus der Dunnings würde Doris jetzt abwaschen und dabei vielleicht der Fernsehsendung Huntley-Brinkley zuhören.
»Müssen Sie irgendwohin?«, fragte Turcotte. »Müssen Sie eilig zu ’nem gottverdammten Zug?«
»Sie wollten mir etwas Komisches erzählen.«
»Ah, richtig. Sie haben die Schulhymne gesungen! Wie gefällt Ihnen das?«
Vor meinem inneren Auge sah ich sechs oder acht stämmige Jungathleten, die nur teilweise bekleidet über den Platz tobten, um sich nach dem Training noch ein bisschen Übung zu verschaffen, und dabei Hail Derry Tigers, we hold your banner high sangen. Das war wirklich irgendwie komisch.
Turcotte sah mein Grinsen und beantwortete es mit einem eigenen. Es war angestrengt, aber echt. »Die Footballer haben ein paar von den Kerlen ziemlich rangenommen. Allerdings nicht Frankie Dunning; dieser Feigling hat gesehen, dass es Prügel setzen würde, und sich in den Wald verdünnisiert. Chazzy hat auf dem Boden gelegen und sich den rechten Arm gehalten. Der war gebrochen. Hätt allerdings viel schlimmer ausgehn können. Sie hätten ihn krankenhausreif geschlagen. Einer von den Footballern sieht ihn dort liegen und stößt ihn leicht mit dem Fuß an – wie man vielleicht einen Kuhfladen anstößt, in den man fast getreten ist –, und sagt: ›Wir sind über den ganzen Platz gerannt, um den Schinken eines Judenjungen zu retten?‹ Und ein paar von den anderen haben gelacht, weil das ’ne Art Witz war, verstehn Sie? Schinken? Judenjunge?« Er starrte mich durch von Brylcreem glänzende Strähnen an.
»Schon kapiert«, sagte ich.
»›Ach, scheiß drauf‹, sagt einer von den anderen. ›Ich hab ’n paar Kerle in den Hintern treten können, das genügt mir.‹ Sie sind zurückgegangen, und ich hab dem ollen Chaz aus dem Graben geholfen. Hab ihn sogar heimbegleitet, weil ich dachte, er könnte zusammenklappen oder sonst was. Ich hatte Angst, Frankie und seine Freunde könnten zurückkommen – das haben sie übrigens getan –, aber ich bin bei ihm geblieben. Scheiße, ich weiß gar nicht, warum. Das Haus, in dem er gewohnt hat, hätten Sie sehen müssen – der reinste Palast. Das Pfandleihgeschäft muss echt Kohle bringen. Als wir dort angekommen sind, hat er sich bei mir bedankt. Ganz ernsthaft. Viel hat nicht gefehlt, dann hätt er losgeheult. Ich sag: ›Nicht der Rede wert, ich mag’s bloß nicht, wenn sechs über einen herfallen.‹ Was auch stimmte. Aber Sie wissen ja, was man von den Juden sagt: Sie vergessen nie eine Schuld oder einen Gefallen.«
»Für den Sie eine Gegenleistung eingefordert haben, um rauszukriegen, was ich hier treibe.«
»Das wusste ich schon ziemlich genau, Kumpel. Ich wollte mich nur noch vergewissern. Chaz wollte, dass ich Sie in Ruhe lasse – er meinte, Sie wärn ’n netter Kerl –, aber wenn’s um Frankie Dunning geht, kenne ich keine Rücksicht. Außer mir darf sich keiner mit Dunning anlegen. Er gehört mir.«
Er zuckte zusammen und rieb sich wieder die Brust. Und diesmal begriff ich endlich.
»Turcotte – haben Sie’s am Magen?«
»Nee, an der Brust. Fühlt sich irgendwie eng an.«
Das klang nicht gut, und dabei kam mir der Gedanke, dass jetzt auch sein Kopf in einem Nylonstrumpf steckte.
»Setzen Sie sich, bevor Sie zusammenklappen.« Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Er zog den Revolver. Die Haut über meinem Brustbein – wo die Kugel einschlagen würde – begann heftig zu jucken. Du hättest ihn entwaffnen können, dachte ich. Du hattest wirklich die Möglichkeit dazu. Aber nein, du musstest ja unbedingt seine Geschichte hören. Wolltest alles wissen.
»Setzen Sie sich hin, Bruder. Immer Ruhe in der Truhe, wie’s auf den Witzseiten heißt.«
»Wenn Sie einen Herzanfall haben …«
»Ich hab kein’ gottverdammten Herzanfall. Los, setzen Sie sich!«
Ich setzte mich und sah zu ihm auf, wie er an der Garagenwand lehnte. Seine Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen, die ich nicht mit bester Gesundheit in Verbindung brachte.
»Was wollen Sie von ihm?«, fragte Turcotte. »Das möchte ich wissen. Das muss ich wissen, bevor ich entscheiden kann, was mit Ihnen geschieht.«
Ich überlegte mir sorgfältig, was ich antworten sollte. Als hinge mein Leben davon ab. Vielleicht tat es das wirklich. Unabhängig davon, was er dachte, traute ich Turcotte keinen kaltblütigen Mord zu, sonst wäre Frank Dunning schon längst neben seinen Eltern beigesetzt worden. Aber Turcotte hatte meinen Revolver, und er war ein kranker Mann. Er könnte versehentlich abdrücken. Die unsichtbare Macht, die den Status quo bewahren wollte, könnte ihm dabei sogar helfen.
Wenn ich den richtigen Ton traf – mit anderen Worten, wenn ich das verrückte Zeug ausließ –, würde er mir vielleicht glauben. Wegen der Dinge, die er bereits glaubte. Die sein Herz wusste.
»Er wird’s wieder tun.«
Turcotte wollte fragen, was ich damit meinte, aber das war dann doch überflüssig. Er machte große Augen. »Sie meinen, dass er … sie?« Er sah zu der Hecke hinüber. Bis dahin war ich mir nicht einmal sicher gewesen, dass er wusste, was dahinter lag.
»Nicht nur sie.«
»Auch eins von den Kindern?«
»Nicht eins, alle. Er ist jetzt unterwegs und besäuft sich, Turcotte. Steigert sich wieder mal in blinde Wut rein. Die kennen Sie ja zur Genüge. Nur wird es diesmal kein Vertuschen geben. Aber das ist ihm egal. Der Zorn hat sich seit seinem letzten Besäufnis angestaut, wo Doris seine Gewalttätigkeit endgültig satthatte. Sie hat ihm die Tür gewiesen, wussten Sie das?«
»Das weiß jeder. Er wohnt in einem Gästehaus in der Charity Avenue.«
»Er hat versucht, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln, aber sein Charme verfängt bei ihr nicht mehr. Sie will die Scheidung, und weil er endlich begriffen hat, dass er sie nicht umstimmen kann, will er sie mit einem Hammer erschlagen. Danach will er sich auf die gleiche Weise von den Kindern trennen.«
Er starrte mich mit dem Bajonett in der einen und dem Revolver in der anderen Hand stirnrunzelnd an. Ein kräftiger Windstoß könnte dich umblasen, hatte seine Schwester ihm vor vielen Jahren erklärt, aber heute Abend hätte eine leichte Brise genügt, das merkte ich ihm an. »Wie können Sie das wissen?«
»Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen, aber ich weiß es wirklich. Und ich bin hier, um das zu verhindern. Geben Sie mir den Revolver zurück, damit ich es tun kann. Für Ihre Schwester. Für Ihren Neffen. Und weil ich glaube, dass Sie im Innersten ein ziemlich netter Kerl sind.« Das war natürlich Schwachsinn, aber wenn man dick auftragen wollte, hatte mein Vater immer gesagt, konnte man auch gleich ganz dick auftragen. »Warum hätten Sie sonst verhindert, dass Dunning und seine Freunde Chaz Frati krankenhausreif prügeln?«
Er dachte nach. Ich konnte fast hören, wie Zahnräder sich drehten und Sperrklinken klickten. Dann leuchteten seine Augen auf. Vielleicht war das nur der Widerschein der untergehenden Sonne, aber mich erinnerte es an die Kerzen, die jetzt gerade überall in Derry in Kürbislaternen flackerten. Er setzte ein Lächeln auf. Was er als Nächstes sagte, konnte nur aus dem Mund eines Menschen kommen, der geistesgestört war … oder zu lange in Derry gelebt hatte … oder beides.
»Er will sie umbringen, was? Okay, lassen wir ihn.«
»Was?«
Er zielte mit dem .38er auf mich. »Setz dich wieder hin, Amberson. Mach’s dir bequem.«
Ich ließ mich widerstrebend zurücksinken. Inzwischen war es nach sieben Uhr, und er begann sich in einen Schattenmann zu verwandeln. »Mr. Turcotte … Bill … Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, daher kapierst du die Situation vielleicht nicht ganz. In dem Haus dort drüben sind eine Frau und vier Kinder. Mann, das kleine Mädchen ist erst sieben!«
»Mein Neffe war noch viel jünger.« Er sprach so gewichtig wie jemand, der eine große Wahrheit verkündete, die alles erklärte. Und es zugleich rechtfertigte. »Ich bin zu krank, als dass ich es mit ihm aufnehmen könnte, und du hast nicht den Mumm dazu. Das weiß ich, weil ich’s dir ansehe.«
Ich war davon überzeugt, dass er sich in diesem Punkt irrte. Das hätte vielleicht für Jake Epping aus Lisbon Falls gegolten, aber dieser Bursche hatte sich verändert. »Warum lässt du’s mich nicht versuchen? Was würde dir das schaden?«
»Weil’s nicht genug wär, selbst wenn du diesen Dreckskerl umlegst. Das ist mir eben klar geworden. Einfach so …« Er schnalzte mit den Fingern. »Wie aus heiterem Himmel.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das kommt daher, weil du nicht zwanzig Jahre lang gesehen hast, wie Männer wie Tony und Phil Tracker ihn wie King Käse behandeln. Zwanzig Jahre, in denen die Frauen ihn angehimmelt haben, als wär er Frank Sinatra. Er hat schon lange einen Pontiac gefahren, als ich mir noch in sechs verschiedenen Fabriken für den Mindestlohn den Arsch aufgerissen und Textilfasern eingeatmet habe, bis ich jetzt morgens kaum mehr aufstehen kann.« Seine Hand wieder auf der Brust. Massierte und rieb. Sein Gesicht ein blasses verschwommenes Oval im schwachen Widerschein der Straßenbeleuchtung. »Der Tod ist zu gut für diesen Scheißkerl. Was er braucht, sind vierzig oder mehr Jahre im Shank, wo er es nicht mal wagen kann, sich nach einem Stück Seife zu bücken, das ihm in der Dusche runtergefallen ist. Wo er statt Schnaps höchstens Trockenspiritus kriegt.« Er senkte die Stimme. »Und weißt du noch was?«
»Was?« Mir war plötzlich kalt.
»Wenn er wieder nüchtern ist, werden sie ihm fehlen. Er wird bedauern, dass er’s getan hat. Er wird sich wünschen, er könnte alles ungeschehen machen.« So mussten die unheilbar Geistesgestörten in Einrichtungen wie Juniper Hill spätnachts reden, wenn die Wirkung ihrer Medikamente abklang. »Seine Frau tut ihm vielleicht nicht sehr leid – aber die Kiddies, klar.« Er lachte und verzog dann das Gesicht, als würde es wehtun. »Wahrscheinlich steckst du voller Scheiße, aber weißt du was? Ich hoffe, dass du’s nicht tust. Warten wir’s also einfach ab.«
»Turcotte, diese Kinder sind unschuldig!«
»Das war Clara auch. Und der kleine Mikey erst recht.« Seine Schattenschultern zuckten einmal nach oben. »Scheiß auf sie alle.«
»Das kann nicht dein …«
»Schnauze! Wir warten’s ab.«
10
Die Armbanduhr, die Al mir mitgegeben hatte, hatte Leuchtzeiger, und ich beobachtete entsetzt und resigniert, wie der lange Zeiger nach ganz unten wanderte und dann wieder aufzusteigen begann. Fünfundzwanzig Minuten bis zum Beginn der Sendung Ellery Queens neue Abenteuer. Dann zwanzig. Dann nur fünfzehn. Ich versuchte mit Turcotte zu reden, aber er forderte mich auf, das Maul zu halten. Er rieb sich immer wieder die Brust und hörte damit nur einmal auf, um seine Zigaretten aus der Hemdtasche zu ziehen.
»Oh, das ist eine gute Idee«, sagte ich. »Das ist sicher sehr gut für dein Herz.«
»Klappe halten.«
Er stieß das Bajonett in das weiche Erdreich hinter der Garage und zündete sich mit einem verbeulten Zippo eine Zigarette an. Im kurzen Aufflackern der Flamme sah ich, dass ihm Schweißbäche übers Gesicht liefen, obwohl die Nacht kühl war. Die Augen schienen so weit in ihre Höhlen zurückgewichen zu sein, dass sein Kopf wie ein Totenschädel aussah. Er atmete den Rauch ein und hustete ihn gleich wieder aus. Sein magerer Körper zitterte, aber der Revolver bewegte sich nicht. Zielte weiter auf meine Brust. Am Nachthimmel über uns standen jetzt Sterne. Unterdessen war es zehn vor acht. Wie lange war Ellery Queen schon gelaufen, als Dunning aufgekreuzt war? In Harrys Aufsatz hatte nichts darüber gestanden, aber ich vermutete, nicht lange. Morgen war schulfrei, aber Doris Dunning würde nicht wollen, dass die siebenjährige Ellen länger als zehn Uhr außer Haus war, selbst wenn sie mit Harry und Tugga zusammen war.
Fünf vor acht.
Und plötzlich hatte ich eine Idee. Sie besaß die Klarheit unwiderlegbarer Wahrheit, und ich sprach sie aus, solange sie noch frisch war.
»Du bist ein Schisser.«
»Was?« Er fuhr auf, als hätte ich ihn in den Hintern gekniffen.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe.« Ich äffte ihn nach. »›Außer mir darf sich keiner mit Dunning anlegen. Er gehört mir.‹« Das erzählst du dir nun schon seit zwanzig Jahren, was? Aber du hast dich immer noch nicht mit ihm angelegt.«
»Du sollst die Klappe halten.«
»Teufel, sogar zweiundzwanzig! Du hast dich auch nicht mit ihm angelegt, als er es auf Chaz Frati abgesehen hatte, oder? Du bist wie ein kleines Mädchen weggerannt und hast die Footballspieler geholt.«
»Die anderen waren zu sechst!«
»Klar, aber Dunning ist seither oft genug allein gewesen, und du hast nicht mal ’ne Bananenschale auf den Gehsteig geworfen und gehofft, dass er darauf ausrutschen würde. Du bist ein jämmerlicher Feigling, Turcotte. Verkriechst dich hier wie ein Kaninchen in seinem Bau.«
»Maul halten!«
»Du redest dir irgendwelchen Scheiß ein, dass es die beste Rache wäre, ihn im Gefängnis zu sehen, damit du dir nicht eingestehen musst, dass …«
»Schnauze!«
»… dass du ein erbärmlicher Waschlappen bist, der den Mörder seiner Schwester über zwanzig Jahre frei hat rumlaufen lassen …«
»Ich warne dich!« Er zog den Hammer des Revolvers zurück.
Ich schlug mir mit der Faust aufs Brustbein. »Na los, tu’s doch! Dann hören alle den Schuss, die Polizei kreuzt auf, Dunning sieht den Trubel und macht auf dem Absatz kehrt, und zuletzt endest du im Shawshank. Dort gibt’s bestimmt auch eine Weberei. In der könntest du statt für ’nen Dollar zwanzig für ’nen Nickel in der Stunde arbeiten. Aber die Arbeit wird dir gefallen, weil du dann nicht versuchen musst, dir selbst zu erklären, weshalb du in all diesen Jahren untätig geblieben bist. Wäre deine Schwester noch am Leben, würde sie dir ins Gesicht spucken und …«
Er stieß den Revolver nach vorn, um mir die Mündung auf die Brust zu setzen, und stolperte dabei über sein verdammtes Bajonett. Als ich die Waffe mit dem Handrücken wegschlug, ging sie los. Die Kugel musste weniger als eine Handbreit von meinem Fuß entfernt in den Boden gegangen sein, weil ein paar aufgewirbelte Steinchen mein Hosenbein trafen. Ich entriss ihm den Revolver, zielte damit auf ihn und war bereit abzudrücken, wenn er Anstalten machte, das umgefallene Bajonett aufzuheben.
Aber stattdessen sackte er an der Garagenwand zusammen. Jetzt lagen beide Hände fest auf seiner linken Brustseite, und er gab leise Würgelaute von sich.
Nicht allzu weit entfernt – auf der Kossuth Street, nicht auf der Wyemore Lane – blaffte ein Mann: »Spaß muss sein, Kinder, aber noch so ein Böller, dann rufe ich die Polizei! Ich hab euch gewarnt!«
Ich atmete langsam aus. Das tat auch Turcotte, aber stockend und keuchend. Die Würgelaute waren weiter zu hören, während er die Garagenwand hinunterrutschte, bis er mit gespreizten Beinen liegen blieb. Ich hob das Bajonett auf, überlegte, ob ich es in meinen Gürtel stecken sollte, und gelangte zu dem Schluss, dass ich mir damit nur ins Bein schneiden würde, wenn ich mich durch die Hecke zwängte – weil die Vergangenheit weiterhin alles tun würde, um mich aufzuhalten. Ich warf es in die Dunkelheit und hörte, wie es mit einem dumpfen Aufprall etwas traf. Vielleicht die Seite der Hundehütte mit dem Schild IHR KÖTER GEHÖRT HIERHER.
»Krankenwagen«, krächzte Turcotte. Seine Augen glänzten, als wären sie tränennass. »Bitte, Amberson. Hab Schmerzen.«
Krankenwagen. Gute Idee. Und hier kommt etwas Lachhaftes. Obwohl ich nun seit fast acht Wochen in Derry war – im Jahr 1958 –, griff ich automatisch in meine rechte Hosentasche, in der mein Handy immer steckte, wenn ich kein Sakko trug. Aber meine Finger fanden darin nur etwas Kleingeld und die Autoschlüssel.
»Sorry, Turcotte. Um sofort gerettet zu werden, bist du im falschen Zeitalter geboren.«
»Was?«
Wie meine Bulova zeigte, wurden Ellery Queens neue Abenteuer jetzt dem begierig wartenden Amerika präsentiert. »Halt durch«, sagte ich und zwängte mich durch die Hecke, wobei ich die Hand, mit der ich nicht den Revolver hielt, schützend vors Gesicht hob, um meine Augen vor den starren, kratzenden Zweigen zu schützen.
11
Ich stolperte über den Sandkasten mitten im Garten der Dunnings, knallte der Länge nach hin und sah mich im Liegen dem starren Blick einer Puppe ausgesetzt, die ein Diadem und sonst nichts trug. Der Revolver flog mir aus der Hand. Ich machte mich auf allen vieren auf die Suche nach ihm, obwohl ich davon überzeugt war, dass ich ihn nie wiederfinden würde; das hier war der letzte Trick der unerbittlichen Vergangenheit. Klein im Vergleich zu der übel wütenden Darmgrippe und Bill Turcotte, aber gut. Dann, als ich ihn eben am Rand eines trapezförmigen Lichtflecks aus der Küche entdeckte, hörte ich einen Wagen die Kossuth Street entlangkommen. Er fuhr weit schneller, als ein umsichtiger Fahrer sich auf einer Straße zu fahren getraut hätte, auf der jede Menge maskierter Kinder durch das Wohngebiet zogen, um Süßes oder Saures zu fordern. Ich wusste, wer das war, schon bevor er mit quietschenden Reifen hielt.
In Hausnummer 379 saß Doris Dunning mit Troy auf der Couch, während Ellen in ihrem Indianerprinzessinnenkostüm herumtänzelte, weil sie endlich loswollte. Troy hatte gerade gesagt, dass er ihr beim Süßigkeitenverputzen helfen werde, sobald sie, Tugga und Harry zurück seien. Worauf Ellen antwortete: »Nein, tust du nicht. Mach dich einfach fein, und hol dir selbst welche.« Worauf alle lachen mussten, auch Harry, der im Klo noch einmal schnell pinkeln war. Ellen war wirklich eine Lucille Ball, die jeden zum Lachen brachte.
Ich wollte den Revolver aufheben. Er glitt mir durch die schweißnassen Finger und landete wieder im Gras. Inzwischen hatte ich grässliche Schmerzen, wo ich mir das Schienbein am Rand des Sandkastens aufgeschlagen hatte. Auf der Vorderseite des Hauses wurde eine Autotür zugeknallt, dann waren eilige Schritte auf dem Gehsteig zu hören. Ich weiß noch, dass ich dachte: Verrammle die Tür, Mama, das ist nicht nur dein wütender Ehemann, da kommt Derry in Person den Gehsteig entlang.
Ich schnappte mir die Waffe, rappelte mich auf, stolperte über die eigenen dummen Beine, wäre fast wieder zu Boden gegangen, fand das Gleichgewicht wieder und rannte schließlich zur Hintertür des Hauses. Die Falltür über dem Kellerabgang lag auf meinem Weg. Ich machte einen Bogen um sie, weil ich davon überzeugt war, dass sie unter meinem Gewicht einbrechen würde. Sogar die Luft schien irgendwie sirupartig geworden zu sein, so als versuchte auch sie, mich zu behindern.
Selbst wenn ich dabei umkomme, dachte ich. Selbst wenn ich dabei umkomme und Oswald sein Vorhaben durchzieht und Millionen sterben. Selbst wenn. Weil dies hier jetzt ist. Weil es hier um sie da drin geht.
Die Hintertür würde abgesperrt sein. Dessen war ich mir so sicher, dass ich fast vom Treppenpodest fiel, weil der Knopf sich doch drehen ließ und die Tür nach außen schwang. Ich betrat eine Küche, in der es noch nach dem Schmorbraten roch, den Mrs. Dunning in ihrem Hotpoint-Ofen gebraten hatte. Im Ausguss stapelte sich Geschirr. Auf der Arbeitsfläche stand eine Sauciere neben einer Platte mit kalten Nudeln. Aus dem Fernseher kamen tremolierende Geigenklänge – »Musik zum Morden«, wie Christy sie genannt hätte. Sehr passend. Ebenfalls auf der Arbeitsfläche lag die Frankensteinmaske aus Gummi, die Tugga tragen wollte, wenn er durch die Straßen zog, um Süßes oder Saures zu fordern. Daneben stand eine Tragetüte aus Papier, auf die er mit schwarzem Fettstift TUGGAS SÜSSIGKEITEN – FINGER WEG! geschrieben hatte.
In seinem Aufsatz hatte Harry seine Mutter mit den Worten zitiert: »Mach das du mit dem Ding rauskommst, du hast hier nix zu suchen!« Das stimmte ungefähr. In Wirklichkeit hörte ich sie, während ich übers Linoleum auf den bogenförmigen Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer zuhastete, Folgendes sagen: »Frank? Was machst du hier?« Ihre Stimme wurde lauter und höher. »Was ist das? Wieso hast du … Verschwinde!«
Dann kreischte sie.
12
Als ich durch den Bogen kam, fragte ein Kind: »Wer sind Sie? Warum schreit meine Mama? Ist mein Daddy hier?«
Ich drehte den Kopf zur Seite und sah den zehnjährigen Harry Dunning in der Tür des kleinen Klos in der hinteren Ecke der Küche stehen. Er trug ein mit Fransen besetztes Trapperkostüm und hielt sein Luftgewehr in der einen Hand. Mit der anderen zog er den Reißverschluss am Hosenladen zu. Dann kreischte Doris Dunning wieder. Die beiden anderen Jungen schrien. Dann folgte ein schwerer Schlag – ein dumpfer, entsetzlicher Laut –, und das Kreischen verstummte.
»Nein, Daddy, nicht, du tust ihr WEHHH!«, schrie Ellen.
Ich rannte durch den Bogen und blieb mit offenem Mund stehen. Weil ich Harrys Aufsatz kannte, hatte ich immer angenommen, ich würde einen Mann aufhalten müssen, der einen normalen Hammer aus einem normalen Werkzeugkasten schwang. Das war aber nicht das, was Dunning in der Hand hielt. Er hatte einen bestimmt zehn Kilo schweren Vorschlaghammer, den er wie ein Spielzeug handhabte. Seine Hemdsärmel waren aufgerollt, und ich konnte die Muskeln spielen sehen, die er sich in den zwanzig Jahren Fleischzerlegen und Schweinehälftenschleppen antrainiert hatte. Doris war im Wohnzimmer auf dem Teppich zu Boden gegangen. Er hatte ihr schon einen Arm gebrochen – der Knochen ragte durch einen Riss im Ärmel ihres Kleides heraus – und anscheinend auch die Schulter ausgerenkt. Sie war blass im Gesicht und wirkte benommen. Die Haare hingen ihr vor den Augen, während sie über den kleinen Teppich vor dem Fernseher kroch. Dunning holte abermals mit dem Hammer aus. Diesmal würde er ihren Kopf treffen, ihr den Schädel einschlagen und ihr Gehirn auf die Couchpolster spritzen lassen.
Ellen war ein kleiner Derwisch; sie bemühte sich verzweifelt, ihn wieder zur Tür hinauszudrängen. »Hör auf, Daddy, hör auf!«
Er packte sie an den Haaren und stieß sie grob zurück. Sie taumelte weg, während Federn aus ihrem Kopfschmuck flogen. Sie prallte so heftig gegen den Schaukelstuhl, dass er umkippte.
»Dunning!«, brüllte ich. »Aufhören!«
Er starrte mich mit roten, in Tränen schwimmenden Augen an. Er war betrunken. Und er weinte. Rotz hing ihm aus der Nase, Speichel bedeckte sein Kinn. Sein Gesicht war vor lauter Wut, Schmerz und Verwirrung verkrampft.
»Scheiße, wer bissu?«, fragte er, dann griff er mich an, ohne eine Antwort abzuwarten.
Ich betätigte den Abzug des Revolvers und dachte dabei: Diesmal wird er keine Kugel abfeuern, er kommt aus Derry, deshalb wird er nicht schießen.
Aber er tat es. Die Kugel traf Dunnings Schulter. Auf seinem weißen Hemd erblühte eine rote Rose. Der Schlag warf ihn zur Seite, aber er wandte sich mir sofort wieder zu und hob den Vorschlaghammer. Der rote Fleck auf seinem Hemd wurde größer, aber das schien er nicht zu spüren.
Ich drückte wieder ab, aber im selben Augenblick rempelte mich jemand an, und der Schuss ging in die Küchendecke. Es war Harry. »Hör auf, Daddy!« Seine Stimme war schrill. »Hör auf, sonst erschieß ich dich!«
Arthur »Tugga« Dunning kroch auf mich zu, kroch in Richtung Küche. Als Harry eben mit seinem Luftgewehr schoss – ka-tschau! –, traf Dunning mit seinem Vorschlaghammer Tuggas Kopf. Das Gesicht des Jungen verschwand unter Strömen von Blut. Haarbüschel und Knochensplitter flogen hoch in die Luft; Blutstropfen bespritzten noch die Deckenlampe. Ellen und Mrs. Dunning kreischten und kreischten.
Ich fand mein Gleichgewicht wieder und schoss zum dritten Mal. Die Kugel riss Dunning die rechte Wange bis zum Ohr auf, aber auch davon ließ er sich nicht bremsen. Er ist kein Mensch, dachte ich damals – und denke es noch heute. In seinen tränenden Augen und dem zähneknirschenden Mund – er schien die Luft zu kauen, statt sie einzuatmen – sah ich nur eine Art plappernder Leere.
»Scheiße, wer bissu?«, wiederholte er. Dann: »Das ist Hausfriensbruch!«
Er holte mit dem Vorschlaghammer aus, diesmal zu einem pfeifenden, waagrechten Rundschlag. Ich zog den Kopf ein und ging zugleich in die Knie. Obwohl der schwere Hammerkopf mich zu verfehlen schien – ich spürte keinen Schmerz, nicht gleich –, zuckte eine Hitzewelle über meinen Scheitel. Der Revolver flog mir aus der Hand, traf scheppernd die Wand und blieb in einer Ecke liegen. Etwas Warmes lief mir über die linke Gesichtshälfte. Habe ich kapiert, dass sein Schlag mich gerade so gestreift hatte, dass er mir eine fünfzehn Zentimeter lange Platzwunde in der Kopfhaut zufügte? Dass Dunning es nur um wenige Millimeter verpasst hatte, mich bewusstlos oder gleich totzuschlagen? Ich weiß es nicht. Das alles passierte in weniger als einer Minute; vielleicht sogar in nur dreißig Sekunden. Das Leben schlug manchmal Kapriolen, und wenn es das tat, war es flink.
»Lauf weg!«, brüllte ich Troy an. »Nimm deine Schwester mit, und lauf weg! Ruft um Hilfe! Schreit, so laut ihr …«
Dunning schwang den Vorschlaghammer. Ich sprang zurück, und der Hammerkopf grub sich in die Wand, zertrümmerte die Lattung und schickte eine kleine Gipswolke in die Luft, wo sie sich mit dem Pulverdampf vermischte. Aus dem Fernseher kam weiter Musik. Weiter Geigen, weiter Musik zum Morden.
Während Dunning sich abmühte, den Hammerkopf aus der Wand zu reißen, flog etwas an mir vorbei. Es war das Luftgewehr. Harry hatte es geworfen. Der Lauf traf Frank Dunnings zerfetzte Wange, sodass er vor Schmerz aufheulte.
»Du kleiner Mistkerl! Dafür bring ich dich um!«
Troy trug Ellen zur Tür. Das ist also in Ordnung, dachte ich. Wenigstens hast du so viel geändert …
Aber bevor er sie in Sicherheit bringen konnte, füllte jemand erst die Tür aus und kam dann hereingestolpert, wobei er Troy Dunning und das kleine Mädchen zu Boden stieß. Ich hatte kaum Zeit, das zu registrieren, weil Frank den Vorschlaghammer aus der Wand gerissen hatte und wieder auf mich zukam. Ich wich zurück und stieß Harry dabei mit einer Hand in Richtung Küche.
»Lauf nach hinten raus, Kleiner. Schnell! Ich halte ihn auf, bis du …«
Frank Dunning schrie laut auf und wurde ruckartig steif. Vorn aus seiner Brust ragte plötzlich etwas. Es war wie ein Zaubertrick. Das Ding war so mit Blut bedeckt, dass ich einen Augenblick brauchte, um es als die Spitze eines Bajonetts zu erkennen.
»Das ist für meine Schwester, du Scheißkerl«, krächzte Bill Turcotte. »Das ist für Clara.«
13
Dunning ging zu Boden – mit den Füßen im Wohnzimmer und dem Kopf im Durchgang zwischen Wohnzimmer und Küche. Aber nicht ganz zu Boden. Die Spitze der Klinge bohrte sich ins Parkett und hielt den Oberkörper auf Abstand. Sein linker Fuß zuckte noch einmal, dann lag er reglos da. Der Chef-Metzger sah aus, als wäre er gestorben, während er versuchte, einen Liegestütz zu machen.
Alle kreischten jetzt. Die Luft stank nach Pulverdampf, Gips und Blut. Doris, der weiter die Haare im Gesicht hingen, kroch stockend auf ihren toten Sohn zu. Ich wollte nicht, dass sie ihn so sah – Tuggas Schädel war bis zum Kinn hinunter gespalten –, aber ich wusste nicht, wie ich sie aufhalten sollte.
»Nächstes Mal mache ich’s besser, Mrs. Dunning«, krächzte ich. »Versprochen!«
Mein Gesicht war voller Blut; ich musste es mir aus dem linken Auge wischen, um auf dieser Seite sehen zu können. Weil ich noch bei Bewusstsein war, hielt ich die Verletzung für nicht allzu schwer, und ich wusste, dass Platzwunden am Kopf immer stark bluteten. Aber ich sah schlimm aus, und wenn es je ein nächstes Mal geben sollte, musste ich dieses Mal verschwinden: ungesehen und so schnell wie möglich.
Aber bevor ich ging, musste ich mit Turcotte reden. Oder es zumindest versuchen. Er war neben Dunnings gespreizten Beinen gegen die Wand gesackt, hielt sich die Brust und atmete keuchend. Sein Gesicht war leichenblass bis auf die Lippen, die jetzt blaurot wie die eines Kindes waren, das sich mit Heidelbeeren vollgestopft hatte. Ich ergriff seine Hand. Er umklammerte meine panikartig, aber in seinem Blick blitzte eine winzige Spur von Humor auf.
»Wer ist jetzt der Feigling, Amberson?«
»Nicht du«, sagte ich. »Du bist ein Held.«
»Yeah«, keuchte er. »Werft mir den Scheißorden einfach in den Sarg.«
Doris hielt ihren toten Sohn an sich gedrückt. Hinter ihr ging Troy im Kreis, wobei er Ellens Kopf fest an seine Brust gedrückt hielt. Er sah nicht zu uns herüber, schien unsere Anwesenheit gar nicht wahrzunehmen. Die Kleine heulte laut.
»Sie kommen durch«, sagte ich. Als ob ich es wüsste. »Hör mir jetzt zu, denn diese Sache ist wichtig: Vergiss meinen Namen.«
»Welchen Namen? Den hast du mir nie gesagt.«
»Richtig. Aber … du kennst meinen Wagen?«
»Ford.« Seine Stimme versagte allmählich, aber sein Blick blieb weiter auf mich gerichtet. »Hübsches Cabrio. Y-Block. Vierundfünfziger oder fünfundfünfziger.«
»Den hast du nie gesehen. Das ist am allerwichtigsten, Turcotte. Ich muss heute Nacht weit nach Süden fahren – auf dem Turnpike, weil ich keine anderen Straßen kenne. Wenn ich es in die Mitte von Maine schaffe, kann mir niemand mehr was anhaben. Verstehst du, was ich sage?«
»Hab deinen Wagen nie gesehen«, sagte er, dann zuckte er zusammen. »Ah, Scheiße, das hat richtig wehgetan.«
Ich legte meine Finger an Turcottes stoppelbärtigen Hals, um seinen Puls zu fühlen. Er war schnell und beängstigend unregelmäßig. In der Ferne konnte ich Sirenengeheul hören. »Du hast das Richtige getan.«
Er verdrehte die Augen. »Beinahe hätte ich’s nicht getan. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hab. Ich muss verrückt gewesen sein. Hör zu, Kumpel. Solltest du geschnappt werden, darfst du nicht erzählen, was ich … Du weißt schon, was ich …«
»Das täte ich nie. Du hast ihn erledigt, Turcotte. Er war ein tollwütiger Hund, und du hast ihn niedergestreckt. Deine Schwester wäre stolz auf dich.«
Er lächelte und schloss die Augen.
14
Ich ging ins Bad, schnappte mir ein Handtuch, machte es im Waschbecken nass und rieb mir damit mein blutiges Gesicht ab. Ich warf das Handtuch in die Wanne, nahm zwei weitere mit und trat in die Küche hinaus.
Der Junge, der mich hergeführt hatte, stand auf dem abgetretenen Linoleum am Herd und beobachtete mich. Obwohl er vermutlich vor sechs Jahren mit dem Daumenlutschen aufgehört hatte, hatte er jetzt den Daumen im Mund. Seine aufgerissenen, ernst blickenden Augen schwammen in Tränen. Auf Stirn und Wangen hatte er Sommersprossen, die aber Blutflecken waren. Hier vor mir stand ein Junge, der etwas erlebt hatte, was ihn zweifellos traumatisieren würde, aber auch ein Junge, der als Erwachsener niemals Hoptoad Harry sein würde. Oder einen Aufsatz schreiben, der mich zu Tränen rühren würde.
»Wer sind Sie, Mister?«, fragte er.
»Niemand.« Ich ging an ihm vorbei zur Tür. Aber er hatte Besseres verdient. Obwohl die Sirenen schnell näher kamen, drehte ich mich noch einmal um. »Dein Schutzengel«, sagte ich. Dann schlüpfte ich durch die Hintertür in die Halloween-Nacht des Jahres 1958 hinaus.
15
Ich folgte der Wyemore Lane zur Witcham Street, sah Blaulichter in Richtung Kossuth Street fahren und schritt zügig aus. Nach zwei weiteren Straßen bog ich nach rechts auf die Gerard Avenue ab. Überall standen Leute auf den Gehsteigen, das Gesicht dem Sirenengeheul zugewandt.
»Mister, wissen Sie, was passiert ist?«, fragte mich ein Mann. An der Hand hielt er ein Schneewittchen, das Turnschuhe trug.
»Ich habe gehört, wie Böller gezündet wurden«, sagte ich. »Vielleicht ist irgendwas in Brand geraten.« Ich ging weiter und achtete darauf, ihm nicht die linke Gesichtshälfte zuzukehren, denn ganz in der Nähe stand eine Straßenlaterne, und aus meiner Platzwunde sickerte immer noch Blut.
Nach weiteren vier Straßen kehrte ich auf die Witcham Street zurück. So weit südlich der Kossuth Street lag sie dunkel und still da. Alle verfügbaren Streifenwagen würden inzwischen am Tatort sein. Gut. Als ich fast schon die Ecke zur Grove Street erreicht hatte, bekam ich plötzlich weiche Knie. Ich sah mich um, konnte nirgends Halloween-Kinder entdecken und setzte mich auf den Randstein. Eigentlich konnte ich es mir nicht leisten, hier zu rasten, aber ich musste einfach. Ich hatte meinen gesamten Mageninhalt von mir gegeben. Ich hatte den ganzen Tag außer einem kümmerlichen Schokoriegel nichts gegessen (und konnte mich nicht einmal erinnern, ob ich ihn ganz aufgegessen hatte, bevor Turcotte mich überfiel) und war gerade eben bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung verletzt worden – wie schwer, wusste ich immer noch nicht. Entweder ich legte eine Rast ein, damit mein Körper neue Kräfte sammeln konnte, oder ich wurde auf dem Gehsteig ohnmächtig.
Ich ließ meinen Kopf zwischen die Knie sinken und holte mehrmals langsam tief Luft, wie ich es auf dem College in dem Erste-Hilfe-Kurs während meiner Ausbildung zum Rettungsschwimmer gelernt hatte. Anfangs sah ich Tugga Dunnings Kopf, wie er unter der Wucht des herabsausenden Vorschlaghammers explodierte, und das ließ mich noch schwächer werden. Dann dachte ich an Harry, vollgespritzt mit dem Blut seines Bruders, aber sonst unverletzt. Und an Ellen, die nicht in einem tiefen Koma lag, aus dem sie nie mehr erwachen würde. Und an Troy. Und an Doris. Ihr schlimm gebrochener Arm würde vielleicht für den Rest ihres Lebens schmerzen, aber sie würde wenigstens ein Leben haben.
»Ich hab’s geschafft, Al«, flüsterte ich.
Aber was hatte ich damit im Jahr 2011 bewirkt? Was hatte ich dem Jahr 2011 angetan? Das waren Fragen, die noch beantwortet werden mussten. Sollte wegen des Schmetterlingseffekts irgendetwas Schreckliches passiert sein, konnte ich jederzeit zurückgehen und es ungeschehen machen … immer vorausgesetzt, dass ich durch meinen Eingriff in das Leben der Familie Dunning nicht auch Al Templetons Leben verändert hatte. Was war, wenn der Diner nicht mehr dort stand, wo ich ihn verlassen hatte? Was war, wenn sich herausstellte, dass Al niemals von Auburn nach Lisbon Falls umgezogen war? Oder niemals ein Schnellrestaurant eröffnet hatte? Das kam mir zwar nicht sehr wahrscheinlich vor … aber ich saß hier auf einem Randstein im Jahr 1958, während das Blut aus meinem Haarschnitt aus dem Jahr 1958 sickerte, und wie wahrscheinlich war das?
Ich rappelte mich auf, wankte kurz und kam dann schließlich wieder in Gang. Rechts von mir konnte ich am Ende der Witcham Street flackerndes Blaulicht sehen. An der Ecke zur Kossuth Street hatten sich Gaffer versammelt, die mir jedoch den Rücken zukehrten. Die Kirche, auf deren Parkplatz ich meinen Wagen zurückgelassen hatte, war gleich gegenüber. Der Sunliner stand jetzt ganz allein, aber er schien in Ordnung zu sein; niemand hatte mir zu Halloween einen Streich gespielt und die Luft aus den Reifen gelassen. Dann sah ich unter einem der Scheibenwischer ein gelbes Quadrat. Ich musste sofort an den Mann mit der Karte im Hut denken und spürte, wie meine Magennerven sich verkrampften. Ich zog es heraus und atmete dann erleichtert auf, als ich den gedruckten Text las: KOMMEN SIE AM SONNTAG UM 9 UHR ZUM GOTTESDIENST MIT IHREN FREUNDEN UND NACHBARN NEUE BESUCHER STETS WILLKOMMEN! DENKEN SIE DARAN: »DAS LEBEN IST DIE FRAGE, JESUS IST DIE ANTWORT.«
»Ich dachte, Drogen wären die Antwort, und könnte jetzt gut welche brauchen«, murmelte ich und öffnete die Fahrertür. Ich dachte an die Papiertüte, die ich hinter der Garage des Hauses in der Wyemore Lane zurückgelassen hatte. Die zum Absuchen der Umgebung des Tatorts eingesetzten Cops würden sie wahrscheinlich finden. Eine Tüte mit einigen Schokoriegeln, einer fast leeren Flasche Pepto-Bismol … und ein paar Inkontinenzhosen.
Ich fragte mich kurz, welche Rückschlüsse sie aus diesem Fund wohl ziehen würden.
Aber so richtig interessierte mich das nicht.
16
Als ich den Turnpike erreichte, hatte ich starke Kopfschmerzen, aber selbst wenn es damals schon Tag und Nacht geöffnete Verbrauchermärkte gegeben hätte, hätte ich mich vermutlich in keinen hineingewagt. Mein Hemd war auf der linken Seite ganz steif von antrocknendem Blut. Zum Glück hatte ich nachmittags wenigstens daran gedacht, den Wagen vollzutanken.
Als ich einen Versuch wagte, die Platzwunde in meiner Kopfhaut mit den Fingerspitzen zu erkunden, durchzuckte mich ein solch stechender Schmerz, dass ich keinen zweiten Versuch unternahm.
An der Raststätte außerhalb von Augusta machte ich allerdings halt. Inzwischen war es nach zehn Uhr, und die Raststätte war weitgehend menschenleer. Ich schaltete die Innenbeleuchtung ein und kontrollierte im Rückspiegel meine Pupillen. Sie schienen gleich groß zu sein, was eine Erleichterung war. Vor der Herrentoilette stand ein Verkaufsautomat für Snacks, an dem ich für zehn Cent einen Whoopie Pie mit Schokoladenglasur und Sahnefüllung bekam. Ich verschlang ihn, während ich weiterfuhr, und meine Kopfschmerzen klangen etwas ab.
Es war nach Mitternacht, als ich Lisbon Falls erreichte. Die Main Street lag dunkel da, aber die beiden Fabriken von Worumbo und U.S. Gypsum arbeiteten auf vollen Touren, bliesen ihren Gestank in die Luft und leiteten ihr verschmutztes Abwasser in den Fluss. In ihrem nächtlichen Lichterglanz sahen sie wie Raumschiffe aus. Ich stellte den Sunliner vor der Kennebec Fruit ab, wo er stehen würde, bis jemand in den Wagen sah und die Blutflecken auf dem Fahrersitz, an der Türverkleidung und am Lenkrad entdeckte. Dann würde man die Polizei rufen. Ich vermutete, dass die den Ford nach Fingerabdrücken absuchen würde. Möglicherweise würden sie zu denen an einem bestimmten .38er Police Special passen, der am Tatort eines Mordes in Derry aufgefunden worden war. Der Name George Amberson konnte erst in Derry, dann hier unten in The Falls ins Gerede kommen. Aber wenn der Eingang zu dem Kaninchenbau noch dort war, wo ich ihn verlassen hatte, würde George keine verwertbare Spur hinterlassen, und die Fingerabdrücke gehörten einem Menschen, der erst in achtzehn Jahren das Licht der Welt erblicken würde.
Ich öffnete den Kofferraum, nahm die Aktentasche heraus und beschloss, alles andere zurückzulassen. Vielleicht würde das Zeug zuletzt im Jolly White Elephant, dem Gebrauchtwarenladen unweit von Titus’ Chevron-Tankstelle, verkauft werden. Als ich die Straße überquerte, geriet ich zunehmend in den Drachenhauch der Weberei: ein schat-USCH-schat-USCH, das Tag und Nacht weitergehen würde, bis die Freihandelspolitik der Ära Reagan einheimische Textilien unverkäuflich machte.
Der Trockenschuppen wurde durch den Widerschein weißer Leuchtstoffröhren hinter den schmutzigen Fenstern der Färberei erhellt. Ich entdeckte die Kette, die ihn vom übrigen Fabrikhof abtrennte. Hier war es zu dunkel, als dass ich das Schild hätte lesen können, und es war fast zwei Monate her, dass ich es zuletzt gesehen hatte, aber ich erinnerte mich, was darauf stand: AB HIER KEIN ZUTRITT, BIS KANALROHR REPARIERT IST. Vom Gelbe-Karte-Mann – oder einem Orange-Karte-Mann, wenn er das jetzt war – war nirgends etwas zu sehen.
Scheinwerfer überfluteten den Hof mit Licht und beleuchteten mich wie eine Ameise auf einem Teller. Mein Schatten zeichnete sich lang und hager vor mir ab. Ich erstarrte, als ein großer Lastwagen auf mich zugerollt kam. Ich rechnete damit, dass der Fahrer halten, sich aus dem Fenster lehnen und mich fragen würde, was zum Teufel ich hier zu suchen hätte. Er wurde langsamer, hielt aber nicht an. Stattdessen hob er grüßend eine Hand. Ich erwiderte seine Geste, und er fuhr mit Dutzenden von leeren Blechfässern, die auf der Ladefläche herumpolterten, zur Laderampe weiter. Ich trat an die Absperrkette, sah mich rasch um und schlüpfte darunter hindurch.
Mit hämmerndem Herzen ging ich den Trockenschuppen entlang. Meine Platzwunde pochte im selben Rhythmus. Diesmal markierte kein kleiner Betonbrocken die richtige Stelle. Langsam, ermahnte ich mich. Ganz langsam. Die Treppe ist gleich … hier.
Nur war sie das nicht. Unter meiner prüfend klopfenden Schuhspitze lag nichts als Asphalt.
Ich ging ein kleines Stück weiter, aber auch dort wurde ich nicht fündig. Es war so kalt, dass ich bei jedem Ausatmen eine kleine Dampfwolke sehen konnte, aber im Nacken und auf den Armen stand mir leichter, fast fettiger Schweiß. Ich ging noch etwas weiter, aber nun war ich mir fast sicher, dass ich zu weit gegangen war. Der Zugang zum Kaninchenbau war verschwunden oder hatte überhaupt niemals existiert, was bedeutete, dass mein ganzes Leben als Jake Epping – alles von meinem preisgekrönten Future-Farmers-of-America-Garten in der Grundschule über meinen abgebrochenen Roman im College bis zu meiner Heirat mit einer an sich liebenswerten Frau, die meine Liebe zu ihr fast in Alkohol ertränkt hatte – eine einzige verrückte Halluzination gewesen war. Ich war schon immer George Amberson gewesen.
Ich ging noch etwas weiter, dann machte ich schwer atmend halt. Irgendwo – vielleicht in der Färberei, vielleicht in einem der Websäle – brüllte jemand: »Du kannst mich mal kreuzweise!« Ich fuhr zusammen, und dann ließ das brüllende Gelächter, das auf diesen Ausruf folgte, mich ein weiteres Mal zusammenzucken.
Nicht hier.
Verschwunden.
Oder nie da gewesen.
Und empfand ich Enttäuschung? Angst? Regelrechte Panik? In Wirklichkeit nichts von alledem. Eigentlich empfand ich klammheimliche Erleichterung, weil ich dachte: Ich könnte hier leben. Und sogar mühelos. Glücklich sogar.
Stimmte das auch? Ja. Ja.
Es stank in der Umgebung von Fabriken und in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen alle wie verrückt qualmten, aber fast überall sonst roch die Luft unglaublich frisch. Unglaublich neu. Das Essen schmeckte gut; Milch bekam man direkt an die Haustür geliefert. Durch die Zwangsentwöhnung von meinem Computer hatte ich genügend Durchblick gewonnen, um zu erkennen, wie süchtig ich nach dem verdammten Ding gewesen war, an dem ich Stunden damit verbracht hatte, dämliche E-MailAnhänge zu lesen und Websites zu besuchen – aus dem einzigen Grund, aus dem Bergsteiger den Everest besteigen wollten: weil er da war. Mein Handy klingelte nie, weil ich nämlich keines hatte, welch große Erleichterung. Außerhalb der Großstädte telefonierten die meisten Leute noch von Gemeinschaftsanschlüssen aus. Und sperrten die meisten von ihnen nachts ihre Haustüren ab? Den Teufel taten sie. Sie machten sich Sorgen wegen eines Atomkriegs, aber ich konnte in der Gewissheit leben, dass die Menschen des Jahres 1958 alt werden und sterben würden, ohne zu erleben, wie eine Atombombe außerhalb eines Kernwaffenversuchs gezündet wurde. Niemand machte sich Sorgen wegen eines Klimawandels oder Selbstmordattentätern, die entführte Verkehrsflugzeuge in Wolkenkratzer steuerten.
Und wenn mein Leben im Jahr 2011 keine Halluzination gewesen war (was ich in meinem Innersten wusste), konnte ich Oswald trotzdem aufhalten. Ich würde nur nicht erfahren, wie die Sache letztlich ausging. Aber damit würde ich irgendwie leben können.
Okay. Als Erstes musste ich zum Sunliner zurückgehen und aus Lisbon Falls verschwinden. Ich würde nach Lewiston fahren, den Busbahnhof aufsuchen und mir eine Fahrkarte nach New York kaufen. Von dort aus würde ich mit dem Zug nach Dallas fahren oder … Teufel, warum sollte ich nicht fliegen? Ich hatte immer noch reichlich Bargeld, und kein Angestellter einer Fluggesellschaft würde einen Lichtbildausweis verlangen. Ich brauchte nur das Geld für ein Ticket auf den Tisch zu legen, und Trans World Airlines würde mich an Bord willkommen heißen.
Über diese Entscheidung war ich so erleichtert, dass ich wieder weiche Knie bekam. Der Schwächeanfall war nicht so schlimm wie in Derry, als ich mich hatte setzen müssen, aber ich lehnte mich haltsuchend an den Trockenschuppen. Mein Ellbogen stieß gegen die Blechverkleidung, die leise boing! machte. Und im nächsten Augenblick kam eine Stimme aus dem Off. Heiser. Fast ein Knurren. Eine Stimme aus der Zukunft, wenn man so wollte.
»Jake? Bist du das?« Darauf folgte eine Salve von trockenen, bellenden Hustenlauten.
Ich hätte beinahe geschwiegen. Ich hätte schweigen können. Dann erinnerte ich mich daran, wie viel von seinem Leben Al in dieses Projekt investiert hatte – und dass ich nun der Einzige war, auf den er noch hoffen konnte.
Ich wandte mich dem Husten zu und sprach mit gedämpfter Stimme. »Al? Sprich mit mir. Zähl mit.« Ich hätte hinzufügen können: Oder huste einfach weiter.
Er begann zu zählen. Ich ging auf den Klang seiner Stimme zu, wobei ich den Asphalt vor mir mit der Schuhspitze abtastete. Nach zehn Schritten – weit jenseits des Punkts, an dem ich aufgegeben hatte – stieß meine Schuhspitze in der Vorwärtsbewegung gegen einen unsichtbaren Widerstand. Ich sah mich noch einmal um. Atmete die nach Chemie stinkende Luft noch einmal tief ein. Dann schloss ich die Augen und begann Stufen hinaufzusteigen, die ich nicht sehen konnte. Ab der vierten Stufe wich die kühle Nacht abgestandener Wärme und den Gerüchen von Kaffee und Gewürzen. Zumindest galt das für meine obere Körperhälfte. Von der Taille abwärts konnte ich noch die Nachtkühle spüren.
So stand ich vielleicht drei Sekunden da, halb in der Gegenwart, halb in der Vergangenheit. Dann öffnete ich die Augen, sah Als abgemagertes, sorgenvolles, viel zu schmales Gesicht und trat ins Jahr 2011 zurück.