Ichtianders Diener

Salvator beschloß, in die Stadt zu fahren, ohne Christo mitzunehmen, den Diener, der Ichtiander betreute. Der Indianer freute sich sehr darüber, weil er während der Abwesenheit Salvators Gelegenheit hatte, sich mit seinem Bruder Balthasar zu treffen. Christo würde es schon gelingen, seinen Bruder davon zu benachrichtigen, daß er den Meerteufel gefunden hatte. Nur mußten sie dann gemeinsam überlegen, wie Ichtiander zu entführen wäre.

Christo wohnte jetzt in dem weißen, efeuumrankten Häuschen und traf oft mit Ichtiander zusammen. Sie freundeten sich bald an. Der alte Indianer erzählte ihm vom Leben an Land, Ichtiander dagegen wußte vom Meer mehr als die hervorragendsten Wissenschaftler, und er weihte Christo in die Geheimnisse der submarinen Welt ein. Er kannte alle Ozeane und die wichtigsten Flüsse, und er kannte sich auch in der Astronomie, Navigation, Physik, Botanik und Zoologie aus.

Aber über die Menschen wußte er wenig. Einiges über die Rassen, die den Erdball bevölkern. Von der Geschichte der Menschheit hatte er jedoch nur eine blasse Vorstellung. Seine politischen und ökonomischen Kenntnisse glichen denen eines fünfjährigen Kindes.

Bei Tag, sobald es heiß wurde, verschwand Ichtiander im Wasser und schwamm hinaus — irgendwohin. In das Häuschen kehrte er erst zurück, wenn die Hitze nachließ, und blieb dort bis zum Morgen.

Wenn es aber regnete oder Sturm aufkam, verbrachte er den ganzen Tag an Land. Bei feuchtem Wetter fühlte er sich an der Luft wohl.

Das Häuschen hatte nur vier Zimmer. In dem einen neben der Küche hauste Christo. Daneben war das Eßzimmer und eine große Bibliothek, die Ichtiander, da er die spanische und englische Sprache beherrschte, in Augenschein nahm. Das letzte und größte Zimmer war Ichtianders Schlafgemach. Dessen Mitte nahm ein Wasserbassin ein. An der Wand stand ein Bett. Manchmal schlief Ichtiander darin, aber er bevorzugte das Bassin als Lager. Als Salvator verreiste, befahl er Christo, darauf zu achten, daß Ichtiander mindestens dreimal wöchentlich in seinem Bett schlafe. Abends erschien der Diener und zeterte wie eine alte Kinderfrau, wenn der Amphibienmensch nicht in seinem Bett schlafen wollte.

„Aber es ist für mich doch viel bequemer, im Wasser zu schlafen“, protestierte Ichtiander.

„Der Doktor hat befohlen, das Bett zu wählen. Du mußt dem Vater folgen.“

Ichtiander nannte den Doktor Vater, jedoch bezweifelte Christo ihre Verwandtschaft. Seine Gesichtshaut und die Hände waren ziemlich hell. Konnte es sein, daß der ständige Aufenthalt unter Wasser die Haut bleichen ließ? Das gleichmäßige Oval des Gesichts, die gerade Nase, die schmalen Lippen und strahlenden großen Augen erinnerten eher an das Gesicht eines Indianers aus dem Stamm der Araukaner, dem auch Christo angehörte.

Christo hätte gern Ichtianders Körperfarbe gesehen, aber die blieb ihm durch den festsitzenden Anzug aus einem schuppenartigen Material stets verborgen.

„Ziehst du dein Hemd nachts nicht aus?“ fragte er den Jüngling.

„Wozu? Meine Schuppen stören mich nicht, sie sind sehr bequem. Sie behindern weder die Atmung der Haut noch der Kiemen, und außerdem schützen sie zuverlässig. Weder die Zähne eines Haifisches noch das schärfste Messer können diesen Panzer durchdringen.“ So antwortete Ichtiander und legte sich ins Bett.

„Warum trägst du Brille und Handschuhe?“ fragte Christo und betrachtete die neben dem Bett liegenden Utensilien. Die Handschuhe bestanden aus grünlichem Gummi, die Finger waren gelenkartig verlängert und durch Schwimmhäute verbunden. An der gleichartigen Fußbekleidung waren die Zehen noch weiter verlängert, „Diese Schwimmflossen helfen mir, schneller zu schwimmen. Und die Brille schützt die Augen, wenn der Sand vom Meeresgrund aufgewirbelt wird. Ich trage sie nicht immer. Aber mit der Brille sehe ich unter Wasser besser. Ohne sie ist die Sicht im Wasser so trüb. Als ich noch klein war, erlaubte mir mein Vater, zuweilen mit den Kindern, die im Nachbargarten wohnten, zu spielen.

Ich wunderte mich sehr, als ich sie ohne Schwimmflossen ins Wasser steigen sah. ,Kann man denn ohne Flossen schwimmen?‘ fragte ich sie. Aber sie verstanden mich nicht, wußten nicht einmal, was ich mit Flossen meinte, denn ich schwamm nie in ihrer Gegenwart.“

„Schwimmst du auch jetzt noch in der Bucht?“ fragte Christo interessiert.

„Natürlich. Nur schwimme ich jetzt durch einen seitlichen Unterwassertunnel. Irgendwelche bösen Menschen haben mich fast mit einem Netz gefangen, darum bin ich jetzt sehr vorsichtig.“

„Hm, dann gibt es noch einen anderen Tunnel zur Bucht?“

„Sogar ein paar. Schade, daß du nicht mit mir unter Wasser schwimmen kannst! Ich würde dir die erstaunlichsten Dinge zeigen. Wir könnten zusammen auf meinem Wasserpferd reiten.“

„Auf einem Wasserpferd? Was ist denn das?“

„Ein Delphin. Ich habe ihn gezähmt. Bei Sturm wurde er einmal weit auf den Strand geworfen, und dabei verletzte er sich eine Flosse. Ich schleppte ihn zurück ins Wasser. Das war eine mühselige Arbeit. Delphine sind im Wasser viel leichter als an Land. Im Meer läßt es sich leichter leben.

Nun war der Delphin zwar wieder im Wasser, aber schwimmen konnte er nicht, sich also auch nicht ernähren. Einen ganzen Monat lang fütterte ich ihn mit Fischen. In dieser Zeit hat er sich an mich gewöhnt, Zutrauen zu mir gefaßt. Und so wurden wir Freunde. Auch die anderen Delphine kennen mich. Es ist herrlich, sich mit den Delphinen im Wasser zu tummeln. Wellen, Fontänen, Sonne, Wind und Lärm! Aber auch am Meeresgrund ist es verlockend. Als ob du in dichter blauer Luft schwimmst. Tiefste Stille. Du spürst deinen eigenen Körper nicht. Er wird so frei und leicht, gehorcht jeder deiner Bewegungen. Ich habe viele Freunde im Wasser. Ich füttere die kleinen Fische so wie ihr die Vögel — sie folgen mir in Schwärmen überall hin.“

„Und Feinde?“

„Es gibt auch Feinde. Haifische und Kraken. Aber ich fürchte mich nicht vor ihnen, ich habe ein Messer.“

„Wenn sie sich die aber unbemerkt nähern?“

Ichtiander staunte über eine solche Frage. „Ich höre sie doch, schon von weitem.“

„Du hörst im Wasser?“ staunte Christo, „Auch wenn Fische ganz leise an dich heranschwimmen?“

„Natürlich. Was ist denn dabei so erstaunlich? Ich höre mit den Ohren und mit dem ganzen Körper. Die Meeresbewohner verursachen ein Beben, das ihnen vorauseilt. Sobald ich solche Schwingungen bemerke, drehe ich mich um.“

„Auch wenn du schläfst?“

„Selbstverständlich.“

Surita hat recht: Für solch ein Wesen lohnt sich die Mühe, dachte Christo. Aber ihn im Wasser zu erwischen — das ist nicht einfach. „Ich höre mit dem ganzen Körper!“ Das ist ja enorm. Das muß ich Surita mitteilen.

„Wie schön ist die Welt unter Wasser.“ Ichtiander begeisterte sich noch immer. „Nein, nie würde ich das Meer gegen eure dumpfe, staubige Erde eintauschen.“

„Warum UNSERE Erde? Du bist doch auch ein Erdensohn“, sagte Christo. „Wer war eigentlich deine Mutter?“

„Ich weiß nicht. Vater meint, daß Mutter bei meiner Geburt starb.“

„Aber sie war doch wohl eine Frau, ein Mensch und kein Fisch.“

„Kann sein“, stimmte Ichtiander bei.

Christo lachte auf. „Bitte erzähl mir jetzt, warum hast du Unfug getrieben, warum hast du die Fischer geärgert, ihre Netze zerschnitten und ihren Fang aus den Booten geworfen?“

„Weil sie mehr fischten, als sie aufessen konnten.“

„Aber sie haben die Fische doch gefangen, um sie zu verkaufen.“

Das verstand Ichtiander nicht.

„Damit auch andere Leute etwas zu Essen haben“, erklärte der Indianer.

„Gibt es denn so viele Menschen?“ staunte Ichtiander. „Genügen ihnen die Vögel und Tiere der Erde nicht? Warum schieben sie sich noch ins Meer?“

„Das kann ich dir nicht so schnell erklären“, sagte Christo gähnend. „Es ist Zeit zum Schlafen.

Kriech ja nicht wieder in deine Wanne. Dein Vater würde sonst böse werden.“ — und Christo ging.

Am nächsten Morgen traf Christo, obwohl er zeitig aufstand, Ichtiander nicht mehr an. Die Steinfliesen waren naß.

„Da hat er doch wieder in der Wanne geschlafen“, knurrte der Indianer vor sich hin, „und ist natürlich wieder ins Meer geschwommen.“

Zum Frühstück erschien Ichtiander mit etlicher Verspätung. Er war verstimmt, stocherte mit der Gabel in seinem Beefsteak herum und murrte: „Wieder gebratenes Fleisch.“

„So, wie es der Doktor angeordnet hat. Aber du hast dich wohl wieder an rohen Fischen sattgegessen? So gewöhnst du dir ganz die gekochte Nahrung ab. Und hast auch wieder in der Wanne geschlafen. Da du das Bett meidest, entwöhnen sich die Kiemen der Luft, und dann jammerst du über Seitenstechen. Zum Frühstück bist du auch zu spät gekommen. Wenn der Doktor zurückkommt, werde ich ihm alles sagen. Du gehorchst überhaupt nicht.“

„Sag es bitte nicht, Christo. Ich möchte meinen Vater nicht betrüben.“ Gedankenvoll senkte Ichtiander sein Haupt.

Plötzlich blickte er mit seinen großen, diesmal sehr traurigen Augen den Indianer an: „Christo, ich habe ein Mädchen gesehen. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen — nicht einmal in der Tiefsee.“

„Warum beschimpfst du dann eigentlich unsere Erde?“

Ichtiander schwärmte: „Ich schwamm auf einem Delphin am Ufer entlang, und unweit von Buenos Aires erblickte ich sie am Strand. Sie hatte blaue Augen und goldenes Haar. Und einmal rettete ich ein Mädchen vor dem Ertrinken. Damals sah ich sie mir gar nicht so genau an. Womöglich ist es dieselbe. Ich glaube, die hatte auch goldenes Haar.“

Der Jüngling grübelte. Dann trat er plötzlich vor den Spiegel und betrachtete sich zum ersten Mal in seinem Leben genau.

„Und was machtest du da?“ wollte Christo wissen.

„Ich wartete auf sie. Aber sie kam nicht mehr zurück. Christo, vielleicht kommt sie nie mehr an den Strand?“

Vielleicht ist es gut, daß ihm das Mädchen gefällt, dachte Christo. Bisher hatte er vergeblich versucht, Ichtiander mit prächtigen Schilderungen zu einem Besuch von Buenos Aires zu verlocken. Dort wäre es für Surita eine Kleinigkeit, sich des Jünglings zu bemächtigen.

Christo knüpfte wieder den Gesprächsfaden. „Schon möglich, daß das Mädchen nicht mehr an den Strand kommt. Aber ich könnte dir helfen, sie zu finden. Du ziehst einen guten Anzug an und kommst mit mir in die Stadt.“

„Und ich werde sie wiedersehen?“ rief Ichtiander begeistert.

„Dort gibt es viele Mädchen. Vielleicht siehst du auch die, die am Strand war.“

„Gehen wir am besten gleich!“

„Dafür ist es heute schon zu spät. Zu Fuß in die Stadt, das braucht seine Zeit.“

„Ich schwimme auf dem Delphin, und du folgst am Ufer entlang.“

„Wie eilig du es doch hast.“

„Bei Tagesanbruch werden wir uns auf den Weg machen. Du schwimmst in die Bucht, und ich erwarte dich mit einem festlichen Anzug am Strand. Den muß ich dir aber erst noch besorgen.“ Nachts werde ich noch meinen Bruder treffen, dachte Christo. „Also dann — bis morgen früh.“

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