Unterwegs

Ichtiander hatte sich schnell zur Abreise entschlossen. Er holte seinen am Ufer verstecken Anzug nebst Schuhen. Mit einem Riemen, an dem auch sein Messer hing, schnallte er sich die Kleidungsstücke auf den Rücken. Dann legte er Brille und Schwimmflossen an und machte sich auf den Weg.

In der Bucht des Rio de la Plata lagen viele Ozeandampfer, Schoner und Barkassen vor Anker. Zwischen ihnen manövrierten eilig kleine Dampfboote, die den Küstenhandel besorgten. Von unten betrachtet, ähnelten sie Wasserkäfern, die nach allen Richtungen herumflitzten. Vom Grund ragten Ankerketten und Trossen wie die dünnen Stämme eines Waldes empor. Der Boden der Bucht war mit den verschiedensten Abfällen besät: Eisenteilen, Hanf, verschütteter Steinkohle und über Bord geworfener Schlacke, zerrissenen Schläuchen, Segeltuchfetzen, Blechkannen, Ziegeln, Flaschenscherben, Konservenbüchsen und Kadavern.

Eine dünne Ölschicht befleckte die Oberfläche. Obzwar die Sonne noch nicht untergegangen war, herrschte hier eine grünlich-graue Dämmerung. Der Fluß Parana führte Sand und Schlamm mit, die das Wasser der Bucht trübten.

Ichtiander hätte sich in diesem Labyrinth leicht verirren können, aber die leichte Strömung des in die Bucht mündenden Flusses diente ihm als Kompaß. Merkwürdig, wie unsauber die Menschen sind, dachte er und betrachtete mit Ekel den riesigen Schuttabladeplatz. Er schwamm in der Mitte der Bucht, unter dem Kiel der Schiffe. In diesem verschmutzten Wasser konnte der Jüngling nur schwer atmen, wie ein Mensch, der in ein dumpfes Zimmer gepfercht ist. An einigen Stellen des Grundes stieß er auf Menschenleichen und Tierskelette.

Ichtiander strebte danach, von diesem vermoderten Ort so schnell wie möglich wegzukommen. Die Gegenströmung wurde stärker. Das Schwimmen strengte ihn an.

Ein eiserner Gegenstand flog ganz nahe am Amphibienmenschen vorbei und hätte ihn fast mitgerissen. Das Schiff über ihm hatte Anker geworfen. Ichtiander ließ sich noch tiefer sinken, und als der Schiffsboden über ihn hinwegglitt, klammerte er sich an den Kiel. Polypen bedeckten das Eisen mit einer rauhen Schicht, so daß er sich gut festklammern konnte und in dieser Deckung mit Meilengeschwindigkeit fortgezogen wurde.

Das Schiff befuhr schon den Parana. Wegen des starken Verkehrs wagte es Ichtiander nicht, an der Oberfläche zu schwimmen. Seine Hände erstarrten immer mehr, dazu verspürte er einen großen Hunger. Er mußte eine Ruhepause einlegen, stieß sich vom Kiel des Schiffes ab und tauchte auf den Grund hinab.

In diesem Schlamm fand er weder Flundern noch Austern. Süßwasserfische schnellten umher, aber er kannte ihre Gewohnheiten nicht. Es war schwer, sie zu fangen. Erst in der Nacht, als die Fische zur Ruhe kamen, gelang es dem Amphibienmenschen, einen großen Hecht zu erbeuten. Sein Fleisch war zäh und schmeckte muffig, aber der hungrige Jüngling verschlang ganze Stücke mitsamt den Gräten.

Ichtiander wollte ausruhen. Haifische oder Kraken hatte er ja nicht zu befürchten. Er mußte jedoch darauf achten, während des Schlafs nicht von der Strömung abgetrieben zu werden. Auf dem Grund fand er einige Steine, die er zu einem Lager zusammentrug. Er legte sich nieder und klammerte sich fest, konnte jedoch nicht lange ruhen, da ihn Signallampen aufschreckten.

Das Schiff kam stromauf. Der Jüngling hängte sich an. Es war jedoch ein Motorboot mit glitschigem Boden, das keinen Halt bot. Ichtiander wäre fast in die Schraube geraten.

Er mußte lange Ausschau halten, ehe es ihm gelang, sich am Boden eines stromauf fahrenden Schiffes festzuklammern. Als blinder Passagier erreichte er die Stadt Parana. Der erste Teil der Reise war geschafft, jetzt blieb noch die weitaus schwierigere Landstrecke.

Morgens verließ Ichtiander den Hafen und schwamm an einen menschenleeren Ort. Sich vorsichtig umblikkend, stieg er ans Ufer. Er legte Brille und Schwimmflossen ab, verbarg sie im Ufersand und trocknete dann in der Sonne seinen Anzug, der ziemlich zerknautscht war. Als er ihn anlegte, sah er einem Vagabunden ähnlich. Doch das juckte ihn wenig.

Er spazierte das rechte Ufer entlang, so wie Olsen es ihm erklärt hatte. Fischer, denen er begegnete, fragte er nach dem Weg zur Hazienda „Dolores“. Sie sahen ihn jedoch mißtrauisch an und verneinten kopfschüttelnd. So verging Stunde um Stunde. Die Hitze wurde immer unerträglicher. In unbekannter Festlandsgegend fiel es Ichtiander schwer, sich zu orientieren. Ihm wurde schwindlig, er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Um sich zu erfrischen, zog sich der Amphibienmensch einige Male aus und sprang ins Wasser.

Am späten Nachmittag traf er endlich einen alten Bauern. Nachdem dieser Ichtiander angehört hatte, nickte er und sagte: „Geh immer diesem Feldweg nach. Du kommst dann an einen großen Teich, gehst über die Brücke und steigst etwas bergauf. Dort findest du die schnurrbärtige Donna Dolores.“

„Warum schnurrbärtige ,Dolores‘? Das ist doch eine Hazienda?“

„Ja, das ist es auch. Aber die Besitzerin heißt Dolores. Sie ist Pedro Suritas Mutter. Eine dicke schnurrbärtige Alte. Behüt dich Gott, falls es dir einfallen sollte, bei denen Arbeit zu suchen. Die frißt dich mit Haut und Haar. Eine richtige Hexe. Man sagt, Surita habe sich eine junge Frau geholt. Ich kann sie nur bedauern. Sie wird bei dieser Dolores kein leichtes Leben haben.“ Der Alte erzählte gesprächig.

Guttiere, Guttiere, dachte Ichtiander. Er wollte sich aber nicht verraten und erkundigte sich nach dem Weg: „Ist es weit bis dort?“

„Gegen Abend wirst du die Hazienda erreicht haben.“

Nachdem sich der Amphibienmansch bei dem Alten bedankt hatte, schritt er rasch an Weizen- und Maisfeldern vorbei. Die Schneise dehnte sich wie ein unendliches Band, führte schließlich durch Wiesen, auf denen Schafherden grasten.

Ichtiander verspürte schneidende Schmerzen. Auch quälte ihn der Durst. Weit und breit war kein Tropfen Wasser auszumachen. Die Wangen und Augen des Amphibienmenschen waren eingefallen, er atmete schwer. Und der Magen regte sich. Doch was hätte er in dieser Gegend schon essen können? Die Schafherde bewachten Hirten und Hunde. Die reifen Pfirsiche und Apfelsinen, die über eine Steinmauer ragten, waren ihm fremd.

Hier ist alles anders als im Meer, hier ist alles aufgeteilt, alles eingezäunt, alles bewacht. Nur die Vögel, die zwitschernd herumschwirren, scheinen niemandem zu gehören. Doch wie sollte man sie fangen?

Ein dicker Mann, der seine Arme auf dem Rücken verschränkte und einen weißen Anzug mit blitzenden Knöpfen trug, an dessen Seite eine Revolvertasche baumelte, kam Ichtiander entgegen.

„Sagen Sie bitte, ist es noch weit bis zur Hazienda ,Dolores‘?“

Der Dicke blickte mißtrauisch. „Was willst du dort? Woher kommst du?“

„Aus Buenos Aires.“

Der Mann spitzte seine Ohren.

„Ich muß auf der Hazienda dringend jemand sprechen“, fügte Ichtiander hinzu.

„Zeig mir doch bitte mal deine Hände“, verlangte der Dicke.

Ichtiander wunderte sich zwar, schöpfte jedoch keinen Verdacht. Der Mann hangelte in Windeseile Handschellen aus der Tasche und legte sie um Ichtianders Gelenk.

„So, nun habe ich dich“, brummte der Dicke und trieb Ichtiander an. „Vorwärts! Marsch! Ich bringe dich zur ,Dolores‘.“

Der Amphibienmensch trottete mit gesenktem Kopf. Er begriff nicht, was ihm geschah. Er konnte keine Ahnung davon haben, daß in der vergangenen Nacht auf der Nachbarfarm ein Raubmord verübt worden war und daß die Polizei nach den Verbrechern fahndete. Sein zerknitterter Anzug und die ausweichende Antwort über den Grund seines Besuchs verdächtigten ihn.

Der Polizist führte Ichtiander in die nächstgelegene Siedlung, um ihn von dort nach Parana ins Gefängnis zu befördern.

Ichtiander begriff nur eins: Man hatte ihn seiner Freiheit beraubt. Und diese mußte er bei der ersten besten Gelegenheit wiedererlangen.

Der Polizist, zufrieden mit seinem Fang, zündete sich eine Zigarre an. Er ging dicht hinter seinem Opfer und paffte Rauchwolken. Ichtiander war nahe am Ersticken.

„Könnten Sie mich freundlicherweise mit Ihrem Nikotin verschonen, ich kann nicht atmen“, bat er seinen Bewacher.

„Was unterstehst du dich? Ich soll nicht rauchen? Haha!“ Der Polizist lachte auf, sein ganzes Gesicht legte sich in Falten. „Du zartes Jüngelchen!“ Und er blies um so dickere Rauchklumpen in Ichtiander Gesicht, schrie „Vorwärts!“

Der Amphibienmensch mußte sich fügen. Als er einen Teich mit darüberführender Brücke erblickte, wurden seine Schritte unwillkürlich schneller.

„Renn nicht so!“ schrie der Dicke.

In der Mitte der Brücke beugte sich Ichtiander plötzlich über das Geländer und warf sich mit großer Hast ins Wasser. Das hatte der Polizist von einem mit Handschellen Gefesselten nicht erwarten können. Er sprang dem Amphibienmenschen auf dem Fuße nach. Es gelang ihm, ihn bei den Haaren zu packen.

Ichtiander zog den Polizisten mit sich auf den Grund. Hier fühlte er, daß sich dessen Griff lockerte. Der Jüngling schwamm einige Meter seitwärts und lugte aus dem Wasser nach dem Dicken.

Der wer schon aufgetaucht und schrie: „Du ertrinkst, du Schuft! Schwimm her zu mir!“

Ichtiander überlegte, wie er diesen Tölpel überrumpeln könne. Er begann lauthals um Hilfe zu schreien und ging unter Wasser.

Der Polizist tauchte abermals und suchte Ichtiander. Da er von ihm nichts erblickte, gab er schließlich auf und schwamm ans Ufer.

Gleich geht er fort, glaubte Ichtiander. Aber der Dikke blieb. Er fühlte sich verpflichtet, den Fall weiterhin zu verfolgen, den Ertrunkenen vom Grund des Teiches zu bergen und behördlich identifizieren zu lassen.

Um diese Zeit erschien auf der Brücke ein Bauer mit einem Maultier, das an beiden Seiten mit Säcken behängt war. Der Polizist befahl dem Manne, die Last abzuwerfen und mit einem Zettel sofort zur nächsten Gendarmeriestation zu reiten.

Die Sache wurde für Ichtiander brenzlig. Zu allem Übel wimmelte das Wasser von Blutegeln, die sich an ihm festsaugten. Er kam gar nicht so schnell nach, sie von sich abzuwehren. Und im stehenden Wasser des Teiches konnte jede Wallung die Aufmerksamkeit des Dicken erregen.

Binnen einer halben Stunde kehrte der Bauer zurück, deutete auf den Weg, hievte die Säcke wieder auf den Rücken des Maultiers und machte sich schleunigst davon. Kaum fünf Minuten später näherten sich dem Ufer drei weitere Polizisten. Zwei von ihnen trugen über den Köpfen einen Kahn, der dritte Hakenstock und Ruder.

Sie ließen das Boot aufs Wasser und begannen nach dem Ertrunkenen zu fischen. Ichtiander hatte keine Angst. Für ihn war das fast ein Spiel — er wechselte nur rechtzeitig seinen Standort. Die Polizisten stocherten den Wassergrund des Teiches genau ab. Eine Leiche jedoch fanden sie nicht.

Der Dicke fluchte mit unaussprechlichen Worten, worüber sich Ichtiander belustigte. Doch bald verging ihm das Lachen. Die Polizisten hatten mit ihrem Haken riesige Schlammwolken aufgewühlt. Das Wasser im Teich trübte sich. Der Amphibienmensch konnte auf Armlänge nichts mehr unterscheiden. Es wurde ihm unmöglich, mit seinen Kiemen in diesem sauerstoffarmen Wasser zu atmen.

Ichtiander war am Ersticken. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Was tun? Auftauchen? Es blieb ihm bei aller Gefährlichkeit keine andere Wahl. Schwankend schleppte er sich ins flache Wasser und streckte vorsichtig seinen Kopf an die Oberfläche.

„A-a-a-a!“ schrie entsetzt einer der Polizisten und warf sich wie von einer Tarantel gestochen über Bord, um schneller ans Ufer zu kommen.

„Jesus Maria! O-o-o-o!“ echote ein zweiter und warf sich auf den Boden des Bootes.

Die zwei restlichen Polizisten beteten hingebungsvoll am Ufer. Sie zitterten vor Angst und waren bestrebt, sich irgendwo zu verstecken.

Ichtiander verstand das nicht gleich. Dann erinnerte er sich, daß die Spanier sehr religiös und abergläubisch waren. Gewiß glaubten seine Bewacher, eine Erscheinung aus dem Jenseits vor sich zu haben.

Der Amphibienmensch beschloß, ihnen weitere Schrecken einzujagen. Er fletschte die Zähne, rollte mit den Augen und brüllte tierisch auf. Dann stieg er langsam ans Ufer und entfernte sich mit gemessenem Gang.

Keiner der Polizisten rührte sich vom Fleck.

Загрузка...