1
Ich vermute, dass die Heimat des Famous Fatburgers verschwunden ist, ersetzt durch einen L. L. Bean Express, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit; ich habe mir nie die Mühe gemacht, es im Internet zu recherchieren. Ich weiß nur, dass Al’s Diner noch da war, als ich von all meinen Abenteuern zurückkehrte. Und die Welt um ihn herum auch.
Zumindest bisher.
Über den Bean Express weiß ich nichts, weil der Tag meiner Rückkehr mein letzter Tag in Lisbon Falls war. Ich fuhr in mein Haus in Sabbatus, holte den versäumten Schlaf nach, packte dann zwei Koffer, nahm meine Katze mit und fuhr nach Süden. Bei einem Tankstopp in Westborough, einer Kleinstadt in Massachusetts, fand ich, dass sie für einen Mann ohne besondere Aussichten, einen, der vom Leben nichts mehr erwartete, gut genug war.
In der ersten Nacht blieb ich im Westborough Hampton Inn. Dort gab es einen kostenlosen WLAN-Zugang. Ich loggte mich ein – wobei mein Herz so raste, dass Leuchtpunkte durch mein Blickfeld flitzten – und rief die Website der Dallas Morning News auf. Nachdem ich meine Kreditkartennummer eingegeben hatte (ein Vorgang, den ich wegen meiner zitternden Finger mehrmals wiederholen musste), hatte ich Zugriff auf das Archiv. Die Meldung, dass ein Unbekannter auf Edwin Walker geschossen habe, war am 11. April 1963 da, aber am 12. April gab es nichts über Sadie. Auch in der nächsten und übernächsten Woche nicht. Ich fahndete weiter.
Die Geschichte, die ich suchte, fand ich in der Ausgabe vom 30. April.
2
GEISTESGESTÖRTER VERLETZT EXFRAU MIT MESSER UND VERÜBT SELBSTMORD
von Ernie Calvert
(JODIE) Der 77-jährige Deacon »Deke« Simmons und Ellen Dockerty, Direktorin des Denholm Consolidated School District, kamen am Sonntagabend zu spät, um zu verhindern, dass Sadie Dunhill verletzt wurde, aber für die beliebte 28-jährige Schulbibliothekarin hätte alles viel schlimmer ausgehen können.
Der für Jodie zuständige Wachtmeister Douglas Reems erklärte dazu: »Wären Deke und Ellen nicht rechtzeitig gekommen, wäre Miss Dunhill fast sicher ermordet worden.«
Die beiden Lehrkräfte waren mit einem Thunfischauflauf und einem Brotpudding gekommen. Keiner der beiden wollte über ihre heldenhafte Intervention sprechen. Simmons’ einzige Äußerung war: »Ich wollte, wir wären früher hingekommen.«
Wie Wachtmeister Reems berichtete, hat Simmons den weit jüngeren John Clayton aus Savannah, Georgia, überwältigt, nachdem Miss Dockerty die Auflaufform nach ihm geworfen und ihn so abgelenkt hatte. Simmons nahm ihm einen kleinen Revolver ab. Daraufhin zückte Clayton das Messer, mit dem er seine Frau im Gesicht verletzte und sich anschließend selbst die Kehle durchtrennte. Simmons und Miss Dockerty bemühten sich vergeblich, die Blutung zu stillen. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch Claytons Tod feststellen.
Miss Dockerty teilte Wachtmeister Reems mit, Clayton habe seiner Exfrau anscheinend schon monatelang nachgestellt. Das Personal der Denholm Consolidated war gewarnt, Miss Dunhills Exmann könne gefährlich sein, und Miss Dunhill hatte ein Foto von Clayton zur Verfügung gestellt, aber Direktorin Dockerty sagte, er habe sein Aussehen stark verändert.
Miss Dunhill wurde mit einem Krankenwagen ins Parkland Memorial Hospital in Dallas gebracht, wo ihr Zustand als stabil bezeichnet wird.
3
Ich war noch nie eine Heulsuse, o nein, aber in jener Nacht machte ich alles wieder wett. In jener Nacht weinte ich mich in den Schlaf, und zum ersten Mal seit Langem war mein Schlaf tief und erholsam.
Am Leben.
Sie lebte.
Für den Rest ihres Lebens entstellt – o ja, zweifellos –, aber am Leben.
Sie lebte, lebte, lebte.
4
Die Welt existierte weiter, und sie sorgte weiter für Harmonie … oder vielleicht brachte ich sie dazu, für Harmonie zu sorgen. Wenn wir diese Harmonie selbst produzieren, nennen wir sie wohl Gewohnheit. In Westborough bekam ich erst eine Stelle als Aushilfs-, dann als Vollzeitlehrer. Für mich war es keine Überraschung, dass der Direktor der hiesigen Highschool ein engagierter Footballfreak namens Borman war … wie ein bestimmter jovialer Trainer, den ich in einem anderen Leben gekannt hatte. Mit meinen alten Freunden in Lisbon Falls blieb ich noch einige Zeit in Kontakt, dann brach er ab. C’est la vie.
Ich blätterte noch einmal im Archiv der Dallas Morning News und entdeckte eine kurze Meldung vom 29. Mai 1963: BIBLIOTHEKARIN AUS JODIE VERLÄSST KRANKENHAUS. Der Bericht war kurz und wenig informativ. Nichts über ihren Gesundheitszustand, nichts über ihre Zukunftspläne. Und kein Foto. Die auf Seite 20 zwischen Anzeigen von Möbeldiscountern und Jobs für Klinkenputzer versteckten Kurzmeldungen sind nie bebildert. Das gehört zu den großen Binsenwahrheiten des Lebens, genau wie das Telefon immer dann klingelt, wenn man auf dem Klo oder unter der Dusche ist.
In dem Jahr nach meiner Rückkehr ins Land des Jetzt gab es einige Websites und bestimmte Themen, um die ich einen Bogen machte. War ich in Versuchung? Natürlich. Aber das Internet ist ein zweischneidiges Schwert. Für jede tröstliche Entdeckung – zum Beispiel dass die Frau, die man liebt, ihren verrückten Exmann überlebt hat – gibt es zwei, die einen verletzen können. Wer Nachrichten über eine bestimmte Person sucht, entdeckt vielleicht, dass diese Person bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist. Oder als Raucherin an Lungenkrebs gestorben. Oder Selbstmord verübt hat, im Falle dieser einen bestimmten Person wahrscheinlich mit einer Kombination aus Alkohol und Schlaftabletten.
Sadie allein zu Hause, ohne jemand, der sie mit Ohrfeigen wach hält und unter die kalte Dusche stellt. Falls das passiert war, wollte ich es nicht wissen.
Ich nutzte das Internet, um meinen Unterricht vorzubereiten, ich nutzte es, um zu sehen, was wo im Kino läuft, und ein- bis zweimal in der Woche zog ich mir die neuesten Webvideos rein. Was ich nicht tat, war, Meldungen über Sadie zu suchen. Hätte es in Jodie eine Zeitung gegeben, wäre ich bestimmt versucht gewesen, aber es hatte damals keine gegeben, und heute würde es erst recht keine geben, weil ebendieses Internet die Printmedien allmählich erdrosselte. Außerdem erinnerte ich mich an ein altes Sprichwort: Guck durch kein Schlüsselloch, dann wirst du nicht geängstigt. Hat es in der Geschichte der Menschheit je ein größeres Schlüsselloch als das Internet gegeben?
Sadie hatte Clayton überlebt. Bestimmt wäre es am besten, sagte ich mir, mein Wissen über Sadie damit enden zu lassen.
5
Dabei hätte es bleiben können, wäre in meinen Leistungskurs Englisch nicht eine neue Schülerin gekommen. Das war im April 2012; vielleicht sogar am 10. April, dem 49. Jahrestag des versuchten Anschlags auf General Edwin Walker. Sie hieß Erin Tolliver, und ihre Familie war aus Kileen, Texas, nach Westborough gezogen.
Das war ein Ortsname, den ich gut kannte. Kileen, wo ich bei dem Drogisten mit dem hässlichen wissenden Grinsen Kondome gekauft hatte. Tun Sie nichts Ungesetzliches, mein Sohn, hatte er mich ermahnt. Kileen, wo Sadie und ich viele, viele süße Nächte in den Candlewood Bungalows verbracht hatten.
Kileen, wo es die Zeitung The Weekly Gazette gab.
In ihrer zweiten Unterrichtswoche – meine neue Leistungskursschülerin hatte inzwischen mehrere neue Freundinnen gefunden, mehreren Jungen den Kopf verdreht und sich recht gut eingewöhnt – fragte ich Erin, ob die Weekly Gazette noch erscheine. Das ließ sie strahlen. »Sie kennen Kileen, Mr. Epping?«
»Ich war mal vor langer Zeit dort«, sagte ich – eine Aussage, die eine Lügendetektornadel nicht einmal leicht hätte ausschlagen lassen.
»Die gibt es noch. Mama hat immer gesagt, dass sie nur dazu taugt, um Fisch darin einzuwickeln.«
»Bringt sie immer noch die Kolumne ›Lokales aus Jodie‹?«
»Sie berichtet über Lokales aus jeder Kleinstadt südlich von Dallas«, sagte Erin kichernd. »Ich wette, Sie könnten sie im Internet finden, wenn Sie wirklich wollten, Mr. Epping. Alles ist im Internet.«
Damit hatte sie absolut recht, und ich hielt noch genau eine Woche lang durch. Manchmal war das Schlüsselloch einfach zu verlockend.
6
Meine Absicht war einfach: Ich würde das Archiv aufrufen (vorausgesetzt, dass die Weekly Gazette eines hatte) und Sadies Namen eingeben. Mein Verstand riet mir davon ab, aber Erin Tolliver hatte unabsichtlich Gefühle geweckt, die zu erkalten begonnen hatten, und ich wusste, dass ich keine Ruhe finden würde, bis ich selbst nachgesehen hatte. Wie sich herausstellte, war das Archiv überflüssig. Was ich suchte, fand ich nicht in der Kolumne »Lokales aus Jodie«, sondern auf der Titelseite der neuesten Ausgabe.
JODIE WÄHLT »BÜRGERIN DES JAHRHUNDERTS« FÜR HUNDERTJAHRFEIER IM JULI lautete die Schlagzeile. Und das Foto unter der Schlagzeile … sie war jetzt siebenundsiebzig, aber manche Gesichter vergisst man nicht. Vielleicht hatte der Fotograf ihr vorgeschlagen, den Kopf so zur Seite zu drehen, dass die linke Wange nicht zu sehen sein würde, aber Sadie hatte frontal ins Objektiv geblickt. Und warum auch nicht? Die Narbe war jetzt alt, die Wunde von einem Mann verursacht, der seit vielen Jahren im Grab lag. Ich fand, dass sie ihrem Gesicht Charakter verlieh, aber ich war natürlich voreingenommen. Wenn man liebt, sind Pockennarben so hübsch wie Grübchen.
Ende Juni, als die Schule aus war, packte ich einen Koffer und brach erneut nach Texas auf.
7
Die Dämmerung eines Sommerabends in der Kleinstadt Jodie, Texas. Sie ist etwas größer, als sie 1963 war, aber nicht sehr viel größer. In dem Stadtteil, in dem Sadie Dunhill in der Bee Tree Lane gewohnt hat, steht jetzt eine Kartonagenfabrik. Den Herrenfriseur gibt es nicht mehr, und die Tankstelle von Cities Service, bei der ich mit meinem Sunliner Kunde war, ist heute ein 7-Eleven. Und wo Al Stevens früher Prongburger und Mesquite-Fritten verkauft hat, steht jetzt ein Subway.
Die Reden zur Hundertjahrfeier von Jodie sind gehalten. Die der Frau, die von der Historischen Gesellschaft und dem Stadtrat zur Bürgerin des Jahrhunderts gewählt worden war, war bezaubernd kurz, die des Bürgermeisters langatmig, aber informativ. Ich erfuhr, dass Sadie eine Amtsperiode lang selbst Bürgermeisterin gewesen war und vier Legislaturperioden lang im texanischen Abgeordnetenhaus gesessen hatte, aber das war längst nicht alles. Dazu kamen ihre Arbeit für wohltätige Zwecke, ihre steten Bemühungen, das Ausbildungsniveau an der DCHS zu heben, und ihr einjähriger unbezahlter Urlaub, um nach dem Wirbelsturm Katrina als Freiwillige beim Wiederaufbau von New Orleans zu helfen. Und das Förderprogramm der texanischen Staatsbibliothek für blinde Schüler, eine Initiative für bessere Heilfürsorge für Kriegsveteranen und ihre unermüdlichen (und selbst im hohen Alter fortgesetzten) Bemühungen um eine bessere staatliche Versorgung mittelloser psychisch Kranker. Im Jahr 1996 war ihr angeboten worden, fürs Repräsentantenhaus in Washington zu kandidieren, aber sie hatte mit der Begründung abgelehnt, sie habe an der Basis mehr als genug zu tun.
Sie hat nie wieder geheiratet. Sie hat Jodie nie verlassen. Sie ist weiter groß, ihr Körper nicht von Osteoporose gebeugt. Und sie ist weiter schön mit ihren langen, weißen Haaren, die bis fast zur Taille hinab über ihren Rücken fließen.
Jetzt sind die Reden gehalten, und die Main Street ist abgesperrt worden. An beiden Enden des zwei Blocks langen Geschäftsviertels verkünden über die Straße gespannte Werbebanner:
STRASSENFEST MIT TANZ, 19–24 Uhr!
KOMMT ALLE!
Sadie ist von Gratulanten umringt – von denen ich einige noch zu kennen glaube –, also schlendere ich zum DJ-Podium hinüber, das vor der ehemaligen Filiale von Western Auto, jetzt ein Walgreens, aufgebaut ist. Der Kerl, der dort in Platten und CDs wühlt, ist etwas über sechzig und hat schütteres Haar und einen beträchtlichen Wanst, aber diese Brille mit rosa Gestell und dicken Gläsern hätte ich überall erkannt.
»Hallo, Donald«, sage ich. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre runden Soundbomben noch.«
Donald Bellingham sieht auf und lächelt. »Die bringe ich zu jedem Gig mit. Kenne ich Sie?«
»Nein«, sage ich. »Meine Mutter, sie war damals Anfang der Sechzigerjahre bei einem Schultanz, bei dem Sie aufgelegt haben. Sie hat erzählt, wie Sie heimlich die Big-Band-Platten Ihres Vaters mitgebracht haben.«
Er grinst. »Yeah, das hat mächtig Zoff gegeben. Wer war Ihre Mutter?«
»Andrea Robertson«, sage ich aufs Geratewohl. Andrea war meine beste Schülerin im Leistungskurs Amerikanische Literatur.
»Klar, ich erinnere mich an sie.« Sein vages Lächeln beweist, dass er es nicht tut.
»Von diesen alten Platten haben Sie wohl keine mehr?«
»Gott, nein. Aber ich habe alle möglichen Big-Band-Aufnahmen auf CD. Spüre ich da einen Musikwunsch nahen?«
»Das tun Sie tatsächlich. Aber er ist ein bisschen speziell.«
Er lacht. »Sind sie das nicht alle?«
Ich sage ihm, was ich möchte, und Donald – genauso eifrig zu Gefallen wie früher – ist einverstanden. Als ich mich auf den Rückweg zum Ende des Blocks mache, wo die Frau, deretwegen ich hier bin, jetzt vom Bürgermeister Punsch eingeschenkt bekommt, ruft Donald mir nach: »Wie war Ihr Name gleich noch mal?«
»Amberson«, sage ich über die Schulter hinweg. »George Amberson.«
»Und Sie wollen es um Viertel nach acht?«
»Pünktlich. Der Zeitpunkt ist wichtig, Donald. Hoffen wir, dass er gut gewählt ist.«
Fünf Minuten später heizt Donald Bellingham Jodie mit »At the Hop« ein, und tanzende Paare füllen die Straße unter dem texanischen Sonnenuntergang.
8
Um zehn nach acht spielt Donald ein langsames Stück von Alan Jackson, zu dem selbst die alten Leute tanzen können. Sadie ist zum ersten Mal seit dem Ende der Ansprachen allein, und ich nähere mich ihr. Mein Herz hämmert so sehr, dass es mir vorkommt, als ließe es meinen ganzen Körper erbeben.
»Miz Dunhill?«
Sie dreht sich um, lächelt und hebt dabei ein wenig den Kopf. Sie ist groß, aber ich bin größer. War es schon immer. »Ja?«
»Mein Name ist George Amberson. Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr ich Sie und all Ihre verdienstvolle Arbeit bewundere.«
Ihr Lächeln wirkt leicht ratlos. »Danke, Sir. Ich erkenne Sie nicht, aber Ihr Name kommt mir bekannt vor. Sind Sie aus Jodie?«
Ich kann nicht mehr durch die Zeit reisen, und ich kann bestimmt nicht Gedanken lesen, aber ich weiß trotzdem, was sie denkt. Diesen Namen höre ich in meinen Träumen.
»Das bin ich und doch wieder nicht.« Und bevor sie nachhaken kann: »Darf ich fragen, was Ihr Interesse für die Sozialarbeit geweckt hat?«
Ihr Lächeln ist nur noch eine Andeutung, die um ihre Mundwinkel spielt. »Und das möchten Sie wissen, weil …?«
»War es das Attentat? Die Ermordung Kennedys?«
»Nun … in gewisser Weise war sie wohl der Grund. Ich denke gern, dass ich mich ohnehin für die Allgemeinheit engagiert hätte, aber vermutlich hat es damit angefangen. Sie hat diesen Teil von Texas mit …« Ihre Linke berührt unwillkürlich ihre Wange, dann sinkt sie wieder herab. »… solch einer Narbe zurückgelassen. Mr. Amberson, woher kenne ich Sie? Denn ich kenne Sie, dessen bin ich mir sicher.«
»Darf ich Sie etwas anderes fragen?«
Sie betrachtet mich mit wachsender Verwirrung. Ich sehe kurz auf meine Uhr. Bald ist es so weit. Das heißt, wenn Donald es nicht vergisst … und ich glaube nicht, dass er das tun wird. Um irgendeinen alten Song aus dem Fünfzigern zu zitieren: Manche Dinge müssen einfach geschehen.
»Der Sadie Hawkins Dance damals im Jahr 1961. Wen haben Sie dafür gewonnen, mit Ihnen zusammen Aufsicht zu führen, nachdem Coach Bormans Mutter sich die Hüfte gebrochen hatte? Wissen Sie das noch?«
Ihr Mund öffnet sich, dann schließt er sich langsam wieder. Der Bürgermeister und seine Frau kommen näher, sehen uns in ein Gespräch vertieft und drehen ab. Wir sind hier in unserer eigenen kleinen Zeitkapsel; nur Jake und Sadie. Genau wie damals.
»Don Haggarty«, sagt sie. »Das war, als würde man den Tanz zusammen mit dem Dorftrottel beaufsichtigen. Mr. Amberson …«
Aber bevor sie weitersprechen kann, dröhnt Donald Bellinghams Stimme exakt pünktlich aus den acht Lautsprechersäulen. »Okay, Jodie, hier kommt ein Knaller von gestern, eine Scheibe, die absolut nicht platt ist, nur das Beste und nur auf besonderen Wunsch!«
Dann kommt sie, die schmissige Einleitung von den Blechbläsern einer Band, die längst Geschichte ist:
Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …
»O Gott, ›In the Mood‹«, sagt Sadie. »Darauf hab ich früher Lindy getanzt.«
Ich strecke ihr die rechte Hand hin. »Kommen Sie. Wir wollen tanzen.«
Sie schüttelt lachend den Kopf. »Die Zeit, in der ich Swing getanzt habe, liegt leider lange hinter mir, Mr. Amberson.«
»Aber Sie sind nicht zu alt für einen Standardtanz. Wie Donald früher immer gesagt hat: ›Hoch von den Stühlen, bewegt eure Beine.‹ Und nennen Sie mich George. Bitte.«
Auf der Straße tanzen Paare Jitterbug. Einige von ihnen versuchen sogar den Lindyhop, aber kein Paar kann ihn swingen, wie Sadie und ich ihn damals swingen konnten. Nicht einmal andeutungsweise.
Sie ergreift meine Hand wie eine Träumende. Sie ist in einem Traum, und ich bin es auch. Wie alle süßen Träume wird er kurz sein … aber Kürze erzeugt Süße, oder nicht? Ja, das denke ich. Denn wenn die Zeit vorüber ist, kann man sie nie mehr zurückholen.
Aber manchmal eben doch.
Über der Straße hängen Partyleuchten, gelb und rot und grün. Sadie stolpert über irgendjemandes Stuhl, aber ich bin darauf gefasst und stütze sie mühelos am Arm.
»Sorry, tollpatschig«, sagt sie.
»Das warst du immer, Sadie. Es ist eine deiner liebenswertesten Eigenschaften.«
Bevor sie danach fragen kann, schlinge ich den rechten Arm um ihre Taille. Sie umschlingt meine Taille mit dem linken Arm, blickt weiter zu mir auf. Die bunten Lichter gleiten über ihre Wangen und glänzen in ihren Augen. Wir fassen uns an den Händen, die Finger verschränken sich von selbst, und für mich fallen die Jahre ab wie ein Gewand, das zu schwer und zu eng war. In diesem Augenblick hoffe ich mehr als alles andere, dass sie nicht zu beschäftigt gewesen ist, um wenigstens einen guten Mann zu finden, der John Claytons gottverdammten Besenstiel ein für alle Mal beseitigt hat.
Sie spricht so leise, dass ihre Stimme wegen der Musik kaum zu hören ist, aber ich höre sie, wie ich es immer getan habe. »Wer bist du, George?«
»Jemand, den du in einem anderen Leben gekannt hast, Schatz.«
Dann trägt die Musik uns fort, die Musik lässt die Jahre dahinschwinden, und wir tanzen.
2. Januar 2009 bis 18. Dezember 2010
Sarasota, Florida
Lovell, Maine