Epilog

In den höheren Breiten der Nördlichen Tropischen Hochebene auf dem Planetenmond ’glantine im Ulubis-System trifft man einen Vogel, der wegen seines Rufs der ›He-Mann-He‹ genannt wird. Der Vogel ist ein Wanderer, ein Zugvogel; das heißt, er lebt nicht ständig in einer Region, sondern zieht von Ort zu Ort. Zu Frühlingsbeginn zieht der He-Mann-He durch unsere Breiten nach Norden.

Es war ein kühler Tag, kurz vor Mittag. Nasqueron war halb voll und warf seinen rötlich braunen Schein über die weichen Schatten. Früher wären auf der einen oder anderen Seite des Gasriesen große Spiegel zu sehen gewesen, die das Sonnenlicht zu uns lenkten, auch wenn Nasqueron den Himmel fast ganz ausfüllte. Aber im Krieg wurden viele dieser Anlagen zerstört, und so ist es auf unserem kleinen Planetenmond im wahrsten Sinne des Wortes dunkler als früher, und er ist, bis neue Spiegel installiert werden können, in seinen Urzustand zurückgefallen.

Ich arbeitete auf der ehemaligen Parkweide und steckte tief in einem lästigen Chuvle-Gestrüpp, das einen – inzwischen – fast schon verschwundenen Teich überwuchert hatte. Gerade als ich mir überlegte, was ich mit den Sträuchern und dem Teich anstellen wollte (denn beide sind auf ihre Weise reizvoll), vernahm ich den unverwechselbaren Ruf des oben erwähnten Vogels. Ich hielt inne und lauschte.

»He-Mann-he-Mann-he-Mann-he!«, sang der Vogel. Ich drehte mich langsam um und suchte die höheren Äste der Bäume nach ihm ab.

Während ich mich noch umsah – finden sollte ich den Vogel nicht –, bemerkte ich auf dem Hauptpfad eine Gestalt auf dem Weg zum Bach und der Grenzmauer, die am Hang, etwas unterhalb der Ruine des alten Rehliden-Tempels endet.

Ich sah genauer hin, fokussierte und bemühte mich, die Büsche und Sträucher dazwischen auszufiltern. Die Gestalt bewegte sich genau wie Seher Taak, der schon so lange nicht mehr unter uns weilte. (›Unter uns‹! – immer wieder der gleiche schmerzliche Fehler. Es gab kein ›uns‹ mehr, nur ein paar kärgliche Überreste in einem verlassenen Haus.) Die Gestalt verschwand hinter einem dichteren Gebüsch, würde aber bald wieder auftauchen, wenn sie dem Pfad weiter folgte.

Ich überlegte. Rückblickend war die Person auf dem Pfad vielleicht doch um einiges älter als der Mann, den ich einst als den ›jungen Herrn‹ betrachtet hatte. Sie ging leicht vornübergebeugt, was Seher Taak nie getan hatte, und war vielleicht etwas zu dünn, außerdem bewegte sie sich so vorsichtig, als wäre sie verletzt. Jedenfalls schien es mir so, ich würde allerdings nicht wagen, mich hier als Experten zu bezeichnen. Ich bin ein bescheidener Gärtner, mehr nicht. Meinetwegen Obergärtner, aber dennoch bescheiden. Hoffe ich.

Die Gestalt tauchte tatsächlich wieder auf, aber nicht da, wo ich sie erwartet hatte. Wer immer sie sein mochte, sie hatte einen Seitenweg genommen und kam nun geradewegs auf mich zu. Nun hob sie die Hand. Ich hob meine Kelle und winkte zurück. Es war Seher Taak! Oder – im Namen der Vernunft – jemand, der sich alle Mühe gab, wie eine deutlich gealterte Ausgabe von ihm zu erscheinen.

Ich kletterte aus dem Teich, schüttelte mir die Chuvle-Ranken von einigen Beinen, stapfte die Böschung hinauf und ging ihm entgegen.

»Junger Herr?«, sagte ich, ließ Kelle, Rechen und Spaten fallen und streifte Erde und Pflanzenteile von meinen Armen ab.

Der Mann strahlte über das ganze Gesicht. »Ach, du bist es, OG!« Er trug lange, weite Freizeitkleidung und sah gar nicht wie ein Seher aus.

»Sie sind es wirklich, Seher Taak! Wir fürchteten schon das Schlimmste! Oh! Wie schön, dass wenigstens Sie noch am Leben sind!«

Ich muss gestehen, dass mich meine Gefühle überwältigten. Ich klappte zusammen, ließ mich auf alle achte nieder und betrachtete unverwandt den Kies auf dem Weg.

Er ging vor mir in die Hocke. »Wir neigen dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, nicht wahr, OG?«

»Junger Herr?«

»OG, sag mir, dass du kein KI bist.«

Ich schaute zu ihm auf. »Gefühle? War es das? Ich hätte mir denken können, dass sie mich eines Tages verraten würden.«

Er lächelte. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«

»Zunächst vielleicht schon.«

»Nur Geduld, OG.«

»Wollen Sie damit sagen, die Lage könnte sich ändern? Oder dass ich einfach auf den Tod warten sollte? Wir sterben nicht so leicht. Das ist uns nicht gestattet.«

Sein Lächeln bekam einen gequälten Zug. »Die Lage wird sich ändern, OG.«

»Glauben Sie?«

»Oh ja. Es ist so vieles in Bewegung geraten.«

»Von einigem habe ich gehört. Man sagt, in Nasqueron gäbe es eine Wurmloch-Mündung?« Ich schaute zu dem großen Planeten auf, der über uns hing, und betrachtete die breiten Gasströme, die bunten Reifen – cremeweiß und braun, gelb, weiß, violett und rot –, die in alle Ewigkeit gegenläufig zueinander rotierten.

Fassin Taak nickte bedächtig. »Wir wissen jetzt, dass wir alle die ganze Zeit über angeschlossen waren.« Er hob einen Kieselstein auf und betrachtete ihn. »Vielleicht lassen uns die Dweller ihr Wurmloch-Netzwerk sogar benützen, wenn wir höflich darum bitten. Wenigstens manchmal. Während wir hier miteinander sprechen, tobt in der Dweller-Gesellschaft eine heftige Debatte – die wahrscheinlich noch eine Weile andauern wird, wie ich die Dweller kenne. Es geht darum, in welchem Ausmaß die unsterbliche Bewunderung durch jede auch nur annähernd empfindungsfähige Spezies in der übrigen Galaxis und womöglich auch darüber hinaus zu einer allgemeinen Erhöhung des Hintergrund-Kudos-Niveaus für alle Dweller führen und damit ein triftiger Grund sein könnte, das galaktische Transportsystem für alle zu öffnen.«

»Das wäre wirklich eine gewaltige Veränderung.«

»Eine Veränderung obendrein, die nicht von der Merkatoria kontrolliert werden dürfte.«

»Sie wäre immer noch die Merkatoria.«

»Auch sie kann sich ändern. Sie wird gar keine andere Wahl haben. Geduld, OG.«

»Wir werden sehen, aber ich danke Ihnen.«

Ich sah ihn an. Fassin Taak war tatsächlich gealtert. Sein Gesicht war verhärmt, die Fältchen um die Augen hatten sich vertieft. »Ist hier soweit alles in Ordnung, OG?«

»Im Garten schon. Das Haus … nun, damit habe ich nichts zu tun.«

Jetzt schlug er die Augen nieder. »Ich habe mich umgesehen«, sagte er. Seine Stimme war leise geworden. »Alles war sehr still. Sehr seltsam, diese Stille, wenn niemand mehr da ist.«

»Ich meide den Anblick, so gut es geht«, gestand ich. »Nur manchmal betrachte ich es bei Tagesanbruch oder sehr früh am Morgen. Dann ist es fast wie immer: im hellen Sonnenschein, aber ohne ein Lebenszeichen. Das kann ich ertragen.« Ich hatte das Bild vor mir, während ich das sagte. »Ein Glück, dass ich den Garten noch habe. Er gibt mir alles zurück, was ich für ihn tue.«

»Ja«, sagte er. »Jeder braucht etwas zu tun, nicht wahr?«

Ich zögerte. »Dennoch vergeht kein Tag, ohne dass ich mein Schicksal verfluche. Warum musste ich hier bleiben? Warum konnte ich nicht bei ihnen sein, als das Ende kam? Ich beneide den Obergärtner des Winterhauses, wo alle zusammen den Tod fanden.« Ich richtete mich ein klein wenig auf. »Aber lassen wir das. Wie geht es Ihnen, junger Herr? Was machen Sie denn jetzt?«

»Bitte nenn mich nicht ›junger Herr‹, OG. Ich heiße Fassin.«

»Oh. vielen Dank. Nun, was machen Sie? Und wo? Wenn die Frage erlaubt ist.«

»Ich habe mich den Beyondern angeschlossen, OG. Ich lebe schon jetzt wie ein Bürger der Galaxis, aber ich reise nur langsam, ohne Wurmlöcher zu benützen. Immerhin, ein Anfang.«

»Und der Sept, Fassin?«

»Es gibt keinen Sept mehr, OG. Das ist vorbei.« Er warf den Kieselstein auf den Weg zurück. »Vielleicht gründet jemand einen neuen Sept – wer weiß?« Er schaute zurück zu dem fernen Gebäude. »Vielleicht füllt sich dieses Haus eines Tages wieder mit Leben.«

»Aber Sie kommen nicht zurück?«

Er sah sich um. »Zu viele Leute würden mir immer noch zu viele Fragen stellen, und das ginge wahrscheinlich bis an mein Lebensende so weiter.« Er sah mich an. »Nein, ich bin nur gekommen, um mich ein letztes Mal umzusehen. Und um mit dir zu sprechen.«

»Mit mir? Ist das wahr?«

»Das ist wahr.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir das schmeichelt – nein, wie sehr mich das ehrt.«

Er lächelte und erhob sich. »Diese Unterwürfigkeit ist eine ausgezeichnete Tarnung, OG. Ich hoffe nur, du kannst dich davon trennen, wenn die Zeit kommt.«

»Was ich sagte, war ehrlich gemeint, Fassin.«

»Und was ich dir jetzt sage, ebenfalls, OG.« Er klopfte sich die Erde von den Kleidern. Nasqueron stand immer noch in seinem Rücken. »Eines Tages werden wir alle frei sein.«

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