Es gab nicht nur eine, sondern viele Galaxien, das war eine Binsenweisheit. Alle weiter verbreiteten Gattungen von empfindungsfähigen Lebewesen – und einige Kategorien, die vermutlich nicht empfindungsfähig waren, es aber doch bis zur interstellaren Raumfahrt geschafft hatten – und manchmal sogar die einzelnen Speziestypen trachteten danach, eine Galaxis für sich allein zu haben. Die Raumfahrenden – ein Sammelbegriff für alle Wesen, die fähig und willens waren, sich über die unmittelbaren Grenzen ihres Erst-Habitats hinauszuwagen – glichen den Bürgern einer riesigen, voll dreidimensionalen, aber nahezu leeren ›Stadt‹ mit vielen verschiedenen Transportsystemen. Die Mehrheit begnügte sich damit, sich zu Fuß in aller Ruhe auf einem kartographisch niemals erfassten Netz von Pfaden und gepflasterten Wegen, Gassen und Gässchen, Treppen, Leitern und Hausdurchgängen durch unendlich viele verschiedene, im Grunde verlassene Straßen, stille Parks, leere Plätze und Reste von Ödland zu bewegen. Unterwegs kam es so gut wie nie zu Begegnungen mit anderen Wesen, und wenn sie ihr Ziel, die Fotosphäre eines Sterns, die Oberfläche eines braunen Zwergs, die Atmosphäre eines Gasriesen, eine Kometenwolke oder einen Abschnitt des interstellaren Raumes erreichten, war es dem Ort, von dem sie gekommen waren, stets sehr ähnlich. Solche Spezies nannte man im Allgemeinen die ›Langsamen‹.
Anders die ›Schnellen‹. Sie waren zumeist auf Felsplaneten irgendwelcher Art entstanden, führten ihr Leben mit höherer Geschwindigkeit und gaben sich nicht damit zufrieden, in alle Ewigkeit von Ort zu Ort zu trotten. Schlimm genug, dass sie bis zur Errichtung eines funktionsfähigen Wurmloch-Netzwerks dazu gezwungen gewesen waren. Die Zugangsportale zu den Wurmlöchern waren die Flaschenhälse des Wurmloch-Systems – vergleichbar den U-Bahn-Stationen einer Stadt. Hier mussten sich Vertreter verschiedener Spezies-Typen nicht nur begegnen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch mischen, wobei die Zeit, die man in der Nähe eines Portals oder innerhalb eines Wurmlochs verbrachte, so kurz war, dass auch dieser enge Kontakt letztlich nicht zu einer Verbindung der verschiedenen Lebensstränge führte. außerdem pflegten sich die Benutzer vor dem Betreten und nach dem Verlassen des Systems in Räumlichkeiten zu versammeln, die auf ihre speziellen Komfortansprüche zugeschnitten waren, und unter Komfort verstand gewöhnlich jede Spezies etwas anderes.
Die Cincturier wurden häufig gleichgesetzt mit Tieren: Vögeln, Hunden, Katzen, Ratten und Bakterien. Auch sie lebten in der ›Stadt‹, hatten aber keinerlei Verantwortung, konnten nicht voll zur Rechenschaft gezogen werden und standen ihrer reibungslosen Funktion oft mehr oder minder im Wege.
Und was die Übrigen anging – die nicht-baryonischen Penumbrae, die 13-D-Dimensionierten und die flussbewohnenden Quantarchen –, so war es, um im Bild zu bleiben, als stellte man irgendwann fest, dass der Boden, die Mauern der Gebäude, ihre Fundamente und sogar die Luft der ›Stadt‹ Lebewesen ganz anderer Art beherbergten.
Auch die Merkatoria – die sich großenteils, aber nicht ausschließlich, aus Sauerstoffatmern zusammensetzte – bewohnte folglich wie die anderen Kategorien von Lebewesen ihre eigene Galaxis. Alle diese verschiedenen Galaxien existierten nebeneinander, durchdrangen sich, waren von anderen umgeben und umgaben sie ihrerseits, beeinflussten sie aber kaum und wurden auch nicht beeinflusst, außer manchmal durch das unersetzliche und dabei allzu verwundbare Wurmlochnetzwerk.
Und wir? Oh, wir wohnten wie Gespenster in den Versorgungsleitungen.
Auf dem Panzerkreuzer krochen Sklavenkinder, beladen mit Schweißbrennern, Rucksäcken mit Carbongewebe und schweren Leimspritzen, über die riesigen Flügel eines Hauptpropellers. Der Lärm der verschiedenen Motoren und des Haupttriebwerks pulsierte durch die wogenden braunen Dunstschwaden und erfüllte die Gaswirbel und den Rumpf des riesigen Schiffes mit seinen Harmonien. Ein gewaltiges Dröhnen, das stetig an-und abschwoll, eine niemals endende Maschinensymphonie.
Fassin und der Colonel standen auf einer offenen Brücke über dem riesigen Triebwerksring und beobachteten, wie sich die beiden Teams von Dweller-kindern über die schlagenden Flügel mit den gebogenen Enden schoben.
Der Steuerbordpropeller war von einem Stück Tauwolken-Wurzel getroffen worden, das von oben aus den Wolken gefallen war. Wahrscheinlich hatte es sich von einer sterbenden Tauwolke gelöst, die zwanzig bis dreißig Kilometer höher schwebte.
Tauwolken waren riesige Schaumpflanzen, die bis zu achthundert Meter breit und fünf-oder sechsmal so hoch werden konnten. Wie alle Gasriesenflora bestanden sie zumeist aus Gas – ein Dweller, der es eilig hatte, konnte wahrscheinlich durch ihren Schirm rasen, ohne überhaupt zu merken, dass er sich nicht in einer gewöhnlichen Wolke befand. Für menschliche Augen sahen sie aus wie eine monströse Kreuzung aus einem lang gestreckten Pilz und einer Qualle von der Größe einer Gewitterwolke. als Teil eines ubiquitären Stammes traten sie überall auf, wo es Dweller gab. Sie nährten sich von Kondenswasser, das sie mit ihren langen, dicken und relativ festen Wurzeln vorzugsweise zwischen Schichten mit unterschiedlichen Temperaturen aus der Atmosphäre der Gasriesen zogen.
Wenn sie gegen Ende ihres Lebens zu den kalten obersten Wolkenbändern und den höheren Dunstschichten hinaufschwebten, brachen oft einzelne Teile ab. Die Propeller des Panzerkreuzers hatten Schutzgehäuse, die verhindern sollten, dass schwebende, herabsinkende oder emporsteigende Pflanzenteile in den Hauptantrieb gerieten, aber das Wurzelstück war zwischen den Schutz und den Propeller selbst geraten und hatte die dreißig Meter langen Rotorflügel beschädigt, bevor es zerschlagen und weggeschleudert wurde. Deshalb krochen nun die Sklavenkinder von den Propellernaben zu den Rändern, um die Schäden auszubessern. Die Kleinen sahen aus wie schmale Dreiecke und mussten sich mit ihren dünnen Ärmchen nicht nur an den Rotorflügeln festklammern, die sich weiterdrehten, sondern auch die Reparaturmaterialien halten. Dadurch wurde ihnen die Arbeit unnötig erschwert. Dweller-Offiziere fuhren mit Motorjollen dicht an die Jungen heran und brüllten Befehle, Drohungen und Beschimpfungen.
»Warum schalten sie nicht einfach den verdammten Propeller ab?«, schrie der Colonel. Die Brücke, an der sie hingen, befand sich von der Knollennase aus gesehen über dem letzten Fünftel des Riesenschiffs, einem Ellipsoid, das etwas mehr als zwei Kilometer lang und an der dicksten Stelle vierhundert Meter durchmaß. Die vierundzwanzig riesigen Triebwerke ragten dicht vor dem Heck aus dem Rumpf, ein monumentaler Kragen aus Masten und Drähten, röhrenförmigen Propellergehäusen und runden Triebwerksgondeln. Der Wind pfiff um Hatherences Schutzanzug und Fassins Pfeilschiffchen.
»Wahrscheinlich würden sie dann zu langsam werden!«, schrie Fassin zurück.
Der Captain des Panzerkreuzers hatte die Steuerbordtriebwerke auf ein Viertel Energie gesetzt, damit die Reparaturen nicht allzu viele Opfer unter den Sklavenkindern forderten. Die mächtigen Steuerruder an dem achtförmigen Leitwerk gleich hinter den Triebwerken waren so gestellt, dass sie ein Abdriften zur Seite verhinderten.
Durch eine kleine Lücke in den Wolken entdeckte Fassin wenige Kilometer entfernt einen Geleitkreuzer. Sie waren mit vielen weiteren Panzerkreuzern und deren kleineren Begleitschiffen Teil einer hundert Kilometer breiten und dreißig Kilometer tiefen Front. Ein Sklavenkind, das fast am Ziel angelangt war, verlor den Halt, wurde vom Rotorflügel geschleudert und krachte mit einem leisen Aufschrei von innen gegen das Schutzgehäuse. Der Schrei riss sofort ab, der schlaffe Körper wurde vom Sog der Propeller erfasst und nach hinten gewirbelt, wo er einem Zusammenstoß mit dem Leitwerk nur knapp entging. Das kind verschwand hinter einer senkrecht aufragenden Flosse. Als es wieder in Sicht kam, versank es bereits in langsamen Spiralen in der Wolkenschicht unter ihnen. Keiner der Dweller in den Jollen verschwendete einen zweiten Blick darauf. Die noch verbliebenen Sklavenkinder schoben sich zu Dutzenden weiter über die Riesenflügel.
Fassin sah den Colonel an. »Hoppla!«, sagte er.
Sie waren auf der Fahrt ins Kriegsgebiet.
Ein TunnelWagon – nein, zwei TunnelWagons, der zweite wurde für Y’suls Gepäck, die zusätzliche Kleidung und Scholisch benötigt – hatte sie von Y’suls Haus zum Hauptbahnhof gebracht. Dort bestiegen sie einen Fernzug aus etwa neunzig Wagons, der sie zwanzigtausend Kilometer weit zur Grenze zwischen Zone Null – der Äquatorzone – und Band A beförderte. Y’sul klagte fast die ganze Fahrt lang über seinen Kater.
»Sie wollen in ihrer derzeitigen Form seit zehn Milliarden Jahren existieren und haben noch immer kein wirksames Mittel gegen einen Kater gefunden?«, hatte Hatherence irgendwann ungläubig gefragt.
Sie hatten in einem Speisewagon schwebend darauf gewartet, dass die Küche die genaue chemische Zusammensetzung von Oerileithe-Speisen herausfände.
Y’suls dumpfe Stimme war aus dem Innern eines durchsichtigen Overalls gekommen, den die Dweller an Stelle einer dunklen Sonnenbrille trugen: »Das Leiden an den Folgen gehört ebenso wesentlich zu einem Fest wie die Klage darüber. Und, wie man hinzufügen sollte, wie das Mitgefühl, das man von seiner Umwelt empfängt.«
Der Colonel hatte ihn skeptisch angesehen. »Ich dachte, Sie spüren keinen Schmerz?«
»Keinen physischen Schmerz, nein. Unser Schmerz ist psychisch und beruht auf der Erkenntnis, dass die Welt in Wirklichkeit nicht so großartig ist, wie sie uns am Abend zuvor erschien, und dass man sich womöglich zum Narren gemacht hat. Und so weiter. Ich erwarte nicht, dass ein Klein-dweller das versteht.«
Sie hatten den Zug in Nuersotse verlassen, einer Kugelstadt, die in mittlerer Höhe in den brodelnden Wolken am Nordrand des Äquatorgürtels schwebte. Nuersotse hatte nur knapp dreißig Kilometer im Durchmesser, was für eine Dweller-Stadt relativ kompakt war, außerdem hatte man beim Bau Wert auf Stabilität und Wendigkeit gelegt. Von hier starteten ungefähr im Stundentakt Konvois von Hochgeschwindigkeitsschiffen, sooft eines der Bandgrenzenräder in die Nähe kam.
Den Bandwechsel hatten sie auf dem Bandgrenzenrad Eins zwischen Nuersotse und Guephuthen vollzogen, einer mächtigen rotierenden Gelenkkonstruktion mit einem Durchmesser von zweitausend Kilometern an der Grenzlinie von zwei Atmosphärebändern. Die gewaltige Masse reichte in jedes Band tausend Kilometer weit hinein und wurde von den gegenläufig rotierenden Gasströmen in Bewegung gehalten. Bandgrenzenräder waren in den meisten Gasriesen die größten beweglichen Konstruktionen, die es überhaupt gab, wenn man die globusumspannenden WolkenTunnel-Netzwerke nicht mitrechnete. Die bewegten sich schließlich nur insoweit, als sie wie alles andere innerhalb eines Planetenbandes mit der banalen Geschwindigkeit von ein paar hundert Stundenkilometern um den Globus fegten. Für einen Dweller war das so gut wie stationär.
Bandgrenzenräder rotierten dagegen tatsächlich und beförderten mit minimalen Turbulenzen und relativ sicher Transportfahrzeuge und Frachten von einem Band zum anderen. Ein weiterer Vorteil war, dass sie mit den Antriebswellen an ihren Achsen Elektrizität in großen Mengen produzierten. Die Wellen ragten oben und unten aus den riesigen, halbkugelförmigen Naben hervor, die am unteren Rand mit Mikrowellenschüsseln mit Durchmessern von mehreren hundert Metern besetzt waren. Diese wurden auf sinnverwirrende Geschwindigkeiten beschleunigt und strahlten die dabei erzeugte Energie zu einem äußeren Sammelring aus ähnlich großen stationären Schüsseln ab, von wo sie in große angedockte Akkumulatorenträger geleitet wurde.
Bei ihrer Ankunft waren das Rad und die Stadt von den Ausläufern eines kleinen grenzübergreifenden Sturms gestreift worden, aber beide wurden so schnell wie möglich aus dessen Bahn gebracht. vom Planeten selbst bis zu Fassins Zähnen schien alles zu vibrieren, als das turbulenzfeste Transferschiff die Reisenden in ihren Kapseln von der WolkenTunnelstation zum Rad beförderte. Die Triebwerke arbeiteten auf Hochtouren, der Wind kreischte, Ammoniakhagel prasselte nieder, Blitze zuckten und etliche von Y’suls Gepäckstücken und Ausrüstungsgegenständen begannen unter dem Einfluss von Magnetfeldern zu summen, zu zischen und Funken zu sprühen.
Im Innern des Rades war es ihnen dagegen vergleichsweise ruhig vorgekommen, obwohl sie an den inneren Rand gepresst und wie in einer riesigen Zentrifuge herumgeschleudert wurden und sich beim Überqueren der Scherströmung an der Grenze von Zone und Gürtel fühlten, als säßen sie auf einem bockenden Pferd.
Der Sturm hatte Guephuthe schwerer getroffen als Nuersotse. Der äußere Äquatorring der Stadt drehte sich hektisch, Teile der peripheren Vororte und der weniger sorgfältig gewarteten Viertel lösten sich und fielen ab wie ein Haufen Splitter. Das Transferschiff, das sie geradewegs zu einem Rangierbahnhof für TunnelWagons außerhalb der eigentlichen Stadt brachte, musste jähe Haken schlagen, um den Trümmern auszuweichen. Ein Bündel ausgefranster Kabel schwankte langsam im Wind hin und her wie eine riesige Anemone.
Eine weitere WolkenTunnelfahrt von mehreren tausend Kilometern durch die Weiten von Gürtel A, die Nördliche Tropische Hochebene und ein zweiter – diesmal ruhigerer – Rad-Transfer nach Zone Zwei schlossen sich an. Als sie die Mittellinie der Zone überquerten, gewann der militärische endlich die Oberhand über den zivilen Verkehr. wagons und Züge voll gepackt mit Menschen, Vorräten und Ausrüstung waren auf dem Weg in den Krieg.
In Tolimundarni am Rand der eigentlichen Kriegszone waren sie von Militärpolizisten aus dem Zug geworfen worden. Die Soldaten hatten sich von Y’suls wortreichen und schon vorsorglich mit flammender Empörung vorgetragenen Argumenten nicht umstimmen lassen. Diese Mission – nein, diese Suchaktion – habe oberste Priorität und sei von höchster Stelle angeordnet worden. Er begleite diese – ja, diese beiden – berühmten und einflussreichen Aliens, es handle sich um hoch geehrte Gäste, bekannt und berühmt im ganzen System und über alle Speziesgrenzen hinweg. Sie seien in einer Angelegenheit von größter Tragweite unterwegs, aber mehr könne er leider selbst so offensichtlich wichtigen Angehörigen der Streitkräfte nicht verraten, obwohl er von ihrer Diskretion natürlich überzeugt sei. Gewiss würden sie dennoch die Bedeutung ihrer Mission verstehen und einsehen, dass sie Anspruch auf freie Passage hätten. Schließlich seien sie Persönlichkeiten von gutem Geschmack, mit einem feinen Gespür für natürliche Gerechtigkeit, Dweller, die sich in keiner Weise davon beeinflussen ließen, dass ihre Kooperation mit einem Kudos-Zuwachs in geradezu unfassbarer …
Da hatten sie schon in der TunnelKnospe geschwebt und den abfahrenden Wagons nachgesehen. Scholisch war durch den echoerfüllten Raum geschossen, um alle herumfliegenden und zu Boden gefallenen Gepäckstücke einzusammeln, die hinter ihnen aus dem Zug geworfen worden waren.
Fassin und Hatherence hatten Y’sul drohend angestarrt.
Der hatte sich erst ausgiebig abgeklopft und seine Kleider zurechtgezupft, bevor er endlich den Blick der beiden bemerkte, stutzte und schließlich gekränkt verkündete: »Ich habe einen Cousin.«
Besagter Cousin war technischer Offizier auf dem Panzerkreuzer Sturmschere, einem Dreißigtürmer bei der 487. ›Donnergroller‹-Flotte der GürtelRotierer. Bindiche, der Cousin, war wegen eines uralten Familienstreits auf Y’sul böse und deshalb nur zu gern bereit gewesen, von seinem innerlich gedemütigten und die Vergangenheit zum Teufel wünschenden, äußerlich aber ungerührten Vetter eine große Menge Kudos dafür anzunehmen, dass er ihm den gewaltigen und auf ewig unvergesslichen Gefallen tat, sich bei seinem Captain für ihn und seine beiden Alien-Begleiter zu verbürgen und ihnen so den Transport in die Kriegszone zu sichern. allerdings erst nach einem kurzen Suborb-Flug in einer an sich nur für Frachten zugelassenen ›Mondschale‹, die in einer Magnetpulsröhre von Hoch-Tolimundarni nach Lopscotte geschossen wurde. (Auch hierbei konnte ihnen Cousin Bindiche mit seinen unendlich wertvollen Verbindungen zum Militär behilflich sein; der elende Spross eines verhassten Onkels speicherte Y’suls widerwillig gespendetes Kudos wie die mächtigen Kondensatoren der Sturmschere elektrische Ladung). Sie rasten über die oberste Wolkenschicht und verbrachten auch eine kurze Zeit im Weltall (ohne etwas davon wahrzunehmen, da es weder Fenster noch einen Bildschirm gab). y’sul klagte die ganze Zeit, entweder über die unglaublich katerähnlichen Nachwirkungen der heftigen Beschleunigung in der Röhre oder darüber, dass er den größten Teil seines Gepäcks hatte zurücklassen müssen, einschließlich all der Kriegsgeschenke von seinen Freunden und fast das ganze neue Kampfoutfit, das er sich hatte anfertigen lassen.
Der Propellerstrom heulte und kreischte. Seher und Colonel sahen den Sklavenkindern bei ihren Reparaturversuchen zu. Fassin kamen die Dweller-Jungen, die sich um die Enden der riesigen Rotorflügel drängten, wie ein Schwarm von besonders hartnäckigen Fliegen an einem Deckenventilator vor.
Dweller-kinder wuchsen im Allgemeinen wie wilde Tiere und ohne jede Liebe auf. Als Mensch musste man fast den Eindruck gewinnen, es liege in der Natur erwachsener Dweller, ihre Jungen am laufenden Band zu misshandeln, und man hätte eigentlich die Pflicht, die Dweller-kinder von ihrem grausamen Schicksal zu erlösen.
In diesem Augenblick ertönte ein schriller Angstschrei, und ein weiteres kind wurde von einem der Riesenflügel geschleudert. Dieser Unglückswurm verfehlte das Schutzgehäuse, knallte aber gegen ein Hochspannungskabel und wurde fast entzwei geschnitten. Ein Dweller kämpfte sich mit seiner Jolle durch den Sog, bis er auf gleiche Höhe mit dem zerschmetterten Körperchen war, und nahm ihm den Schweißbrenner ab. Dann ließ er es fallen. Es versank im Nebel wie ein welkes Blatt.
Dweller gaben ganz unbefangen zu, dass ihnen an ihren Kindern nichts lag. Sie hielten nicht viel von Weiblichkeit und Schwangerschaft und ließen sich nur darauf ein, weil man es von ihnen erwartete, weil es Kudos einbrachte und weil es bedeutete, in irgendeinem Sinn seine Pflicht erfüllt zu haben. Die Vorstellung, sich darüber hinaus womöglich auch noch um die Gören kümmern zu müssen, hielten sie einfach für lächerlich. Schließlich waren sie selbst in ihrer Jugend aus dem Haus geworfen worden und hatten heimatlos umherirren und sich mit organisierten Jagden, Jugendbanden und spezialisierten einsamen Jägern herumschlagen müssen. warum sollte es der nächsten Generation besser ergehen? Die kleinen Mistkerle hatten eine Lebenserwartung von Milliarden von Jahren. Was war dagegen ein Jahrhundert, in dem die Schwachen ausgemerzt wurden?
Die meisten Dweller hätten die Sklavenkinder, die für die Reparaturen am beschädigten Propeller der Sturmschere eingesetzt wurden, als wahre Glückspilze betrachtet. Gewiss, sie lebten in Gefangenschaft und wurden zu unangenehmen und/ oder gefährlichen Arbeiten gezwungen, aber sie waren immerhin halbwegs in Sicherheit, wurden nicht gejagt und bekamen ausreichend zu essen.
Fassin fragte sich, wie viele von den kindern da unten wohl das Erwachsenenalter erleben würden. Würde eines dieser mageren, zitternden Dreiecke in Milliarden von Jahren als uralter, hoch geachteter Weiser enden? Komisch war nur eines: selbst wenn man diesen Ausgang mit Sicherheit vorhersagen könnte, sie würden es nicht glauben. Kein einziges Dweller-kind hielt es auch nur einen Augenblick, auch nur als Arbeitshypothese oder als Diskussionsgrundlage für möglich, dass es je, je, jemals zu einem dieser riesigen, bösartigen, schrecklichen Doppelscheibenwesen heranwachsen würde, von denen sie gejagt und getötet wurden, die sie gefangen hielten und ihnen auf ihren großen Schiffen die schrecklichsten Arbeiten aufbürdeten.
– Seher Taak?
– Ja, Colonel?
Sie waren wieder zu ihrer Privatkommunikation mit polarisiertem Licht zurückgekehrt, damit möglichst niemand mithören konnte. Schon als der Colonel vorgeschlagen hatte, hier heraufzukommen, hatte Fassin vermutet, dass sie ihm etwas Vertrauliches mitzuteilen hatte. Ein normales Gespräch wäre auf der offenen Brücke beim Kreischen des Propellerstroms und dem Dröhnen des Triebwerkschores ohnehin schwer zu führen gewesen.
– Ich möchte Sie schon seit einiger Zeit etwas fragen.
– Nämlich?
– Es geht um das, wonach wir suchen sollen. Ich will nicht ins Detail gehen, auch wenn wir uns über Flüstersignale …
– Nur weiter, Colonel, ermunterte sie Fassin.
– Glauben Sie selbst an das, was Sie damals bei der Besprechung auf Third Fury sagten?, fragte Hatherence. – Als außer Ihnen nur Ganscerel, Yurnvic und ich zugegen waren. Könnte alles, was Sie uns damals berichteten, wirklich wahr sein?
Die Lange Überfahrt, das legendäre ’Loch zwischen den Galaxien, die Liste selbst. – Spielt das eine Rolle?, fragte er.
– Es spielt immer eine Rolle, woran wir glauben.
Fassin läch elte. – Ich möchte Sie etwas fragen. Darf ich?
– Unter der Bedingung, dass wir danach auf meine Frage zurückkommen.
– Glauben Sie an die ›Wahrheit‹?
– In Anführungszeichen?
– Und in Großbuchstaben.
– Aber natürlich.
›Wahrheit‹ war der vollmundige Name einer Religion, des Glaubenssystems, das hinter der Justitiarität, der Cessoria und in gewissem Sinn sogar hinter der ganzen Merkatoria stand. Es war aus der Überzeugung entstanden, das scheinbar wirkliche Leben sei – beruhend auf statistischen Erkenntnissen, die mit frommem Eifer beschworen wurden – eine Simulation innerhalb eines ungeheuren numerischen Substrats in einer größeren und umfassenderen Jenseitswirklichkeit. Der Gedanke spukte in irgendeiner Form in den Köpfen der meisten Wesen und aller Zivilisationen herum. (Die Dweller bildeten interessanterweise eine Ausnahme oder behaupteten es jedenfalls. Was einige Gruppen wiederum veranlasste, ihnen den Status einer Zivilisation gänzlich abzusprechen.) Aber früher oder später ließ sich alle – oder wenigstens fast alle – Welt zu der Einsicht bekehren, ein Unterschied, der keinen Unterschied mache, brauche einen nicht weiter zu kümmern, man könne sein (scheinbares) Leben auch einfach weiterführen.
Die ›Wahrheit‹ ging einen Schritt weiter und vertrat die Ansicht, man könne erreichen, dass dieser Unterschied einen Unterschied mache. Dazu sei erforderlich, dass die Leute in ihrem Herzen, in ihrer Seele und mit ihrem Verstand fest daran glaubten, Teil einer riesigen Simulation zu sein. Sie müssten diese Überzeugung reflektieren, müssten sie unentwegt im Vordergrund ihres Bewusstseins halten, und müssten sich gelegentlich versammeln, um diesem Glauben mit der gebührenden Feierlichkeit und dem nötigen Ernst Ausdruck zu verleihen. Und sie müssten missionieren, um möglichst jeden zu ihrer Ansicht zu bekehren, denn – und darum ging es eigentlich – wenn erst ein ausreichend großer Anteil der Angehörigen einer Zivilisation erkenne, dass sie in einer Simulation lebten, verlöre die Simulation für diejenigen, die sie erstellt hatten, ihren Wert, und alles bräche zusammen.
Wenn alle nur Teil eines riesigen Experiments wären, und die Versuchsobjekte die Wahrheit errieten, dann hätte das Experiment keinen Sinn mehr. Wären diese Objekte aber nur ein Spielzeug, dann müssten sie dafür, dass sie das begriffen hatten, Anerkennung und – vielleicht – sogar eine Belohnung erhalten. Würden sie in irgendeiner Form auf die Probe gestellt, dann wäre die Erkenntnis ein positives Ergebnis, das ebenfalls eine Belohnung rechtfertigte. Sollten sie aber bestraft worden sein, weil sie in jener größeren Welt ein Verbrechen begangen hatten, dann müsste ihre Einsicht in die wahren Gegebenheiten Anlass sein, sie in Gnaden wieder aufzunehmen.
Wie groß der Anteil der Erleuchteten an der simulierten Bevölkerung sein müsste, um alles zum Stillstand zu bringen (vielleicht fünfzig Prozent, vielleicht viel weniger oder auch viel mehr), wusste niemand, aber solange ihre Zahl noch wachse, nähere sich das Universum der Epiphanie immer weiter an, und der Augenblick der Erkenntnis könne jederzeit kommen.
Die ›Wahrheit‹ bezeichnete sich mit einer gewissen Berechtigung als die ultimative Religion, den endgültigen Glauben, die letzte aller Kirchen. Sie sei das alles übergreifende System, das alle anderen Konfessionen in einen Kontext stellen, erklären und in sich aufnehmen könne. Letztlich ließen sie sich alle als emergente Phänomene der Simulation selbst begreifen und verwerfen. Das gelte in gewissem Sinn auch für die ›Wahrheit‹ selbst, aber sie hätte anders als die anderen auch dann noch etwas zu sagen, wenn dieser gemeinsame Nenner aus der Gleichung entfernt würde.
Auch konnte sie mit mehr Recht als alle anderen den Titel einer Universalreligion beanspruchen. alle großen Religionen beschränkten sich entweder auf die Spezies, in der sie entstanden waren, ließen sich auf eine einzige Spezies – oft sogar nur eine Untergruppe – zurückführen oder waren gezielt entwickelt worden, indem man eine Reihe von halbwegs ähnlichen Religionen unterschiedlicher Herkunft mischte oder eine Synthese aus ihnen bildete.
Da sich die ›Wahrheit‹ nicht auf Wunder (jedenfalls keine belegten Wunder) berief und auch nicht das Werk eines einzelnen, unersetzlichen Propheten war (sie war wie aus dem Nichts in einer Vielzahl verschiedener Zivilisationen entstanden) konnte sie als die erste wahrhaft postwissenschaftliche, panzivilisatorische Religion gelten – zumindest war sie die erste, die nicht einfach von einer Hegemonie den besiegten Untertanen gegen ihren Willen aufgezwungen worden war. Die ›Wahrheit‹ konnte sogar leugnen, überhaupt eine Religion zu sein, um sich bei denen anzubiedern, die nicht von Natur aus religiös waren. Man konnte sie auch als Philosophie betrachten, sogar als wissenschaftliches Postulat, gegründet auf statistische Wahrscheinlichkeiten, die durch nichts zu erschüttern waren.
Die Merkatoria hatte das ganze System einfach übernommen, angemessen codifiziert und zur Staatsreligion der gegenwärtigen Epoche erhoben.
– Sie sind nicht gläubig, Fassin? Das Signal des Colonels vermittelte Traurigkeit.
– Ich schätze die intellektuelle Kraft der Argumente.
– Aber der Glaube ist nicht allezeit fest in Ihrem Bewusstsein verankert.
– Bedauere. Nein.
– Nehmen Sie es nicht tragisch. Gelegentlich fällt es uns allen schwer. vielleicht können wir uns später einmal ausführlicher darüber unterhalten.
– Das hatte ich befürchtet.
– Kehren wir also zu meiner Frage zurück.
– Ob ich an das ganze Zeug glaube?
– Richtig.
Fassin sah hinab auf das Schiff, die mächtige Konstruktion aus dröhnenden Triebwerken, wirbelnden Rotoren und Verstrebungen. Die Lange Überfahrt: dreißig Millionen Jahre von einer Galaxis zur anderen.
– Die Vorstellung, die Dweller hätten irgendetwas gebaut, was eine Reise dieser Länge überdauern könnte, strapaziert meine Glaubensbereitschaft ganz gehörig, gestand er.
– Die Behauptung, die Reise nach draußen sei so viel schneller vonstatten gegangen, scheint mir ebenfalls ins Reich der Phantasie zu gehören.
Ach ja, das große intergalaktische Wurmloch – höchstwahrscheinlich ein Mythos.
– Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Colonel. Ich würde nur sagen, auch wenn alles andere Unsinn wäre, könnte das Objekt, nach dem wir suchen, trotzdem existieren.
– Dann befindet es sich in unwahrscheinlicher Gesellschaft.
– Auch darin möchte ich Ihnen nicht widersprechen. Es bleibt dabei: Sie sind ein echter Colonel, ich bin nur ehrenhalber Major, und Befehl ist Befehl.
– Der Eifer, mit dem man seine Befehle auszuführen sucht, könnte davon abhängen, wie sehr man daran glaubt, dass es überhaupt möglich ist, sie erfolgreich auszuführen.
– Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Worauf wollen Sie hinaus?
– Ich sondiere nur, Major.
– Sie wollen wissen, wie engagiert ich bin? Ob ich mein Leben einsetzen würde, um … das Objekt unserer Begierde in die Hand zu bekommen?
– So in etwa.
– Mir scheint, wir sind beide Skeptiker, Colonel. Ich wohl noch mehr als Sie. Und wir halten es für wichtig, unsere Pflicht zu tun. Sie vielleicht mehr als ich. Zufrieden?
– Durchaus.
– Ich auch.
– Ich habe heute eine Nachricht von der Ocula erhalten.
– Tatsächlich?
Wolltest du mir das in jedem Fall sagen, oder hätte ich nichts erfahren, wenn ich bei diesem Gespräch meine Skepsis in Bezug auf die Mission noch deutlicher geäußert hätte? Oder hat dein ›Sondieren‹ nur ergeben, dass du mir jetzt nicht alles sagen wirst?
– Ja. Unsere Befehle bleiben bestehen. Zur Zeit des Anschlags auf den Mond Third Fury gab es weitere Angriffe überall im System. Auch derzeit finden noch kleinere Überfälle statt. Die Kommunikationssatelliten um Nasqueron werden so schnell wie möglich repariert. Inzwischen hat die Navarchie über dem Planeten eine Flotte stationiert, die als Ersatz für die Satelliten fungieren und Sie und mich beschützen und unterstützen soll. Und sie soll uns nach Abschluss der Mission oder in einem Notfall hier abholen.
Fassin überlegte einen Moment.
– Haben Sie etwas von meinem Sept gehört, dem Sept Bantrabal?
– Nein. Es wurde bestätigt, dass auf oder in Third Fury niemand überlebt hat. Leider habe ich auch zu vermelden, dass Meistertechniker Hervil Apsile als tot gilt. Es gibt kein Lebenszeichen vom und keine Verbindung zum Absetzschiff. Die Ocula lässt Ihnen durch mich ihr Bedauern angesichts der ums Leben gekommenen Seher und ihres Personals ausdrücken, und ich schließe mich dem natürlich an.
– Vielen Dank.
Der Colonel antwortete mit einer rollenden Verbeugung, vielleicht war sie auch nur in den Wirbeln des Propellerstroms kurzzeitig aus dem Gleichgewicht geraten.
Unter den Sklavenkindern hatte es keine weiteren Opfer gegeben. Die Reparaturen schienen erfolgreich gewesen zu sein. Selbst da, wo sie noch nicht völlig abgeschlossen waren, vibrierten die beschädigten Rotorflügel nicht mehr so stark, so konnten die restlichen Arbeiten leichter erledigt werden.
– Wie viele Schiffe wollte man nach Nasqueron schicken, um alle diese Aufgaben zu erfüllen? Oder glaubte man, ein kleines Boot und zwei winzige Satelliten würden genügen?
– Davon wurde nichts erwähnt.
Fassin sagte nichts.
Ein fester Glaube an die ›Wahrheit‹ konnte unerwünschte Folgen haben. zum einen bestand damit auch die Möglichkeit, dass mit dem Ende der Simulation alle simulierten Wesen schlagartig zu existieren aufhörten. Wenn das Sim abgeschaltet wurde, starb alles innerhalb des Substrats. Womöglich gab es keine Erhebung, keine Erlösung, keine Rückkehr in ein größeres, besseres, schöneres Draußen: vielleicht stand am Ende nur die Massenvernichtung.
Auch gab es in der (scheinbar) realen Welt Stimmen, die behaupteten, mit der ›Wahrheit‹ sei die Billigung der eigenen Ausrottung verbunden, die Religion ermutige stillschweigend zu Massen-und Völkermord. Ein Weg, um den Prozentsatz an wahren Gläubigen zu erhöhen, mochte Missionierung, Überzeugung und Bekehrung sein, doch eine zweite Möglichkeit bestand logischerweise darin, diejenigen zu dezimieren, die sich standhaft weigerten, die ›Wahrheit‹ anzunehmen – notfalls, indem man sie tötete. Um den Übergang herbeizuführen, der Offenbarung und Erlösung für alle brachte, musste nicht zwangsläufig ein Skeptiker zum Glauben finden, vielleicht genügte es auch, wenn ein hartgesottener Heide seinen letzten Atemzug tat.
Die Sturmschere stürzte in eine mächtige schwarze Wolkenmauer. Ringsum wurde es dunkel. An den Verstrebungen und in den Dweller-Jollen gingen die Lichter an. Bald war nur noch wenig zu sehen, und die aberwitzige, alles übertönende Kakophonie aus Propellerkreischen und Triebwerksdröhnen machte jede akustische Verständigung nahezu unmöglich. Ein Methanschauer prasselte durch die Finsternis.
– Vielleicht sollten wir hineingehen, sagte der Colonel.
– Amen.
Am nächsten Tag wurden Schießübungen veranstaltet, um Geschütze und Mannschaft der Sturmschere ein wenig auf den Krieg einzustimmen. Y’sul, Hatherence und Fassin durften zusehen, mussten aber ganz vorne im Schiff in einer improvisierten Beobachtungskuppel bleiben, einer kleinen Diamantblase, die wie eine Warze auf der gepanzerten Schiffsnase saß. Sie teilten den Raum mit ein paar Dutzend interessierten Zivilisten, zumeist Administratoren der verschiedenen Städte, denen die Sturmschere während der letzten langen Friedensperiode Höflichkeitsvisiten abgestattet hatte. Haus-kinder in Uniform schwebten zwischen den VIPs und reichten Platten mit Speisen und Drogen herum.
Weit vorne schwebte hinter einer Zehn-Kilometer-Lücke in den Wolken ein Zielobjekt, das wie ein kleines, leuchtend blaues Schiff aussah. Es befand sich im Schlepptau eines zweiten mehr als hundert Kilometer entfernten Panzerkreuzers.
Ein heftiger Schauer durchlief die Sturmschere, gleich darauf gab es einen gewaltigen Knall. Unter und über ihnen erschienen Dutzende von Spuren wie Kondensstreifen, riesige Kämme aus dünnen Gaszöpfen rasten vor ihnen her, angeführt von kaum sichtbaren schwarzen Punkten, den Granaten, die dem Ziel zustrebten. In jede Sitzgrube war ein Bildschirm eingelassen, der – wenn er funktionierte – das blaue Ziel in Vergrößerung zeigte; der Hohlkörper erbebte, als ihn die Granaten durchschlugen, und im Rumpf taten sich Löcher auf, die sich aber gleich wieder schlossen.
Von einigen der sonst eher gelangweilt wirkenden Dweller in der Kuppel erhob sich matter Jubel, wurde aber vom Schnippen vielen Greiferfinger gleich wieder übertönt. Die Dienste der Haus-kinder wurden verlangt.
»Ich habe nie gefragt«, sagte Hatherence und neigte sich zu Y’sul, der aus einem qualmenden Stopfrohr violette Rauchschwaden einsaugte. »Worum geht es denn eigentlich bei diesem Krieg?«
Y’sul fuhr hektisch herum und hatte offenbar Mühe, seine äußeren Sinnesregionen auf den Colonel zu richten. »Worum es geht?«, fragte er verwirrt. Der Stopfen am Ende des Rohrs war verbraucht und erlosch mit einem lauten Plopp. »Na ja, Krieg gibt’s doch wohl, wenn zwei, äh, gegnerische Gruppen von … äh … Leuten … äh … das heißt, in diesem Fall von Dwellern, beschließen, miteinander … hm … zu kämpfen. Kämpfen! Ja, gewöhnlich weil irgendwas strittig ist, und … und sie verwenden dazu Kriegswaffen, bis die eine oder andere Seite – hab’ ich schon gesagt, dass es meistens nur zwei Seiten sind? Ich glaube, das ist die übliche Zahl. So was wie ein Quorum, könnte man sagen. aber …«
»Ich habe Sie nicht nach einer Definition von Krieg gefragt, Y’sul.«
»Nicht? Na schön. Ich dachte mir schon, dass es bei euch so etwas wahrscheinlich auch gibt. Das ist wohl bei den meisten Spezies so.«
»Ich wollte wissen, um welchen Streitpunkt es geht. Was ist der Grund für den Krieg?«
»Der Grund?«, fragte Y’sul überrascht und rotterte in seiner Sitzgrube so weit wie möglich zurück. Ein neuer Schauer durchlief das Schiff, und eine weitere Salve raste, diesmal von zwei Seiten, dem fernen Ziel entgegen. »Nun«, sagte er und schaute zerstreut den tanzenden Granatenpunkten mit den Gasschwänzen nach. »Nun, einen Grund gibt es ganz sicher …« Er verfiel in unverständliches Gemurmel. Hatherence lehnte sich mit einem Seufzer in ihrem Sitz zurück. Sie hatte wohl eingesehen, dass sie kein weiteres vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen würde, solange er an dem Stopfrohr zog.
– Die Formalkriege der Dweller sind wie Duelle in großem Stil, erklärte Fassin. Der Colonel drehte sich ein wenig in seine Richtung. – Im Allgemeinen geht es um eine ästhetische Streitfrage. Oft sind sie das letzte Stadium eines Planetenplanungsstreits.
– Planetenplanung?
– Häufig kommt es zum Krieg, weil man sich nicht über die Zahl der Gürtel und Zonen einigen kann, die ein Planet haben sollte. Dann stehen sich gewöhnlich Gerade und Ungerade gegenüber.
– Planetenplanung?, wiederholte der Colonel, als hätte sie das Wort nicht richtig verstanden. – Ich hätte nicht gedacht, dass Gasriesen, nun ja, geplant würden.
– Die Dweller behaupten, sie könnten die Zahl der Bänder eines Planeten verändern, sie bräuchten nur ausreichend lange Zeit dafür. Man konnte sie bisher nie zuverlässig dabei beobachten, aber das hindert sie nicht, die Behauptung aufrecht zu erhalten. Es geht ohnehin nicht um die Aktion an sich, sondern um das Prinzip. In was für einer Welt wollen wir leben? Das ist die Frage.
– Gerade oder ungerade?
– Genau. Ein Formalkrieg bringt einfach die Entscheidung.
Wieder eine Salve. Diesmal wurde das Schiff heftig durchgeschüttelt, und als der durchdringende Knall folgte, schrien einige der Sklavenkinder kurz auf. wieder rasten auf allen Seiten die Gasspuren über den Himmel, und vor ihnen bildeten die Gaszöpfe einen kegelförmigen Himmelstunnel.
– Kriege werden auch geführt, wenn man sich nicht einigen kann, welcher GasClipper bei einem Renner welche Wimpelfarbe tragen soll.
– Deshalb ein Krieg? Hatherence schien aufrichtig entsetzt. – Haben die Leute hier noch nie etwas von einem Komitee gehört?
– Oh doch, es gibt Komitees, Versammlungen und Schlichtungsverfahren. Mehr als genug sogar. Aber Dweller dazu zu bringen, eine Entscheidung zu akzeptieren, die ihnen gegen den Strich geht, auch wenn sie zuvor bei ihrem Leben geschworen haben, sich daran zu halten, ist auf allen Welten schwierig. Deshalb schwelen Kontroversen weiter. Der Formalkrieg ist für die Dweller so etwas wie ein Oberster Gerichtshof, ein höchstes Tribunal. Dazu muss man wissen, dass sie nicht über ein stehendes Heer im eigentlichen Sinn des Wortes verfügen. Zwischen den Kriegen kümmern sich Liebhaber oder Amateurclubs um die Panzerkreuzer und die sonstige militärische Ausrüstung. Auch nach Ausrufung eines Formalkriegs passiert nichts weiter, als dass die Clubs größer werden, weil nun auch gewöhnliche Sterbliche beitreten. Die Clubs unterscheiden sich im Auftreten und in der Sprache nicht von Militärbehörden, wie Sie oder ich sie kennen, aber sie haben keinen Rechtsstatus.
Der Colonel schüttelte sich vor Abscheu. – Ist das nicht abartig?
– Bei den Dwellern funktioniert es offenbar ganz gut.
– Das Verb ›funktionieren‹, sendete Hatherence – scheint wie so viele gängige Begriffe eine Bedeutungserweiterung zu erfahren, wenn es in Zusammenhang mit den Dwellern gebraucht wird. Wie wird eigentlich bei diesen abstrusen Konflikten festgestellt, wer Sieger ist?
– Manchmal einfach durch die Zahl der Toten oder die Zahl der zerstörten oder manövrierunfähigen Panzerkreuzer. Im Allgemeinen wird jedoch im Vorfeld eine Eleganzschwelle vereinbart.
– Eine Eleganzschwelle?
– Hatherence, sagte Fassin und sah sie an – haben Sie sich eigentlich überhaupt mit der Lebensweise der Dweller beschäftigt? Sie haben so viel Zeit …
– Ich glaube, der Begriff ist mir einmal untergekommen, aber damals hielt ich ihn einfach für zu phantastisch. Kommt es in solchen Dingen wirklich auf Eleganz an?
– Und wie.
– Sie können sich also nicht darauf verständigen, die Frage, welches Schiff welche Farben führt, in einem Schlichtungsverfahren zu entscheiden, ohne einen Krieg anzufangen, aber sie können sich durchaus darauf einigen, dass dieser Krieg mit einem so schwammigen Begriff wie Eleganz entschieden werden soll?
– Oh, darüber wird nie gestritten. Dafür haben sie einen Algorithmus.
Wieder ging ein mächtiger Ruck durch die Sturmschere. Das Schiff dröhnte wie eine gesprungene Glocke. Dünne Kammstreifen zogen über den Himmel.
– Einen Algorithmus?, fragte der Colonel.
– Eleganz ist ein Algorithmus.
Auf den Schirmen erbebte das blaue Zielschiff unter den Einschlägen mehrerer Granaten. Hatherence warf einen Blick auf Y’sul. der versuchte jetzt, violette Rauchringe zu blasen und einen Randarm hindurchzustecken.
– Und die Führung liegt ausschließlich in den Händen von Clubs?, wiederholte Hatherence. – Von Amateuren.
– Richtig.
– Clubs?
– Große Clubs, Hatherence.
– Und deshalb ist ihre Kriegstechnik auch so katastrophal schlecht?, fragte sie.
– Ist sie das denn?
– Fassin, sendete Hatherence. Jetzt klang es belustigt. – Diese Spezies behauptet, sie würde seit der ersten Woche nach der Reionisierung des Universums existieren und hätte kurz darauf angefangen, diese Kästen von Panzerkreuzern zu bauen. Dieses Ziel befindet sich keine zwölf Kilometer vor uns, und jede Salve besteht aus sechsunddreißig Granaten …
– Dreiunddreißig. Ein Gesch ützturm ist außer Betrieb.
– Egal. Sie treffen dieses im Grunde feste Ziel nur mit jedem zweiten oder dritten Geschoß. Das ist einfach jämmerlich.
– Es gibt Regeln. Formeln.
– Und deshalb besteht man auf einer Artillerie mit einem so lächerlich geringen Wirkungsgrad?
– So könnte man sagen. Lenkgranaten sind verboten, alle Geschütze und Zielsuchsysteme haben auf antiken Plänen zu basieren, für die Panzerkreuzer gibt es keine Düsentriebwerke, für die Geschosse keine Raketentriebwerke, und Teilchen-oder Strahlenwaffen sind nicht gestattet.
– Wie bei einem Duell mit alten Pistolen.
– Jetzt haben Sie es begriffen.
– Und damit wollen sie sich militärisch in Form halten, um für eine Invasion von außen gewappnet zu sein?
– So ist es, bestätigte Fassin. – Wenn man die Technik in Aktion sieht, klingt das wie Prahlerei, nicht wahr? Natürlich behaupten sie, sie hätten irgendwo Hyperwaffen versteckt, Sonnenzerstörer, nur für alle Fälle, und die Fähigkeiten, die sie bei ihren Schießübungen erwerben, ließen sich darauf übertragen, aber …
– Niemand hat diese Waffen jemals gesehen.
– So kann man sagen.
Die Sturmschere feuerte nun ihre großen Antischiffsraketen ab, es sollte wohl eine volle Breitseite mit zwölf Geschossen werden. Elf kleine, schmale Projektile rasten jaulend aus allen Seiten des großen Schiffs – wieder schrien die Sklavenkinder auf, einige ließen sogar ihre Platten fallen – und jagten wie wild gewordene Wurfpfeile auf spiralig verdrehten qualmenden Abgasstrahlen auf die ferne blaue Zieldrohne zu. Zwei Raketen kamen einander zu nahe; jede identifizierte die andere als ihr Ziel, also schwenkten sie aufeinander zu, verfehlten sich, machten in einem schwungvollen Doppelzopf kehrt, flogen sich frontal entgegen, trafen sich und explodierten in einem bescheidenen Doppelfeuerball. Einige Dweller in der Beobachtungskanzel jubelten – vielleicht aus Unachtsamkeit, vielleicht war es auch sarkastisch gemeint.
Für eine dritte Rakete war die Explosion offenbar ein Zeichen, einen Looping nach oben zu beschreiben und geradewegs zur Sturmschere zurückzukehren. »Oh-oh«, sagte Y’sul.
Die Rakete kam aus der Kurve, ihre Bahn flachte sich ab, und sie steuerte, ein kleiner, aber rasch größer werdender Punkt, direkt auf die Nase des Panzerkreuzers zu.
»Sie haben doch Raketenzerstörer?«, fragte Hatherence mit einem Blick auf Fassin.
Mehrere Dweller sahen sich an und stürzten dann auf die Röhre zu, die in die gepanzerte Nase der Sturmschere führte. Am Eingang entstand Gedränge. Die Sklavenkinder, die ebenfalls die Flucht ergriffen, gelangten entweder vor dem großen Ansturm durch die Röhre oder wurden unsanft beiseite geschleudert und wimmerten kläglich.
Der Punkt am Himmel wurde größer.
»Sie brauchen ihr doch nur zu befehlen, sich selbst zu sprengen?« , sagte der Colonel und rotterte zurück. Aus dem Innern ihres Schutzanzugs drang ein schrilles Winseln. Der schreiende, fluchende Dweller-Haufen am Ausgang kam nicht voran. Die Sturmschere setzte zu einer Wendung an, aber sie war hoffnungslos langsam.
»Theoretisch kann man die Rakete zerstören«, sagte Fassin und beobachtete besorgt die immer noch unbewegte Masse vor dem Ausgang. »Es gibt auch Abfanggeschütze für den Nahbereich.« Wieder wurde ein verzweifeltes Sklavenkind aus dem Haufen nach oben geschleudert, prallte schreiend gegen die Decke und fiel leblos auf das Deck, das sich langsam zur Seite neigte.
Die Rakete war jetzt kein großer Punkt mehr, sondern hatte eine eigene Form bekommen. Stumpfe Flügel und ein Leitwerk wurden erkennbar. Die Sturmschere drehte sich quälend langsam weiter. Die Rakete raste ihr auf einer pechschwarzen Abgasspur entgegen. Hatherence schwebte aus ihrer Sitzgrube und näherte sich der diamantverkleideten Nase der Beobachtungskanzel, anstatt sich davon zu entfernen.
– Bleiben Sie zurück, Major, sendete sie. Über und hinter ihnen war ein schreckliches Reißen und Knirschen zu hören, ein Netz von fingerdünnen Fäden durchzog das Gas vor der Schiffsnase, und die Rakete löste sich auf, um erst dann zu explodieren. Irgendwo hinter ihnen feuerte das Abfanggeschütz weiter und zerschlug viele von den größeren glühenden und qualmenden Trümmern, die weiter auf die Sturmschere zustürzten. Als die so entstandenen Splitter die Beobachtungskanzel trafen und durchschlugen, war der Schaden gering, und es gab nur harmlose Verletzungen.
Der Panzerkreuzer brachte sie bis nach Munueyn, eine Ruinenstadt, die in die dunklen, dichten Gase der unteren Atmosphäre abgesunken war. Träge Turbulenzwirbel leckten an ihnen, schwer und lüstern wie eine monumentale Planetenzunge. Die Stadt war ein Meer von Türmen und Achsen, fast verlassen, längst aus der Mode gekommen, ein ehemaliges Sturm-Zentrum, das jetzt so weit abseits lag, dass sich kaum noch jemand dafür interessierte. Munueyn hätte sich Kudos erwerben können, hätte es sich in der Nähe einer Kriegszone befunden, doch innerhalb einer solchen brauchte sie sich darauf keine Hoffnungen zu machen. Eine Fregatte übernahm die Reisenden vom Panzerkreuzer und setzte sie im einstmals viel frequentierten RaumHafen der Stadt ab, einer gigantischen Halle, in der jeder Laut ein Echo erzeugte. Von den ansässigen Vermietern und Fliegern wurden sie wie heimkehrende Helden oder wie Götter empfangen. Sie fanden ein Gästehaus für negatives Kudos, wo sie tatsächlich dafür bezahlt wurden, dass sie dort abstiegen.
»Meister!«, sagte Scholisch und erhob sich über die Schar von Bittstellern, die unten in dem kleinen Hof warteten. »Ein Hotelier von makellosem Ruf und mit ausgezeichneten familiären Verbindungen im Bereich Reisegenehmigungen in Kriegszeiten bittet dich inständig, dir ein Angebot vorlegen zu dürfen. Er will dir eine richtige Flotte bestehend aus einem Halbdutzend gut ausgestatteter Schiffe zur Verfügung stellen, alle in bestem Zustand, technisch einwandfrei und in weniger als einer Stunde nach Ankunft startbereit.
»Und wann soll das sein, du Flüchlein meines bereits allzu langen Lebens?«
»In einem Tag. Höchstens zwei. versichert er.«
»Kommt nicht in Frage! Ganz und gar ausgeschlossen!«Y’sul erschauerte schon bei der Vorstellung. Er räkelte sich in einer Grube auf der blumengeschmückten Terrasse vor der Taverna Bucolica, so dicht über dem Hauptplatz der Stadt, dass man die Verzweiflung des Bürgermeisters riechen konnte. Man reichte ihm einen Pharmazylinder, er nahm einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und hauchte: »Der Nächste!«
Fassin und der Colonel schwebten nicht weit von ihm. Sie wechselten einen Blick, dann glitt Hatherence näher an Fassin heran.
– Warum machen wir beide uns nicht einfach allein auf den Weg?
– Ganz allein?
– Wir sind beide autark und könnten ein gutes Tempo vorlegen.
– Glauben Sie?
Der Colonel unterzog sein Pfeilschiff einer demonstrativen Musterung. – Ich denke schon.
Du hast doch sicher alle technischen Angaben für das Ding abgerufen, bevor wir Third Fury verlassen haben, und weißt verdammt gut Bescheid, dachte er …
… und sendete: – Wir sollen also zu zweit allein durch die Wolken fegen?
– Richtig.
– Dabei gibt es ein Problem.
– Tatsächlich?
– Tatsächlich sind es sogar zwei. Erstens findet gerade ein Krieg statt, und wir sehen wie zwei Sprengköpfe aus.
– Sprengköpfe? Aber wir erreichen doch nicht einmal Schallgeschwindigkeit!
– Im Formalkrieg ist die Geschwindigkeit für Sprengköpfe streng begrenzt. Wir werden wie Sprengköpfe aussehen.
– Hmm. Und wenn wir etwas langsamer flögen?
– Wie langsame Sprengköpfe.
– Noch langsamer?
– Wie Flugminen. Und bevor Sie weiter fragen, wenn wir noch langsamer fliegen, sehen wir aus wie gewöhnliche monomolekulare Schwebeminen.
Hatherence hüpfte einmal auf und ab. Ein Seufzer. – Sie erwähnten ein zweites Problem.
– Ohne Y’sul wird wahrscheinlich niemand mit uns sprechen wollen.
– Und mit ihm hat niemand eine Chance, zu Wort zu kommen.
– Trotzdem.
Sie brauchten ein eigenes Transportmittel. Wichtiger noch, sie brauchten ein Transportmittel, das ungehindert in die Kriegszone einfliegen durfte. Die Reste von Valseirs alter Behausung lagen zu weit vom WolkenTunnel-Netzwerk entfernt, um sie rotternd oder schwebend erreichen zu können. Y’sul hatte versprochen, eine Lösung zu finden – mit seinen Beziehungen zur Großstadt und zur Äquatorzone und als Begleiter von exotischen Aliens würde er jeden, der ihm helfen konnte, mit positivem Kudos förmlich durchtränken – doch dann hatten sich so viele Helfer gemeldet, dass er in der Masse stecken geblieben war und sich offenbar nicht mehr entscheiden konnte. Jedes Mal, wenn er im Begriff schien, eines der unerhört großzügigen Angebote anzunehmen, erschien schon das nächste, noch verlockendere am Horizont und zwang ihn von neuem zum Überlegen.
Nach zwei Tagen hatte Hatherence endgültig genug und charterte, zu etwas besseren Konditionen, als Y’sul sie soeben abgelehnt hatte, selbst ein Schiff.
Dagegen protestierte Y’sul in der Suite in der Taverna. »Ich führe die Verhandlungen!«, brüllte er.
»Richtig«, stimmte der Colonel zu. »Und zwar viel zu viele.«
Man einigte sich auf einen Kompromiss. Der Colonel gestand dem Vermieter, dass sie nicht berechtigt sei, einen gültigen Vertrag zu schließen, und bevor der entsetzte Schiffseigner zum Protest ansetzen konnte, übernahm Y’sul das Abkommen zu den gleichen Bedingungen. Es war der Tag des offiziellen Kriegsbeginns, ein Anlass, der in Pihirumime auf der anderen Seite der Welt mit einer Eröffnungsgala und einem Formalduell feierlich begangen wurde. am nächsten Tag brachen sie auf – mit dem nächsten Abwärtsstrudel, der auch horizontal in die richtige Richtung wirbelte. Sie flogen mit der Poaflias, einem hundert Meter langen Schraubenbrecher mit zwei Rümpfen, Alter unbekannt, aber wahrscheinlich sehr hoch. Außer dem Captain waren fünf Mann Besatzung an Bord. Das rundliche Schiff war ziemlich langsam, aber – die Gründe waren in den Nebeln der militärischen Logik der Dweller verborgen – immer noch als neutraler Piratenaufklärer registriert und daher berechtigt, in die Kriegszone zu fliegen. Dort würde es hoffentlich alle weiteren Prüfungen bestehen, solange nicht jemand das Feuer eröffnete, anstatt zu verhandeln.
Der Captain hieß Slyne und war erst vor kurzem ins Erwachsenenstadium eingetreten, weshalb er sich noch wie ein feuriger Dweller-Jüngling benahm. Er hatte die Poaflias nach dem Tod seines Vaters geerbt. Die Dweller hielten am Konzept des Kollektiverbes fest. wenn einer von ihnen starb, ging sein rechtmäßig erworbenes Vermögen zu fünfzig Prozent an einen Erben seiner Wahl, die andere Hälfte fiel an die Verwaltungseinheit, in der er gelebt hatte. So kam es, dass sich nur ein Rumpf der zweirümpfigen Poaflias in Slynes Besitz befand. Die andere Hälfte des Schiffs gehörte der Stadt Munueyn, die sie gegen große Mengen Kudos an ihn vermietete. Je weniger Slyne mit dem Schiff tatsächlich anfangen konnte, desto mehr würde er die Kontrolle darüber verlieren, bis sich die Stadt irgendwann mit Fug und Recht als Volleigentümer bezeichnen durfte; dann könnte er nur noch an Bord bleiben, wenn er das Schiff so einsetzte, wie es die Stadt von ihm verlangte. Mit dieser Expedition, die er auf eigene Verantwortung durchführte, hoffte er nun, seinem Ziel, dem Eigentum am ganzen Schiff, einen großen Schritt näher zu kommen.
»Dürfen wir uns deshalb nur auf einem Rumpf aufhalten?«, fragte Hatherence den Captain. Sie befanden sich auf dem Vorderdeck, einem ziemlich wackeligen Gebilde aus Fasern und Folien, das aus der verschrammten Schiffsnase sprießte. Y’sul hatte hier ein Harpunengeschütz entdeckt und wollte seine Begleiter zu einem Wettschießen herausfordern, sobald sie einen geeigneten Abschnitt durchquerten. Die Gegend zwei Tage hinter Munueyn galt offenbar als gutes Jagdrevier – allerdings hatte man bisher noch kein lohnendes Ziel für die Harpune gesichtet.
»So ist es!« Slyne hüpfte aufgeregt über dem Deck auf und ab. »Je weniger ich den zweiten Rumpf benütze, desto weniger schulde ich der Stadt!« Captain Slyne hatte die Rolle des Ausgucks übernommen und suchte nach einem Ziel. Dazu schwebte er hoch über dem Schiff, wo er alles im Blick hatte, und hielt sich an der Takelage fest. Sie machten gute Fahrt durch das mattrote Gas. Slyne brauchte den Halt, um nicht vom Gasstrom nach hinten davongerissen zu werden. Gute Fahrt bedeutete in diesem Fall weniger als ein Viertel der Durchschnittsgeschwindigkeit des Panzerkreuzers Sturmschere, aber das Gas war hier unten dicker und der Strömungswiderstand entsprechend größer.
»Da ist etwas!«, schrie Slyne und zeigte nach Steuerbord.
Alle wandten sich dorthin.
»Nein! Falsch«, rief Slyne vergnügt. »’tschuldigung.«
Slyne nahm seine Rolle als Captain ernst. Er hatte sich mit Unmengen von zumeist nutzlosem, antikem Marinezubehör wie einem Fernglas, einem Höhenmesser, einem museumsreifen Funkgerät, einem zerkratzten Hagelschild, einer blanken Uraltpistole mit Halfter und einem Strahlenkompass ausgerüstet. Seine Kleidung und sein Halbpanzer sahen ziemlich neu aus, aber der Schnitt war antik. An jedem Nabengürtel hingen zwei Haus-Föten.
Haus-Föten waren Dweller-Junge, die sich nicht einmal bis zum kinder-Stadium hatten entwickeln dürfen. Das lag im Allgemeinen daran, dass ein besonders ungeduldiger weiblicher Dweller keine Lust mehr hatte, bis zum Geburtstermin zu warten, und das Junge einfach abtrieb. Die Föten eigneten sich als Haustiere. Dweller waren schon kurz nach der Empfängnis allein lebensfähig, aber die Föten entwickelten sich intellektuell nicht mehr weiter und waren völlig hilflos, wenn sie niemanden hatten, der sie beschützte.
Slynes Vierlinge – die Frage, ob es wirklich seine eigenen waren, wäre taktlos gewesen – sahen aus wie kleine, aufgeblähte Mantarochen mit heller Haut und langen, dünnen, fast nutzlosen Tentakeln. Sie stießen andauernd gegen ihren Herrn, kollidierten miteinander und verhedderten sich in den Haltegurten. Als Mensch empfand Fassin den Anblick natürlich als schockierend, außerdem hatte er das bedrückende Gefühl, die Föten spielten die gleiche Rolle wie einst die Papageien auf der alten Erde.
»Diesmal habe ich wirklich etwas entdeckt!«, rief Slyne und zeigte steuerbords nach unten. Zweihundert Meter entfernt stieg aus den dunkelroten Gastiefen ein kleines schwarzes Objekt empor.
»Ich hab’s!«, brüllte Y’sul und traktierte die Gegengewichte der Geschützplattform mit Tritten und Stößen, bis sie sich so weit neigte, dass er die Harpune nach unten richten konnte.
»Ein Tschuffer-Samen!«, rief Scholisch. »Es ist der Samen eines Tschuffer-Baums!«
»Augenblick mal, Y’sul«, sagte Fassin, hob vom Deck ab und schwebte nach oben. »Ich will mir das genauer ansehen.« Das Gasschiffchen raste von der Poaflias weg und flog in weitem Bogen nach unten, der immer noch langsam steigenden schwarzen Kugel entgegen.
»Aus dem Weg!«, schrie Y’sul dem Menschen zu. Fassin hatte Y’suls Schießkünste schon vorher beobachtet und darum vorsichtshalber die Kurve beschrieben.
»Bitte warte noch!«, rief er zurück.
Y’sul schüttelte sich, richtete das Geschütz auf die schwarze Kugel und legte seine Greiferfinger um den Abzug.
Oben in der Takelage beugte Slyne sich vor. Zwei seiner Föten wickelten sich um ein Stag und hielten ihn fest. Er schaute nach oben, schnalzte besorgt mit der Zunge, hielt sich das Fernglas vor einen Teil seines Sensorsaums, der besonders dicht mit Rezeptoren besetzt war, und betrachtete den schwarzen Ball. »Äh … eigentlich …«, begann er.
Hatherence hüpfte plötzlich in die Höhe.»Y’sul! Aufhören!«
»Ha-ha!«, lachte Y’sul, zog den Abzug durch und feuerte. Die Plattform erbebte, das Geschütz machte einen Satz und fiel mit lautem Krach zurück. Sobald sich die Harpune in sicherem Abstand befand, sprangen die beiden Raketenmotoren heraus und zündeten, und aus einem Fach unter der Plattform schoss pfeifend die dünne schwarze Leine, die mit dem Projektil verbunden war. Die Harpune raste durch das Gas auf die Stelle zu, wo sich das schwarze Objekt in wenigen Sekunden befinden würde. »Hmm«, machte Y’sul. Es klang ein wenig überrascht. »Einer meiner besseren …«
»Es ist eine Mine!«, brüllte Slyne.
Scholisch schrie aus Leibeskräften.
– Fassin, Sie müssen weg von diesem Ding!, sendete Hatherence.
Das Gasschiffchen wendete sofort und strebte mit schwirrenden Rotoren nach oben.
»Wie? Was?«, fragte Y’sul.
Slyne zog seine Pistole aus dem Halfter und zielte auf die Harpune. Die Waffe blockierte nach dem ersten Schuss.
»Könnte es eine Atommine sein?«, rief der Colonel. Ein schrilles Winseln drang aus ihrem Schutzanzug.
»Unbedingt!«, stieß Slyne hervor. Er schüttelte fluchend die Pistole, dann schlug er auf sein Funkgerät. »Maschinen! Volle Kraft zurück!« Wieder schüttelte er die Waffe. »Verdammte Skrits!«
Hatherence warf sich zur Seite.
Y’sul schaute auf die Harpune, die genau auf die schwarze Kugel zufiel, und dann auf die Geschützplattform. »Scholisch!«, bellte er. »Schnapp dir die Leine!«
Scholisch stürzte sich auf die sirrenden schwarzen Schlingen, die aus dem Fach unter dem Geschütz gezogen wurden, bekam das Seil zu fassen und wurde sofort auf die Seitenwand zu gerissen. Er brach durch die Stützen, verhedderte sich in der Trosse und wurde jäh gestoppt, bevor ihn der Gasstrom weiter hinten auf das Deck schleuderte. Sobald die Harpune von der Leine befreit war, wurde sie noch schneller und hielt weiter auf die Mine zu. Hatherence entfernte sich von der Poaflias. Fassins Pfeilschiff befand sich noch in der Wendung, beschleunigte weiter, war aber der Mine immer noch näher als das Schiff.
»Verdammte Sch…«, sagte Y’sul.
Ein roter Blitz spülte das Gas ringsum einfach weg.
Jetzt bin ich tot, konnte Fassin gerade noch denken.
Ein schmaler, rosa-weißer Feuerfächer schoss aus Colonel Hatherences Schutzanzug und erfasste die Harpune in voller Länge. sie verschwand in einer Wolke aus Hitze und Licht. Um die Detonation herum breitete sich deutlich sichtbar eine kugelförmige Schockwelle aus und erfasste die Mine …
… Die stutzte kurz, schien zu überlegen, dann setzte sie ihren Weg unbeirrt fort. Die Schockwelle erschütterte das Schiff und alle, die sich darauf befanden. Auch Fassin spürte sie. Er wurde langsamer und drehte sich um. Die Poaflias hatte nach Slynes letztem Befehl ihre Geschwindigkeit verringert. Der Gasstrom war schwächer geworden, aber immer noch stark genug, um Scholischs ramponierten Panzer in den schwarzen Seilschlingen immer wieder auf das Deck zu schleudern.
Y’sul hatte sich umgedreht und fragte kleinlaut: »Scholisch?«
»Was die Raumfahrenden Spezies mehr als alles voneinander unterscheidet, ist das Zeitempfinden. wir als Dweller verfügen natürlich über ein sehr breites Chronosensorium, das fast das ganze Spektrum abdeckt. Die Maschinen-›Schnellen‹ schließe ich dabei aus.« Kurzes Zögern. »Ihr verabscheut sie doch immer noch?«
»Aber gewiss doch!«, rief der Colonel.
»Sie werden gnadenlos verfolgt«, sagte Fassin.
»Hmm. Bei ihnen sieht es selbstverständlich anders aus. Doch auch wenn man nur die Spezies betrachtet, die sich natürlich entwickelt haben, stellen all die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen die Zeit wahrgenommen wird, nach Meinung vieler die einzige wahrhaft aussagekräftige Unterscheidung zwischen Spezies und Speziestypen dar.«
Der Sprecher war ein alter Weiser namens Jundriance. Bei den Dwellern gab es bis zu neunundzwanzig verschiedene Alterskategorien, die mit dem kind anfingen und – nicht weniger (und meist viel mehr) als zwei Milliarden Jahre später mit dem KIND endeten. Dazwischen lagen die kurzen Adoleszenz-und Jugendperioden, die einiges längere, in drei Phasen unterteilte Erwachsenenperiode, die Reifeperiode mit ihren vier Phasen, die Schwellen periode mit dreien und schließlich, falls der Dweller dieses Alter (im Minimum ein ein Viertel Millionen Jahre) erreichte und von seinesgleichen für würdig erachtet wurde, die Weisenperiode, in der sich sämtliche Phasen der Erwachsenen-, reife-und Schwellenperioden noch einmal wiederholten. Theoretisch war Jundriance ein Chice in der Reifephase der Weisenperiode. Er war dreiundvierzig Millionen Jahre alt und auf einen Durchmesser von sechs Metern geschrumpft. Sein Panzer war nachgedunkelt und hatte die trübe Patina des mittleren Alters angenommen, und er hatte die meisten seiner Gliedmaßen verloren. Dieser Dweller hütete, was vom Haus und den angeschlossenen Bibliotheken des für tot erklärten Schwellen-Choal Valseir noch übrig war.
Zu normalen Zeiten war die Aussicht vor den Fenstern immer die gleiche: ein dunstiges Band aus tiefbraunen und violetten Gasschleiern in einem großen senkrechten Zylinder unbewegter Dunkelheit, dem letzten Echo des großen Sturms, um den sich das Haus einst gedreht hatte wie ein winziger Planet um eine kalte Riesensonne. von außen gesehen bestand der Komplex aus Wohntrakt und Bibliothek aus zweiunddrei ßig Sphären, jede etwa siebzig Meter im Durchmesser, viele am Äquator von Balkonen umgeben, ein Blasenhaus, das aussah wie eine Schar von unwahrscheinlich dicht aufeinander getürmten Ringplaneten. Es schwebte nur wenige Kilometer über der Region, wo sich die Atmosphäre mehr wie eine Flüssigkeit verhielt als wie ein Gas, in einer ausgedehnten, dicken Gasschicht, und sank ganz langsam hinab in die dunklen, heißen Tiefen.
»Das ist also sein Haus?«, hatte der Colonel gefragt, als das Gebäude zum ersten Mal vor dem Vorderdeck der Poaflias aufgetaucht war.
Fassin hatte sich umgesehen und mit seiner Schall-und Magnetsensorik nach dem Abschnitt des verfallenen WolkenTunnels gesucht, an dem das Haus früher verankert gewesen war, aber der war offenbar nicht mehr in der Nähe. Die Lagepläne der Poaflias hatte er bereits konsultiert. Das Stück WolkenTunnel war auf den Holokarten der Umgebung nicht verzeichnet, was bedeutete, dass es sehr weit abgetrieben oder – wahrscheinlicher – in die Tiefe gestürzt war.
»Ja«, sagte er. »Sieht ganz danach aus.«
Die Poaflias hatte wenden und nach Munueyn zurückfliegen müssen, um den schwer verletzten Scholisch in ein Krankenhaus zu bringen. Die Ärzte hatten ihm eine fünfzigprozentige Überlebenschance gegeben. Am besten würde die Heilung vonstatten gehen, wenn man ihn für einige hundert Jahre in ein Drogenkoma versetzte. Mehr könnten sie nicht tun.
Y’sul bekam zahllose Angebote von Dwellern in der Jugend-oder Adoleszenzperiode, die nur zu gern die Stelle seines verkrüppelten Dieners eingenommen hätten, aber er lehnte sie alle ab – eine Entscheidung, die er nur einen Tag später wieder bereute, als sie sich abermals auf den Weg machten und er feststellte, dass er nun niemanden mehr hatte, den er anbrüllen konnte.
Sie hatten die Strecke unter Umgehung aller Gefahren, anderer Schiffe und Minen jeder Art in zehn Tagen zurückgelegt. Der Weise Jundriance wurde von Nuern und Livilido betreut, zwei stämmigen Dienern in der Reifeperiode, die in aufwändig verzierten, aber schlecht sitzenden Gelehrtenroben steckten. Sie waren alt genug, um eigene Diener zu haben: ein halbes Dutzend außerordentlich schweigsame Erwachsene, die wie eineiige Sechslinge aussahen, eifrig umhereilten, aber in ihrer Schüchternheit an Autisten erinnerten.
Nuern, der ältere der beiden Diener – ein Mouean, Livilido, ein Suhrl, stand eine Stufe unter ihm – hatte sie empfangen, ihnen ihre Zimmer zugewiesen und ihnen erklärt, sein Herr sei damit beschäftigt, die verbliebenen Werke in den Bibliotheken zu katalogisieren. wie Y’sul bereits vermutet hatte, war ein großer Teil des Inhalts nach Valseirs Unfall wahllos verteilt worden. Wahrscheinlich war es nur der Abgeschiedenheit des Hauses zu verdanken, dass nicht noch mehr Gelehrte aufgetaucht waren, um die Überreste zu durchsuchen. Jundriance befinde sich jedoch in ›Langsam‹-Zeit, wenn sie also mit ihm sprechen wollten, müssten sie sich seinem Denktempo anpassen. Fassin und der Colonel hatten sich dazu bereit erklärt. y’sul hatte verkündet, für ihn komme das nicht in Frage. Er wollte mit der Poaflias eine Spritztour in die nähere Umgebung unternehmen und vielleicht ein wenig auf die Jagd gehen.
»Eigentlich wären Sie verpflichtet, auf uns zu warten«, hatte ihm der Colonel erklärt.
»Verpflichtet?«, hatte Y’sul gefragt, als höre er das Wort zum ersten Mal.
Jundriance wurde durch eine Nachricht auf seinem Bildschirm in Kenntnis gesetzt, dass er Besuch hatte. währenddessen hatten die beiden mindestens einen Tag zur freien Verfügung. Falls er sie sofort empfangen wollte, konnten sie die Bibliothek noch vor dem Dunkelwerden betreten. wenn nicht, konnte es lange dauern …
»Colonel«, hatte Fassin vermittelt, »wir werden für eine Weile auf ›Langsam‹ schalten müssen. warum soll sich Y’sul nicht inzwischen in der Nähe …« – bei den letzten Worten hatte er sich umgedreht und Y’sul eindringlich angesehen – »amüsieren, anstatt in diesem Haus herumzuhängen.«
– Er wird sich nur in Schwierigkeiten bringen.
– Anzunehmen. Aber was ist besser, Schwierigkeiten im Haus, oder Schwierigkeiten außerhalb?
Hatherence hatte leise vor sich hingegrollt, dann hatte sie Y’sul streng erklärt: »Wir sind hier im Kriegsgebiet.«
»Ich habe die Netze abgehört!«, hatte Y’sul protestiert. »Der Krieg ist tausende von Kilometern entfernt.«
»Tatsächlich?« Nuern hatte aufgehorcht. »Hat er schon angefangen? Der Meister gestattet keine Nachrichtenverbindungen innerhalb des Hauses. wir erfahren gar nichts.«
»Schon vor zwölf Tagen«, hatte Y’sul geantwortet.»Wir waren bereits mittendrin. Auf dem Weg hierher hätte uns beinahe eine intelligente Mine erwischt. Mein Diener wurde schwer verletzt, womöglich stirbt er.«
»Eine intelligente Mine? Hier in der Nähe?«
»Deine Sorgen sind berechtigt, mein Freund«, hatte Y’sul in feierlichem Ton verkündet. »Hier fliegt allerlei herum, und das ist ein weiterer – sogar der eigentliche – Grund, warum ich mit meinem Schiff die Gegend absuchen möchte.«
»Und dein Diener wurde verletzt? Wie schrecklich.«
»Ich weiß. Kriege sind schrecklich. Davon abgesehen haben die Feindseligkeiten bisher kaum so viele Opfer gefordert, wie mein Rücken Gliedmaßen hat. auf jeder Seite zwei manövrierunfähige Panzerkreuzer. Man kann wirklich noch nicht sagen, wer gewinnt. Ich lasse meinen Sensorsaum auf Empfang und halte euch auf dem Laufenden.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
– Sie haben Recht, hatte Hatherence während dieses Gespräches signalgeflüstert. – Wir sollten ihn gehen lassen.
– Können Sie mit Ihrem Schutzanzug Signalkontakt zum Schiff halten, während Sie auf ›Langsam‹ laufen?
– Ja.
– Gut.
Fassin hatte sich an Y’sul gewandt. »Du bleibst doch in der Nähe?«, hatte er ihn ermahnt. »Du lässt nicht zu, dass sich die Poaflias zu weit entfernt?«
»Natürlich! Ich schwöre es! Und ich werde diese beiden Prachtkerle hier bitten, euch an meiner Stelle in jeder Hinsicht zu Diensten zu sein.«
Jundriance empfing sie sofort. Nuern hatte sie in eine der äußeren Bibliothekskugeln geführt. Die Bibliothek hatte ein Dach aus Diamantplättchen, durch das man direkt in den zinnoberroten Himmel sehen konnte. Jundriance saß in einer Schreibgrube etwa in der Mitte des nahezu kugelförmigen Raums vor einem Leseschirm. An den Wänden standen Regale, manche so breit, dass ein Mensch darin hätte schlafen können, andere so schmal, dass kaum ein Kinderfinger darauf gepasst hätte. Die meisten enthielten Bücher irgendwelcher Art. In Karussellregalen, die horizontal zwischen die Wände oder vertikal zwischen den Boden geklemmt waren, lagerten hunderte von anderen Speichermedien: S-Wellen-Kristalle, Holoscherben, Pikospulen und viele noch ausgefallenere Systeme.
Fassin und Hatherence waren durch die dichte Atmosphäre zu Jundriance und seinem Schreibtisch geschwebt. Nuern hatte für Sitzgruben gesorgt, und die beiden hatten sich niedergelassen, wobei Hatherence es so eingerichtet hatte, dass Fassin sich zwischen ihr und dem Weisen befand. Jundriance ließ natürlich nicht erkennen, dass er sie überhaupt bemerkt hatte.
Dann hatten sie auf ›Langsam‹ geschaltet. Das war Fassin viel leichter gefallen als Hatherence. Er hatte seit Jahrhunderten Übung darin, während sie die Technik zwar erlernt, aber noch nie in der Praxis angewendet hatte. So gelang es ihr erst nach einer anstrengenden Rüttelpartie, sich zusammen mit Fassin an das Tempo des Weisen anzugleichen.
Es wurde rasch dunkel, und die Nacht dauerte scheinbar weniger als eine Stunde. Fassin konzentrierte sich darauf, seine Verlangsamung möglichst gleichmäßig zu gestalten, ohne dass ihm entgangen wäre, wie unruhig der Colonel in ihrer Sitzgrube hin und her rutschte. Dann regte sich der Weise Jundriance. Als es Morgen wurde, hatte sich auf dem Bildschirm tatsächlich etwas verändert. Eine neue Seite war erschienen. Der Tag verging schnell, die nächste Nacht noch schneller. Sie verlangsamten weiter, bis sie einen Faktor von eins zu vierundsechzig erreicht hatten. Hier sollte sich Jundriance mit ihnen treffen – vor ihrer Ankunft war er noch langsamer gewesen.
Etwa auf halbem Wege hatte ein Flüstersignal das kleine Gasschiff erreicht. – Können Sie mich empfangen, Major?
– Ja. Warum?
– Ich habe eben den Lesebildschirm abgefragt. Er lief bis zur Ankunft der Poaflias in Echtzeit.
– Sind Sie sicher?
– Absolut.
– Interessant.
Endlich waren sie am Ziel, ihr Lebenstempo war mit dem des Weisen synchron. Über ihnen flackerten langsam, langsam die kurzen Tage vorbei, der orange-violette Himmel über der Diamantfolie wechselte zwischen Hell und Dunkel hin und her. Auch jetzt hingen die mächtigen Gasschleier noch scheinbar reglos über ihnen am Himmel. Fassin erging es wie immer, wenn er bei einem Trip zum ersten Mal auf ›Langsam‹ schaltete, er hatte das beunruhigende Gefühl, eine verlorene Seele in einem tiefen Kerker zu sein, ein Gefangener der Zeit, dem draußen, weit über ihm in einer anderen Welt, das Leben davonlief.
Jundriance hatte sich von seinem Leseschirm abgewandt, um sie zu begrüßen. Fassin hatte eigentlich nach Valseir gefragt, aber irgendwie waren sie auf das Thema Lebenstempo gekommen.
»Die ›Schnellen‹ sollten einem wohl Leid tun«, sagte der Weise. »Sie scheinen in diesem Universum nicht am rechten Platz zu sein. Die weiten Wege zwischen den Sternen, die Zeit, die man braucht, um von einem System zum anderen zu reisen … Und wenn man erst an die Entfernungen zwischen den Galaxien denkt …«
Eine Pause trat ein. »Natürlich«, sagte Fassin, um sie zu füllen. Wonach willst du mich aushorchen, alter?, dachte er.
»Die Maschinen waren natürlich noch viel schlimmer. Es muss doch unerträglich sein, so schnell zu leben.«
»Inzwischen leben die meisten gar nicht mehr, Weiser«, sagte Fassin.
»Vielleicht ist das ganz gut so.«
»Weiser, können Sie uns mehr über Valseirs Tod erzählen?«
»Ich war nicht dabei. Ich weiß nicht mehr als du.«
»Sie waren mit ihm … befreundet?«
»Befreundet? Nein. Nein, das würde ich so nicht sagen. Wir hatten über die Verifizierung von Texten und ihre Herkunftsbestimmung korrespondiert und Ferndebatten über verschiedene akademische Fragen und Interpretationsmöglichkeiten geführt, aber nicht regelmäßig. Persönlich haben wir uns nie kennen gelernt. würdest du das als ›Freundschaft‹ bezeichnen?«
»Wohl eher nicht. aber dann frage ich mich, was Sie hierher geführt hat.«
»Oh, ich wollte mir seine Bibliothek ansehen und so viel wie möglich an mich nehmen. Deshalb bin ich hier. Seine Diener haben einiges an Material fortgeschafft, bevor sie gingen, dann kamen andere – zumeist Wissenschaftler oder Leute, die sich als solche bezeichnen – und bedienten sich, aber es ist immer noch vieles geblieben. Die größten Schätze sind zwar nicht mehr da, aber vielleicht findet sich doch noch so manches Kleinod, das man sich nicht entgehen lassen sollte.«
»Ich verstehe. Und was geschieht mit Valseirs Bibliotheken? Wie ich hörte, wollen Sie die Katalogisierung fortsetzen?«
Eine Pause. »Fortsetzen. Ja.« Der alte Weise mit dem dunklen Panzer starrte auf den schwarzen Leseschirm. »Hmm«, sagte er, drehte sich ein wenig zur Seite und sah Fassin an. »Mal sehen. In welchem Sinn verwendest du das Wort ›fortsetzen‹?«
»Valseir soll dabei gewesen sein, seine Bibliotheken zu katalogisieren. Ist das nicht richtig?«
»Er war immer so verschwiegen. Nicht wahr?«
– Ich fange Streustrahlung von Lichtbotschaften auf, sendete Hatherence.
– Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie gleich wieder etwas empfangen.
»Und er trödelte gern. Hapuerele sagte immer, eher würde Valseir den Segelcup ›Alle Stürme‹ gewinnen als jemals die Katalogisierung seiner Bibliothek abzuschließen.«
Wieder eine Pause. »Ganz recht, ganz recht. Hapuerele, jawohl.«
– Streustrahlung. Hapuerele existiert nicht?
– Doch, aber er musste sich eben nach ihm erkundigen. Hätte er besser nicht getan.
»Ich würde mich gern selbst in einigen der Bibliotheken umsehen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen. Ich werde Sie nicht stören.«
»Ach so. Ich verstehe. Nun, wenn du diskret sein kannst. Suchst du nach etwas Bestimmtem, Seher Taak?«
»Gewiss. Und Sie?«
»Ich will nur mein Wissen mehren. Darf ich fragen, was dein Anliegen ist?«
»Genau das gleiche.«
Der alte Dweller schwieg eine Weile. In Echtzeit verging fast eine volle Stunde. »Vielleicht habe ich etwas für dich«, sagte er endlich. »Könntest du noch etwas ›langsamer‹ werden? Dieses unser derzeitiges Tempo mag dir bereits überwältigend langsam erscheinen; für mich ist es dagegen ziemlich anstrengend.«
»Natürlich«, nickte Fassin.
– Weiter kann ich Sie nicht begleiten, Major.
– Sie Glückspilz. Ich werde mich bemühen, es kurz zu machen.
– Viel Glück, sendete Hatherence.
»Ich kann nicht weiter mitkommen«, teilte der Colonel auch dem Weisen mit.
»Es war mir ein Vergnügen, dich kennen zu lernen, ehrenwerter Colonel«, erklärte Jundriance. »Und nun«, wandte er sich an Fassin, »mal sehen. Ich denke, die Hälfte dieses Tempos wäre mir angenehmer, Seher Taak. Noch besser wäre ein Viertel.«
»Vielleicht können wir es zunächst mit der Hälfte versuchen?«
In nur drei Tagen war er zurück. Hatherence war dabei, den Inhalt einer anderen Bibliothek zu inspizieren, als er sie fand. Der Raum war fast vollkommen kugelförmig und hatte keine Fenster, nur durch einen Kreis im Zentrum der Decke drang ein matter Lichtschein, und in jedem Regalbrett sorgten zwei eingelegte Biostreifen, die gespenstisch grün leuchteten, für eine gewisse Helligkeit. Säulenregale, geformt wie riesige, nach innen zeigende Flügelräder, verliehen dem Raum ein seltsam organisches Flair, sie wirkten wie Rippen im Innern eines riesigen Lebewesens. Der Colonel schwebte neben einem der schmalen Regale fast im Zentrum. Auch ihren Schutzanzug zierten grüne Leuchtstreifen.
»So früh schon, Major?«, fragte sie und legte einen schmalen Holokristall zu vielen anderen auf ein Bord zurück. Zugleich sendete sie: – Unser Freund hatte nichts von Interesse zu bieten?
»Der Weise Jundriance gab mir so viel Stoff zum Nachdenken, dass ich mich entschloss, auf normale Geschwindigkeit zurückzugehen, um es zu verarbeiten«, antwortete Fassin und signalflüsterte: – Der alte Bastard hat mir einen Dreck gegeben. Im Grunde versucht er uns nur hinzuhalten.
»Während Sie Konversation machten, habe ich Forschungen betrieben.«
»Etwas Wichtiges gefunden?«, fragte er und schwebte zu ihr.
– Manches weist darauf hin, dass vor nicht allzu langer Zeit viele andere Dweller hier wohnten. vielleicht bis vor ein paar Tagen. »Das Haussystem ist offenbar der Meinung, es müsste irgendwo einen Katalog der Kataloge gegeben. Es sollten sogar zahlreiche Exemplare davon herumliegen.«
»Ein Katalog der Kataloge?«, fragte Fassin. – Andere Dweller?
»Der erste Katalog, den Valseir zusammenstellte, und in dem die Einzelwerkskataloge aufgelistet sind, die er danach aufstellen wollte.« – Es könnten bis zu zehn oder zwölf gewesen sein. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Livilido und Nuern mehr oder zumindest anders sind, als sie scheinen.
»Ein Katalog für alles wäre wohl zu einfach gewesen?«, fragte Fassin und sendete: – Mir kamen sie auch nicht wie gewöhnliche Diener vor. wo sind denn nun diese zahlreichen Exemplare?
– Ich habe den Verdacht, jemand hat sie entfernt. Sie wären der Schlüssel zu einer systematischen Suche gewesen, antwortete der Colonel. Laut sagte sie: »Er hielt dieses Vorgehen wohl für logisch. Jedenfalls mangelt es nicht an Material, nicht einmal jetzt, nachdem so viel entfernt wurde. Ein einziger Katalog wäre wohl zu umfangreich geworden.« Der Colonel hielt inne. »Eine einzige große Datenbank mit großzügig dimensionierten Unterdateien, teilweise überlappenden Kategorien und Unterkategorien, einer hierarchisch skalierbaren Querverweisstruktur und eingebauten, halbintelligenten Lernprogrammen für die Anwender wäre natürlich noch sinnvoller und sehr viel nützlicher.«
Fassin sah sie an. »Wahrscheinlich wäre er dazu noch gekommen, nachdem er abgeschlossen hatte, was er unter einer ordentlichen Katalogisierung verstand – alles in einer endgültigen Form niederzulegen, die ohne dazwischengeschaltete Maschinen lesbar ist.«
»Unsere Dweller-Freunde scheinen in solchen Dingen auffallend puristisch zu denken.«
»Wenn man so lange lebt wie sie, wird Zukunftsfestigkeit zur Besessenheit.«
»Vielleicht ist das ihr Fluch. Die ›Schnellen‹ müssen die Frustration ertragen, in einem Universum mit einer aufreizend niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzung zu leben, und die ›Langsamen‹ leiden unter dem hektischen Tempo der Veränderungen, die in einer Art von überzogener Entropie münden.«
Fassin war langsam näher an Hatherence herangeschwebt. Nun kam er zwei Meter vor ihr zum Stehen und kippte ab, um deutlich zu machen, dass er sie ansah. Die leuchtenden Biostreifen auf den Regalborden zeichneten weiche limonenfarbene Linien auf das Gasschiffchen. »Wie fühlen Sie sich da drin, colonel?«, fragte er. »Ich weiß, es ist hier sehr heiß und drückend.« – Colonel, glauben Sie, wir verschwenden unsere Zeit?
»Mir geht es gut. Und Ihnen?« – Schwer zu sagen. Es gibt hier noch so vieles, was man sich ansehen sollte.
»Ebenfalls. Fühle mich sehr ausgeruht.« – Genau das meine ich. Möglicherweise will man uns verleiten, hier mit der Suche nach etwas, das bereits entfernt wurde, unsere Zeit zu vergeuden.
»Meines Wissens eine Nachwirkung der verlangsamten Zeit.« – Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ich hatte, Sie verstehen, anhand der Spuren im Staub und so weiter den Eindruck gewonnen, viele der Regale seien erst vor kurzem gefüllt oder neu gefüllt worden. Und viele der Werke haben nichts mit Valseirs Forschungen zu tun, soweit ich das verstehe. Kam mir sehr merkwürdig vor. Wenn das alles natürlich eine Art Langsamkeitsfalle für Sie und mich sein soll, ergibt es allmählich einen Sinn. Aber was können wir sonst tun? Wo können wir noch hingehen?
»Ich muss noch einmal mit dem Weisen sprechen«, sagte Fassin. »Ich habe so viele Fragen an ihn.« – Tatsächlich werde ich alles tun, um nicht noch einmal mit dem alten Langweiler reden zu müssen. Wir müssen Kontakt zu allen anerkannten Forschern aufnehmen, die Werke von hier mitgenommen haben, und nachfragen, ob einer von ihnen die Kataloge oder sonst etwas hat, was für uns von Bedeutung sein könnte. Es gibt hier zwei Dutzend Einzelbibliotheken; selbst wenn sie nur zur Hälfte gefüllt sind, könnten wir jahrzeh ntelang suchen.
»Er ist eine überaus interessante und kluge Persönlichkeit.« – Mehrere zehn Millionen Werke, und wenn die meisten ungeordnet sind, gibt es keine Ordnung. Ich werde ein Signal an die Poaflias schicken, sie soll eine Nachricht an die einschlägigen Forscher absetzen. Wer könnte ein Interesse daran haben, uns solche Steine in den Weg zu legen?
»Das muss man wirklich sagen.« – Ich habe keine Ahnung.
»Ich werde mich wohl noch eine Weile mit den Regalen beschäftigen. Machen Sie mit?« – Was meinen Sie?
»Warum nicht?«
Sie schwebten zu zwei verschiedenen, aber nicht weit voneinander entfernten Säulen, jeder schnappte sich ein Holokristallbuch von dem rutschfesten Bord und vertiefte sich darin.
»Sein Arbeitszimmer?«, fragte Nuern. Sein Flossensaum zuckte, ein Zeichen, das er Livilido einen Blick zuwarf. Sie waren bei Tisch. Die beiden Diener hatten Fassin und Hatherence zu einem halb offiziellen Essen im Speisezimmer des Hauses eingeladen, einem düsteren Raum von der Form eines Rieseneis, in dem jeder Laut widerhallte. Vom Boden bis zur Decke spannten sich mächtige Carbonfasertrossen. Jede Trosse war zu immer dünneren Stricken, Fasern, Fäden und Filamenten aufgedröselt, die wieder penibel zu vielen dünnen Seilen verknotet waren, so dass man sich vorkam wie in einem riesigen fransigen Netz.
Jundriance war immer noch stark zeitverlangsamt und nahm an dem Essen nicht teil. Man hatte spezielle Speisen zubereitet, die auch für den Colonel geeignet waren. Sie saugte sie über eine Art Gasschleuse an der Seite ihres Schutzanzugs ein. Fassin war nur als Zuschauer gekommen, sein Pfeilschiff versorgte ihn mit allem, was er brauchte.
»Ja«, sagte er. »Wo könnte es wohl sein?«
»Ich dachte, Bibliothek Eins sei sein Arbeitszimmer gewesen«, sagte Nuern, nahm sich eine zweite Portion einer leuchtenden mattblauen Masse vom Karussell in der Mitte und drehte die Platte langsam zu seinen beiden Tischgenossen weiter.
»Das dachte ich auch«, sagte Livilido und sah Fassin an. »Gab es tatsächlich noch ein anderes? Vielleicht ist ein Stück des Gebäudes abgefallen?«
Fassin hatte sich in allen Bibliothekssphären umgesehen. Bibliothek Eins war zwar Valseirs offizielles Arbeitszimmer gewesen, wo er andere Gelehrte und sonstige Besucher empfangen hatte, aber nicht sein wirkliches Arbeitszimmer, seine Bude, sein privater Rückzugsraum, zu dem nur sehr wenige Auserwählte Zutritt gehabt hatten. Fassin hatte es als große Ehre empfunden, als ihn Valseir in das Nest im Innern der verlassenen WolkenTunnel-Röhre einlud, an der bei seinem letztem Besuch vor mehreren Jahrhunderten der Rest des Hauses verankert gewesen war. Bibliothek Eins sah noch genauso aus wie damals, nur fehlten ein paar tausend Bücherkristalle und ein großer, zylinderförmiger Kühlschrank, in dem Valseir Bücher aus Papier und Plastik aufbewahrt hatte. Jedenfalls hatte es nicht den Anschein, als wäre der Raum in der Zwischenzeit zu Valseirs wirklichem Arbeitszimmer geworden. Und jetzt wollten die Diener angeblich nicht einmal wissen, dass es so ein privates Reich überhaupt gegeben hatte.
»Ich dachte, er hätte noch ein anderes Arbeitszimmer«, sagte Fassin. »Hatte er nicht ein Haus in … was für eine Stadt war es doch noch? Guldrenk?«
»Ach ja! Natürlich«, sagte Nuern. »Das muss es sein.«
– Colonel, diese Burschen haben keine Ahnung.
– Den Eindruck gewinne ich allmählich auch.
Bibliothek einundzwanzig (Cincturier/Wölker/Vermischtes) hatte eine Besonderheit, eine Dweller-Geheimtür in Form eines Bücherschranks. Valseir hatte sie Fassin gezeigt, als sich der Mensch nach ihrer ersten Begegnung für längere Zeit bei ihm aufgehalten hatte. Die Tür führte zuerst nach innen zum Zentrum der Traube aus Bibliothekssphären und von dort durch einen kurzen Gang zu einer Lücke zwischen zwei äußeren Sphären und hinaus ins offene Gas. Der Witz – eine verborgene Tür, ein geheimer Gang – bestand darin, dass die verschiedenen Cincturier die Außenseiter der galaktischen Gemeinschaft waren, und dass der Bücherschrank, durch den man in den Geheimgang gelangte, die Aufschrift ›Ausreißer‹ trug.
Nach dem Essen gab Fassin vor, sich in der Bibliothek einschließen zu wollen, um bis tief in die Nacht hinein Regale zu durchforsten. Tatsächlich holte er sich die Protokolle des Haussystems auf den Bildschirm und ging zurück in die Zeit kurz nach Valseirs Segelunfall und seinem angeblichen Tod. Dann tat er etwas, das nicht nur ungewöhnlich, sondern nach den Standards der Merkatoria kaum noch legal und auf Nasqueron im Allgemeinen sinnlos war: Er beschleunigte und jagte die bis zum legalen Maximum hochgerüsteten Computer des Gasschiffs und sein eigenes leicht modifiziertes Nervensystem bis an die Grenzen ihrer Datenverarbeitungskapazität hoch. Dennoch brauchte er fast eine halbe Stunde, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: den Punkt nämlich, an dem das Haus ein Dutzend Tage nach Valseirs Unfall eine Umleitung der Energieversorgung und der Ventilation protokolliert hatte. auch der Höhenmesser hatte ein Flattern registriert – einen kurzen Ausschlag nach oben, und dann hatte das lange, gemächliche Absinken begonnen, das immer noch anhielt.
Als Nächstes musste Fassin feststellen, wo sich das WolkenTunnel-Segment jetzt befand. Sicher hatte es die Zone der Scherströmung und die Zone, wo sich das ganze Atmosphäreband noch wie eine einzige riesige Masse bewegte, bereits überschritten und die halb flüssigen Tiefen erreicht, die sich viel langsamer drehten als das Gas darüber. Die Übergangszonen waren gewaltige zähe und trübe Meere, die sich nur widerwillig vom wirbelnden Jetstream der Atmosphäre mitreißen ließen.
Hier war Koppelnavigation gefragt. Nach dem Weltbild der Dweller war die Atmosphäre statisch, und die Tiefen – ganz zu schweigen vom restlichen Ulubis-System, den Sternen und eigentlich dem ganzen Universum – bewegten sich. Da alle Bezugspunkte nur theoretisch fixiert waren, ließ sich, was einmal in den Tiefen versunken war, notorisch schwer wiederfinden. Nach zweihundert Jahren konnte der WolkenTunnel-Abschnitt überall sein, vielleicht war er außer Reichweite, vielleicht war er zerbrochen, vielleicht war er auch an den Zonenrand abgetrieben und nach Norden oder Süden in einen ganz anderen Gürtel gezogen worden. Fassins einzige Hoffnung war die Tatsache, dass das Rohrstück, nach dem er suchte, relativ groß war. Selbst in Nasqueron konnte ein Objekt von mehr als vierzig Metern im Durchmesser und achtzig Kilometern Länge nicht einfach spurlos verschwinden. Und er ging trotz allem davon aus, dass die Bewegung des WolkenTunnels durch die bekannte Funktion von Auftriebs-und Gravitationskräften bestimmt wurde.
Das Ergebnis war bestürzend ungenau. Der errechnete Standort befand sich etwa fünftausend Kilometer entfernt, kam aber, nachdem er den Planeten unzählige Male umrundet hatte, ständig näher. In zwölf Stunden würde er sich genau unter dem Haus befinden. Fassin stellte eine neue Rechnung auf. Es wäre machbar. Er verfasste eine Nachricht, in der er sich jede Störung verbat, und schickte sie an den Schirm an der Bibliothekstür.
Fassin passierte die Geheimtür etwa eine Stunde, nachdem er die Bibliothek betreten hatte. Er ließ das Gasschiffchen wachsen, indem er die Trimmzellen erweiterte, so dass im Innern Vakuumräume entstanden und die Außenform größer und nahezu kugelförmig wurde. Dadurch fiel er zunächst sehr langsam und erzeugte unter dem Haus nur geringe Turbulenzen. Dann verkleinerte er das Pfeilschiff, bis es nur noch so schmal wie ein Wurfpfeil und entsprechend schwerer war, tauchte antriebslos in die schwarzen Tiefen ein und durchstieß die Grenze des nahezu statischen Zylinders aus verdünntem Gas, des einzigen Überbleibsels jenes uralten Sturms.
Zwanzig Kilometer tiefer fuhr er die Triebwerke hoch, brachte das Schiff auf ebenen Kiel und entfernte sich dreißig Kilometer zur Seite. Dann stieg er rasch nach oben und schoss durch das allmählich abkühlende und dünner werdende Gas, bis er die Dunstschichten durchdrungen und die oberste Wolkenschicht erreicht hatte. Dort tarnte er das Pfeilschiff, soweit das möglich war, und ging auf Höchstgeschwindigkeit. Das Gasschiff war ursprünglich für solche Kapriolen nicht geschaffen, aber im Lauf der Jahre von ihm selbst und Hervil Apsile immer wieder umgebaut worden. Nun war es zwar noch immer nicht mit einer echten Militärmaschine zu vergleichen, glitt aber unauffälliger als fast jedes andere Schiff innerhalb der Gasriesen-Atmosphäre über die Oberfläche des Planeten (die üblichen grotesken Dweller-Geschichten von unsichtbaren Raumschiffen, trägheitslosen Antrieben und Nullpunkt-Subraum-Fliegern natürlich nicht mitgerechnet).
Das Schiffchen zog unter dem fahlgelben Himmel dahin. Über Fassin wurden die Sterne langsamer, und als er die Summe der Rotationsgeschwindigkeit des Planeten und der Geschwindigkeit des Atmosphärebandes überschritt, das unter ihm in die gleiche Richtung raste, schienen sie gar in den Rückwärtsgang zu schalten. Als nach knapp einer Stunde Flug weder über noch unter ihm irgendetwas zu sehen war, was Anlass hätte geben können, in diesem Universum Leben zu vermuten, wurde er langsamer und ließ sich fallen – eine Pfeilspitze ohne Schaft, die geradewegs auf das Herz des Planeten zielte. Er nützte die steigende Dichte des Gases zum Bremsen und spürte, wie die Reibungshitze durch den Rumpf des Gasschiffs und in sein Fleisch kroch.
Durch die obere Grenzzone – sie war mehrere Kilometer dick, aber nicht scharf umrissen und schlug oft große träge Wellen oder bildete willkürlich Berge und Täler – drang er in die eigentliche Scherströmung ein und kreiste durch die erdrückend zähe, geleedicke Atmosphäre. wenn der WolkenTunnel-Abschnitt noch existierte, müsste er hier in den Tiefen sein und im allmählich wachsenden Druck des Wasserstoffs auf dem Weg vom Gas zur Flüssigkeit langsam auf ein Gleichgewicht zwischen Schwerkraft und Auftrieb zusteuern.
Natürlich könnte die Röhre auch die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben und zur obersten Wolkenschicht aufgestiegen sein, aber das wäre ungewöhnlich. Verlassene WolkenTunnel waren von Vakuumröhren durchzogen und neigten dazu, sich im Lauf der Jahrtausende durch Osmose mit Gas anzureichern und schwerer zu werden. Bei Fassins Besuch vor zweihundert Jahren hatte Valseir bereits zusätzlichen Auftrieb gegeben, damit der Tunnel nicht zu schnell sank und den ganzen Wohn-und Bibliothekskomplex mit hinabzog. Außerdem hätte das verlassene Stück, wenn es gestiegen wäre, im gleichen Atmosphäreband bleiben und irgendwo auf den Karten der Poaflias auftauchen müssen, und das war nicht der Fall.
Er zog weiter seine Spiralen, hielt die Geschwindigkeit niedrig und setzte seine Schallsensorik nur sehr behutsam ein, um es etwaigen Lauschern schwerer zu machen, ihn zu finden. (Könnte ihm der Colonel gefolgt sein, ohne dass er es merkte? Wahrscheinlich schon. Aber warum sollte sie? Dennoch hatte er das Gefühl, möglichst diskret vorgehen zu müssen.) Mit Licht war nicht viel zu erreichen. WolkenTunnelwände wären hier unten fast durchsichtig. Sonden, die auf Magnet-oder Strahlungsspuren ansprachen, nützten noch weniger, und Geruchsspuren gab es sicher auch nicht.
Nach zwei Stunden – die Zeit, die er, ohne Verdacht zu erregen, außerhalb des Hauses verbringen konnte, war fast verstrichen, er hatte die Diskretion schon längst zum Teufel gejagt und seine Aktivsensoren auf maximale Leistung hochgefahren – fand Fassin ein Ende des WolkenTunnels. Es ragte wie ein riesiges schwarzes Maul aus dem geleedicken Nebel. Er steuerte das kleine Gasschiff in den vierzig Meter breiten Rachen und drehte seine Schallsensorik auf, denn jetzt wären die Signale von den Wänden des WolkenTunnels abgeschirmt. Er steigerte auch seine Geschwindigkeit und schoss wie der Geist eines längst verstorbenen Dwellers durch die große, sanft geschwungene Röhre.
Das Arbeitszimmer war noch da, er fand es, eine Hohlkugel, die die Röhre fast ganz ausfüllte, ziemlich in der Mitte des achtzig Kilometer langen WolkenTunnels. Aber es war gründlich durchwühlt und leer geräumt worden. Irgendjemand hatte alles weggeholt oder zerstört, was hier an Geheimnissen geruht haben mochte.
Fassin schaltete einige Lichter ein und sah sich um, aber es war nichts heil geblieben, es gab nur leere Regale und zerbrochene Carbonfaserbretter, Diamantstaub lag wie Raureif über allem, und wo er vorüberkam, wirbelte er Faserreste auf.
Er formte mit seiner Schallsensorik eine kleine Höhle und sah, wie sie sofort zusammenbrach, erdrückt vom tödlichen Gewicht der Gassäule darüber. Wer würde hier nicht unter Beklemmungen leiden?, dachte er. dann stieg er auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, langsam wieder zum Haus und zur Bibliothek Einundzwanzig empor.
Der Colonel erwartete ihn. Sie schien überrascht, als er durch die Geheimtür kam, dabei hatte er ihr gesagt, was er vorhatte.
»Major. Seher Taak. Fassin«, sagte sie. Es klang … seltsam.
Fassin sah sich um. Sonst war niemand da. Gut, dachte er. Laut sagte er: »Ja?«, und ließ die Bücherschranktür hinter sich zufallen.
Hatherence schwebte auf ihn zu und hielt in einem Meter Abstand an. Ihr Schutzanzug zeigte ein einheitlich dumpfes Grau, das er noch nie gesehen hatte.
»Colonel«, fragte er. »Geht es Ihnen gut? Ist alles …«
»Es ist … Sie müssen sehr tapfer sein … ich … es tut mir Leid … Fassin, ich habe schlechte Nachrichten«, stieß sie endlich mit brechender Stimme hervor. »Sehr schlechte Nachrichten. Es tut mir so Leid.«
Der Archimandrit Lusiferus wollte sich auf die Ideen der ›Wahrheit‹ nicht wirklich einlassen. Natürlich hatte er sich im Verlauf seines Aufstiegs durch die Reihen der Cessoria den Anschein gegeben, daran zu glauben, auch war er ein begabter Verkünder des Evangeliums und ein Disputant, der oftmals wortgewaltig, mit viel Logik und Leidenschaft für die Kirche und ihre Ansichten stritt. Das hatte ihm viel Lob eingetragen. Er sah immer, wenn seine Vorgesetzten beeindruckt waren, auch dann, wenn sie es ihm oder gar sich selbst gegenüber nicht eingestehen wollten. Er hatte ein Talent für Streitgespräche. Und er konnte sich verstellen, konnte lügen (wenn man solch grobe, wenig nuancierte Begriffe verwenden wollte), konnte so tun, als glaubte er an eine Sache, während sie ihm bestenfalls gleichgültig war. Es hatte ihn nie tiefer berührt, ob die ›Wahrheit‹ auch wirklich die Wahrheit war.
Der Glaube an sich interessierte, ja faszinierte ihn, nicht als intellektuelle Idee, nicht als Konzept oder als abstraktes System, sondern als eine Möglichkeit, Menschen zu beherrschen, sie zu verstehen und dadurch zu manipulieren. Letzten Endes war der Glaube für ihn eine Schwäche, ein Fehler, den andere hatten, er aber nicht.
Manchmal konnte er es gar nicht fassen, wie viele Vorteile andere ihm bereitwillig überließen. Sie hatten den Glauben, nahmen einfach ungeprüft hin, was man ihnen sagte und taten deshalb Dinge, die ganz offensichtlich nicht in ihrem eigenen unmittelbaren (oder oft auch langfristigen) Interesse waren; sie liebten ihren Nächsten und taten wiederum Dinge, die nicht unbedingt zu ihrem Vorteil waren; sie hatten sentimentale oder emotionale Bindungen und ließen sich dadurch einmal mehr zu Handlungen nötigen, die ihnen sonst niemals in den Sinn gekommen wären. Und – das hielt er manchmal für das Beste überhaupt – sie neigten dazu, sich selbst zu täuschen. Sie hielten sich für tapfer, obwohl sie eigentlich feige waren, sie bildeten sich ein, selbständig denken zu können, obwohl das ein krasser Irrtum war, sie waren überzeugt von ihrer Intelligenz, während sie nur gut darin waren, prüfungen zu bestehen, oder verwechselten Sentimentalität mit Anteilnahme.
Wahre Kraft kam aus einer ganz einfachen Maxime: Betrüge dich niemals selbst; täusche immer nur andere.
So viele Vorteile! So viele verschiedene Dinge, mit denen man ihm das Vorwärtskommen erleichterte. Wäre jeder, dem er begegnete, jeder Rivale, jeder Gegner in dieser Hinsicht genau wie er gewesen, der Aufstieg zur Macht wäre ihm sehr viel schwerer gefallen. Vielleicht hätte er ihn auch gar nicht geschafft, denn ohne diese Vorteile hing fast alles nur vom Glück ab, und das hätte womöglich nicht gereicht.
Früher hatte er sich öfter gefragt, wie viele von seinen alten Chefs, den Ordensoberen der Cessoria, tatsächlich an die ›Wahrheit‹ glaubten. Er vermutete stark, je weiter man nach oben ginge, desto größer würde der Anteil derer, die an gar nichts glaubten und dem Orden nur angehörten, um am Glanz und an der Herrlichkeit der Macht teilzuhaben und über andere zu herrschen.
Heute machte er sich darüber kaum noch Gedanken. Er setzte einfach voraus, dass in solchen Positionen nur radikale Zyniker und Egoisten saßen. Hätte er in den obersten Rängen der Hierarchie einen wahren Gläubigen gefunden, er wäre nicht nur überrascht, sondern sogar ein wenig empört gewesen. Als hätte der Betreffende die eigenen Leute verraten und fühlte sich nun – welch groteske Idee! – seinen weniger verblendeten Standesgenossen womöglich noch überlegen.
»Und du glaubst also wirklich daran? Ganz aufrichtig?«
»Aber gewiss doch! Es ist der rationale Glaube. Er wird von schlichter Logik bestimmt. Man kann sich ihm nicht entziehen, und das wissen Sie besser als ich. Ich glaube, Sie wollen mich nur necken.« Das Mädchen wandte den Blick ab und lächelte, kokett, schüchtern, vielleicht etwas beunruhigt. Es wäre sogar möglich, dass sie es wagte, beleidigt zu sein.
Er fasste mit einer Hand in ihr Haar und zog ihr Gesicht – eine schwarz-goldene Silhouette vor einer Hand voll ferner Sterne – zu sich heran. »Mein liebes Kind, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden geneckt, das kannst du mir glauben.«
Darauf wusste das Mädchen nichts zu erwidern. Sie sah sich um, betrachtete vielleicht die matten Sterne hinter dem Glas, vielleicht das schneeweiße, flauschige Bettzeug für Niedrigschwerkraft, vielleicht die vielen Bildschirme um das kleine Liebesnest, auf denen in allen schockierenden Einzelheiten die denkbar phantasievollsten Geschlechtsakte zu sehen waren. Vielleicht ging ihr Blick auch zu ihren beiden Gefährtinnen, die sich zusammengerollt hatten und schliefen.
»Gut«, sagte sie, »Sie wollten mich also nicht necken, ich will Ihnen nichts unterstellen. vielleicht machen Sie sich nur über mich lustig, weil Sie so viel klüger und gebildeter sind als ich.«
Das, dachte der Archimandrit, träfe es vielleicht eher. Aber er hatte immer noch keine Gewissheit. Trug dieses junge Ding wirklich noch immer die ›Wahrheit‹ im Herzen, obwohl er den ganzen Unsinn schon vor so vielen Normalgenerationen in aller Form abgeschafft hatte?
Eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle; solange niemand anfing, auf der Basis seiner Religion eine Verschwörung gegen ihn anzuzetteln, kümmerte es ihn herzlich wenig, was andere wirklich dachten. Gehorcht mir, fürchtet mich. Hasst mich, wenn ihr wollt. Aber tut niemals so, als würdet ihr mich lieben. Mehr verlangte er nicht. Der Glaube war nur ein weiteres Druckmittel wie das Gefühl, wie die Empathie, wie die Liebe (oder was die Leute dafür hielten, was sie als Liebe bezeichneten, jenen kleinen, eingebildeten, vielleicht auch erlogenen Bereich abseits der Wollust. wollust war aufrichtig. Und natürlich ebenfalls ein Druckmittel).
Dennoch wollte er es wissen. Ein weniger zivilisierter Mann in seiner Position hätte vielleicht erwogen, das Mädchen foltern zu lassen, um ihm die Wahrheit zu entreißen, aber wenn man anfing, wegen solcher Fragen zu foltern, sagten einem die Leute bald einfach das, wovon sie glaubten, man wolle es hören – nur damit der Schmerz aufhörte. Das hatte er schon sehr früh begriffen. Es gab eine bessere Möglichkeit.
Er griff nach der Fernbedienung und beschleunigte die Rotation der Kapsel, bis wieder die Illusion von Schwerkraft entstand. »Geh vor dem Fenster auf alle viere«, befahl er dem Mädchen. »Es ist wieder so weit.«
»Natürlich, ganz wie Sie wollen.« Das Mädchen nahm rasch die gewünschte Position ein und kauerte vor dem heranrasenden Sternenfeld, das scheinbar nicht von der Stelle wich, obwohl die Kapsel sich drehte. Die hellste Sonne genau im Zentrum des Fensters war Ulubis.
Lusiferus hatte seine Geschlechtsorgane auf jede nur erdenkliche Weise aufrüsten lassen. Nun hatte er unter anderem Drüsen im Körperinneren, die es ihm gestatteten, viele verschiedene Sekrete – Irritantien, Halluzinogene, Cannabinoide, Capsainoide, Schlafmittel und Wahrheitsseren – zu produzieren und mit seinem Ejakulat in den Körper seines Geschlechtspartners einzuschleusen (während er selbst natürlich gegen die Wirkung immun war). Nun versetzte er sich in die Kurztrance ›Kleiner Tod‹, ein petit mal, das es ihm erlaubte, eine der Substanzen auszuwählen. Er entschied sich für die am letzten erwähnte, die Wahrheitsdroge.
Er nahm das Mädchen anal; so trat die Wirkung schneller ein.
Er musste feststellen, dass sie wirklich an die ›Wahrheit‹ glaubte.
Daneben erfuhr er, dass sie ihn für uralt und unheimlich hielt, für einen perversen Sadisten, der ihr Angst machte, und von dem sie sich nur mit äußerstem Widerwillen ficken ließ.
Er erwog, ihr Thanaticin einzuspritzen oder sie mit einer der physischen Optionen zu bestrafen, die ihm dank seines aufgerüsteten Penis zur Verfügung standen: etwa mit dem geschorenen Rossschweif. Er könnte sie auch einfach ins Vakuum stoßen und zusehen, wie sie starb.
Doch dann entschied er, ein Leben in ständiger Erniedrigung sei Strafe genug. Hatte er nicht immer gesagt, er wolle verabscheut werden?
Er würde sie zu seiner Favoritin machen. Wahrscheinlich empfahl es sich, sie unter Selbstmordüberwachung zu stellen.
Nach Ansicht der Dweller unterschied sich das empfindungsfähige Lebewesen letztlich durch die Fähigkeit zu leiden von jeder anderen Lebensform. Damit war nicht nur die Fähigkeit gemeint, körperlichen Schmerz zu empfinden, sondern echtes Leiden, jene Art von Leiden, die umso schlimmer war, weil das betroffene Lebewesen die Erfahrung in vollem Umfang auskosten konnte. Es konnte sich an Zeiten erinnern, als es nicht gelitten hatte, sich auf Zeiten freuen, wenn das Leiden aufhörte (oder überzeugt sein, dass es niemals enden würde und daran verzweifeln – Verzweiflung war ein wesentlicher Bestandteil des Erlebens), und es konnte erkennen, dass es nicht zu leiden bräuchte, wenn die Dinge anders gelaufen wären. zum Leiden gehörte nämlich Verstand. Phantasie. Jeder hirnlose Schleimklumpen mit einem rudimentären Nervensystem konnte Schmerz empfinden. Zum Leiden brauchte man Intelligenz.
Nun spürten die Dweller natürlich keinen Schmerz und bestritten auch, jemals zu leiden, allenfalls unter einem Dummkopf, der bedauerlicherweise zur Familie gehörte, oder unter den verheerenden körperlich-seelischen Symptomen eines schweren Katzenjammers. Damit waren sie nach ihrer eigenen Definition nicht wirklich empfindungsfähig. An diesem Punkt pflegte der durchschnittliche Dweller, der selbstverständlich überzeugt war, seine Spezies umfasse nach jedem nur denkbaren Maßstab die empfindungsfähigsten und intelligentesten Wesen überhaupt, seine Nabenarme zu spreizen, den Flossensaum zu schütteln und lauthals von Paradoxien zu reden.
Fassin stellte sich in Drehrichtung und ließ sich vom fünfhundert Stundenkilometer schnellen Jetstream mittragen. Reglos. Dann slippte er und suchte sich einen kleinen Wirbel, einen Kringel nur, eine winzige, gelbweiße Strähne von zwei Kilometern Durchmesser in den leeren orangefarbenen, roten und braunen Himmelsweiten. Er glitt durch das Gas und spürte es feucht und glitschig auf der Stirn des Pfeilschiffs. eine Weile ließ er sich langsam im Kreis herumtragen, bevor er die Nase nach unten drückte und in gemächlichen Spiralen durch Schleier und Wolken und das allmählich dichter und schwerer werdende Gas hinabsank. Als die Temperaturen erträglich waren, stellte er sich waagrecht und tat etwas, was er noch nie gewagt hatte: er öffnete das Kanzeldach des Gasschiffchens und ließ die Atmosphäre herein, ließ Nasqueron herein, ließ zu, dass es seine nackte, menschliche Haut berührte.
Alarmsignale schrillten und blinkten, und seine Augen brannten, als er sie öffnete. Von allen Seiten drang schwach rötliches Licht auf ihn ein. Er hatte immer noch Kiemenwasser in Mund und Nase, Kehle und Lungen, aber jetzt musste er selbst atmen, musste nur mit seinen Brustmuskeln gegen den Sog von Nasquerons Schwerkraftfeld ankämpfen. Doch er war immer noch über den Interfacekragen mit dem Gasschiff verbunden, und als er sich nicht aus eigener Kraft aus dem Schockgelbett erheben konnte, ließ er das Pfeilschiffchen allmählich mit der Nase abkippen, bis er zu drei Vierteln senkrecht stand.
Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er wurde langsam durch das Gel nach unten gedrückt, bis er zumindest teilweise auf der Schmalseite des engen Sarges stand. Füße und Beine protestierten gegen das ungewohnte Gewicht.
Jetzt konnte er sich aus der Höhlung befreien. Er schob sich mit den Ellbogen nach vorne. Seine Augen begannen zu tränen. Endlich konnte er weinen. vor Anstrengung zitternd zog er einen klebrig glitschigen Kiemenwasserfaden aus seinem rechten Nasenloch, öffnete den Mund und schluckte etwas von dem Gas.
Nasqueron roch nach faulen Eiern.
Er blinzelte die Tränen weg, so gut es ging, und sah sich um. Der Interfacekragen saugte sich an seinem Hals fest, um den Kontakt nicht zu verlieren, als er sich streckte, um nach oben zu schauen. Alt und schmutzig sah dieses Nasqueron aus. wie eine große Schüssel mit schaumig geschlagenen Eiern, in die man eine Ladung flüssiger Scheiße eingerührt hatte, um das Ganze dann mit Blutströpfchen zu bespritzen. Und es hinterließ einen schwefligen Geschmack im Mund. Fassin ließ den Kiemenwasserfaden zurückschnellen. Er verschloss das Nasenloch und versorgte ihn wieder mit reiner, sauerstoffreicher Luft. Nur der Gestank blieb zurück.
Fassin schwitzte vor Anstrengung, aber auch, weil es heiß war. vielleicht hätte er das Manöver besser weiter oben durchgeführt.
Jetzt brannten ihm nicht nur die Augen, auch die Nase kribbelte. Ob er wohl trotz des Kiemenwassers niesen konnte? Oder würde er so lange würgen und keuchen, bis ihm das widerliche Zeug aus der Lunge hochstieg, aus allen Körperöffnungen spritzte und an der Seite des Gasschiffs kleben blieb wie blassblauer Seetang, während er jämmerlich erstickte?
Dann trübten ihm die Tränen vollends den Blick. Nasquerons giftiger Himmel hatte ihm endlich entrissen, was er selbst nicht hatte ausdrücken können.
Alle.
Der ganze Sept.
Sie waren frühzeitig in den Winterkomplex umgezogen. Dort hatte die Rakete eingeschlagen und alle getötet: Slovius, Zab, Verpych, die ganze Familie, die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, die er als Kind und später gekannt und geliebt hatte, die ihn zu dem gemacht hatten, der er jetzt war oder bis eben noch gewesen war.
Es war schnell gegangen. Wirklich nur ein Augenblick, aber was half ihm das? Sie hatten keinen Schmerz gespürt, aber sie waren tot, fort, unwiederbringlich verloren.
Nein, nicht unwiederbringlich. Er konnte nicht aufhören, sich zu erinnern, konnte nicht aufhören, sie in seinem Kopf wiederauferstehen zu lassen, und sei es nur, um sie um Verzeihung zu bitten. Er hatte Slovius empfohlen, das Herbsthaus zu verlassen. Aber er hatte an einen neutralen Ort gedacht, ein Hotel oder einen Universitätscampus, stattdessen hatten sie sich – ein Kompromiss – nur für eine andere Jahreszeitenresidenz des Sept entschieden. Und das war ihnen zum Verhängnis geworden. Er hatte sie getötet. Sein wohlgemeinter Rat, sein Wunsch, die Seinen zu behüten und zu beschützen und sie wissen zu lassen, dass er an sie gedacht hatte, hatte sie ihm entrissen.
Sollte er das Schiff noch weiter nach vorne kippen, über die Senkrechte hinaus, um sich dann einfach fallen zu lassen? Hinabgezogen von der eigenen Masse und vom mächtigen Sog der Gasriesenschwerkraft, die ihm das Kiemenwasser aus den Lungen presste und vielleicht noch Teile des Gewebes mitnahm. Die ihm gerade noch erlaubte, seinen blutig geschundenen Körper mit Gas zu füllen für einen letzten Schrei – mit Falsettstimme, als hätte er Helium aus einem Luftballon geatmet – bevor es ihn vollends in Stücke riss und er in die Tiefen stürzte.
Die Botschaften waren etwa zu der Zeit eingetroffen, als er durch die Trümmer von Valseirs Arbeitszimmer schwebte. Die ersten schockierten Signale, die verstümmelten Anfragen, die offiziellen Mitteilungen, die Beileidsbekundungen und Hilfsangebote, die Erkundigungen, gefolgt von Bitten um ein Lebenszeichen, die Beiträge in den Nachrichten, die geänderten Befehle der Ocula: alles war in einem einzigen Schwall, einem wirren Datenknoten über sie hereingebrochen. Die Geheimhaltungspflicht für alle Korrespondenz der Justitiarität, besonders in Zeiten der Gefahr, das übliche Chaos im Funkverkehr der Dweller im Allgemeinen und der Zusammenbruch der sonst reibungslos laufenden Signal protokolle im Gefolge des Formalkriegs im Besonderen, noch verschärft innerhalb der eigentlichen Kriegszone, hatten zusammengewirkt und zu erheblichen Verzögerungen geführt.
Tot. alle tot. Nein, nicht alle (ein Sept war nicht klein, und so sauber arbeitete die Realität nur selten). Nur so gut wie alle. Fünf Jungdiener, auf Urlaub oder mit einem Auftrag unterwegs, hatten überlebt, ebenso eine Cousine zweiten Grades mit ihrem kleinen Sohn. das war alles. gerade genug, um einen sauberen Schnitt zu verhindern, der zwar schrecklich gewesen wäre, ihn aber gezwungen hätte, weiterzumachen, Führungsstärke zu zeigen, tapfer zu sein … all den so leicht dahingesagten Klischees zu genügen. Seine Mutter war schon seit einem halben Jahr in einem Cessoria-Habitat im Kuiper-Gürtel in Klausur und hätte überleben können, aber sie war bei einem anderen Angriff umgekommen, der vermutlich nichts mit dem Anschlag auf den Sept zu tun hatte. Schieres Pech.
Vermutlich sollte er dankbar sein, dass Jaal zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht zu Besuch im Winterhaus gewesen war und deshalb noch lebte. Stattdessen hatte er eine ganze Serie von Botschaften von ihr erhalten, im Ton beunruhigt, schockiert, weinerlich und schließlich wie benommen. Die letzten Mitteilungen enthielten nur noch flehentliche Bitten, sich zu melden, wenn er könne, wenn er am Leben sei, wenn er sich irgendwo in Nasqueron befinde und dies höre oder lese …
Die Ocula der Justitiarität hatte ihn seit dem Angriff auf Third Fury als vermisst geführt. Offiziell war das immer noch sein Status. Man war erst sicher gewesen, dass er und Colonel Hatherence überlebt hatten, als man Tage später auf Umwegen ihr Signal empfangen hatte. Daraufhin hatte man beschlossen, seine Rettung zunächst geheim zu halten. Sein Interview mit dem Nachrichtensender in Hauskip hatte die Sache kompliziert – es wurde jedoch bereits ohne Zutun seiner Vorgesetzten als Fälschung gebrandmarkt – und im Anschluss nicht geringe Verwirrung gestiftet. Solange er nur vermisst war, galt er von Amts wegen als lebend und war damit Oberster Seher des Sept Bantrabal. Daran würde sich noch mindestens ein Jahr lang nichts ändern.
Die Lage im Ulubis-System war noch immer verzweifelt, und die Bedeutung ihrer Mission hatte sich mit den letzten feindlichen Aktionen der Invasoren und/oder der Beyonder weiter erhöht.
Als der ganze Wust durchkam, ja, noch während die Signale mit intakten Verschlüsselungen und unter Anzeige aller Pfade in den Speicher des Gasschiffs übertragen wurden, dachte er immer wieder: Vielleicht ist alles nur ein schlechter Scherz oder ein schrecklicher Irrtum. Selbst als er im Film in den wogenden Hügeln des Großen Ualtus-Tals, da, wo einst das Winterhaus gestanden hatte, den rauchenden Krater sah, hatte er es nicht glauben wollen; es musste eine Fälschung sein. alles war eine einzige Fälschung.
Der Angriff war etwa gleichzeitig mit der Bombardierung von Third Fury erfolgt. Der winzige Blitz, den er auf der Oberfläche von ’glantine gesehen hatte, als sie mit dem Absetzschiff auf Nasqueron zustürzten, war der Einschlag gewesen. In dieser Sekunde waren sie alle umgekommen, seit diesem Augenblick war er allein. Die erste Nachricht der Justitiarität, noch vor der Datenblockade, die sie so viele Tage in Unwissenheit gehalten hatte, jene Nachricht, in der ihm die Behörde ihr Bedauern angesichts seines Verluste ausdrückte, hatte sich nicht nur auf die Opfer von Third Fury bezogen, sondern auch auf dieses Unglück. Man hatte das Wrack des Absetzschiffs in den oberen Regionen der Tiefen gefunden, die Leiche des Meistertechnikers Herv Apsile befand sich noch darin. Man konnte den Eindruck gewinnen, jemand hätte alles bedacht und dafür gesorgt, dass nichts und niemand gerettet wurde, dass ihm nichts blieb. Oder fast nichts. Nur ein paar Diener, die er kaum kannte, eine Cousine zweiten Grades, für die er eine mäßige Zuneigung empfand, ein Kleinkind, von dem er nicht einmal wusste, wie es aussah. Und Jaal. Aber würde – konnte – diese Beziehung je wieder so werden wie früher? Er hatte seine Verlobte gern, aber er liebte sie nicht, und er war ziemlich sicher, dass sie ebenso empfand. Es wäre eine gute Partie gewesen, aber nach alledem würde er ein anderer Mensch sein, selbst wenn er von diesem schwachsinnigen Abenteuer jemals zurückkehrte, selbst wenn es etwas gäbe, zu dem er zurückkehren konnte, selbst wenn der kommende Krieg bis dahin nicht alles zerstört oder von Grund auf verändert hätte. Würde ihr Sept denn überhaupt noch wollen, dass sie in einen Sept einheiratete, der gar nicht mehr existierte? Wo war jetzt die gute Partie, die Vernunftheirat? Würde Jaal ihn überhaupt noch wollen, und wenn ja, würde sie nicht nur aus Pflichtbewusstsein seine Frau werden, aus Mitleid, weil sie glaubte, sich an den Vertrag halten zu müssen, komme, was da wolle? Und wären das nicht die besten Voraussetzungen für eine Ehe voller Vorwürfe und Verbitterung?
Die Erkenntnis, dass er wahrscheinlich auch Jaal verloren hatte, war fast tröstlich. Er kam sich vor, als hänge er über einem tiefen Abgrund und würde gleich stürzen, es war seine Bestimmung, und am meisten Schmerz bereitete ihm, dass er sich immer noch festhielt, sich mit brechenden Fingernägeln in den Felsen krallte. Er brauchte nur den letzten Schritt zu tun und das Einzige loszulassen, woran er sich klammerte. Der Sturz selbst wäre schmerzlos.
Er würde sich nicht das Leben nehmen. Zu wissen, dass er die Möglichkeit dazu hatte, bereitete ihm eine grimmige Genugtuung, aber er würde es nicht tun. Schon weil er ziemlich sicher war, dass Hatherence ihm gefolgt war und sich mit der Tarneinrichtung ihres Schutzanzugs vor den Sensoren seines Gasschiffs verbarg. Sie würde versuchen, ihn davon abzuhalten. Das könnte zu einem unwürdigen Gerangel führen, und womöglich hätte sie sogar Erfolg. wenn er wirklich Selbstmord begehen wollte, gäbe es sicher einfachere Wege. Er brauchte nur tiefer in die Kriegszone einzufliegen und mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Panzerkreuzer zuzusteuern, das sollte genügen.
Außerdem wäre der Freitod eine zu einfache, zu egoistische Lösung. Er würde den Schuldgefühlen ein Ende machen, die so schrecklich an ihm nagten, und einen Strich unter das Ganze ziehen. Aber womit hätte er diesen einfachen Ausweg verdient? Er fühlte sich also schuldig? Und wenn schon? Er hatte nichts Böses gewollt – ganz im Gegenteil –, er hatte sich nur geirrt. Seine Schuldgefühle waren dumm. Sie waren verständlich, aber sie waren dumm, eine Fehlreaktion. Die Seinen waren tot, und er war am Leben. Sein Verhalten mochte der direkte Anlass für ihren Tod gewesen sein, aber nicht er hatte sie getötet.
Was blieb ihm noch? Rache vielleicht. Aber wer war der Schuldige? Wenn es wirklich die Beyonder gewesen wären, stünde er mit seinem alten Verrat (man konnte auch von einem Opfer für seine Prinzipien sprechen) ziemlich töricht da. Er verabscheute die Merkatoria nach wie vor, das ganze grausame, schwachsinnige, aufgeblasene und eitle, die Empfindungsfähigkeit verachtende System war ihm verhasst. Aber er hatte sich nie der Illusion hingegeben, die Beyonder oder eine andere der großen Gruppierungen wären die Güte selbst, und er hatte immer gewusst, dass der Kampf gegen die Merkatoria nur langwierig, schmerzhaft und blutig sein konnte. Auch er musste vielleicht eines langen und grausamen Todes sterben – er würde alles tun, um das zu vermeiden, aber manchmal war man einfach machtlos. Er wusste auch, dass in einem gerechten Krieg eine ebenso große Zahl von Unschuldigen ebenso jämmerlich verrecken konnte wie in einem ungerechten. Ein Krieg sollte immer und fast um jeden Preis vermieden werden, denn Kriege vergrößerten die Fehler und vervielfachten die Irrtümer. Dennoch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, seine Rolle im Kampf gegen die Merkatoria mit einer gewissen Eleganz, einem Hauch von strahlendem Heldentum spielen zu können.
Stattdessen: heilloses Durcheinander, Dummheit, maßlose Verschwendung, sinnlose Qualen, Elend und Massensterben – die üblichen Begleiterscheinungen eines Krieges hatten ihn getroffen wie jeden anderen auch. Es war keine gerechte Strafe, es hatte keine moralischen Gründe, nicht einmal Gehässigkeit war im Spiel. Es handelte sich lediglich um die grässlich banalen Folgen von Naturgesetzen wie Physik, Chemie, Biochemie und Orbitalmechanik. Und darum, dass alle empfindungsfähigen Wesen, die miteinander im Streit lagen, die gleichen Verhaltensmuster zeigten.
Vielleicht hatte er alles heraufbeschworen. Nicht weil er Slovius geraten hatte, das Herbsthaus zu verlassen. Sein Trip, jener berühmte Trip, die Bekanntschaft mit Valseir, der Austausch von Informationen mochten der eigentliche Grund für die Misere sein. vielleicht war er tatsächlich der Schuldige. Wenn er alles für bare Münze nahm, was man ihm gesagt hatte, dann ja.
Er wollte lachen, aber das Kiemenwasser in Mund, Kehle und Lungen hinderte ihn daran. »Nun komm schon«, wollte er in Nasquerons Gashimmel rufen (brachte aber nur ein unverständliches Gemurmel zustande), »beweise mir, dass alles nur Simulation ist, zeige mir, dass die Cessoria Recht hat. Das war die letzte Runde. Das Spiel ist aus. Hol mich hier raus.«
Ein Murmeln, ein Gurgeln in der Kehle. Er steckte, halb stehend, halb liegend, in der sargförmigen Aussparung, und das Gasschiffchen schwebte in der Atmosphäre des Gasriesen in einer Zone, wo sich ein Mensch den Elementen aussetzen konnte, ohne sofort zu sterben, vorausgesetzt, er hatte etwas, was ihm beim Atmen half.
Auch Rache war kein guter Ausweg, dachte er unter Tränen. Sie lag in der Natur des Menschen wie der Tiere, sie lag in der Natur fast aller Wesen, die Zorn empfinden oder sich verletzt fühlen konnten, aber als Ausweg war sie fast ebenso kläglich wie der Selbstmord. Egoistisch, egozentrisch, ichbezogen. Gewiss, wenn man ihm denjenigen präsentierte, der befohlen hatte, eine Bombe auf einen Gebäudekomplex voller unbewaffneter und ahnungsloser Zivilisten zu werfen, wäre die Versuchung groß, ihn töten zu wollen, aber damit brächte er die Verstorbenen nicht zurück.
Und diese Gelegenheit würde er natürlich nicht bekommen – noch einmal, so sauber arbeitete die Realität nur selten –, aber nur einmal angenommen, das legendäre Szenario fände tatsächlich statt: Der Schurke wäre an einen Stuhl gefesselt und er hätte die Waffe in der Hand und könnte denjenigen, der fast alle seine Lieben auf dem Gewissen hatte, verletzen oder töten. Vielleicht würde er es tun. Man könnte ihm vorhalten, er stellte sich damit auf eine Stufe mit diesem Schurken, aber irgendwo stand er auf dieser Stufe doch schon längst. Für einen solchen Mord gäbe es nur eine einzige moralische Rechtfertigung: Man würde die Welt, die Galaxis, das Universum von einem ruchlosen Verbrecher befreien. Allerdings herrschte an ruchlosen Verbrechern wahrhaftig kein Mangel, die Nische wäre sofort wieder besetzt.
Im Übrigen wäre der Bösewicht ohnehin keine Person sondern eine Militärmaschinerie, eine Hierarchie. Ein Verantwortlicher ließe sich kaum festmachen. Jemand – eine Gruppe – hätte die entsprechende Strategie ausgearbeitet, jemand anderer hätte einen wahrscheinlich unklaren Befehl gegeben, eine Ebene darunter wären die allgemeinen und die spezifischen Zielkriterien aufgestellt worden, und noch weiter unten hätte irgendein hirnloses Frontschwein oder ein gleichgültiger Techniker einen Knopf gedrückt, auf einen Bildschirm getippt oder mit Gedankenkraft ein Symbol in einem Holotank angeklickt. Dieser Letzte in der Kette wäre zweifellos geprägt durch den üblichen militärischen Induktions-und Indoktrinations-prozess, der das Individuum mit der Raffinesse eines Holzhammers niedermachte und aus den Scherben einen nützlichen, gehorsamen, halbautomatischen Befehlsempfänger aufbaute, einen Soldaten, dessen Gefühle seinen engsten Kameraden und dessen Treue irgendeinem alten Ehrenkodex gehörten. Und selbst dann wäre man noch nicht ganz sicher, dass all diese Leute wirklich schuldig waren, dass man nicht von jemandem hinters Licht geführt wurde, der den Stuhl und die Fesseln besorgt und einem selbst die Waffe in die Hand gedrückt hatte.
Vielleicht war die Zielprogrammierung in letzter Instanz von einer Automatik eingegeben worden. Sollte er dann auch noch den Programmierer aufspüren und ihn zusammen mit dem Verbrecher an den Stuhl fesseln, der die Genehmigung zum Angriff gegeben oder sich den ganzen beschissenen Plan zur Eroberung des Ulubis-Systems überhaupt erst ausgedacht hatte?
Wenn es wirklich Beyonder gewesen sein sollten, könnte eine KI den Angriff ausgeführt haben, aus welchem Grund auch immer. in diesem Fall müsste er die verdammte Maschine eben finden und abschalten. Andererseits war gerade der mörderische Hass der Merkatoria auf die KIs einer der Gründe, warum er diese Institution so sehr verabscheute.
Und vielleicht war auch alles ein Irrtum gewesen, ein Irrtum, den er verursacht hatte. vielleicht hatten die Angreifer geglaubt, ein leeres Haus zu treffen, und nur seine Wichtigtuerei, sein schwachsinniger Rat hatten es mit Menschen gefüllt. wie sähe die Schuldzuweisung in diesem Fall wohl aus?
Seine Augen brannten jetzt so heftig, als hätte ihm jemand Sand hineingestreut. Die Tränen ließen alles verschwimmen, er konnte kaum noch etwas erkennen. (Er konnte allerdings immer noch mit dem Kragen sehen, eine sehr ungewöhnliche Erfahrung, das klare, leicht schräge Bild, das die Sinne des Pfeilschiffs lieferten, war dem Bild überlagert, das ihm sein eigener Körper zeigte.) Er konnte sich nicht umbringen. Er musste weitermachen, musste tun, was er konnte, musste seinen Tribut entrichten, sich um Wiedergutmachung bemühen, musste zusehen, ob er diese Welt nicht um ein klein wenig besser zurücklassen konnte, als er sie vorgefunden hatte, musste Gutes tun, soweit es in seinen Kräften stand.
Er wartete darauf, dass die ›Wahrheit‹ eingriffe, dass die Simulation an ihr Ende käme, und als das nicht geschah – er hatte es gewusst, aber doch beinahe darauf gehofft –, da stiegen Bitterkeit, Resignation und eine grimmige Belustigung in ihm hoch.
Er befahl dem Gasschiffchen, sich wieder gerade zu richten und ihn einzuschließen. Gehorsam kippte es nach hinten, das Kanzeldach klappte zu. Die weichen Polster des Schockgels schmiegten sich an ihn, darin enthaltene Salbenfäden legten sich auf seine Fleischwunden und kühlten seine tränenden Augen. Er glaubte, in den Aktionen der Maschine eine gewisse Erleichterung zu spüren, aber er wusste, dass das ein Irrtum war. Die Erleichterung kam von ihm selbst.
»Aha, die Meinungen gehen auseinander, wie sich das so gehört. So war es immer, so wird es immer sein. Könnte es sein, dass wir gezüchtet wurden? Wer weiß? Vielleicht waren wir Haustiere. vielleicht auch zur Beute bestimmt. Oder wir waren nur zur Zierde da, als Hofnarren oder Prügelwesen. Auch galaxisverändernde Saatmaschinen könnten wir gewesen sein, die aus dem Ruder liefen. (Das sind nur einige von unseren Mythen.) Vielleicht sind unsere Schöpfer verschwunden, vielleicht haben wir sie gestürzt (auch das ein Mythos – Prahlerei, zu viel der Ehre –, ich glaube nicht daran). waren sie am Ende gar Protoplasmawesen? Ein sehr verbreiteter Tropus, wie ich erwähnen möchte, der sich hartnäckig hält. Warum Plasmawesen? Warum sollten Wesen, die im Fluss leben – ob er nun von Sternen ausgeht oder von Planeten – vor so langer Zeit den Wunsch verspürt haben, etwas wie uns zu erschaffen? Wir haben keine Ahnung, aber das Gerücht will nicht verstummen.
Wir wissen nur, dass wir hier sind, und das seit mehr als zehn Milliarden Jahren. wir kommen und gehen, wir leben unser Leben in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, im Allgemeinen immer langsamer, je älter wir werden, was ihr in unseren Mauern selbst beobachten könnt, aber davon abgesehen, wozu sind wir hier? Warum existieren wir? Was ist der Sinn unseres Daseins? Wir haben keine Ahnung. Du wirst mir verzeihen; diese Fragen scheinen an Bedeutung zu gewinnen, wenn sie an uns, die Dweller, gestellt werden, denn wir sind offenbar – nun, wenn es schon nicht unsere Bestimmung ist, so haben wir doch zumindest die Tendenz, uns lange zu halten.
Bei aller Hochachtung, versteh mich richtig, aber wenn man genau die gleichen Fragen an die ›Schnellen‹ stellt, die Menschen oder gar – ich bitte die Gleichsetzung der Arten zu entschuldigen, lieber Colonel – die Oerileithe, dann haben sie nicht das gleiche Gewicht, denn ihr habt nicht unsere Geschichte, unsere Herkunft, unsere schiere, verdammte, völlig unbegründete und allen Göttern trotzende Langlebigkeit. wer weiß? Vielleicht kommt das eines Tages noch! Das Universum ist immerhin noch jung, auch wenn wir in unserer grenzenlosen Egozentrik wie unsere Vorfahren überzeugt sind, die Krone der Schöpfung zu sein. vielleicht werden unsere noch unbekannten Erben dereinst in die Letzte Chronik schreiben müssen, die Dweller hätten in der ersten stürmischen Frühphase des Universums nur ein Dutzend Milliarden Jahre überdauert, bevor sie in der Versenkung verschwanden. Menschen und Oerileithe dagegen, wesen von geradezu sprichwörtlicher Hartnäckigkeit, beherzte Lebensverlängerer, hätten Zivilisationen von mustergültiger Beständigkeit gegründet, die sich jeweils mindestens zwei-oder gar dreihundert Milliarden Jahre halten konnten. Dann könnte man die gleichen Fragen an euch stellen: Warum? Wozu? Zu welchem Zweck? Und – wer weiß? – wenn es dazu kommt, findet ihr vielleicht sogar eine Antwort, mehr noch, eine Antwort, die sinnvoll ist.
Doch im Moment sind wir die Einzigen, die sich mit solch schwierigen Problemen auseinander setzen müssen. Alle anderen kommen und gehen, und das ist der Lauf der Welt, es wird nicht anders erwartet, es ist vorgegeben: Arten tauchen auf, entwickeln sich, gelangen zur Blüte und zur Reife, breiten sich aus, erkunden ihre Umgebung, schrumpfen wieder und gehen zugrunde. Ein Zyniker könnte sagen: Ha! Das ist ein Naturgesetz – niemand kann sich dessen rühmen, niemand hat Schuld daran. Ich aber sage: Bravo! Respekt vor allen, die sich Mühe geben, die den Mut haben, sich an dem Spiel zu beteiligen! Aber wir? Wir? Nein, wir sind anders. Wir sind verflucht, gezeichnet, vom Schicksal dazu verdammt, länger zu bleiben, als wir willkommen sind, eine Nische zu besetzen, in der auch viele andere – ja, viele! – Platz finden könnten. Alle Welt fühlt sich bedrängt, weil wir immer noch hier sind, obwohl wir uns schon längst zusammen mit unseren damaligen Zeitgenossen aus dem Staub gemacht haben sollten. Es ist eine Schande, ich gebe es gerne zu. Unter Freunden kann man offen sein. außerdem bin ich nur ein verrückter alter Dweller, ein Tramp, von allen verachtet, ein Zugvogel, der von Ort zu Ort schwebt und sich, wenn er Glück hat, von Almosen ernährt. aber ich nehme eure Geduld über Gebühr in Anspruch. vergebt mir. Bis auf die Stimmen, die ich selbst erfinde, habe ich so selten einen Gesprächspartner.«
Der Sprecher hieß Oazil und war ein ausgegliederter Dweller im Schwellenalter. Ein Ausgegliederter hatte irgendwann erklärt, er sei an der stetigen Progression von Alter und Rang, die ein Bürger nach Ansicht der Dweller-Gesellschaft üblicherweise einzuhalten hatte, nicht interessiert oder distanziere sich davon. Manchmal wurde diese Erklärung auch von seinen Altersgenossen abgegeben. Ausgegliedert zu sein war nicht zwangsläufig eine Schande – man verglich es oft damit, dass jemand Mönch oder Nonne wurde – aber wenn sich ein Dweller nicht aus freien Stücken, sondern auf Druck von außen für diese Daseinsform entschied, musste man davon ausgehen, dass er früher oder später zum Ausgestoßenen würde und man ihn von seinem Heimatplaneten verbannte. Bei der Unbefangenheit, mit der die Dweller an interstellare Entfernungen und an die Qualitätskontrolle im Raumschiffbau herangingen, käme dies einer Verurteilung zu mehreren tausend Jahren Einzelhaft oder zum Tode gleich.
Oazil war ein Herumtreiber, ein Tramp, ein ewiger Wanderer. Er hatte den Kontakt zu seiner Familie, an die er sich nach eigener Aussage nur noch vage erinnerte, ganz und gar verloren, er hatte so gut wie keine echten Freunde, gehörte keinem Club, keiner Bruderschaft, keiner Gesellschaft, Liga oder sonstigen Gruppierung an und hatte keinen festen Wohnsitz.
Er lebte, so hatte er erzählt, in seinem Panzer und seinen zerschlissenen und kunterbunt zusammengewürfelten Kleidern. Dennoch war er eine imposante Erscheinung. Er schmückte sich mit kunstvoll gemalten Bildern von Sternen, Planeten und Monden, mit konservierten Blüten von mehreren Dutzend WolkenPflanzenarten und mit polierten Knochen und glänzenden, in Buchsen steckenden Schädeln verschiedener kleinerer Vertreter der Gasriesenfauna. Eine nicht ganz so umfangreiche und nicht ganz so wilde Kollektion von so genannten Lebensamuletten hatte auch Valseir getragen, wenn er nicht gerade an irgendeinem offiziellen Anlass teilnehmen musste.
Bei der ersten Begegnung mit dem Dweller-Tramp hatte Fassin zunächst sogar vermutet, es handle sich um Valseir, der sich verkleidet hatte, um unerkannt zurückkommen und alle foppen zu können. Vielleicht wollte er sehen, wie sie den armen Wanderer behandelten, bevor er sich als rechtmäßiger Eigentümer des Hauses zu erkennen gab und zurückforderte, was ihm gehörte. Aber die Unterschiede zwischen Valseir und Oazil waren zu groß. Oazil war massiger, sein Panzer eine Winzigkeit weniger symmetrisch und seine Zeichnungen weniger verschnörkelt, er hatte eine deutlich tiefere Stimme, und auch die Anzahl an Flügelrädern und Gliedmaßen, die ihm noch verblieben war, stimmte nicht überein. Am meisten fiel auf, dass Oazils Panzer sehr viel dunkler war als der von Valseir. Die beiden waren etwa im gleichen Alter – Oazil wäre etwas jünger gewesen, wenn er die Hierarchie nicht verlassen hätte: ein Schwellen-Baloan oder – Nompar vielleicht, während Valseir ein Schwellen-Choal war –, aber Oazil wirkte viel älter. Er war dunkler, verwitterter, fast so dunkel wie Jundriance, der zehnmal so alt war, aber weite Strecken seines Lebens als Gelehrter in ›Langsam‹-Zeit verbracht hatte, anstatt, den Elementen ausgesetzt, durch die Atmosphäre zu wandern.
Oazil zog einen Schwebekarren hinter sich her, der die Form eines kleinen Dwellers hatte und ähnlich herausgeputzt war. Der Karren enthielt Kleidung zum Wechseln, einige Kostbarkeiten von eher sentimentalem Wert und eine Auswahl von kleinen Schnitzereien, die er aus OxyWolkenBaum-Wurzeln selbst gefertigt hatte. Eine davon, eine Nachbildung des Blasenhauses, hatte er Nuern gegeben, ein Geschenk für Jundriance, wenn der aus den Tiefen der ›Langsam‹-Zeit wieder auftauchte.
Nuerns Begeisterung über die kleine Gabe hatte sich stark in Grenzen gehalten. Oazil behauptete jedoch, Valseirs Haus auf seinen Wanderfahrten in den letzten fünfzig-bis sechzigtausend Jahren regelmäßig aufgesucht zu haben. Außerdem sei die Gastfreundschaft für Wanderer besonders abseits der Städte eine geheiligte Tradition, deren Missachtung schwere Kudos-Verluste nach sich ziehe, besonders, wenn andere Gäste Zeuge einer solchen Kränkung würden.
»Willst du lange bleiben?«, fragte Nuern.
»Ja, was hast du vor?«, wollte auch Livilido wissen.
»Oh nein, ich ziehe morgen wieder weiter«, beschwichtigte Oazil den jüngeren Dweller. »Das Haus ist immer noch sehr schön, auch wenn ich natürlich sehr bedauere, dass mein alter Freund nicht mehr ist. Aber ich roste ein, wenn ich zu lange an einem Ort bleibe, und obwohl ich Häuser nicht so beängstigend finde wie Städte, wecken sie doch eine gewisse Unruhe in mir. Ein Haus kann noch so viele Annehmlichkeiten bieten und seine Bewohner mögen noch so freundlich sein, ich kann es jedes Mal kaum erwarten, mich wieder auf den Weg zu machen.«
Sie befanden sich auf einem der vielen Balkone vor den Wohnräumen. Ursprünglich hatten sie sich zu Oazils Ehren zu einem Frühstück im mit Netzen verhangenen Speisezimmer getroffen. Doch dort hatte sich der alte Dweller von Anfang an unwohl gefühlt, er war nervös und zappelig gewesen und hatte noch vor dem Ende des ersten Gangs verlegen und mit weinerlicher Stimme gefragt, ob er nicht draußen essen dürfe, vielleicht vor einem Fenster, so dass man die Unterhaltung fortsetzen könne. Nachdem er auf seinen Wanderungen durch die endlosen Weiten des Gasriesen Jahrtausende unter freiem Himmel verbracht hatte, litt er unter einer besonderen Form von Klaustrophobie und ertrug es nur schwer, sich in geschlossenen Räumen aufhalten zu müssen. Nuern und Livilido hatten die jüngeren Diener sofort angewiesen, den Tisch abzuräumen und auf dem nächstgelegenen Balkon weiter zu servieren.
Alle waren mit nach draußen gegangen. Oazil hatte zunächst wortreich beteuert, er wolle wahrhaftig niemandem seinen Willen aufzwingen, doch dann hatte er sich niedergelassen und mit Appetit gegessen. Und nachdem er einige Aura-Körner und etwas Timbre-Pulver aus der Narkotika-Kollektion in der Tischmitte probiert hatte – als Tafelaufsatz diente das Modell einer kugelförmigen Universitätsstadt –, hatte er sich so weit entspannt, dass er seine Ansichten zur Herkunft der Dweller zum Besten geben konnte. Da alle Dweller gerade dieses Thema gern zum Nachtisch erörterten, gab es im Grunde nichts Originelles dazu zu sagen, aber es war immerhin Oazils wissenschaftliches Spezialgebiet gewesen, bevor er die Fesseln des Gelehrtenlebens abgestreift hatte, um sich auf Wanderschaft durch die Himmelshöhen zu begeben.
Hatherence hatte den alten Dweller gefragt, ob seine Spezies nach seiner Meinung von Anfang an schmerzunempfindlich gewesen sei, oder ob man ihr diese Fähigkeit abgezüchtet hätte.
»Ach! Wenn wir das wüssten! Ich bin Ihnen für die Frage sehr dankbar, denn wenn wir die Bedeutung unserer Spezies in diesem Universum ergründen wollen, ist sie von größter Wichtigkeit …«
Fassin hatte es sich genau gegenüber dem alten Wanderer in einer gepolsterten Sitzgrube bequem gemacht und ertappte sich dabei, wie seine Gedanken abschweiften. Das passierte ihm in letzter Zeit häufig. Seit er die Nachricht von der Zerstörung des Winterhauses erhalten hatte, waren etwa ein Dutzend Nasqueron-Tage vergangen. Er hatte sich fast die ganze Zeit in den verschiedenen Bibliotheken vergraben und nach irgendetwas gesucht, das ihn zu seinem Ziel führen könnte, dem dritten Band des Werkes, das er vor zweihundert Jahren von hier mitgenommen hatte. Dieses Buch, das zumindest für ihn immer mehr zum Mythos wurde, könnte immerhin der Grund für so vieles von dem sein, was seither geschehen war. Er sah sich um, er suchte alles ab, er durchkämmte, durchforstete die Regale und durchstöberte jeden Winkel, aber selbst wenn er glaubte, ganz bei der Sache zu sein, fiel ihm irgendwann auf, dass er schon seit Minuten ins Leere starrte und irgendein Bild des Sept, eine Szene des Familienlebens an sich vorüberziehen ließ, das es nicht mehr gab. Es konnte auch ein Gespräch sein, das vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, eine damals ganz unwichtige Plauderei, die er längst vergessen geglaubt hatte. wieso erinnerte er sich gerade jetzt wieder daran, nachdem alle fort waren und er sich so weit entfernt in einer fremden Welt befand?
Manchmal traten ihm die Tränen in die Augen. Aber das Schockgel saugte sie behutsam ab.
Bisweilen dachte er auch wieder an Selbstmord und sehnte sich wie nach einer verlorenen Liebe oder einer vergangenen Zeit, die ihm lieb und teuer gewesen war, nach der Willenskraft, der Entschlossenheit, ein Ende zu machen. Mit einem aufrichtigen Todeswunsch wäre der Freitod zu einer realistischen Möglichkeit geworden. Doch stattdessen erschien er ihm so sinnlos und vergeblich wie alles andere in diesem Leben. Man musste Verlangen nach dem Tod empfinden, um sich zu töten. wenn man keine Wünsche, keine Gefühle, keine Triebe mehr hatte – wenn alles nur noch Schatten, Gewohnheit war –, wurde der Selbstmord ebenso zur Unmöglichkeit wie die Liebe.
Dann und wann schaute er auf von den Büchern und Schriftrollen, den Filmen und Kristallen, den geritzten Diamantfolien und den leuchtenden Bildschirmen und Holos und fragte sich, ob das alles denn irgendeinen Sinn hätte. Die Standardantworten waren ihm natürlich geläufig: Angehörige aller Spezies und Untergruppen wünschten sich ein Leben in Behaglichkeit, frei von Bedrohung. Alle brauchten Energie in irgendeiner Form – direkt aufgenommen wie etwa das Sonnenlicht, oder eher indirekt wie bei den Fleischfressern – alle wollten sich fortpflanzen, alle waren neugierig, alle strebten nach Wissen, nach Ruhm und/oder Erfolg und/oder nach Reichtum in seinen vielen Ausprägungen, aber letztlich – wozu ? Alle mussten sterben. Auch Unsterbliche mussten sterben. Sogar die Götter.
Manch einer hatte sich seinen Glauben, seine religiösen Überzeugungen bewahrt, selbst in diesen Zeiten des zügellos wuchernden Individualismus, selbst inmitten eines Universums, das überdeutlich geprägt war von Gottlosigkeit, von der Abwesenheit Gottes. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass auch die Gläubigen nicht gegen die Verzweiflung gefeit waren, ihr Glaube war eine Last, selbst wenn sie ihn verleugneten, noch etwas, das man verlieren und worum man trauern konnte.
Die Leute machten weiter, kämpften um ihr Leben und ließen sich auch von Hoffnungslosigkeit und Schmerz nicht davon abbringen. Niemand wollte sterben, jeder klammerte sich an das Leben, als wäre es das kostbarste Gut, obwohl es doch immer nur noch mehr Hoffnungslosigkeit, noch mehr Schmerz brachte und bringen würde.
Alle Welt gebärdete sich so, als stünde die Wende unmittelbar bevor, als wären die schlimmen Zeiten morgen vorüber, doch das war gewöhnlich ein Irrtum. das Leben schleppte sich mühsam weiter. Manchmal entwickelte es sich zum Besseren, aber oft wurde es schlechter, und am Ende stand immer der Tod. Und doch tat jeder so, als wäre der Tod die größte Überraschung – Du meine Güte, wo kommt der denn auf einmal her? Vielleicht war es sogar am besten, so damit umzugehen. Vielleicht war es das einzig Vernünftige, so zu tun, als hätte es nichts gegeben, bevor man selbst das Bewusstsein erlangte, und als würde auch mit dem eigenen Tod jegliche Existenz erlöschen, als wäre das ganze Universum um das eigene individuelle Bewusstsein herum gebaut. Es war eine Arbeitshypothese, eine nützliche Halbwahrheit.
Aber ergab sich daraus zwangsläufig, dass die Gier nach Leben nur einer Illusion entsprang? Während die Wirklichkeit darin bestand, dass nichts zählte und jeder, der anders dachte, ein Narr war? Hatte man nur die Wahl zwischen Verzweiflung, der Abkehr von der Vernunft zu Gunsten eines schwachsinnigen Glaubens und einem defensiven Solipsismus?
Valseir hätte dazu vielleicht einen erhellenden Beitrag leisten können, dachte Fassin. aber auch er war tot.
Er sah Oazil an und fragte sich, ob dieser selbsternannte Wanderer tatsächlich ein Bekannter des toten Schwellen-Choal war, dem dieses Haus gehört hatte. Oder nur ein Glücksritter, ein Aufschneider, ein Phantast und Lügner?
In solche Gedanken versunken und vollauf damit beschäftigt, die eigene Verzweiflung zu kultivieren, hörte Fassin nur mit halbem Ohr zu, wie der alte Dweller seine Theorien zur Entwicklung der Gasriesenfauna darlegte und von seinen Wanderungen erzählte.
Oazil schilderte, wie er einmal das Südliche Tropenband umrundet hatte, ohne auf den einhundertvierzigtausend Kilometern einem einzigen Dweller zu begegnen. Einmal habe er sich einer Bande von adoleszenten Skulpturpiraten angeschlossen, Halbrenegaten, die in öffentlichem Auftrag Wurzel-Wolken-und AmmoniakSchleusen-Wälder anpflanzten, und sei ihre Galionsfigur geworden, ihr Maskottchen, ihr Totem. Und vor vielen Jahrtausenden sei er in der verlassenen Ödnis der Südlichen Polarregion in ein ganzes Labyrinth verlassener WolkenTunnel geraten. (Das Werk einer Truppe außer Kontrolle geratener und irgendwann verschwundener Tunnelbaumaschinen? Ein Kunstwerk? Der vergessene Prototyp einer neuen Stadtform? Er wisse es nicht – niemand hätte jemals von diesem Ort, diesem Bauwerk gehört.) Tausend Jahre lang sei er in diesem weitläufigen Baum, dieser Riesenlunge, diesem gewaltigen Wurzelgeflecht von einem Labyrinth umhergeirrt, bevor er schließlich, zu elf Zwölfteln verhungert und dem Wahnsinn nahe, den Ausgang gefunden habe. Er habe den Fund gemeldet, und andere hätten nach dem Tunnel gesucht, aber er sei nie wiedergefunden worden. Die meisten Leute glaubten, er hätte sich das alles nur eingebildet, aber das sei nicht wahr. Sie glaubten ihm doch hoffentlich?
Das Klopfen war wieder da. Er hatte es am Rande wahrgenommen, aber nicht darauf geachtet, er war nicht einmal so weit gegangen, es den Leitungen des Hauses zuzuordnen oder als Dehnungsgeräusch beziehungsweise als Reaktion auf eine kurze Strömungsunruhe im Gas der Umgebung zu identifizieren. Nach einer Weile hatte es aufgehört – auch das hatte er nebenbei bemerkt, aber immer noch nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt war es wieder da, und es war lauter geworden.
Fassin befand sich in Bibliothek Drei, einem der Räume im Innern der Traube, und las sich im Schnellverfahren durch den Bestand einer Unterabteilung, die Valseir offenbar vor Urzeiten mit einem Auftrag übernommen hatte. Ausgehend von dem frühesten Zeitpunkt, den irgendjemand festgehalten hatte, lagen diese Texte seit dreißigtausend Jahren herum, ohne je abgerufen oder gelesen zu werden. Seit ihrer Entstehung, lange bevor die Menschen nach Ulubis kamen, waren mehrere Generationen von ›Langsamen‹-Sehern verschiedener Spezies über Nasqueron hinweggegangen. Fassin hielt das Material für Tauschware – Daten aus zweiter, dritter oder x-ter Hand –, irgendwo ausgegraben, womöglich maschinell übersetzt (so las es sich jedenfalls, wo immer er an den ursprünglichen Text ging, um sich zu vergewissern, dass der Inhalt auch mit den Kurzfassungen übereinstimmte), zusammengefasst, von einer längst abgelösten (oder ausgestorbenen) Seher-Spezies den Dwellern von Nasqueron vorgelegt und im Austausch für – vermutlich – noch ältere Informationen übergeben. Er überlegte, wann die Mehrheit der Daten im Dweller-Besitz Tauschware sein würde, vielleicht war dieser Punkt sogar schon erreicht. Er war nicht der erste Seher, der diesen Verdacht hegte, und bei der heillosen Unübersichtlichkeit aller Dweller-Archive würde er sicherlich auch nicht der letzte sein.
Die Texte, die er durchsah, berichteten hauptsächlich von den romantischen Abenteuern und den philosophischen Reflexionen einer Gruppe von Sternenfeldfahrern. Sie waren allerdings mehrfach übersetzt oder stammten nicht nur von einer anderen Spezies, sondern von einem anderen Speziestyp. Auf jeden Fall waren sie sehr phantasievoll.
Das Klopfen wollte nicht aufhören.
Er schaute hinauf zu dem runden Fenster in der Decke. Bibliothek Drei war inzwischen von anderen, teilweise größeren Sphären umgeben, hatte sich aber einst an der Oberseite befunden und war am Scheitelpunkt großflächig mit Diamantfolie gedeckt. Heutzutage hätte auch dann nur wenig natürliches Licht eindringen können, wenn es draußen weniger düster gewesen wäre.
Hinter der Folie bewegte sich ein kleines, fahles Etwas. Als Fassin nach oben schaute, hörte das Klopfen auf, und das Ding winkte. Es sah aus wie ein Dweller-Junges, ein Haus-kind. Fassin beobachtete es eine Weile, dann wandte er sich wieder seinem Bildschirm und den ziemlich unwahrscheinlichen Heldentaten der S-Fahrer zu. Das Klopfen fing wieder an. Er versuchte, in seinem Gasschiffchen zu seufzen. Endlich hielt er den scrollenden Text an, löste sich aus der Sitzgrube und schwebte zur Deckenmitte empor.
Es war tatsächlich ein Dweller-kind: ein lang gestrecktes, deformiert wirkendes Exemplar, das für menschliche Augen eher einem Tintenfisch als einem Mantarochen glich. Es war in Lumpen gekleidet und mit ein paar kümmerlichen Lebensamuletten behängt. Fassin hatte noch nie ein kind mit Kleidern oder Schmuck gesehen. Für einen so jungen Dweller war es auffallend dunkel. Es deutete nach innen. An einer der sechseckigen Oberlichtscheiben befand sich eine Klinke oder ein Schloss.
Fassin beobachtete das seltsame kind eine Weile. Es wies unermüdlich immer wieder auf die Klinke. Seit sie hier waren hatte er im ganzen Komplex kein einziges Haus-kind gesehen. Dieses hier sah so aus, als könnte es Oazil gehören, aber er hatte bisher kein Junges bei sich getragen und auch nicht erwähnt, dass er eines besäße. Das kind deutete immer noch auf die Scheibenverriegelung und machte ihm mit Gesten begreiflich, er solle erst dagegendrücken, dann drehen und schließlich ziehen.
Fassin öffnete die Scheibe und ließ es ein. Es schwang sich ins Innere und machte ein Zeichen, das bei den Dwellern vermutlich ›Pst!‹ bedeutete. Dann zog es sich zusammen, krümmte seinen Körper, bis er wie eine Sichel aussah, und schwebte einen Meter vor dem Bug des Pfeilschiffchens auf der Stelle. Auf seiner Signalhaut erschien, nach allen Richtungen abgeschirmt bis auf die Seite, die Fassin zugewandt war, eine Schrift:
OAZIL: TREFFPUNKT 2 KM GENAU NACH UNTEN, STUNDE 5. WG. vALSEIR.
Das kind wartete, bis Fassin mit einem Lichtsignal sein Okay gesendet hatte, bevor es durch die Öffnung im Oberlicht wieder nach draußen huschte. Der kleine Bote streckte ein Ärmchen nach hinten und zog die Scheibe wieder zu, dann verschwand er zwischen den schwarzen Bibliothekskugeln in der Nacht.
Fassin nahm die Zeit. Kurz vor Stunde Vier. Er wandte sich wieder den Texten zu, fand aber nichts und konnte sich auch nicht mehr konzentrieren. Kurz vor Stunde Fünf ging er in Bibliothek Einundzwanzig, schlüpfte durch die Geheimtür nach draußen und ließ sich zweitausend Meter tief sinken. Die Hitze stieg langsam an, der Druck wurde höher. Endlich erblickte er den alten Dweller Oazil mit seinem Schwebekarren. Oazil signalflüsterte:
– Fassin Taak?
– Ja.
– Womit hat Valseir einst die ›Schnellen‹ verglichen? Etwas ausführlicher, wenn ich bitten darf.
– Wieso?
Der Alte schwieg eine Weile, dann sendete er: – Du könntest es erraten, Kleiner. Oder du sagst es mir einfach, weil ich dich darum bitte. Einem alten Dweller zuliebe.
Fassin zögerte mit seiner Antwort. – Wolken, sendete er endlich. – Wolken über einer von unseren Welten. Wir kommen und gehen, ein Nichts, verglichen mit der Landschaft darunter, wie flüchtiger Dampf neben hartem Fels, der scheinbar die Ewigkeit überdauert und immer noch da ist, wenn die Wolken eines Tages und die Wolken eines Jahres längst verschwunden sind. Dennoch kommen immer wieder neue Wolken, am nächsten und am übernächsten Tag, in der nächsten Jahreszeit, im nächsten Jahr, sie kommen, solange die Berge existieren, und irgendwann tragen Wind und Regen auch die Berge ab.
– Hmm, sendete Oazil. Es klang zerstreut. – Berge. Sonderbarer Vergleich. Ich habe noch nie einen Berg gesehen.
– Ich denke dabei wird es auch bleiben. willst du noch mehr hören? Ich fürchte allerdings, dass mir nicht mehr viel in Erinnerung geblieben ist.
– Nein, nicht nötig.
– Und nun?
– Valseir ist am Leben, sagte der alte Dweller. – Er lässt dich grüßen.
– Am Leben?
– Im C-2 Sturm Ultraviolett 3667 findet eine GasClipper-Regatta statt. Sie beginnt in siebzehn Tagen.
– Das liegt in der Kriegszone, nicht wahr?
– Das Turnier war längst angesetzt, bevor die Feindseligkeiten überhaupt zur Debatte standen, und wurde mit den Marschällen des Formalkriegs abgesprochen. Sie haben eine Sondergenehmigung erteilt. Komm zu diesem Turnier, Fassin Taak. Er wird dich finden.
Der alte Dweller rotterte einen Meter vorwärts, die Leinen seines Schwebekarrens spannten sich. – Leb wohl, Seher Taak, signalisierte er. – Bitte sei so gut und grüße unsere gemeinsame Freundin von mir.
Damit machte er kehrt und entschwebte. Schon wenige Augenblicke später war er bei der herrschenden Hitze und Dunkelheit mit den meisten Passivsensoren nicht mehr wahrzunehmen. Fassin wartete, bis er vollends verschwunden war, dann stieg er langsam wieder zum Haus empor.
»Ach, Fassin, ich sollte dir wohl mein Beileid aussprechen!« Y’sul kam von der Poaflias zum Empfangsbalkon des Blasenhauses emporgeschwebt. Nuern, Fassin und Hatherence hatten dem Schiff entgegengesehen, seit es aus dem Nebel aufgetaucht war. Die Triebwerke waren schon lange vorher zu hören gewesen.
»Ich danke dir«, antwortete Fassin. Er hatte Hatherence am Tag zuvor dazu überredet, die Poaflias zu rufen und von ihrer Jagdpatrouille zurückzubeordern. In der Takelage des Schiffchens hing eine bescheidene Anzahl von Trophäen: verschiedene Julmicker-Blasen, die wie grausige Luftballons an Stöcken auf und abhüpften, drei gasgetrocknete WolkenDrücker-Häute, die Köpfe von zwei grazilen Tummlern und – offensichtlich der größte Schatz, denn er war direkt am Bug befestigt – der Kadaver eines Dweller-kinds, ausgeweidet und auf einen Rahmen gespannt, so dass er wie eine groteske Galionsfigur vor dem Schiff herflog. Fassin hatte mit seinen Sensoren erfasst, wie der Schutzanzug des Colonels ein wenig zurückrollte, als sie erkannte, worum es sich bei dieser neuen Bereicherung der Poaflias tatsächlich handelte.
»In welcher Verfassung befindest du dich, Fassin, seit du so große Teile deiner Familie verloren hast?«, fragte Y’sul und hielt vor dem Seher an. »Hast du beschlossen, zu deinem Volk zurückzukehren ?«
»Ich bin … ruhig. Aber vielleicht stehe ich noch unter Schock.«
»Schock?«
»Schlag es nach. Ich habe noch nicht vor, zu meinem Volk zurückzukehren. Es gibt kaum noch jemanden, der mir nahe steht. Hier sind wir allerdings fertig. Ich möchte gern wieder nach Munueyn.«
Erst an diesem Morgen hatte er dem Colonel erzählt, er hätte etwas entdeckt, und sie müssten abreisen.
»Was ist das für eine Entdeckung, major? Darf ich sie sehen?«
»Das erkläre ich Ihnen später.«
»Ich verstehe. Und was ist nun unser nächstes Ziel?«
»Munueyn«, hatte er gelogen.
»Munueyn? Da wird sich unser Captain freuen«, sagte Y’sul.
Sie verließen das Haus noch am gleichen Abend. nuern und Livilido nahmen die Nachricht von ihrer Abreise mit Gelassenheit, ja sogar mit Freude auf. y’sul hatte Neuigkeiten vom Krieg mitgebracht. Zwei große Panzerkreuzerschlachten hätten bereits stattgefunden, und bei einem einzigen Gefecht seien fünf Panzerkreuzer zerstört worden und fast hundert Dweller ums Leben gekommen. Die Zonenstreitkräfte zögen sich mindestens in zwei Abschnitten zurück, und im Moment hätte ihr Gürtel auf jeden Fall die Oberhand.
Fassin und Hatherence verfassten kurze Dankschreiben an Jundriance. Irgendwann würde er sie schon lesen.
Nuern fragte, ob sie Bücher oder andere Werke aus dem Haus mitnehmen wollten.
»Nein, danke«, sagte Fassin.
»Ich habe dieses humoristische Wörterbuch gefunden«, sagte der Colonel und hielt ein Heftchen aus Diamantfolie in die Höhe. »Das würde ich gerne behalten.«
»Bedienen Sie sich«, sagte Nuern. »Sonst noch etwas? Werke auf Diamantbasis wie dieses hier verbrennen ohnehin in ein paar Jahrzehnten, wenn das Haus noch weiter in die Hitze hinabsinkt. Nehmen Sie mit, was immer Sie wollen.«
»Zu gütig. Das allein ist mehr als genug.«
»Die GasClipper-Regatta?«, fragte Captain Slyne und kratzte sich den Flossensaum. »Ich dachte, ihr wolltet nach Munueyn zurück?«
»Ich hatte keine Veranlassung, unseren Gastgebern mitzuteilen, was wir wirklich vorhaben«, erklärte ihm Fassin.
»Hältst du sie nicht für vertrauenswürdig?«, fragte Y’sul.
»Ich habe nur keine Veranlassung, ihnen zu trauen«, gab Fassin zurück.
»Die Regatta findet um den Sturm Ultraviolett 3667 zwischen Zone C und Gürtel Zwei statt«, sagte der Colonel. »Sie beginnt in sechzehn Tagen. Schaffen wir es in dieser Zeit bis dorthin, Captain?«
Sie befanden sich in Slynes Kabine, einem beeindruckenden Raum mit antiken Möbeln und flackernden Bildschirmen an den Wänden. An der Decke hingen alte Waffen: Pistolen, Blasterrohre und Armbrüste schwangen gemächlich hin und her, als sich die Poaflias mit halber Kraft von Valseirs altem Haus entfernte. Fassin hatte Hatherence zwar gesagt, wohin sie tatsächlich wollten, aber bisher nicht, warum.
Slyne kippte nach vorne, als wollte er umfallen, und kratzte sich weiter den Flossensaum. »Ich denke schon. Aber dann müsste ich jetzt einen anderen Kurs setzen.«
»Hat das nicht noch ein wenig Zeit?«, fragte Fassin. Sie waren erst eine halbe Stunde vom Blasenhaus entfernt. »Aber man könnte auf volle Kraft gehen.«
»Muss ich sowieso, wenn wir den Sturm rechtzeitig erreichen wollen.« Slyne drehte sich um und machte sich an einem Holowürfel zu schaffen, der über dem ringförmigen Tisch schwebte. Vor ihm leuchtete der größte Bildschirm auf, eine Karte des Raumabschnitts erschien und füllte sich rasch mit sanft geschwungenen Linien und abrollenden Zahlen. Slyne sah sich das Display eine Weile aufmerksam an, dann verkündete er: »Bei voller Kraft können wir in achtzehn Tagen dort sein. Mein bestes Angebot.« Slyne packte einen großen, blank polierten Griff, der unübersehbar aus dem Tisch ragte, und drückte ihn lustvoll, wenn auch etwas verlegen, bis zum Anschlag nach hinten. Das Geräusch der Triebwerke veränderte sich, und das Schiff begann allmählich zu beschleunigen.
»Wir könnten Verbindung zu Munueyn aufnehmen und ein schnelleres Schiff chartern«, schlug Y’sul vor.»Wir vereinbaren einen Treffpunkt mit der Poaflias, der auf unserem Weg liegt, und wechseln über.«
Slyne schaukelte nach hinten und starrte den älteren Dweller an. Die Muster auf seiner Signalhaut sprachen von tiefer Enttäuschung und heller Empörung.
»Achtzehn Tage sollten genügen, Captain«, beschwichtigte ihn Fassin. »Ich glaube kaum, dass wir bereits beim Start des Turniers anwesend sein müssen.«
»Wie lange dauern solche Wettbewerbe denn im Allgemeinen ?«, fragte Hatherence.
Slyne riss den Blick von Y’sul los, der den Gleichgültigen spielte, und antwortete: »Gewöhnlich zehn bis zwölf Tage. Diesmal wird man das Turnier wegen des Krieges vielleicht ein wenig abkürzen. Aber wir kommen noch zurecht, um das meiste mitzuerleben.«
»Gut«, sagte Fassin. »Bleib bitte noch eine halbe Stunde auf dem jetzigen Kurs, Captain. Danach kannst du abwenden und auf den Sturm zuhalten.«
Slyne hatte sich wieder halbwegs gefasst. »Schon so gut wie erledigt.«
Slyne nützte den WindFluss, ein kurzlebiges Band von noch schnellerer Strömung innerhalb des breiten Jetstreams der gesamten Rotationszone, und sie kamen gut voran. Zweimal wurden sie von Kriegsschiffen angehalten, durften dann aber ihren Weg fortsetzen. Sie schlüpften durch ein Minennetz, das wie eine Decke aus schwarzer, mit Sprengköpfen durchsetzter Spitze über den Himmel gebreitet war. Ein Panzerkreuzerfänger, versicherte ihnen Slyne. Ihnen könnte er nichts anhaben. Sie hätten, ach, zwanzig bis dreißig Meter Spielraum auf jeder Seite.
Der Schraubenbrecher Poaflias schaffte es, in sechzehn Tagen die Unterseite des Sturms mit Namen Ultraviolett 3667 zu erreichen. Sie trafen ziemlich genau zum Beginn der Regatta dort ein.
»Alles anschnallen! Könnte etwas unruhig werden!«, brüllte Y’sul und wiederholte die Warnung als Signal, für den Fall dass die anderen sie nicht gehört hätten.
Fassin und Hatherence waren auf dem Weg an Deck gewesen, als die Poaflias mehr als üblich zu bocken und zu rollen anfing. Das Gas war hier noch dunkler als um Valseirs Haus, wenn auch weniger dicht und heiß, und es pfiff förmlich durch die kümmerlichen Reste der Takelage. Bänder und Streifen, die sich eben noch um das ganze Schiff geringelt hatten, wurden fortgerissen, als sich die Poaflias in die nächste brodelnde Wolkenmasse stürzte.
Der Mensch und die Oerileithe befanden sich noch unter dem Dach des Niedergangs, wo es halbwegs ruhig war. Sie wechselten einen kurzen Blick, dann streiften sie rasch die primitiv aussehenden Geschirre über. Das Gurtwerk des Colonels passte gut über den Schutzanzug. Bei Fassin hielt es zwar, sah aber nicht sehr ordentlich aus, es war nicht für seine Alien-Gestalt gemacht. Slyne hatte verlangt, dass jeder die Dinger trug, der an Deck kam, solange die Poaflias in voller Fahrt war, obwohl sowohl Hatherence wie auch Fassin – sollten sie wider Erwarten davongeweht werden – das Schiff mit ihrem eigenen Antrieb leicht hätten einholen können.
»Was ist denn los?«, rief Hatherence, als sie sich Y’sul näherten, der sich neben der Harpunenkanone am Bug an die Reling klammerte.
»Wir schießen in den Sturm ein!«, brüllte Y’sul zurück.
»Hört sich gefährlich an!«, schrie Hatherence.
»Und ob!«
»Und was heißt es nun genau?«
»Wir fliegen durch die Sturmwand«, rief Y’sul. »Dazu müssen wir die Randwinde überwinden. Sollte ein ordentliches Spektakel werden!« Hinter den Gasfetzen, durch die sich das Schiff seinen Weg bahnte, tauchte eine mächtige dunkle Mauer aus wirbelnden, reißenden Wolkenmassen auf. Grelle Blitze zuckten wie Quecksilberadern durch die mächtige Klippe.
Auf diese Mauer, die sich nach den Seiten und nach oben erstreckte, so weit das Auge reichte, rasten sie in voller Fahrt zu. Unter ihnen brodelte eine unruhige Masse aus noch dunklerem Gas wie Suppe in einem Kessel. Der Wind wurde stärker und spielte auf den Relingen, dem Takelwerk und den Antennen wie auf einem gewaltigen Instrument. Die ganze Poaflias vibrierte und summte.
»Schätze, es wird Zeit, nach unten zu gehen«, rief Hatherence.
Eine Julmicker-Blase – offenbar die letzte, die noch übrig war – wurde von der Reling gerissen, traf Y’sul, schleuderte ihn nach Steuerbord und verschwand im heulenden Sturm. »Schon möglich«, pflichtete Y’sul ihr bei. »Nach Ihnen.«
Sie drängten sich mit Slyne mittschiffs auf dem gepanzerten Sturmdeck unter eine dicke Diamantblase und beobachteten von dort, wie sich die Poaflias mit der Nase in den Sturm bohrte wie ein Torpedo, der in einen horizontal daherkommenden Tintenwasserfall geschossen wurde. Das Schiff ächzte in allen Fugen und begann, sich um sich selbst zu drehen. Alle wurden gegeneinander geworfen. Die Poaflias verschwand hüpfend und schwankend wie ein Dweller-kind am Ende einer Harpunenleine in der schwarzen Mauer.
Slyne stieß einen Jubelschrei aus, zog an verschiedenen Hebeln und drehte an Rädern. Seine Haus-kinder drückten sich wimmernd an die Wände des ovalen Raumes.
»Muss das den wirklich sein?«, wandte sich Fassin an Y’sul.
»Ich bezweifle es!«, sagte der Dweller. Auf einer großen Tafel über Slyne leuchteten erste Lichter auf. In der Dunkelheit wirkten sie besonders hell.
Hatherence deutete darauf. Dutzende von weiteren Lichtern begannen zu blinken. »Was ist das?«
»Schadensanzeigen!«, erklärte Slyne, der weiter Hebel betätigte und an Rädern drehte. Das Schiff sackte jäh ab. alle wurden an die Decke geschleudert und stürzten wieder zurück.
»Das dachte ich mir«, sagte Hatherence. Das Schiff machte eine heftige Wendung. Sie wurde gegen Fassin geschleudert und entschuldigte sich.
Als die blinkenden Lichter zu aufdringlich wurden, schaltete Slyne die Tafel einfach ab.
Während der schlimmsten Turbulenzen warf sich eines von Slynes Haus-kindern auf seinen Herrn und musste weggerissen und bewusstlos geschlagen werden, bevor man es in ein Gepäckfach werfen konnte. Niemand wusste, ob es verzweifelt Schutz gesucht hatte oder ihn angreifen wollte.
Y’sul wurde übel. Fassin hatte noch nie gesehen, wie sich ein Dweller übergab. Er klebte wieder an der Decke, bedeckt mit einer Schicht von schleimigem Erbrochenem. Slyne bemühte sich fluchend, die Kontrolle über die Steuerung zu behalten. Auf allen Seiten heulten seine Haus-kinder. Jemand murmelte: »Scheiße, jetzt müssen wir alle sterben.« Hinterher wollte es niemand gewesen sein.
Dann hatte die Poaflias die tosende Sturmwolke durchbrochen, geriet in eine riesige, dunstige Flaute und stürzte wie ein Eisenklumpen in die Tiefe. Slyne atmete Gas ein, um einen Jubelschrei auszustoßen, und bekam dabei etwas von dem mit, was Y’sul von sich gegeben hatte. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Er hustete und würgte und verfluchte Y’suls Vorfahren bis zurück in die Zeit kurz nach dem Urknall. Es gelang ihm nur mit Mühe, das Schiff abzufangen und wieder auf ebenen Kiel zu legen. Er nahm Verbindung zur Regattaleitung auf, und sie schleppten sich mit letzter Kraft – die Poaflias hatte alles Takelwerk, die Relinge und vier von ihren sechs Triebwerken verloren – zum Unteren Jachthafen und auf einen Liegeplatz in einer Reparaturwerft für Sturmgeschädigte.
Wenn man hinaufschaute in das mächtige Gewölbe des Sturms und weiter durch den Dunst in den sternenübersäten Himmel, konnte man winzige Punkte erkennen, die langsam vor dem harten Lichtschein kreisten.
– Die Abholflotte und alle Relaisschiffe befinden sich im Orbit, teilte Hatherence Fassin mit.
Sie befanden sich auf einer steil ansteigenden Aussichtsgalerie mit vielen, mit Dwellern voll besetzten Rängen. Die Galerie hing an der Dzunda, einem Luftschiff von einem Kilometer Länge, das dicht an der Sturmmauer schwebte, und war durch Rippen aus Carbonfaser geschützt, die sich explosionsartig aufrichten würden, falls ein Schiff zu nahe käme – ein halbwegs sicherer Ort also, um sich ein GasClipper-Rennen anzusehen. Zu beiden Seiten der fächerförmig angebrachten Sitzgruben konnten sich riesige Bildschirme aufrollen, um die Höhepunkte anderer Rennen zu zeigen und Ereignisse zu übertragen, die zu weit entfernt waren, um sie direkt verfolgen zu können.
– Die Abholflotte?, fragte Fassin.
– So wurde sie mir beschrieben, sagte Hatherence und ließ sich neben ihm nieder. Die Dweller um sie herum waren sichtlich fasziniert von ihrer Fremdartigkeit. Y’sul war weggegangen, um sich mit einem alten Freund zu treffen. Solange er da war, hatten die Dweller Fassin und Hatherence nur hin und wieder einen verstohlenen Blick zugeworfen, doch seit sie allein waren, wurden sie schamlos angestarrt. Sie hatten sich inzwischen daran gewöhnt, und Fassin dachte, wenn Valseir tatsächlich hier wäre und nach ihm suchte, würde er es nicht allzu schwer haben, ihn zu finden.
– Wie groß ist die Flotte?, fragte Fassin.
– Weiß nicht genau.
Hunderte von Luftschiffen, die Quartiere bereitstellten oder Zuschauer ins Auge des Sturms brachten, Dutzende von GasClippern und Begleitschiffen, die an der Regatta teilnahmen, sowie Dutzende von Medien-und Versorgungsschiffen waren unterwegs, ganz zu schweigen von einem Protokollschiff, dem kriegsneutralen Panzerkreuzer Puisiel. Sie war mit bunten Wimpeln, reihenweise antiken Signalflaggen und Girlanden von dwellergroßen BallonBlüten geschmückt, um ja nicht mit einem der Panzerkreuzer verwechselt zu werden, die an dem größeren und geringfügig ernsthafteren Wettstreit hinter der Sturmwand beteiligt waren.
Die seitlichen Bildschirme leuchteten auf und zeigten die Anfangsphase eines Rennens, das tags zuvor stattgefunden hatte. Ringsum johlten, schrien und lachten tausend Dweller, warfen mit Speisen um sich, schlossen mündliche Kudos-Wetten ab, um sie später je nach Ausgang abzustreiten oder hochzutreiben, und bewarfen sich mit Beleidigungen.
– Andere Nachrichten von draußen?, fragte Fassin.
– Unsere Befehle bleiben unverändert. Es hat weitere Angriffe im System gegeben, auf mehr oder weniger willkürlich ausgewählte Ziele. Nichts in der Größenordnung der Überfälle auf die Seher-Standorte. Man bereitet sich mit Hochdruck auf die Verteidigung vor. Die Fabrikanten unternehmen weiterhin heroische Anstrengungen. Die Bevölkerung bringt unverdrossen die größten Opfer. Die Moral bleibt hoch. Doch inoffiziell wird gemeldet, dass die Angst wächst. Da und dort kommt es zu Unruhen. Tiefraummonitoren haben bislang noch nicht eindeutige Spuren einer großen Flotte aufgezeichnet, die aus der Gegend des E-5-Separats auf uns zukommt.
– Wie groß?
– Groß genug, um uns zu bedrohen.
– Viele Unruhen ?
– Nicht allzu viele.
Das Luftschiff beschleunigte, man hörte von ferne das Jaulen der Triebwerke. Heiserer Jubel brandete auf. Die Dweller erkannten, dass die Dinge in Bewegung kamen.
– Nun, Major, sendete der Colonel mit niedriger Signalstärke durch den Höllenlärm. – Wir haben das Schiff Poaflias endlich verlassen, wir sind allein, ich halte es für unwahrscheinlich, dass man uns belauschen kann, und der Wunsch zu erfahren, was wir hier wollen, droht mich zu überwältigen. ich nehme nicht an, Sie hätten im Verlauf Ihrer Forschungen eine glühende Begeisterung für GasClipper entwickelt?
– Oazil behauptet, Valseir sei am Leben.
Der Colonel schwieg eine Weile. Dann sendete sie – Und das sagen Sie mir einfach so?
– Natürlich könnte Oazil verrückt sein oder unter Wahnvorstellungen leiden, vielleicht ist er auch ein Phantast oder will nur Schindluder mit mir treiben, aber nach allem, was er sagte, kannte er Valseir oder hatte zumindest Anweisungen von ihm erhalten, mit welcher Frage er sich vergewissern sollte, dass ich wirklich der war, als der ich mich ausgab.
– Ich verstehe. Sein Besuch in Valseirs Haus war also kein Zufall?
– Ich vermute, er hatte es seit längerem beobachtet. Er oder jemand anderer hatte gewartet, dass wir – dass ich – dort auftauchten.
– Und Oazil hat Sie also hierher geschickt ?
– So ist es.
– Und nun?
– Soll Valseir irgendwann auf mich zukommen.
Wieder erhob sich lauter Jubel. Die Dzunda nahm Fahrt auf, reihte sich ein in eine kleine Flotte von Zuschauerschiffen und schwebte mit ihnen durch das Gas auf das zwei Kilometer entfernte Startraster zu, wo die GasClipper Aufstellung genommen hatten. Es war ein kurzes Rennen, nicht länger als etwa eine Stunde, mit Wendungen an Bojen, die in die Sturmmauer gesetzt waren. Im Verlauf der Regatta würden die Wettbewerbe länger und härter werden und in einem letzten epischen Rennen um die ganze Innenfläche des riesigen Sturmes gipfeln.
– Valseir wusste also, dass Sie eventuell nach ihm suchen würden, und hatte Vorkehrungen getroffen, um … Hmm. Das ist interessant. Hat er schon Kontakt aufgenommen?
– Noch nicht. Aber jetzt wissen Sie, warum wir hier sind.
– Sie halten mich auf dem Laufenden?
– Gewiss. Aber Sie werden hoffentlich verstehen, dass ich irgendwann einmal alleine losziehen muss. Ihre Gegenwart könnte Valseir oder jemand anderen nervös machen.
Das Luftschiff nahm mehr Fahrt auf und hielt weiter Kurs auf die innerhalb des Sturms gelegene Seite des Startrasters. Der Gasstrom riss die ersten nicht befestigten Ballons und Tabletts davon.
– Nervös? Sie nehmen das alles so … ernst?
– Was meinen Sie?
– Ich denke, Oazil spielt wahrscheinlich eine oder mehrere von den Rollen, die Sie ihm zuschreiben. aber jetzt sind wir hier, und wenn er die Wahrheit sagte, wird die Kontaktaufnahme ohne Zweifel auch erfolgen. Die Alternative ist natürlich, dass wir in Valseirs Haus zu dicht an eine interessante Sache herangekommen waren und man uns weglocken wollte. Was hat Oazil genau zu Ihnen gesagt?
Fassin hatte das Gespräch aufgezeichnet, das er tief unter dem Haus mit dem wandernden Dweller geführt hatte, und sendete es nun dem Colonel.
Die Flotte von Zuschauerschiffen zog wie ein aufgescheuchter Schwarm von fetten Vögeln am Startraster vorbei. Wieder erhob sich lauter Jubel. Die GasClipper blieben auf der Startebene und warteten auf ihr Zeichen.
– Trotz alledem, wenig Greifbares, Major, bemerkte Hatherence. – Sie hätten mich früher informieren und die Entscheidung über das weitere Vorgehen mir überlassen müssen. Vielleicht habe ich Ihnen zu viel Freiraum gegeben. Natürlich habe ich nach wie vor Verständnis für Ihre Trauer. Aber ich bin wohl doch etwas zu nachlässig gewesen.
– Wenn Sie es niemandem verraten, schweige ich auch, sendete Fassin ohne jede Ironie.
Die GasClipper – größere Versionen der Ein-Dweller-SturmJammer mit mehrköpfiger Besatzung – erinnerten mit ihren hohen Masten und den Erzkielen an Ritter in voller Rüstung. Fünfzig Meter lang – fünfzig Meter auch in den anderen Dimensionen – mit Segeln, die wie riesige Messerklingen blitzten, sahen sie aus, als hätte man einen Magneten in einen Haufen scharfer, exotischer Waffen geworfen. Zwischen den Silberklingen erblühten Wimpel und Standarten mit Erkennungszeichen wie bunte Blumen unter dem winzigen Glitzerpunkt, der Sonne Ulubis.
Ein einziges Medium reichte für diesen Sport nicht aus. Um richtig zu segeln, musste sich ein Kiel (oder etwas Vergleichbares) in einem Medium befinden, und Segel (oder etwas Vergleichbares) in einem zweiten. In einem tiefen Gasstrom allein konnte man nicht segeln, sondern nur fliegen. Wo sich zwei Ströme berührten, an der Grenze zwischen einer Zone, die sich in eine Richtung bewegte, und einem Gürtel, der in die Gegenrichtung zog, konnte man theoretisch segeln, wenn es gelang, Schiffe zu bauen, die dafür groß genug waren. Die Dweller hatten versucht, Schiffe in dieser Größe zu bauen, die nicht auseinander fielen. Sie waren gescheitert.
Stattdessen nutzten SturmJammer und GasClipper die gewaltigen Magnetfelder, die in den meisten Gasriesen vorhanden waren. Feldlinien waren ihr Wasser, der Ort, wo die stabilisierenden Kiele lagen. Mit einem gewaltigen Magnetfeld, das sie auf einem Kurs voranzutreiben suchte, und den planetenumspannenden Atmosphärebändern eines von Dwellern bewohnten Gasriesen, die in ganz andere Richtungen drängten, waren die nötigen Voraussetzungen geschaffen. Und wenn man zudem mit den Segeln von innen her in ein riesiges Sturmsystem eintauchte, wurde der Sport auch so gefährlich, dass man Spaß daran haben konnte.
– Wir können nur hoffen, dass dies kein Trick war, um uns vom Haus wegzulocken, erklärte der Colonel. – Und wir können nur hoffen, dass Valseir auch wirklich Kontakt zu Ihnen aufnimmt. Immer vorausgesetzt, er ist noch am Leben. Wir haben keinen Beweis dafür bekommen. Sie sah ihn an. – Oder?
– Nein.
Jetzt hatte die Flotte von Zuschauerschiffen das Startraster fast passiert. Die GasClipper erbebten wie auf ein Stichwort, dann schwenkten sie – unglaublich schnell, wenn man bedachte, dass sie eigentlich keine Triebwerke hatten – auf die massive schwarze Wolkenwand zu, die an der Innengrenze des mächtigen Sturms vorüberraste. Sie drängelten so sehr, dass sie sich beinahe streiften, fuhren in Schlangenlinien durch das Gas und schnitten einander den Weg ab. Jeder versuchte, sich die günstigste Position zu verschaffen. Zum Steuern nützten sie die leichten Winde und ganz einfach die Trägheit des Mediums, während sie auf ihren Feldlinien auf die Sturmwand zurasten.
– Aber seine Leiche wurde nie gefunden. Das ist doch richtig?, fragte Hatherence.
– Das ist richtig, bestätigte Fassin. – In einer Böe, die einen SturmJammer entzweireißen konnte, hätte er kaum Chancen gehabt, dennoch kann man nicht ausschließen, dass er noch lebt.
– Aber es gibt doch … kein Wasser oder etwas dergleichen? Die Segler können nicht ertrinken, und es ist weder zu kalt, noch zu heiß. Wie kann es sein, dass ein starker Wind genügt, um sie zu töten ?
– Der Wind reißt sie auseinander. Er wirbelt sie so schnell und lange im Kreis, bis sie zuerst das Bewusstsein verlieren und sich irgendwann in ihre Bestandteile auflösen. Oder sie fallen ins Koma und sinken in die Tiefe. Auch Dweller müssen atmen. Und das können sie nicht mehr, wenn der Druck zu hoch wird.
– Hmm.
Die GasClipper hatten die Innenseite des Sturms erreicht, fuhren ihre Klingensegel aus und tauchten sie in den Gasstrom. Nun waren die Schiffe nur noch zur Hälfte zu sehen. Die Zuschauerschiffe beschleunigten stark, doch obwohl sie einen Vorsprung hatten, obwohl die brüllenden Triebwerke ihr Letztes gaben, und obwohl sie die Innenbahn und damit den kürzeren Weg hatten, begannen sie hinter die kleine GasClipper-flotte zurückzufallen.
– Könnte es sein, dass Valseir den Unfall selbst inszeniert hat?, fragte der Colonel.
– Möglich. vielleicht hat er es so eingerichtet, dass irgendein Freund, ein Komplize in der Nähe war und ihn retten konnte. Das hätte seine Überlebenschancen erheblich verbessert.
– Kommt es oft vor, dass ein Dweller seinen eigenen Tod vortäuscht?
– So gut wie nie.
– Das dachte ich mir.
Die GasClipper befanden sich jetzt auf gleicher Höhe mit der größeren Flotte der Zuschauerschiffe. Dort wurde das Geschrei und Gejohle noch lauter und schriller, als der ganze Pulk von GasClippern und die Begleitgeschwader aus Luftschiffen und Versorgungsfahrzeugen für einen Moment wie ein einziges Schiff dahinflogen. Vor ihnen türmte sich die schwarze Sturmwand auf wie ein senkrechtes Meer, das aufgewühlt und in Fetzen an ihnen vorüberraste. von unten kam ihnen ein breites schemenhaftes Band entgegen. Sie traten in den Schatten des Sturms ein. Ulubis, ein matter Lichtpunkt, verschwand hinter einem tosenden, wie wahnsinnig rotierenden Gasring von hundert Kilometern Dicke und zehntausend Kilometern Durchmesser.
»Fassin. Hast du Wetten abgeschlossen?«, fragte Y’sul und steuerte seine Sitzgrube an. Ein Haus-kind in Kellneruniform schwebte mit einem Tablett voller Drogen und den dazugehörigen Gerätschaften an seine Seite, wartete, bis sich der ältere Dweller niedergelassen hatte, klemmte das Tablett an den Sitz und zog sich zurück.
»Nein. Ich könnte doch nur dein Kudos einsetzen, oder nicht?«
»Ach so! Kann sein«, sagte Y’sul. Das hatte er sich offenbar noch nicht überlegt. »Mein Unterbewusstsein scheint dir blind zu vertrauen. Sehr merkwürdig.« Er drehte sich zur Seite und durchwühlte die verschiedenen Drogen.
»Wie geht es Ihrem Freund?«, fragte Hatherence.
»Oh, er war bester Laune«, versicherte Y’sul, ohne sie anzusehen. »Sein Vater ist gestern im Kampf gefallen. Nun erbt er vermutlich Kudos-Punkte für Tapferkeit.« Er kramte weiter. »Ich hätte schwören können, dass auch HirnFieber dabei war …«
»Wie schön, dass er den Verlust so gut verkraftet«, sagte Fassin.
»Aha! Da haben wir’s doch!« Y’sul hielt eine große, leuchtend orangefarbene Kapsel hoch und betrachtete sie von allen Seiten. »Ach ja, Fassin: ich bin mit einem Bürschchen zusammengestoßen, das behauptet, dich zu kennen. Hat mir das hier gegeben.« Y’sul griff in eine Vordertasche, förderte ein winziges Bildblatt zutage und reichte es Fassin.
Der Mensch nahm das Foto mit einem der Feinmotorik-Manipulatoren seines Gasschiffs und sah es sich an. Es zeigte einen blauen Himmel mit weißen Wolken.
»Die Farbe stimmt natürlich ganz und gar nicht«, bemerkte Y’sul. »War nicht zu übersehen.«
Fassin bemerkte, dass sich auch der Colonel das Bild ansah und sich dann schweigend zurücklehnte.
»Hat die Person, die behauptete, mich zu kennen, auch irgendetwas gesagt?«, fragte Fassin.
»Wie?« Y’sul studierte immer noch die fingerlange orangefarbene Pille. »Oh ja. Er sagte, du sollst das Ding hier gut aufbewahren, und wenn du ihn sprechen willst, sollst du in das Restaurant am Heck der Aussichtsgalerie kommen. Allein. Ich fand das ziemlich unhöflich. Aber er war noch sehr jung. was kann man anderes erwarten?«
»Jedenfalls vielen Dank«, sagte Fassin.
»Nichts zu danken.« Y’sul winkte ab und schluckte die Riesenpille.
– Sie gestatten, Colonel?, sendete Fassin an Hatherence.
– Genehmigt. Passen Sie auf sich auf.
»Verzeihung«, sagte Fassin und erhob sich aus seiner Sitzgrube. Y’sul hörte ihn nicht; zwei der führenden GasClipper hatten ein Privatduell begonnen, sie schwenkten gefährlich dicht aufeinander zu, fuhren sich gegenseitig in den Weg, versuchten die Feldlinien zu stören und dem anderen den Wind zu stehlen, damit er von den Kielwirbeln zurückgedrängt würde oder abschmierte. Y’sul schwebte aus seinem Sitz und schrie und johlte mit all den anderen Zuschauern, die sich noch nicht in ihre eigene kleine Drogenwelt zurückgezogen hatten.
Der Dweller – der schlichten Kleidung und ganz sicher dem Aussehen nach ein Jüngling – passte Fassin ab, als er durch den breiten Zentralkorridor der Dzunda zum Heck schwebte, und setzte sich an seine Seite. Fassin drehte sich ein wenig, um seinen neuen Begleiter ansehen zu können, hielt aber nicht an.
»Seher Taak?«, fragte der Jüngling.
»Ja?«
»Würden Sie mir bitte folgen?«
Der junge Dweller führte Fassin nicht zum Restaurant am Heck, sondern zu einer Privatkabine an der Unterseite des Luftschiffs. Dort unterhielt sich der Captain der Dzunda mit einem Dweller, der dem Aussehen nach zumindest ein früher Weiser sein musste. Der Captain drehte sich um, als Fassin und sein Begleiter eintraten, dann verließ er – mit einer kleinen Verbeugung vor Fassin – mit dem Jüngling die Kabine. Fassin und der greise Dweller blieben allein in der runden Diamantblase zurück. Bilder vom Rennen liefen ohne Ton über einige Bildschirme. An einer Seite schwebte ein Tablett mit einem großen Drogenbrenner, von dem bläulich grauer Rauch aufstieg, der den Raum in einen duftenden Nebel hüllte.
»Bist du es, Alter?«
»Ich bin immer noch ich, junger Taak.« Die Stimme war vertraut.
Der Dweller schwebte auf Fassin zu. Wenn es Valseir war, dann war er seit der letzten Begegnung zwar nicht mehr kleiner, aber um einiges dunkler geworden. Er hatte seine Lebensamulette und seinen Schmuck abgelegt und trug jetzt eine gelbe Teilgarderobe von strengem Schnitt und fast mönchischer Schlichtheit.
»Hast du das Zeichen mitgebracht, das ich dir schicken ließ?«
Fassin reichte ihm das kleine Bildblatt. Der Dweller sah ihn an, sein Flossensaum kräuselte sich zu einem Lächeln. »Ja, ihr reibt euch noch immer an uns, nicht wahr?«. Er gab ihm das Foto zurück. »Gib gut darauf Acht. Und wie geht es Oazil? Ich nehme doch an, er hat dich im Haus gefunden, und du bist nicht zufällig hier?«
»Es ging ihm gut. Er war exzentrisch, aber wohlauf.«
Das Lächeln des alten Dwellers vertiefte sich kurz und erlosch. »Und das Haus? Meine Bibliotheken?«
»Sie sinken in die Tiefe. was davon noch übrig ist.«
»Was noch übrig ist?«
»Ein Teil fehlte.«
»Aha. Das Arbeitszimmer.«
»Was ist damit geschehen?
»Der WolkenTunnel wurde zu schwer, er war nicht mehr zu halten. Ich ließ das Haus abkoppeln. Doch vorher räumte ich das Arbeitszimmer aus. Der Tunnelabschnitt versank in den Tiefen.«
»Und der Inhalt?«
Der alte Dweller rotterte ein wenig zurück und wirbelte den Rauch zu kleinen Kringeln auf. »Die Prüfung ist wohl noch nicht zu Ende, Fassin Taak? Du willst immer noch nicht glauben, dass ich der bin, für den du mich hältst.«
»Und für wen halte ich dich?«
»Für deinen – wie ich dachte – alten Freund Valseir, einen ehemaligen Choal, der jetzt als Weisen-KIND auftritt und hofft, dass auch seine Altersgenossen ihm diesen Status zugestehen werden, sollte er sich jemals wieder in der Öffentlichkeit zeigen können. Glaubst du, ich kann mich jemals wieder in der Öffentlichkeit zeigen, Seher Taak?«
»Das kommt darauf an.« Hinter dem alten Dweller ging das GasClipper-Rennen weiter. Weit vor dem Luftschiff, das nur noch mühsam hinterherhechelte, zeichneten Kameradrohnen alles auf und übertrugen es auf die Bildschirme, die es in Großaufnahme wiedergaben. Durch die offenen Diamantscheibenfenster der Privatkabine drang ferner Jubel. »Warum bist du denn untergetaucht?«
Der Dweller schaltete auf Signalflüstern um. – Ich wollte noch einmal überfliegen, was ich dir für deine expressionistischen Gemälde gegeben hatte. Und dabei stieß ich auf eine gewisse Anmerkung am Ende eines gewissen Bandes. Was mich daran erinnert, dass ich mich entschuldigen muss. Es war nicht meine Absicht, dich mit drei verschiedenen Übersetzungen desselben Buches abzuspeisen, anstatt dir die drei Bände des einen Werks zu geben. aber die Anmerkung habe ich gelesen, und ich kam zu dem Schluss, dass sie sich auf die Art von Information bezog, für die gewisse Leute sterben und sicherlich auch töten würden. Daraufhin beschloss ich zu verschwinden. Ich stellte mich tot.
»Vergib mir, dass ich an dir gezweifelt habe, Valseir.« Fassin trat vor und streckte dem alten Dweller zwei Manipulatoren entgegen.
»Misstrauisch bis zum Letzten«, seufzte Valseir, übersah den linken Manipulator und schüttelte den rechten mit einem rechten Nabenarm. »Bitte schön: so begrüßt man sich bei den Menschen. Bist du jetzt zufrieden, Seher Taak?«
Fassin lächelte. »Vollkommen. Schön, dich wiederzusehen.«
– Dann empfindest du sicherlich emotionalen Schmerz. Das tut mir Leid für dich.
– Ich bemühe mich, nicht allzu viel Selbstmitleid aufkommen zu lassen. Was mir besser gelingt, wenn ich weiterhin tue, was getan werden muss.
Fassin hatte Valseir von den Angriffen auf Third Fury und den Sept Bantrabal erzählt. Valseir hatte berichtet, wie sein Leben verlaufen war, seit sie sich zum letzten Mal getroffen hatten. Für ihn war diese Zeit in einer Art und Weise von der Dweller-Liste beherrscht worden, wie selbst Fassin es erst seit kurzem kannte. Valseir hatte sich fast ununterbrochen versteckt, nachdem er mit Hilfe des Dweller-Captains Xessife, den Fassin kurz gesehen hatte, seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte. Xessife war ein alter SturmSegler, ein Jammer-und Clipperfahrer mit einer Sammlung von Trophäen und Medaillen, die schwerer waren als er selbst. Inzwischen im Ruhestand, führte er ein beschaulicheres Dasein und übernahm nur hin und wieder die Führung eines Luftschiffs, um sich der SturmSegler-Szene nicht vollends zu entfremden.
– Und was ist nun zu tun, Seher Taak ?
– Ich denke, wir müssen diesen dritten Band finden: Hast du ihn noch?
– Nein. aber es geht in dieser Frage nicht um den dritten Band an sich.
– Worum dann?
– Um eine Notiz, eine kurze Anmerkung.
– Hast du die?
– Nein.
– Weißt du, wo sie ist?
– Nein.
– Dann sind wir, um einen Ausdruck der Menschen zu gebrauchen, womöglich alle erledigt.
– Ich weiß aber, in welcher Richtung man danach suchen sollte.
– Das könnte eine Hilfe sein.
– Du hältst diese Anmerkung also auch für wichtig? Du glaubst, ohne sie könnten wir alle ›erledigt‹ sein?
– Oh, vielleicht sind wir auch mit ihr gründlich erledigt, aber solange wir sie nicht haben und andere glauben, dass das Ding existiert, werden sie jeden gnadenlos niedermachen, der ihnen im Weg steht oder den sie nicht für hundertprozentig kooperativ halten. Meine Aufpasserin hier, eine Oerileithe, Colonel der Ocula, sagte mir, über Nasqueron habe sich eine Flotte von Kriegsschiffen der Merkatoria versammelt. Angeblich ist sie hier, um sie und mich abzuholen, aber ich fürchte, sie könnten andere Absichten haben.
– Eine militärische Intervention?
– Sobald sie glauben, eine feste Spur zu haben, die zur Liste führt.
– Nun, dann müssen wir vermeiden, ihnen eine solche Spur zu liefern. Zugleich darf ich meinen Mit-Dwellern keinen Vorwand liefern, mich als abscheulichen Verräter zu brandmarken, weil ich auch nur daran denke, etwas an fremde Mächte weiterzugehen, was mit der fraglichen Sache zu tun hat. Zwar lassen meine eigenen Forschungen und die vieler anderer vermuten, dass die gesuchten Daten entweder hoffnungslos veraltet oder ein Hirngespinst sind, vielleicht auch beides. Dennoch muss ich zumindest jemandem die Richtung weisen, wenn ich nicht für immer tot bleiben will.
– Und zu diesem Jemand hat das Schicksal offenbar mich ausersehen. wo muss ich hin?
– Ach ja. Dazu muss ich etwas erklären. als ich begriff, worauf sich die Anmerkung in Band eins bezog, suchte ich natürlich nach Band drei. Zumindest nach einigen Tagen, nachdem ich meine Wut und mein Entsetzen darüber überwunden hatte, dass ich ohne eigene Schuld – oder doch nur, weil ich das an sich harmlose Steckenpferd der Bibliophilie reite – möglicherweise etwas entfesselt hatte, was viel zerstören konnte, angefangen bei meinem eigenen durchaus glücklichen und zufriedenen Leben. Ich machte mich also auf die Suche und förderte den Band schließlich auch zutage. Ich hatte noch nie so viel Anlass, meine Nachlässigkeit beim Katalogisieren zu verfluchen. Die betreffende Passage befand sich in einer eigenen Mappe, die ich zum Anhang dazugeheftet hatte. Das Original dieser Mappe brachte ich persönlich in einem verschlossenen Behälter zu einem befreundeten Sammler in der Stadt Deilte in der Südlichen Polarregion. Ich bat diesen Freund, den Behälter für mich in Verwahrung zu nehmen, aber nicht zu öffnen. Im Falle meines Todes sollte er ihn an jemanden weitergeben, dem er seinerseits vertraute und der ihn ebenfalls nicht öffnen sollte. Zu gegebener Zeit würde ein Familienmitglied oder eine andere Person meines Vertrauens mit einem ganz bestimmten Bildblatt bei ihm vorsprechen. Ich spreche von dem Bildblatt, das du jetzt bei dir trägst. Dieser Person sei der Behälter auszuhändigen.
– Hätte denn dein Freund in Deilte von deinem Tod erfahren? Ich wusste davon nichts.
– Vielleicht, vielleicht auch nicht. Er sammelt antiquarische Daten, so wie ich, lebt aber sehr zurückgezogen. Er könnte jedoch durch gemeinsame Bekannte davon gehört haben.
– Schön, sendete Fassin. – Ich muss also nach Deilte. Wie war der Name seines Freundes?
– Chimilinith.
Der Name hatte Valseirs Signalvertiefung kaum verlassen, als Fassin einen Neutrinoburst registrierte.
– Ein bestimmter Teil von Deilte?, fragte er und sah sich etwas genauer um.
– Chimilinith zog früher gern mit seinem Haus in der Gegend umher. Aber ich nehme an, die Einheimischen werden ihn kennen.
– Schön. Hast du dir die Daten denn auch angeschaut? Wie sahen sie aus?
Die Privatkabine war leer bis auf ihn und Valseir, das Schwebetablett mit der Schale – er hatte beides beim Eintreten automatisch gescannt und festgestellt, dass es nur das war, was es zu sein schien – und die Bildschirme, die ebenfalls in keiner Weise außergewöhnlich waren. wer könnte hier mit Neutrinos kommunizieren? Von wo aus? Und warum der plötzliche Ausbruch genau in diesem Moment?
– Wie Algebra.
Fassin scannte Valseirs schlichte Kleidung. Keine Spur von irgendwelchen High-Tech-Geräten. Das Raffinierteste an den Gewändern war das Gewebe selbst.
– Algebra?, wiederholte er.
Die Innen-und Außenseite der Diamantblase waren sauber. Er scannte die Zugangsröhre. Nichts.
– Alien-Algebra, erklärte Valseir.
Fassin schaute nach oben auf die Unterseite des Luftschiffs und suchte dann im gleichen Radius den freien Gasraum außerhalb ab. Immer noch nichts. also noch weiter draußen.
– Alien ?, fragte er zerstreut.
Auch nichts in der näheren Umgebung. Zuerst kam die Dzunda, dann etwa hundert Meter bis zum nächsten Luftschiff nichts, dann weitere Zuschauer-und Versorgungsschiffe – sowie der Panzerkreuzer Puisiel, der ein paar Kilometer höher in der Atmosphäre mühelos mit der Zuschauerflotte Schritt hielt – und schließlich die GasClipper, die sich gerade anschickten, die Boje an der SturmMauer zu umrunden, den ersten Wendepunkt dieses kurzen Rennens.
– Alien-Symbolik. Aber nicht ausschließlich. Einige der Zeichen kamen mir bekannt vor. Sie hatten Ähnlichkeit mit einer Form von Translatio V, einer speziesübergreifenden, so genannten ›Universal‹-Notation, die vor etwa zwei Milliarden Jahren von den Wopuld erfunden wurde – einer längst ausgestorbenen Spezies von Invers-Spongiformen –, aber mit Elementen aus der uralten Piktogrammschrift der Dweller. Ich hätte mir gern Notizen gemacht, aber ich verzichtete darauf, etwas von dem Material in irgendeiner Form bei mir zu tragen, ausgenommen natürlich, was – zwangsläufig lückenhaft – in meinem Gedächtnis gespeichert ist. Daher konnte ich seither nicht daran arbeiten.
Fassin zeichnete alles, was gesprochen wurde, mit den Systemen des Gasschiffes auf, um es später wenn nötig wiederholen zu können, doch zugleich suchte er immer noch hektisch die weitere Umgebung nach Wanzen oder Abhörgeräten ab. Die Sensoren des Gasschiffchens registrierten einen weiteren Neutrinoburst, es musste eine Nachricht sein; ein kurzes Muster im Chaos der nahezu masselosen Teilchen.
Unmittelbar vor dem ersten Burst hatte Valseir den Namen des Dwellers ausgesprochen, dem er die Mappe gegeben hatte. Konnte das wirklich Zufall gewesen sein? Aber wie sollte sie jemand belauscht haben? Sie verständigten sich durch Signalflüstern, kohärente Lichtstrahlen, die von einer Transceiver-Vertiefung in der Oberfläche zur anderen geschickt wurden. Diese Art der Kommunikation konnte nicht abgehört werden, es sei denn, jemand hätte einen Spiegel oder einen Sensor in die Strahlen gehalten.
Konnte er selbst es gewesen sein? War sein Gasschiff verwanzt worden? Hatte Hatherence ihm etwas angehängt? Er scannte, überprüfte die Systeme, fand nichts.
Über ihnen stieg das Luftschiff rasch und stetig in die Höhe, während die GasClipper brüllend an der schroffen Sturmfassade entlangrasten. Die Dzunda wurde von der Sonne erfasst.
– Also nur ein Gleichungssystem?, fragte Fassin den alten Dweller.
Der Drogennebel in der Privatkabine leuchtete plötzlich auf und zerfiel in winzige Dampfpartikel. Ein kleiner Bruchteil von ihnen glitzerte im Licht.
– Vielleicht auch nur eine einzige lange Gleichung.
Entsetzt saugte Fassin eine Probe der Dünste in das hochempfindliche Analysegerät des Pfeilschiffs.
– Ein einziges Stück Algebra?, fragte er nach.
Die Ergebnisse, die aus der High-Tech-Nase des Gasschiffs kamen, waren abstrus. Die Oberflächenrezeptoren schienen sich nicht entscheiden können, was sie da rochen. Fassin schaltete um eine Detailstufe herunter auf Elektronenmikroskopie.
– Möglich, antwortete Valseir.
Draußen in Richtung auf die SturmMauer geriet nur dreißig bis vierzig Meter entfernt kurz etwas ins schräg einfallende Sonnenlicht und brauchte einen Augenblick zu lange, um sich an die neuen Lichtverhältnisse anzupassen.
Das interne Elektronenmikroskop des Pfeilschiffs lieferte Ergebnisse, die im ersten Moment unverständlich waren. Dann begriff Fassin, was er seinem Analysegerät vorgesetzt hatte. Nanotechnik. Eine dünne Suppe aus winzigen Maschinen, Rezeptoren, Analysatoren, Prozessoren und Signalgebern, klein genug, um sich in der Atmosphäre zu verteilen, leicht genug, um wie Nebelpartikel mitten im Drogenrauch zu schweben. Damit waren sie belauscht worden. Etwas hing zwischen ihnen im Gas, genau in ihren Signalstrahlen, etwas, das fähig war, deren Bedeutung aufzunehmen. Nichts so Primitives wie ein Spiegel oder ein Photonenmikrofon an einem Draht, sondern dieses Zeug, das doch angeblich verboten war.
– Valseir, sendete er aufgeregt. – Wer hat die Drogenschale hier aufgestellt?
Er drehte die visuelle Vergrößerung höher und starrte auf die Stelle draußen im offenen Gas, wo eben noch etwas im Sonnenlicht gefunkelt hatte. Da. Er vergrößerte noch weiter, bis das Bild fast körnig wurde.
– Wieso ?, sendete Valseir verwirrt. Die war doch schon hier, als ich …
Ungefähr kugelförmig, vierzig Meter entfernt, knapp zehn Zentimeter im Durchmesser, nahezu perfekt getarnt wie eine Scheibe aus durchsichtigem Glas vor der echten Aussicht. Eine Kommunikationsvertiefung, nur zu erahnen, ein winziger Krater, der genau auf sie gerichtet war. Fassin schwenkte herum, setzte sich zwischen die winzige Maschine in der Ferne und den alten Dweller und schob sich so dicht an ihn heran, dass sich ihre Signalvertiefungen berührten – wie es verliebte Dweller machten, um Signalküsse zu tauschen.
Valseir wollte zurückrottern. Was zum …?
Wir werden abgehört, Valseir, sendete Fassin. Beobachtet, belauscht. Der Rauch aus der Schale besteht zum Teil aus Nanotechnik. Wir müssen hier raus, sofort.
– Was? Aber …
Wieder eine Neutrinosalve. Seit Fassin wusste, wo er zu suchen hatte, konnte er zweifelsfrei feststellen, dass sie von der getarnten Kugel draußen kam.
– Raus, Valseir. Sofort!
Und noch eine Salve. Diesmal von oben. von hoch oben.
Valseir stieß Fassin von sich. – Der Rauch aus der Schale … ?
– Raus!, sendete Fassin noch einmal und drängte den alten Dweller zur Eingangsöffnung in der Decke der Diamantblase.
Die kleine Kugel raste auf sie zu. Fassin schob sich unter Valseir und hievte ihn nach oben.
– Fassin! Schon gut! Valseir schwebte aus eigener Kraft zu der senkrechten Röhre empor und hievte sich hinein. Die kleine Kugel brach durch die Diamantblase. Scherben spritzten umher. Gleich hinter dem gezackten Loch kam sie, immer noch getarnt, nur ein verwaschener Fleck in der Luft, zum Stehen.
»Major Taak!«, rief eine Stimme. »Hier spricht General Linosu von der Ocula der Justitiarität. Dieses Gerät wird von der Expeditionstruppe Nasqueron gesteuert. Erschrecken Sie nicht. Wir kommen herunter, um …
Eine haarfeine Linie aus kirschrotem Licht durchschnitt die Kugel. Die Stimme verstummte jäh. Ein scharfer Knall peitschte durch die Diamantblase. Die winzige Maschine prallte an die gegenüberliegende Seite der Privatkabine. Fassin fuhr herum. Hatherence ließ sich an der Seite der Dzunda herab. Ihr Panzer glänzte wie Silber. Sie hatte den Laserstrahl abgefeuert. Die kleine Kugel schaltete ihre Tarnung ab und entpuppte sich als verspiegelte Drohne mit Stummelflügeln. In einer Flanke war ein winziges Löchlein zu sehen, auf der anderen Seite klaffte ein sehr viel größeres zweites Loch, aus dem Rauch quoll. Nun drehte sich das Ding mit durchdringendem Knistern um sich selbst und fiel auf den transparenten Boden. Fassin spürte, wie Valseir über ihm in der Zugangsröhre zögerte. Der Fahrtwind pfiff durch das Leck in der Diamantblase.
Der Colonel schwenkte rasch zu ihnen herum und hielt dicht vor der Kabine im Fahrtwind an. – Alles in Ordnung, Major ?, signalisierte sie. Sie kippte ab und sah sich das Gerät an, das über den gewölbten Boden rollte.
– Scheiße, sendete sie. – Sieht aus wie eines von den unseren.
Ein weißer Blitz zuckte auf, scheinbar von allen Seiten zugleich. Fassin war für einen Moment geblendet. Als das Licht schwächer wurde, stürzte Hatherence bereits wie ein Stein durch das Gas. Ein Flugkörper zog schneller als die GasClipper über die Wand der SturmMauer und steuerte auf das Luftschiff zu.
Als sich der Colonel zwanzig Meter unter der Privatkabine befand, flammte zwischen der herannahenden Maschine und ihr ein greller, gelblich weißer Lichtstrahl auf. Ihr Schutzanzug fing Feuer und explodierte. Die schnelle Drohne – sie war spitz und hatte Flossen wie ein kleines Gasschiff oder eine Rakete – raste mit hell leuchtendem Abgasstrahl wieder davon.
Fassin schaute zu Hatherence hinab, sah aber nur noch einen schwarzen, mantaförmigen Fetzen zwischen den qualmenden Trümmern des Schutzanzugs davonwehen. Der Fetzen drehte sich, schnellte sich herum, in einem Stummeltentakel blitzte etwas auf; ein violetter Strahl schoss auf das Flossenschiffchen zu, verfehlte es nur um einen Meter. Die Maschine antwortete mit einer weiteren weißen Linie, die den Colonel durchbohrte. Hatherence flammte auf wie eine Sonne und war verschwunden.
Valseir hatte die Zugangsröhre frei gemacht. Fassin schoss hinauf wie eine Granate durch ein Kanonenrohr, der heftige Rückstoß sprengte die Diamantblase vollends, die Trümmer wurden von der Dzunda weggeschleudert und folgten den Resten des Colonels und ihres Schutzanzugs zur konkaven Basis des Sturms und weiter in die Tiefe.
Valseir wartete oben im breiten Korridor. »Fassin! Was hat das zu bedeuten?«
»Wie kommen wir von diesem Schiff herunter?«, fragte Fassin, fasste den alten Dweller an einem Nabenarm und führte ihn zum nächsten senkrechten Auslass.
»Muss das wirklich sein?«
»Wir werden angegriffen, valseir.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Also, wie kommen wir hier weg?«
»Ist gegen Rottern etwas einzuwenden?«
»Man ist zu angreifbar. Ich dachte an irgendeine Maschine.«
»Ich kann uns sicher ein Taxi besorgen. Oder eine von den Luftschiff-Jollen. Ich werde Captain Xessife fragen.«
»Nein«, sagte Fassin. »Nicht Captain Xessife.«
»Wieso nicht?«
»Jemand muss diese Drogenschale in die Kabine gestellt haben.«
Sie hatten die senkrechte Röhre erreicht. »Aber …« Valseir zögerte. »Warte, was ist das für ein Geräusch?«
Fassin hörte ein tiefes Jaulen aus verschiedenen Richtungen. »Könnte ein Alarm sein.« Er deutete nach oben auf die Röhre. »Du zuerst. Nichts wie weg hier.«
Sie hatten die Röhre zum Zentralkorridor zur Hälfte hinter sich gebracht, als die Dzunda einen Satz machte. »Oh-oh«, stöhnte Valseir.
»Weiter.«
Als sie den Hauptgang erreichten, war der Alarm lauter geworden. Die Dweller schrien sich an, sammelten Tabletts mit Speisen und Drogen ein und starrten auf die Bildschirme an den Wänden. Auch Fassin warf einen Blick darauf. »Verdammt«, sagte er leise.
Die Schirme zeigten konfuse Bilder. Nicht alle Kameras und Bildschirme waren jetzt noch auf das laufende GasClipper-Rennen gerichtet. Eine Kamera verfolgte ein schlankes Flossenschiff, das um das Luftschiff kreiste – derselbe Flugkörper, der Hatherence angegriffen hatte.
Auf anderen Schirmen waren Dutzende von fremden schwarzen Schiffen zu sehen, die vom Himmel fielen.
Es waren gastaugliche Raumschiffe der Merkatoria, einige nur fünfzig Meter, andere drei-bis viermal so lang; pechschwarze Ellipsoide mit dicken Flügeln und rudimentären aber windschnittigen Leitwerken und Triebwerksgondeln. Sie stürzten auf die Luftschiffe zu. Nach jedem Höhenkilometer lösten sich zwei oder drei aus dem Schwarm und zogen wachsam ihre Kreise. weit darüber – kurz aus einem anderen Winkel von einer Kamera erfasst, zuerst verschwommen, dann plötzlich scharf – rotierten weitere glatte Formen über der hohen Dunstschicht wie Geier über dem Aas.
Wieder begann auf einem Schirm das Bild zu flimmern, stabilisierte sich und zeigte den Panzerkreuzer, der die Zuschauerflotte begleitete. Die Puisiel schwenkte die Geschütztürme und fuhr die Rohre aus. Ein gelblich weißer Strahl leuchtete auf, bohrte sich geradewegs durch das Schiff der Merkatoria, ließ es erschauern, jagte Schockwellen über seine Außenhaut, raste dahinter in die SturmMauer und erlosch. Aus der Wunde in der Wolkenwand quoll schwarzer Dampf, der rasch fortgerissen wurde. Die GasClipper waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
»Bei allen furzenden Göttern, was geht hier vor?«, fragte Valseir. Die beiden hatten angehalten und beobachteten die Bildschirme ebenso gebannt wie die meisten anderen im Korridor.
Geschütztürme und Rohre der Puisiel schwenkten noch ein Stück weiter und kamen zum Stillstand, scheinbar ohne sich auf ein bestimmtes Ziel zu richten.
»Oh nein«, stöhnte Fassin.
Die Kanonen des Panzerkreuzers blitzten auf und spuckten Feuer und Rauch. Zugleich fielen, halb verdeckt von den Rauchschwaden der Breitseite, kleinere Schatten von seiner Unterseite, die ihrerseits Feuer und Rauch ausstießen, und jagten im Bogen nach oben, den feindlichen Raumschiffen entgegen. Die Bildschirme flimmerten. Die schwarzen Raumschiffe erstrahlten in hellem Licht. Auf halbem Wege zwischen der Puisiel und dem fremden Schwarm explodierten gleißende Linien und füllten das Gas über und um die Zuschauerflotte mit schwarzen Rauchpilzen.
Eine Kamera schwenkte auf ein wendendes Raumschiff, das in die Tiefe schoss und eine Rauchfahne hinter sich herzog. Dweller begannen zu schreien. Tabletts, Speisen, Drogen und Haus-kinder flogen durch die Luft, Panzerhäute signalisierten Aufregung und blinde Wut, ein Schwall von Kriegsbegeisterung wehte durch den Gang, als wäre eine Serie von winzigen Duftgranaten explodiert. Ein schwarzer Punkt mit einer dünnen Abgasfahne näherte sich dem angeschossenen Raumschiff, wurde aber mit einem Lichtblitz von oben erledigt. Ein noch kleineres, noch schnelleres Gebilde schoss über den Schirm, bohrte sich in das Schiff, detonierte im Innern und riss es entzwei; die beiden Teile stürzten, gefolgt von länger werdenden Rauchsäulen, in die Tiefe. Auch die anderen Raketen wurden so mühelos unschädlich gemacht wie lästige Insekten.
Fassin wollte Valseir weiterziehen. Ringsum heulten die Dweller, sie brüllten die Schirme an und begannen Wetten abzuschließen. Dumpfe Schläge und fernes Donnergrollen hallten durch den Gang, verspätete Kampfgeräusche zu den Bildern, die nahezu zeitgleich übertragen wurden.
Überall schwarze Glitzerobjekte. Der Panzerkreuzer begann zu leuchten, über seine ganze Länge strahlten feurige Punkte auf. Die Strahlen rasten durch ihn hindurch, bohrten sich in die SturmMauer und rissen dunkle Wunden in das schwarz brodelnde Gas. Einen Augenblick, bevor die ersten Strahlen ihr Ziel erreichten, feuerte die Puisiel ein letztes Mal ein Drittel ihrer Geschütze ab. Die meisten Schüsse waren auf die Stelle gezielt, wo das abstürzende Raumschiff gewesen war. Dann erzitterte der Riesenkreuzer wie ein Blatt im Sturm und begann, von weiteren Strahlen durchbohrt, zu sinken. Ein letzter Strahl, weniger hell, aber viel breiter, durchschnitt die ganze Mittelpartie, der Koloss knickte ab und trudelte in Spiralen abwärts. Ein paar winzige Doppelscheiben lösten sich aus dem Wrack und rotterten davon oder stürzten einfach ab. Einige zogen Rauchwolken hinter sich her. Andere wurden von Lichtspeeren getroffen und in Miniaturexplosionen zerrissen.
»Schneller, valseir«, flüsterte Fassin in die plötzliche Stille hinein. »Wir müssen weg von hier. Sieh zu, dass du nach draußen kommst.« Sie waren fast auf gleicher Höhe mit einer Zugangsröhre, die im 45°-Winkel nach oben führte. Fassin schob Valseir auf die Öffnung zu. »Da hinein.« Er wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob sie wirklich fliehen sollten. Vielleicht wären sie auf dem Luftschiff immer noch sicherer. Aber näher am Ausgang hätten sie zumindest eine echte Wahl.
Valseir leistete keinen Widerstand. Die vorderste Front der schwarzen Schiffe hatte die Zuschauerflotte fast erreicht. Lautes Wehklagen erfüllte den Gang. Ein Strom von Dwellern kam von oben durch die Röhre und drängte Fassin und Valseir zurück.
Fassin schob den alten Dweller weiter, obwohl sie sich beide immer wieder nach den Bildschirmen umsahen. Eines der schwarzen Schiffe schraubte sich allmählich näher an die SturmMauer heran. Als es sie fast erreicht hatte, kam ein GasClipper aus dem wirbelnden schwarzen Gasvorhang geschossen. Die ausgefahrenen Klingensegel blitzten wie Speere aus gefrorenem Feuer. Der Clipper rammte das Kriegsschiff genau in der Mitte, biss förmlich hinein, und beide torkelten ineinander verkeilt über den Himmel. Ohne sich aus der tödlichen Umklammerung zu lösen, stürzten sie mit allem anderen hinab zum Fuß des schwarzen Sturmtrichters und weiter in den Hexenkessel aus heißem Gas.
Wieder hallten Freudenschreie durch den Gang.
Eine andere Kamera, ein anderer Bildschirm: ein Abschnitt der SturmMauer beulte sich aus, dunkles Gas umströmte einen riesigen abgerundeten Kegel, der sich durch den Sturm zwängte, als sei der gar nicht da.
Ein Koloss von einem Panzerkreuzer wurde sichtbar. Gasbänder flatterten wie riesige Fahnen hinter ihm her. Aufmunternde Zurufe und markerschütterndes Jubelgeschrei ließen den breiten Korridor vibrieren wie eine riesige Orgelpfeife. Der neue Panzerkreuzer flog in das klare Gasherz des gewaltigen Sturmauges, seine Oberfläche versilberte sich unversehens und schoss nach allen Seiten weiße Strahlen ab.
»Verdammt«, hörte Fassin sich sagen. »Sie haben auf diesen Angriff nur gewartet.«
Der silberne Panzerkreuzer steuerte geradewegs auf die Flotte aus schwarzen Schiffen zu, die zunächst die Zuschauerschiffe ins Visier genommen hatten. Nun drehten sie hektisch ab und formierten sich neu, um sich dieser unerwarteten Bedrohung zu stellen.
Der Panzerkreuzer raste heran, sein propellerloses Heck erglühte im Feuerschein, er feuerte aus allen Rohren. Der Himmel, der Sturm und die schwarzen Tiefen spiegelten sich in seiner silbrigen Oberfläche, die Funken sprühte und nach allen Seiten Strahlen abschoss, als wären es Lichtpfeile. Zwei weitere schwarze Schiffe explodierten und stürzten ab. Die Schreie der Dweller im Hauptgang – und die Wetten – schraubten sich in noch schwindelndere Höhen.
Von ständigen Einschlägen geschüttelt, kämpfte sich der Panzerkreuzer weiter. Eine Rakete, abgeschossen von der Merkatoria-Flotte, jagte über den Bildschirm, wurde von einer fächerförmigen Abfangsalve verfehlt und krachte in den Panzerkreuzer.
Sie bekamen noch die Anfänge der Explosion mit, die den Panzerkreuzer entzweiriss wie die Hülle um ein Stück Stern, dann wurde der Bildschirm zuerst weiß, um gleich darauf zu erlöschen. Im Korridor flackerten die Lichter, gingen aus und wieder an, dann wurde es endgültig dunkel. Das Jaulen des Alarms, die ganze Zeit vorhanden, aber im Grunde überhört, brach ab, es wurde so still, als hätte man mit einem Schlag das Gehör verloren. Die Dzunda erzitterte wie ein angeschossenes Tier.
Weitere Schirme flimmerten, wurden schwarz, zeigten nur noch Schnee. Einige liefen weiter und waren nun die einzigen Lichtquellen. Die Notbeleuchtung sprang flackernd an und stabilisierte sich. Es wurde heller in der langen Röhre.
Ein leises Murren entstand und schwoll an. Die Dweller verliehen ihrer Bestürzung und ihrem Unmut Ausdruck. Eine Kamera schwenkte auf die Stelle, wo der Panzerkreuzer gewesen war. Eine mächtige Pilzwolke blähte sich dort auf. Am äußersten Rand lösten sich ein paar winzige Trümmer wie kleine Krallen von einer krankhaft angeschwollenen Faust. Die schwarzen Schiffe steuerten wieder auf die Zuschauerflotte zu. Deren Captains teilten sich in zwei Lager: Die einen hielten es für besser, sich zusammenzudrängen, die anderen suchten ihr Heil darin, sich zu zerstreuen, und wagten sich sogar in die Sturmböen hinein.
Die Dweller, die in panischer Flucht aus der Röhre strömten, auf die Valseir von Fassin zugeschoben wurde, drängte die beiden langsam ins Zentrum des Korridors zurück. auch aus anderen Eingängen überschwemmten Flüchtlinge den Raum.
Jemand schrie: »Seht doch nur, seht!«
Plötzlich zeigten mehrere Schirme das gleiche Bild. Zuerst sah es aus wie eine Aufzeichnung vom Auftritt des ersten Panzerkreuzers, eine mächtige Nase, die sich durch wogende Wolkenvorhänge schob und lange Gasstreifen wie Kriegsbanner hinter sich herzog. Dann fuhr die Kamera zurück, und man konnte sehen, dass sich die Ausbuchtung an einer ganz anderen Stelle der SturmMauer befand. Bald zeigten sich eine zweite, eine dritte, eine vierte Schiffsnase, und schließlich schoss ein ganzer Wald von großen Schiffen aus dem Sturm auf die große Säule aus schwarzen Raumschiffen zu, die gleich einem riesigen Pendel über der Zuschauerflotte kreiste.
Die Dzunda erzitterte in allen Fugen und kreischte wie ein Tier, als sie von der Druckwelle der Nuklearexplosion erfasst und durchgeschüttelt wurde. Dweller wurden durch den Korridor geschleudert, prallten gegeneinander und gegen Wände, Fußboden und Decke. Schutt und Flüche erfüllten das Gas. Zwei weitere Bildschirme fielen aus, aber es blieben genügend in Betrieb, um die herannahende Flotte quecksilberfarbener Panzerkreuzer zu zeigen, die im Feuer der Schüsse und der Treffer erstrahlten. Laser wurden reflektiert, Abfangprojektile und -strahlen durchkämmten das Gas und zerstörten spiralig heranschießende Raketen. Zwei, dann drei weitere schwarze Schiffe explodierten oder fielen in sich zusammen und stürzten taumelnd in die Tiefe. Aber auch zwei von den riesigen Panzerkreuzern verschwanden in so gewaltigen Detonationen, dass die Schirme trüb wurden.
Aus dem heiteren gelben Himmel ging unversehens ein greller Strahl auf zwei weitere Panzerkreuzer nieder. Er traf genau zwischen die Kolosse und brachte sie ins Wanken, als wären sie im Gas gestolpert. Dann teilte sich der Strahl in zwei parallele, spitze Stäbe, die sich violett färbten und wie die Axt eines Henkers die angepeilten Schiffe durchschlugen.
Die Szene im halb dunklen Korridor – das Chaos aus scharfen Gerüchen, dem verzweifelten Gebrüll der Dweller, die nicht wussten, ob sie klagen oder jubeln sollten, und dem flackernden Licht der Kampfszenen, die über die Schirme jagten – bekam etwas Übernatürliches, als eine sehr laute Entspannungsmusik einsetzte. Der allgemeine Wahnsinn hatte ein automatisches Gästebetreuungssystem aktiviert, das nun verwirrt Ruhe zu verbreiten suchte.
»Verdammt!«, hörte Fassin die Stimme eines Dwellers nicht laut aber deutlich über den Tumult hinweg. »Was ist das denn?«
(Noch ein schwarzes Merkatoria-Schiff wurde in Stücke gerissen, noch ein silberner Panzerkreuzer erblühte in nuklearem Feuer. Zwei weitere Panzerkreuzer erzitterten unter der ersten Berührung der violetten Strahlen von oben.)
Und auf dem Bildschirm gegenüber, der nach unten in die weite Schale, das tote Herz des Sturmes schaute, stieg eine riesige, dunkelrot glühende Kugel aus den Sumpfgasen des Sturmgrundes und zerrte eine gewaltige Gaswoge hinter sich her, eine bizarre Kugel aus festem Feuer von mehreren Kilometern im Durchmesser, gestreift und gebändert wie ein Miniatur-Gasriese. Fassin, völlig verwirrt, glaubte im ersten Moment tatsächlich, den Palast des Hierchon Ormilla majestätisch in das Getümmel schweben zu sehen.
Ein verschmorter Klumpen – der qualmende Rest eines zerstörten Merkatoria-Schiffs – stürzte auf die Erscheinung zu und lieferte damit einen Anhaltspunkt für die Ausmaße der riesigen Kugel. Als das Wrack dicht dahinter zu versinken schien, konnte Fassin die Kugel auf drei bis vier Kilometer im Durchmesser schätzen.
Tatsächlich stürzte der Klumpen davor in die Tiefen, so dass er seine Schätzung verdoppeln musste.
Zwei filamentdünne gelblich weiße Strahlen schossen auf die Kugel zu und versanken darin, ohne ihr etwas anhaben zu können. Von oben nahm sie der violette Strahl ins Visier, verbreiterte sich kurz, als wolle er die ganzen sieben oder acht Kilometer abmessen, und zog sich wieder zusammen.
Auf der Oberfläche der Riesensphäre erschien ein Muster aus schwarzen Punkten.
Immer neue Explosionswellen erschütterten die Dzunda. Fassin wandte den Blick nicht von der mächtigen Kugel, obwohl sich von beiden Seiten die Dweller gegen ihn drängten. Valseir entglitt ihm.
Etwa fünfzig von den schwarzen Flecken waren wie zufällig über die obere Hemisphäre verteilt. Einer lag genau im Zentrum des rasant fokussierenden violetten Strahls. Im gleichen Augenblick, in dem der Strahl so hell wurde, dass man den dunklen Punkt nicht mehr sehen konnte, begann der zu pulsieren, wurde größer und verschwand. Und plötzlich wuchs aus jedem schwarzen Fleck eine blendend helle, dünne Säule aus rein weißem Licht. Die Strahlen hatten nur einen Lidschlag lang Bestand, dann verschwanden sie fast so schnell, wie sie entstanden waren. Nur ihr Nachbild brannte sich in alle ungeschützten Augen und alle Kameras, die ohne ausreichende Filter auf sie gerichtet waren.
Stille herrschte, auch als die Dzunda vom nächsten wahnwitzigen Krampf erschüttert wurde und der ganze Korridor in allen Fugen ächzte. weitere Bildschirme fielen aus. Die Entspannungsmusik verstummte. Auf zwei noch intakten Schirmen war zu sehen, wie ganze Geschwader, ganze Schwärme der schwarzen Schiffe nahezu über die volle Länge zu glitzernder Asche verbrannten und im Wind verwehten. Nur die langen spitzen Nasen und die Hecks mit Leitwerk und Flossen blieben erhalten und stürzten, zerfleddernde Rauchfahnen hinter sich herziehend, wie Meteore hinab in die schwarzen Tiefen des Sturms.
Der eine Schirm zeigte, wie die Kamera auf der Suche nach einem heilen Merkatoria-Schiff über den Himmel schwenkte, aber nur weitere Rauchfahnen und Aschewolken fand, die bereits vom Wind davongetragen wurden.
Der Blick des zweiten Bildschirms war nach oben gerichtet, auf ein gelb glühendes Objekt, das langsam abkühlte und blasser wurde. Anfangs blieb es noch über der Schreckensszene stehen, dann schwebte es allmählich nach Osten davon.
Die Riesenkugel stieg immer noch weiter, aber jetzt wurde sie langsamer und kam langsam auf gleiche Höhe mit den Resten der Zuschauerflotte. Die zwei Dutzend verspiegelten Panzerkreuzer, die noch übrig waren, bremsten ab und setzten sich neben die Schiffe, die sich zusammengedrängt oder verstreut hatten.
Aus allen Dwellerkehlen über die ganze Länge des Korridors erhob sich lauter Jubel über den vollkommenen – und gänzlich unerwarteten – Sieg und steigerte sich zu einem misstönenden, ohrenbetäubenden, sinnverwirrenden Krawall.
Eine Serie von gewaltigen Druckwellen erfasste die Dzunda und schüttelte sie wie eine Fahne im Wind. Laute Schläge übertönten das Dweller-Gebrüll, als klatschte ein Heer von Titanen in die Hände.
Alle Schirme wurden dunkel. Das Luftschiff Dzunda machte einen letzten Satz und begann zu sinken. Alle Dweller, die noch keinem Ausgang zustrebten, holten das schleunigst nach. Fassin wurde mitgerissen und die Röhre hinaufgeschoben, die er von vornherein ins Auge gefasst hatte. Durch eine weite Trichteröffnung gelangte er auf eine Aussichtsgalerie und von dort durch das großflächig zerstörte Diamantdach hinaus in Nasquerons schwer misshandelten Himmel.
»Soll ich das so verstehen, dass einige von euren Ammenmärchen über geheime Schiffe und Hyperwaffen tatsächlich wahr sind?«, fragte Fassin.
»Tja«, sagte Y’sul und sah sich um. »Sieht ganz danach aus.«
Sie befanden sich auf der Isaut, jenem riesigen Kugelschiff, das binnen weniger Sekunden fast die ganze Merkatoria-Flotte – einschließlich des raumgestützten Kontrollkommandos und der schweren Artillerie – zerstört hatte. Offiziell war die Isaut ein (zu dementierender) Planeten-Protektor, was aber nicht heißen sollte, dass Fassin oder die anderen aus den zerstörten und beschädigten Schiffen der Zuschauerflotte Geretteten jemals gehört hätten, dass es so etwas gab. Was in Y’suls Augen ein schlagender Beweis für die Wirksamkeit des Dementis war.
Natürlich hatte es, solange man denken konnte, nie an Gerüchten und Mythen zu geheimen Wunderwaffen der Dweller gefehlt. Immer wieder war auch davor gewarnt worden, sich mit einer so uralten und weit verbreiteten Spezies auf einen Krieg einzulassen, aber das nahm in der Regel niemand ernst – da der Verdacht bestand, die meisten dieser Geschichten seien von den Dwellern selbst in Umlauf gesetzt worden. Die Dweller waren so damit beschäftigt, sich dicke zu tun und aller Welt zu erzählen wie unvergleichlich genial sie seien – während sie gleichzeitig so auf sich selbst fixiert und introvertiert waren, sich so wenig um ihre fernen Artgenossen kümmerten und sich nicht nur vom Rest der zivilisierten Galaxis, sondern auch von den anderen Gruppen ihrer weit verstreuten Diaspora isolierten –, dass sie ausnahmslos für aufgeblasene Phantasten gehalten wurden und man ihre viel gepriesenen Schiffe und Waffen bestenfalls als Folklore gelten ließ, als schwache Erinnerung an einstige, längst vergangene und gänzlich verblasste Größe.
Obwohl Fassin soeben mit eigenen Augen – oder zumindest mit den Sensoren seines Gasschiffchens – die verheerenden Folgen der Intervention der Isaut beobachtet hatte, konnte er noch nicht so recht daran glauben.
»Was für ein seltsamer Ort«, bemerkte Valseir und sah sich in dem sphärischen Raum um, in den man ihn, y’sul und Fassin geführt hatte.
Sie hatten sich im Gewirr der Überlebenden der Dzunda im Gas rasch wiedergefunden. Fassins pfeilförmiges Schiff war zwar kleiner als die Dweller ringsum, aber von der Form her so prägnant, dass Valseir und Y’sul ihn ohne Mühe ausfindig machen und in seine Richtung steuern konnten.
»Warum machen denn alle einen weiten Bogen um mich?«, hatte Fassin gefragt, als nach der Schlacht Ruhe einkehrte und die beiden auf ihn zuschwebten. Er hatte Recht; die anderen Überlebenden hielten sich mindestens fünfzig Meter von ihm fern.
»Sie fürchten, du könntest zur Zielscheibe werden«, hatte Y’sul gesagt und in seinen verschiedenen Taschen und Beuteln gekramt, um zu sehen, was er in der Aufregung alles verloren haben könnte. Sie waren von hohen Rauchsäulen umgeben, die in der schwarzen Sturmwand tief unter ihnen verwurzelt waren und wie verdorrte Pflanzenstängel im Wind hin und her schwankten. Große hantelförmige Wolken – die einzigen Überreste der Atomexplosionen – drehten sich um sich selbst und lösten sich langsam auf. Die runden, kaum bewegten Enden stiegen in immer höhere Atmosphäreschichten auf, wurden von gegenläufigen Windströmungen erfasst und warfen riesige, trübe Schatten an den Himmel über dem Sturmauge. Alles war wieder ruhig. Seitlich von ihnen schwebte wie ein Miniaturplanet, der sich im Auge des mächtigen Sturms verfangen hatte, die große gebänderte Kugel, die aus der Tiefe aufgestiegen war.
In der SturmMauer schien sich die GasClipper-Flotte neu formieren zu wollen. Als Fassin mit den anderen Überlebenden aus der sinkenden Dzunda purzelte, hatte nur der Umstand, dass er ein Leben lang mit der – angeborenen wie auch erworbenen – Gleichgültigkeit der Dweller konfrontiert gewesen war, verhindert, dass ihm der Atem stockte, als ringsum allen Ernstes darüber diskutiert wurde, ob das GasClipper-Rennen einfach fortgesetzt, neu gestartet oder für ungültig erklärt würde, und inwiefern sich jede dieser Alternativen auf den Status bereits abgeschlossener Wetten auswirken könnte.
Weniger beschädigte Zuschauer und andere Schiffe hatten die frei im Gas schwebenden Dweller aufgenommen. Ambulanzjollen von den Schiffen der silbernen Panzerkreuzer-Flotte, die den Kampf überlebt hatten, und Lazarettschiffe aus den nächst gelegenen Häfen retteten Schwerverwundete und Brandopfer.
Fassin war tatsächlich ins Visier genommen geworden, aber man hatte nicht auf ihn geschossen. Drei Jollen hatten die Riesenkugel verlassen, geradewegs auf die kleine Gruppe, bestehend aus Fassin und seinen zwei Dweller-Freunden, zugehalten und sie an Bord geholt. Dann hatten die Jollen kehrt gemacht und waren zu der riesigen Kugel zurückgeschwebt, ohne auf die empörten Schreie der Dweller zu achten, die bis eben noch so demonstrativ Abstand von Fassin gehalten hatten.
Die Leitjolle, geführt von einem munteren, außergewöhnlich hoch betagten Dweller-Pärchen – sie nannten weder Namen, noch Rang oder Alter, aber jeder schien mindestens so alt wie Jundriance zu sein –, hatte sie irgendwo tief im Innern des riesigen Kugelschiffs abgesetzt, in einem dunklen Tunnel, der in eine weite, sphärische Empfangshalle führte. Dort gab es nicht nur Waschgelegenheiten, sondern auch eine Einrichtung, die Y’sul nach einem flüchtigen Blick naserümpfend als Snacketeria bezeichnete. Bevor die beiden Namenlosen mit ihrer Jolle wieder abzogen, hatte ihnen der eine als Antwort auf Fassins Frage Namen und Klasse des Riesenschiffs genannt. Fassin hatte gemeldet, sein Gasschiff sei mit Nanomaschinen der Merkatoria in Berührung gekommen und womöglich verseucht worden, aber niemand an Bord war darüber so überrascht oder erschrocken, wie er gedacht hatte. Die Besatzung der Jolle hatte das Gasschiffchen gescannt und erklärt, nein, von einer Verseuchung sei nichts mehr festzustellen.
»Wo ist deine kleine Freundin, der Ehrenwerte Colonel?«, fragte Y’sul und sah sich betont auffällig in der Empfangshalle um. »Sie ist aufgesprungen und davongerast, bevor der Spaß so richtig losging.«
»Sie ist tot«, teilte Fassin ihm mit.
»Tot?« Y’sul rollte zurück. »Aber sie war doch so gut bewaffnet !«
»Sie hat ein Abhörgerät abgeschossen, das … der Merkatoria gehörte«, sagte Fassin. »Eines der ersten Merkatoria-Schiffe, die auf der Bildfläche erschienen, hielt sie deshalb wohl für einen Feind und hat sie getötet.«
»Oh«, sagte Y’sul. Es klang bedrückt. »War das tatsächlich die Merkatoria? Nicht diese Separat-Leute. Du bist ganz sicher?«
»Ich bin ziemlich sicher«, erwiderte Fassin.
»Verdammt«, sagte Y’sul verärgert. »In dem Fall sieht es fast so aus, als hätte ich eine Wette verloren. Wie komme ich da bloß wieder raus?« Tief in Gedanken schwebte er davon.
Fassin wandte sich an Valseir. »Und mit dir ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte er. Der alte Dweller war ziemlich erschüttert gewesen, als sie sich über dem sinkenden Luftschiff im Gas getroffen hatten, war aber unverletzt bis auf ein paar Panzerabschürfungen, die er sich im Gedränge der Flüchtenden zugezogen hatte.
»Mir geht es gut, Fassin«, beteuerte er dem Menschen. »Und dir? Du hast deine Freundin den Colonel verloren, wie ich höre.«
Fassin stand plötzlich das letzte Bild von Hatherence vor Augen. Er sah, wie sich die schwarze Mantaform – für einen Dweller hätte sie ausgesehen wie eins von ihren Jungen – durch die Luft schraubte und mit einer Handfeuerwaffe auf das Schiff schoss, das sie aus ihrem Anzug gerissen hatte. Dann war sie im Strahl des Gegenfeuers umgekommen. »Ich gewöhne mich allmählich daran, dass jeder, der mir zu nahe steht, eines gewaltsamen Todes stirbt«, sagte er.
»Hm. Ich habe die Warnung verstanden«, bemerkte Valseir.
»Sie war meine Vorgesetzte«, erklärte Fassin. »Sie hatte den Auftrag, mich zu beschützen, aber sie sollte mich auch überwachen. Es würde mich wundern, wenn sie nicht Befehl bekommen hätte, mich unter bestimmten Umständen zu töten.«
»Und du glaubst, sie hätte diesen Befehl auch ausgeführt?«
Fassin zögerte. Er schämte sich für das, was er eben gesagt hatte, obwohl er es noch immer für die Wahrheit hielt. Es war, als hätte er Hatherences Andenken beschmutzt. Er wandte den Blick ab und sagte: »Nun ja, das werden wir wohl nie erfahren.«
Mitten in der Decke öffnete sich eine Tür. Alle blickten nach oben. Zwei Dweller traten ein. Den einen kannte Fassin, es war Setstyin, der Einflusshändler, wie er sich selbst bezeichnete, mit dem er telefoniert hatte, als er sich an jenem Abend aus Y’suls Haus in Hauskip City geschlichen hatte. Der zweite sah wahrhaft uralt aus, schwarz und klein – kaum fünf Meter im Durchmesser – und trug auffallend üppige Kleidung, unter der sich wahrscheinlich nur noch wenige natürliche Gliedmaßen und etliche Prothesen verbargen.
»Seher Fassin Taak«, sagte Setstyin und roll-nickte ihm zu. Dann begrüßte er Y’sul und schließlich Valseir – als der Senior unter den dreien kam Valseir als Letzter an die Reihe und wurde mit einer respektvolleren Verbeugung bedacht. »Y’sul, Valseir: ich möchte euch den Weisen-Schwellen-Chospe Drunisine vorstellen. Er befehligt den (zu dementierenden) Planeten-Protektor Isaut.«
»Sehr erfreut«, sagte der schwarze Dweller. Seine Stimme klang scharf und ziemlich trocken.
»Welche Ehre für uns.« Y’sul stieß Fassin aus dem Weg, drängte sich nach vorne und verbeugte sich schwungvoll bis zum Boden. »Wenn ich das sagen darf.«
»Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Prä-KIND«, schloss Valseir sich halbherzig an und machte eine Roll-Verneigung, die nicht ganz so tief, aber dafür würdevoller ausfiel.
»Schön, dich wiederzusehen, Setstyin«, sagte Fassin. »Und natürlich freue auch ich mich, Sie kennen zu lernen«, wandte er sich an den Alten.
Drunisine war bei weitem der älteste und vornehmste Dweller, dem Fassin jemals begegnet war. Für jeden Dweller, der natürlich zuerst die Fährnisse der (ersten) kindheit überstehen musste, dann die Adoleszenz-, die Jugend-und Erwachsenenphasen durchlief und schließlich über die Lebensstadien Reife und Schwelle den Rang des Weisen erreichte, war das letzte Ziel die KINDHEIT. wenn er nur lange genug lebte, erfüllte sich hier sein Schicksal. Dieser Zustand des vollkommenen Alles-Getan-Habens galt als Krönung jeder Dweller-Existenz. Drunisine hatte die Stufe unmittelbar vor diesem Gipfel erklommen: Er war Chospe-Prä-KIND. Man konnte davon ausgehen, dass er mehr als zwei Milliarden Jahre alt war.
»Mein Name ist Setstyin.« Der zweite Dweller postierte sich mit dem Weisen etwa im Zentrum des sphärischen Raums und sah in die Runde. »Ich bin ein Freund von Seher Taak. Ich hoffe, ihr seid alle einigermaßen erholt und/oder ausgeruht. Wir haben nämlich viel zu besprechen.«
Alle erklärten sich zu einem Gespräch imstande. Auf einen Wink von Setstyin fielen aus einem Ring um die Tür in der Decke Sitzhängematten herab. Die Tür schloss sich. Man machte es sich bequem.
»Seher Taak«, sagte der greise Dweller. »Wir müssen sicherstellen, dass alle Aufzeichnungen der soeben zu Ende gegangenen Schlacht aus den Speichern des Schiffchens gelöscht werden, das du bewohnst.«
»Ich verstehe«, sagte Fassin, der den Zusatz ›(zu dementieren) ‹ nicht vergessen hatte. Er suchte alles zusammen, was er von der Schlacht im Auge des Sturms festgehalten hatte, und veranlasste eine vollständige Löschung. Dann rief er viele weitere gespeicherte Daten auf und entfernte sie ebenfalls. »Schon geschehen«, sagte er.
»Wir werden das nachprüfen müssen«, erklärte Setstyin entschuldigend.
»Tut euch keinen Zwang an«, sagte Fassin. »Ich nehme an, wir sollen auch mit niemanden über die Geschehnisse hier draußen sprechen. Ebenso wenig über dieses Schiff.«
»Reden kannst du, so viel du willst, junger Mensch«, versicherte ihm Drunisine. »Uns geht es nur um die harten Fakten.«
»Alle noch funktionsfähigen nicht-dweller-eigenen Überwachungssysteme um Nasqueron werden entfernt«, sagte Setstyin, an Fassin gewandt. »Alle unberechtigt eingedrungenen Schiffe, die in Richtfunkverbindung zu den Geschehnissen standen, wurden bereits zerstört. Die Reste der Merkatoria-Flotte werden derzeit verfolgt und vernichtet.«
»Man jagt sie wie Hunde, Seher Taak«, erläuterte Drunisine und sah ihn fest an. Er hatte das Anglisch-Wort verwendet. »Sie werden bedrängt, ihre Systeme blockiert, ihre Kommunikationsverbindungen durchtrennt. Ihr Schicksal ist besiegelt. Keine direkten Nachweise für das Vorhandensein dieses Schiffes oder seine Leistung und keine Aufzeichnungen aus zweiter Hand dürfen nach außen dringen. vielleicht sollte ich hinzufügen, dass es auch Überlegungen gab, dich sofort zu vernichten.«
»Ich bin sehr dankbar, dass man davon abgesehen hat«, sagte Fassin. »Von den Schiffen, die sich über Nasqueron befanden, soll also kein einziges entkommen?«
»Keines«, sagte der greise Dweller.
»Wer einen Krieg anfängt, muss die Folgen tragen«, grollte Y’sul.
»Und danach?«, fragte Fassin.
»Genauer bitte.«
»Ist dies der Anfang eines Krieges mit der Merkatoria oder zumindest mit der Merkatoria von Ulubis?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Drunisine. Es klang, als sei er auf diesen Gedanken noch gar nicht gekommen. »Höchstens wenn man uns noch einmal überfällt. Hältst du das für möglich, Seher Taak?«
Fassin hatte das beklemmende Gefühl, bei der abgrundtiefen Verachtung aller Dweller für Geheimdienste wären seine nächsten Worte womöglich die einzige Information von Belang, die die Dweller in dieser Sache bekommen und auf die sie ihre Entscheidungen gründen konnten.
»Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, die Merkatoria wird über das Ausmaß der Verluste so entsetzt sein, dass sie es sich zweimal überlegen wird, weitere Schiffe aufs Spiel zu setzen. Erst recht, solange sie selbst mit einer Invasion rechnen muss. Sollte diese Invasion scheitern oder das System letztendlich zurückerobert werden, würde man möglicherweise feststellen wollen, was heute geschehen ist. Und es wird sicherlich Stimmen geben, die nach Vergeltung in irgendeiner Form rufen. Allerdings besteht nach den Informationen, die mir über das Epiphanie-Fünf-Separat zur Verfügung stehen, auf kürzere Sicht die Chance, dass dieser Gegner versucht, hier einzudringen.« Er sah Drunisine und Setstyin an, doch die schwiegen beide. »Aber darauf seid ihr sicher vorbereitet.« Wieder Schweigen. »Wenn die Ulubis-Merkatoria erst herausfindet, was hier geschehen ist, und erkennt, dass ihr darin nicht den Ausbruch eines Krieges seht, könnte sie euch vielleicht sogar ein Bündnis gegen die Streitkräfte des Epiphanie-Fünf-Separats vorschlagen.«
»Und warum sollten wir darauf eingehen?«, fragte Drunisine knapp.
Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. Fassin hatte eigentlich nicht mehr die Energie für lange Erklärungen. Bei einem so alten und erfahrenen Wesen wie Drunisine war die Frage vermutlich ohnehin rhetorisch.
»Schon gut«, sagte Fassin. »Tut einfach so, als sei nichts geschehen. Schickt eine Nachricht an ’glantine und macht ein paar hilfreiche Vorschläge zum Wiederaufbau der neuen Gemeinschaftsanlage für Seher.«
»Etwas dergleichen hatten wir ohnehin vor«, sagte Setstyin belustigt.
Auch Fassin signalisierte höfliche Erheiterung. Er hatte noch immer nicht ganz begriffen, was es mit dem Riesenschiff, das binnen eines Lidschlags ganze Flotten zerstören konnte, tatsächlich auf sich hatte. wer war für diesen Maschinenkoloss verantwortlich? Welche bislang unbekannten gesellschaftlichen Strukturen, welche ungeheuerlichen Produktionskapazitäten in der Dweller-Zivilisation konnten eine so erschreckende Waffe einfach aus dem Hut zaubern? War diese Kugel einmalig? Gab es sie nur auf Nasqueron? Du meine Güte, angenommen, sie wäre Teil einer Flotte? Musste man aus den Ereignissen schließen, dass all die geheimen Schiffe und Hyperwaffen, mit denen die Dweller prahlten, tatsächlich existierten? Könnten die Dweller von Nasqueron das E-5-Separat einfach vom Himmel fegen, wenn sie wollten, und Ulubis vor der Invasion bewahren? Könnten sie es jederzeit mit der Merkatoria aufnehmen, wenn ihnen der Sinn danach stand? War die Wahrscheinlichkeit, dass die Dweller-Liste echt war, jetzt größer geworden? War die Liste doch nicht einfach nur ein Witz, mit dem man seine Zeit verschwendete? Wie gerne hätte er sich vor diesem Treffen eine Weile mit Setstyin allein unterhalten, um zu erfahren, was seit ihrem letzten Gespräch geschehen war. Auf jeden Fall würde er ihm einige dieser Fragen stellen müssen, falls sich irgendeine Gelegenheit fände.
»Damit kommen wir«, sagte Drunisine, »zu der Frage, wieso das Ulubis-Merkatoria-Separat es überhaupt für klug oder einträglich hielt, auf diese Weise und in solcher Zahl in Nasqueron einzufallen. Hat jemand dazu etwas zu sagen?« Der greise Dweller schaute in die Runde.
»Es könnte vielleicht mit mir zu tun haben«, gestand Fassin.
»Mit dir, Seher Taak?«, fragte Drunisine.
»Ich wurde hierher geschickt, um eine Information zu beschaffen.«
»Und dazu brauchtest du gleich die Hilfe einer kleinen Kriegsflotte?«
»Nein. Aber meine Auftraggeber dachten vielleicht, ich wäre in Gefahr.«
»Durch wen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wir sprechen also von einer Information, die für die Merkatoria wertvoll genug ist, um einen Krieg anzufangen? Obwohl sie in den nächsten Monaten oder Jahren ohnehin mit einer Invasion zu rechnen hat? Es muss sich um eine sehr wichtige Information handeln. worum geht es? Können wir helfen?«
»Danke? Aber ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis ich sie finde.«
»Aha«, sagte Valseir. »Das ist es also.«
»Was?«
»Die Geschichte mit der Mappe in dem verschlossenen Behälter, den ich Chimilinith von Deilte persönlich übergeben habe.«
»Und?«
»Sie stimmt nicht ganz.«
»Nicht ganz?«
»Nicht ganz.«
»Und wie viel davon stimmt?«
Valseir schaukelte ein wenig zurück und schien zu überlegen. Überraschungsmuster huschten über seine Signalhaut. »Eigentlich das meiste«, sagte er.
»Und was nicht?«, fragte Fassin geduldig.
»In dem verschlossenen Behälter war keine Mappe.«
»Chimilinith hat die Information also nicht.«
»Richtig.«
»Ich verstehe.«
»Ich warte immer noch auf Aufklärung, worum es bei dieser exemplarischen, wenn auch schwer zu fassenden Information eigentlich geht«, sagte Drunisine mit einem frostigen Blick auf Valseir.
Verdammte Scheiße, dachte Fassin. Wenn Valseir ihnen sagt, was es ist, und diese Liste wirklich existiert, bringen sie uns womöglich alle um.
Auf den Gedanken war offenbar auch Valseir gekommen. »Angeblich ein Verfahren für überlichtschnelles Reisen«, erklärte er dem greisen Commander.
Setstyins Panzer signalisierte Heiterkeit, doch die Muster erloschen rasch. Drunisine wirkte so unbeeindruckt, wie ein alter Dweller nur sein konnte. »Wie bitte?«, fragte er nur.
»Ein uralter Zusatz zu einem noch älteren Buch – das Seher Taak vor zweihundert Jahren während eines ›Trips‹, wie solche Ausflüge bei den ›Schnellen‹ genannt werden, hier eintauschte – erwähnt eine Methode, ohne Adjutage und Cannula SAL zu reisen«, sagte Valseir. Fassin verstand. Der Alte hatte die Dweller-Begriffe für Portale und Wurmlöcher verwendet. Und seine Stimme hatte – hoffentlich – genau die richtige Mischung aus Beschämung und Sarkasmus zum Ausdruck gebracht. »Seher Taak wurde hierher geschickt, um eine genauere Beschreibung dieser … äh … unwahrscheinlichen Technologie zu finden.«
»Tatsächlich?« Drunisine sah Fassin an.
»Algebra«, entfuhr es dem Seher.
»Algebra?«, fragte Drunisine.
»Die Daten sehen angeblich aus wie algebraische Formeln«, sagte Fassin. »Formeln zur Beschreibung eines Warp-Antriebs, eines Verfahrens zur Krümmung des Raums. An sich längst bekannt, doch nun will man mit dieser Technik die Lichtgeschwindigkeit übertreffen.« Fassin machte eine Geste der Resignation, die Außenhaut seines Pfeilschiffs signalisierte Verlegenheit. »Ich wurde zu einer paramilitärischen Abteilung der Merkatoria abkommandiert, ohne mich dagegen wehren zu können, und auf diese Mission geschickt. was den Erfolg meiner Bemühungen angeht, bin ich wahrscheinlich ebenso skeptisch wie Sie.«
Auf Drunisines Haut erschien ein Muster, das höfliche Belustigung ausdrückte. »Oh, das möchte ich bezweifeln, Seher Taak.«
»Was geht hier vor?«
»Das wollte ich gerade dich fragen«, antwortete Setstyin. »Information gegen Information?«
»Schön, aber ich darf anfangen.«
»Was genau willst du wissen?«
Sie befanden sich immer noch in der Empfangssphäre im Innern der Riesenkugel. Commander Drunisine war gegangen. Zwei Erwachsenen-Sanitäter behandelten die kleinen Verletzungen, die sich Y’sul und Valseir während der Schlacht zugezogen hatten. »Was ist das hier?«, fragte Fassin und bezog mit einer Geste das ganze Schiff ein. »Wo kommt es her? Wer hat es gebaut? Wer steuert es? Wie viele von der Sorte gibt es in Nasqueron ?«
»Ich dachte, der Titel sagt alles«, meinte Setstyin. »Es ist eine Maschine zum Schutz des Planeten. Vor gezielter Aggression durch einen gewissen Typ von fortgeschrittener Technik. Ein Planeten-Protektor ist kein Raumschiff, wenn du das meinst. Er ist nur innerhalb der Atmosphäre einsetzbar. Der hier kam aus der Tiefe, wo solche Dinge gewöhnlich gelagert werden. Gebaut haben wir ihn. Ich meine, wir, die Dweller, wahrscheinlich vor ein paar Milliarden Jahren. Ich müsste nachsehen. Gesteuert wird er im Kontrollzentrum von Dwellern mit militärischer Erfahrung, die für diese Art von Maschinen gezielt an Simulatoren ausgebildet wurden. Was die Zahl angeht … das weiß ich nicht. Und wenn, dann sollte man die Information wohl auch nicht weitergeben. Nimm es mir nicht übel, Fassin, aber letzten Endes bist du eben doch keiner von uns. Wir müssen davon ausgehen, dass deine Loyalitäten anderswo liegen.«
»Vor Milliarden von Jahren gebaut? Und ihr könntet auch heute noch …?«
»Das muss ich aber als neue Frage werten«, schalt Setstyin. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
Fassin seufzte. »Na schön.«
»Suchst du wirklich nach Daten für eine Warptechnologie zum SAL-Antrieb? Obwohl du genau weißt, dass sie nicht existieren ?«
»Die Merkatoria glaubt, mit diesen Daten bessere Chancen zu haben, den Kampf gegen das E-5-Separat zu gewinnen. Die Leute sind verzweifelt. Sie würden alles versuchen. Und ganz gleich, wie ich über die Sache denke, ich muss mich an meine Befehle halten. Natürlich weiß ich, dass es einen eigenständigen SAL-Antrieb nicht gibt.«
»Wirst du diesen Befehlen auch jetzt noch gehorchen?«
Fassin dachte an Aun Liss, an die Bewohner von Hab 4409 und all die anderen, die er im Lauf der Jahre im Ulubis-System kennen gelernt hatte. »Ja«, sagte er.
»Und warum?« Setstyin klang ehrlich verwirrt. »Deine Familie und deine Kollegen aus dem Seher-Sept sind fast alle tot, deine unmittelbare militärische Vorgesetzte ist in der Schlacht gefallen, und es gibt weit und breit niemanden, der ihre Stelle einnehmen könnte.«
»Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete Fassin. »Vielleicht aus Pflichtbewusstsein oder aus schlechtem Gewissen oder auch aus dem Wunsch heraus, irgendwie tätig zu werden. Könntet ihr denn solche Planetenschutzmaschinen auch heute noch bauen?«
»Keine Ahnung«, gestand Setstyin. »Aber wieso eigentlich nicht?Vielleicht fragst du besser jemanden, der sich damit auskennt, aber selbst wenn die richtige Antwort ›nein‹ wäre, müssten wir doch wohl ›ja‹ sagen?«
»War es mein Anruf bei dir, der das alles in Gang gesetzt hat?«
»Ich finde, du holst dir ganz schön viele Zusatzfragen. Aber du hast Recht. ich nehme allerdings an, wenn plötzlich Dutzende von neu auf Gastauglichkeit umgerüsteten Kriegsschiffen im Orbit auftauchen, schrillen bei uns auch ohne besondere Vorwarnung die Alarmglocken. Trotzdem sind wir dankbar. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass wir das Gefühl haben, dir einen Gefallen schuldig zu sein.«
»Und wenn die Merkatoria jemals dahinterkommt«, sagte Fassin, »werde ich als Verräter hingerichtet.«
»Wenn du es niemandem verrätst, schweigen wir auch«, erklärte Setstyin in vollem Ernst.
»Abgemacht«, gab Fassin zurück, aber er war nicht überzeugt.
Das große Kugelschiff Isaut schwebte tief in einer Gasstromwolke und bewegte sich schnell vorwärts, ohne dass man etwas davon bemerkt hätte. Es hatte sich in den brodelnden Sturmboden aus trägem Gas gesenkt, sobald Fassin und die anderen an Bord gekommen waren. Sinkend, sich weiterschlängelnd und wieder leicht steigend hatte es das Wetterband der Zone Zwei erreicht und sich rasch an dessen Geschwindigkeit angeglichen. Als nun der Abend in die Nacht überging, befand es sich fünfhundert Kilometer von dem Sturm entfernt, wo die Schlacht stattgefunden hatte, und vergrößerte diesen Abstand mit jeder Stunde um weitere dreihundert Kilometer.
Fassin, y’sul, valseir und Setstyin schwebten unweit von Colonel Hatherences Leichnam über einer schmalen Plattform am Äquator des großen Schiffs. Das schwache Licht und die noch schwächere Brise verliehen der Szene eine Atmosphäre von stiller Schwermut, die dem Anlass angemessen war. Man hatte den zerrissenen, verbrannten Körper des Colonels mit hunderten von anderen Toten auf der Ebene gefunden, wo sich die Dweller-Leichen gewöhnlich sammelten. Der ihre war etwas weiter oben zur Ruhe gekommen, wo sonst die kinder lagen.
Wenn man die Dweller-Leichen sich selbst überließ, gasten sie aus, gewannen an Dichte und versanken, der Atmosphäre ausgesetzt, irgendwann vollends in den Tiefen. Der Respekt verlangte jedoch, einen toten Verwandten entweder zu Hause in einem besonderen Trauerraum aufzubahren und so lange verwesen zu lassen, bis die Dichte hoch genug war, um ein schnelles Versinken in den Flüssigwasserstoff sehr viel weiter unten zu gewährleisten, oder – wenn die Zeit drängte – den Leichnam zu beschweren und ihn so den Tiefen zu übergeben.
Hatherence hatte hier keine Familie. Es gab in ganz Nasqueron nicht einmal einen zweiten Angehörigen ihrer Spezies, und so hatte man Fassin – immerhin wie sie ein Alien – die Verantwortung für ihre sterblichen Überreste übertragen. Er hatte es vorgezogen, ihren Leichnam rasch in die Tiefen sinken zu lassen, anstatt ihn zu konservieren und an die Justitiarität oder an etwaige Familienangehörige im Ulubis-System zu übergeben. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, warum er so dachte. Die ›Wahrheit‹ verlangte keinen speziellen Totenkult, und so weit er wusste, legten auch die Oerileithe keinen besonderen Wert darauf, ihre Toten von weither zurückzuholen. Doch selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte er dieses Verfahren befürwortet. Die Dweller hielten diese Art der Entsorgung wohl vor allem für verwaltungsfreundlich, vielleicht auch für besonders sauber und ordentlich. Für ihn war es mehr.
Fassin schaute hinab auf den Alien-Körper in seinem Sarg aus Meteoreisen – schmal und dunkel, von der Form her zwischen einem Manta und einem Riesenseestern. Eisen war für die Dweller aus sentimentalen und zeremoniellen Gründen von jeher ein halbedles Metall. Sie betrachteten diese Form der Beisetzung vermutlich als große Ehre für Hatherence. Im schwindenden Licht wirkten die zerrupften Überreste, ohnehin schon dunkel, dann durch den tödlichen Strahl noch schwärzer verbrannt, wie Schattenfetzen.
Fassin stiegen unter dem Schockgel die Tränen in die Augen. Das Gasschiffchen war auch für ihn wie ein kleiner Sarg, der ihn bei lebendigem Leibe umschloss. Er wusste, dass er in den animalischen Tiefen seines Bewusstseins weniger um den gefallenen Colonel der Ocula trauerte als um all die Menschen, die er in letzter Zeit verloren hatte. Verloren, ohne dass er sie ein letztes Mal gesehen hätte, und wäre es als Tote, verloren, ohne dass er so ganz fassen konnte, dass sie nicht mehr waren, weil er zu weit entfernt gewesen war, als es geschah, um zurückkehren und ihnen in irgendeiner Form die letzte Ehre erweisen zu können, verloren für den Verstand, aber nicht für die Gefühle, denn bis zu diesem Moment sträubte sich etwas in ihm gegen die Erkenntnis, dass er alle diese Verlorenen niemals wiedersehen würde.
»Ich muss gestehen«, sagte Setstyin, »ich habe keine Ahnung, mit welchen Worten man einem solchen Anlass gerecht werden könnte. wie steht es mit dir, Seher Taak ?«
»Bei den f-Menschen gibt es die Redensart, wir kämen aus dem Nichts und gingen ins Nichts, und dieses Nichts sei wie ein Schatten, der das Leben in seiner Fülle hervorhebe und ihm schärfere Konturen verleihe. Und bei den r-Menschen sagt man noch etwas von Staub und Asche.«
»Denkst du, es hätte sie gestört, wie ein Dweller bestattet zu werden?«, fragte Setstyin.
»Nein«, sagte Fassin. »Das glaube ich nicht. Sie hätte es eher für eine Ehre gehalten.«
»Hört, hört«, murmelte Y’sul.
Valseir machte eine feierliche Verbeugung.
»Nun denn, Colonel Hatherence«, sagte Setstyin mit einem kleinen Seufzer und schaute auf den Leichnam im Sarg hinab. »Du hast das Alter und den Rang eines Colonel der Merkatoria erreicht, was für deinesgleichen eine beachtliche Leistung ist. Wir nehmen an, dass du ein gutes Leben geführt hast, und wir wissen, dass du ehrenhaft gestorben bist. Mit dir starben viele andere, aber am Ende sind wir doch alle allein. Für dich gilt das noch mehr, denn du warst unter Wesen, die dir fremd waren, und du warst fern von deiner Heimat und deiner Familie. Du bist in die Tiefen gestürzt, du wurdest geborgen, und nun schicken wir dich noch weiter in diese Tiefen hinab zu all unseren ehrwürdigen Toten auf der felsigen Oberfläche um den Kern.« Er sah Fassin an. »Seher Taak, möchtest auch du noch ein paar Worte sagen?«
Fassin zerbrach sich vergeblich den Kopf. Schließlich sagte er nur: »Ich glaube, Colonel Hatherence war eine gute Person. Tapfer war sie sicherlich. Ich kannte sie nicht einmal hundert Tage lang, und sie war immer meine militärische Vorgesetzte, aber sie wurde mir immer sympathischer, und irgendwann war sie wie eine Freundin. Sie fand den Tod, als sie mich beschützen wollte. Ich werde ihr Andenken stets in Ehren halten.«
Er signalisierte, dass ihm weiter nichts einfiel. Setstyin roll-nickte und deutete auf den offenen Sargdeckel.
Fassin glitt vor und schloss mit einem Manipulator die eiserne Klappe, dann sank er noch ein wenig tiefer, fasste zusammen mit Setstyin die Bahre mit dem Sarg an einer Kante und hob sie an. Der schwere Behälter rutschte lautlos vom Balkon und versank tief unter ihnen in der nächsten dunkelvioletten Wolkenschicht.
Alle schwebten nach draußen und warteten, bis der winzige schwarze Fleck im rötlich blauen Gewoge verschwunden war.
»Ein Großcousin von mir ist beim Tauchen von so etwas getroffen worden«, sagte Y’sul nachdenklich. »Hat nie erfahren, was es war. Er war auf der Stelle tot.«
Die anderen sahen ihn an.
Er zuckte die Achseln. »Was ist? Es ist wahr!«
Valseir fand Fassin auf einer Galerie. Der Alte schaute hinaus in den nächtlichen Gasstrom, der in Infrarot ruhig dahinrauschte und die Isaut an ein unbekanntes Ziel trug.
»Fassin.«
»Valseir. Dürfen wir schon gehen?«
»Ich habe nichts gehört. Noch nicht.«
Gemeinsam sahen sie eine Weile in die bewegte Nacht hinaus. Zuvor hatte sich Fassin Berichte beider Seiten über die Sturmschlacht angesehen. Die Dweller zeigten raffiniert ausgewählte Bilder, nach denen es so aussah, als hätten die Panzerkreuzer und nicht die Isaut den Sieg davongetragen. Die Sendernetze der Merkatoria verzichteten ganz auf Bilder und ergingen sich nur in geheimnisvollen Andeutungen, wonach eine ganze Flotte vermisst wurde. Dass es nichts zu sehen gab, war unerhört. Offenbar hatte man sofort entschieden, dass die Sache nach Möglichkeit vertuscht werden sollte. Beide Seiten spielten nach Kräften herunter, unterstellten ein entsetzliches Missverständnis und beklagten erschreckend hohe Verluste, was, wenn Fassin recht überlegte, immerhin zur Hälfte bis zu drei Vierteln der Wahrheit entsprach und damit der Realität näher kam, als er unter diesen Umständen erwartet hätte.
»Was ist denn nun aus dieser Mappe geworden?«, fragte Fassin. »Falls es sie überhaupt gab?«
»Es gab und gibt eine Mappe, Fassin«, sagte Valseir. »Ich habe sie lange bei mir behalten, aber vor einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren gab ich sie schließlich meinem Kollegen und guten Freund Leisicrofe, der damals gerade zu einer Forschungsexpedition aufbrach.«
»Ist er inzwischen zurückgekehrt?«
»Nein.«
»Wann kommt er?«
»Sollte er zurückkehren, wird er die Daten nicht mitbringen.«
»Wo werden sie sein?«
»Wo immer er sie gelassen hat. Ich weiß es nicht.
»Wie finde ich deinen Freund Leisicrofe?«
»Du musst ihm folgen. Das wird nicht einfach sein. Du wirst Hilfe brauchen.«
»Ich habe Y’sul. Er hat bisher immer alles arrangiert …«
»Du wirst viel mehr Hilfe brauchen, als er dir geben kann.«
Fassin sah den alten Dweller an. »Ich muss den Planeten verlassen? Ist es das, was du meinst?«
»Sozusagen«, sagte Valseir, ohne ihn anzusehen. Er wandte den Blick nicht von der vorwärts wogenden Nacht.
»An wen sollte ich mich dann wenden, um diese Hilfe zu erhalten ?«
»Ich war bereits so frei, alles in die Wege zu leiten.«
»Tatsächlich? Das ist sehr freundlich.«
Valseir schwieg eine Weile, dann sagte er: »Es geht hier nicht um Freundlichkeit, Fassin.« Er wandte sich zu dem Pfeilschiff um und sah es fest an. »Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, würde sich in ein Geschehen von solcher Tragweite hineinziehen lassen. Wenn das, wonach du suchst, auch nur irgendwo mit der Realität zu tun hat, könnte sich für uns alle alles ändern. Ich bin ein Dweller. Meine Spezies führt ein schönes langes – wenn auch egoistisches – Leben und hat sich weit über die Sternensysteme ausgebreitet. Veränderungen in der Größenordnung, von der wir hier sprechen, schätzen wir nicht. Ich weiß nicht, ob irgendeine Spezies davon angetan wäre. Einige von uns werden nichts unversucht lassen, um solche Umwälzungen zu vermeiden und alles genau so zu erhalten, wie es ist.
Du musst dir über eines klar sein, Fassin; wir sind keine Monokultur, wir sind nicht alle vollkommen gleichgeschaltet. Es gibt Unterschiede, die selbst du, der du dich so lange und intensiv mit uns beschäftigt hast, nicht ermessen kannst. In unseren Welten gehen Dinge vor, von denen die meisten von uns kaum etwas ahnen, und zwischen unseren Parteien herrschen ebenso tief greifende Meinungsunterschiede wie bei den Parteien der ›Schnellen‹.«
Parteien, dachte Fassin.
Valseir fuhr fort. »Bei uns stehen nicht alle den Ereignissen in den Weiten der Galaxis mit der Gleichgültigkeit gegenüber, die wir im Allgemeinen so erfolgreich zur Schau tragen. Manch einer würde dir helfen, ohne Genaueres über deine Mission wissen zu wollen, weil ihm klar wäre, dass sich dieses Wissen niemals mit der Loyalität zu seiner Spezies vereinbaren ließe. Andere … andere würden dich auf der Stelle töten, wenn sie auch nur ahnten, wonach du suchst.« Der alte Dweller schwebte wie zu einem Flüsterkuss an ihn heran und signalisierte: – Und ob du es glaubst oder nicht, Fassin Taak, Drunisine gehört zum ersten Lager, während dein Freund Setstyin zum zweiten gehört.
Fassin wich zurück und sah den alten Dweller ungläubig an. Der bekräftigte: – Es ist wahr.
Fassin schwieg einen Moment, dann fragte er: »Wann kann ich deinem Freund Leisicrofe folgen?«
»Ich denke, du wirst es noch vor dem Ende dieser Nacht auf die eine oder andere Weise erfahren. wenn wir beide nicht wenigstens anfangen, nach Leisicrofe zu suchen, dann können wir auch gleich deinem Colonel Hatherence folgen.«
Das war Fassin ein wenig zu melodramatisch. »Meinst du wirklich?«, fragte er und signalisierte Erheiterung.
»Ja, das meine ich wirklich«, sagte Fassin, ohne eine Empfindung zu signalisieren. »Noch einmal: es geht hier nicht um Freundlichkeit.«
Saluus Kehar war verärgert. Er hatte an entscheidenden Stellen seine eigenen Leute sitzen, er hatte spezielle Methoden, um Dinge in Erfahrung zu bringen, er hatte eigene, von den Medien und den Regierungsbehörden unabhängige und sichere Informationskanäle – anders wurde und blieb man nicht der größte Lieferant des Militärs – und so wusste er ziemlich genau, was während des katastrophalen Überfalls auf Nasqueron geschehen war. Es war einfach ungerecht, ihm oder seiner Firma die Schuld daran zu geben.
Zum einen waren sie verraten worden, oder ihre Informationen und ihr Funkverkehr waren nicht sicher gewesen, oder jemand (die Dweller!) hatte ihre Absichten frühzeitig erraten. Aus einem dieser Gründe – die alle ganz bestimmt nichts mit ihm zu tun hatten – waren sie in einen Hinterhalt geraten und kläglich unterlegen. Plötzlich waren Dutzende von verdammten Superpanzerkreuzern aufgetaucht, von denen bis dahin kein Schwein je gehört hatte, während die einfallenden Truppen allenfalls mit einer Hand voll Standardschiffen gerechnet hatten, ohne reaktive Spiegelpanzerung, ohne Plasmatriebwerke und ohne Breitbandlaser. Zudem hatten sich die Dweller im Lauf der Jahre – Jahre? Äonen! – sehr geschickt verstellt. Sie hatten sich als hoffnungslos tollpatschig und technisch unfähig verkauft, während sie in Wirklichkeit immer noch Zugriff auf tödliche Waffen hatten – auch wenn sie nicht mehr zu spektakulären Neuentwicklungen imstande waren.
Das Militär hatte versagt. Das Werkzeug konnte noch so gut, der Handwerker noch so geschickt, die Waffe noch so solide gebaut sein, wenn der Benutzer sie fallen ließ, nicht einschaltete oder einfach nicht damit umgehen konnte, war die beste Arbeit umsonst gewesen.
Sie hatten alle Schiffe verloren. Alle. Jedes einzelne Scheißschiff, ob bei der Angriffsflotte selbst oder bei den Unterstützungseinheiten unmittelbar darüber im All. Sogar einige Schiffe, die gar nicht beteiligt waren – sondern um Third Fury kreisten und die Bergungs-und Aufbautrupps bewachten –, waren von einer Teilchenstrahlwaffe ins Visier genommen und vernichtet worden. Hyperschnelle Raketen hatten zwei Schiffe auf der anderen Seite des Mondes aufgespürt und ebenfalls in tausend Stücke gerissen.
Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass die Operation ein Fiasko gewesen war, hatte das Militär entschieden, den Fehler bei Kehar Heavy Industries zu suchen. Die Firma trage die Schuld. Mit unseren verdammten Schiffen stimme etwas nicht, um einen alten Admiral aus früherer Zeit zu zitieren. Das schiere Ausmaß der Katastrophe und die frustrierende Unmöglichkeit, genau zu bestimmen, was schief gegangen war, machten es sogar noch einfacher, die Verantwortung auf das Werkzeug zu schieben anstatt auf den Benutzer. Alle Schiffe waren auf Saluus’ Werften gastauglich gemacht worden, alle waren beim ersten Einsatz in der neuen Konfiguration verloren gegangen, folglich musste – nach jener speziellen Logik, der wohl nur ein militärischer Verstand zu folgen vermochte – das Problem in dem Verfahren liegen, mit dem sie für Flüge in einer Atmosphäre umgerüstet worden waren.
Wen kümmerte es, dass der Schlachtkreuzer, der das Kommando führte und die Mission steuerte, und die beiden schwer gepanzerten Überwachungsschiffe, die alle niemals gastauglich gemacht worden waren und sich zu dieser Zeit noch im All befanden, ebenso mühelos in ihre Atome zerlegt worden waren wie die Schiffe, die in den Wolken des Planeten operierten? Dieses kleine Detail ging in der größeren Katastrophe irgendwie unter und wurde in der ganzen Hysterie tunlichst vergessen.
Nun hatte man also Fassin und die Spur zu dieser Dweller-Liste verloren. Schlimmer noch, man hatte ein schwerwiegendes Problem mit seinem Geheimdienst, denn im Grunde genommen hatte man sich hinters Licht führen lassen. Der alte Dweller Valseir musste Verdacht geschöpft oder einen Tipp bekommen haben. Das ergab sich einfach daraus, dass sich die von ihm gelieferte Information – fast die letzten Daten, die bei den Lamettaträgern auf Sepekte eintrafen, bevor das Chaos ausbrach – bei späterer Überprüfung als falsch herausgestellt hatte. Der Dweller in Deilte, den Fassin auf seinen Rat hin hätte aufsuchen sollen, existierte nicht. Und dafür hatte man mehr als siebzig erstklassige Kriegsschiffe verloren, ohne irgendetwas zu gewinnen – Schiffe, die man schmerzlich vermissen würde, wenn die Invasion durch die Allianz aus Beyondern und Hungerleidern tatsächlich aktuell wurde – und obendrein hatte man die Dweller gründlich verärgert. Und den Dwellern krumm zu kommen, war noch nie ratsam gewesen, schon bevor sie plötzlich gezeigt hatten, dass sie immer noch eine Faust in der Tasche hatten, mit der sie eine Merkatoria-Flotte auf die Bretter schicken konnten. Das Militär hatte also Mega-Scheiße gebaut, diamantscheiße mit vielen Facetten, ein wahrer Geniestreich, ein bleihaltiges Stück Scheiße, eine mehrstufige Rakete mit einer ganzen Traube von Scheiße-Sprengköpfen, ein regeneratives Waffensystem mit fraktaler Scheiße als Munition.
Tatsächlich hatte sich nur der letzte Punkt auf der langen Liste von verheerenden Folgen – das Verhalten der Dweller nach der Niederlage und die Signale, die sie gaben – als weniger schlimm herausgestellt als befürchtet. Endlich ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Saluus saß in einer Konferenz. Er hasste Konferenzen. Sie mochten zum Leben jedes Industriellen, ja zum Leben jedes Geschäftsmanns in jedem beliebigen Unternehmen gehören, dennoch hasste er sie. Er hatte, zum Teil von seinem Vater, gelernt, sich gut zu behaupten und Teilnehmer wie Informationen vor, während und nach der Zusammenkunft in seinem Sinne zu manipulieren, doch selbst wenn alles schnell über die Bühne ging und wichtige Entscheidungen fielen, hatte er das Gefühl, seine Zeit zu verschwenden.
Und es gab nur wenige Konferenzen, in denen wichtige Entscheidungen fielen.
Diesmal hatte er nicht einmal den Vorsitz. Das war ungewöhnlich. Man hatte ihn vorgeladen. Vorgeladen? Man hatte ihn vorführen lassen. wie einen Angeklagten!
Er zog Konferenzschaltungen oder Holo-Meetings bei weitem vor. Sie waren im Allgemeinen kürzer (wenn auch nicht immer – wenn alle Beteiligten sich in ihrer jeweiligen Umgebung wirklich wohl fühlten, konnten auch sie ewig dauern), und sie waren leichter zu leiten – und im Grunde auch leichter zu beenden. Aber in der Welt der Konferenzen gab es offenbar eine bestimmte Verteilungskurve: am unteren Ende einer Organisationshierarchie setzte man sich oft und gern zusammen – häufig nur deshalb, wie Saluus schon lange vermutete, weil man sonst nichts Vernünftiges zu tun und genügend Zeit hatte und weil man sich gern ein wenig wichtig machte. In den mittleren und oberen Rängen wurden die Holo-Meetings zahlreicher, sie waren zeitsparender, die Leute, die man treffen wollte, standen etwa auf der gleichen Stufe wie man selbst, auch ihre Zeit war knapp, und sie waren oft weit entfernt. Doch auf den allerhöchsten Ebenen – und das war nicht ganz logisch – stieg der Prozentsatz an persönlichen Konferenzen allmählich wieder an.
Vielleicht war das ein Zeichen dafür, wie gut man gelernt hatte zu delegieren. vielleicht konnte man auf diese Weise den mittleren und gehobenen Rängen unterhalb von einem selbst den eigenen Willen besser aufzwingen. Oder die Themen, die bei solchen Konferenzen auf höchster Ebene besprochen wurden, waren so wichtig, dass man auch noch die letzte physische Nuance ausnützen wollte, die eine Holo-Präsenz vielleicht nicht liefern konnte, um wirklich alle relevanten Informationen zur Verfügung zu haben. Einschließlich der Beobachtung, ob jemand schwitzte oder einen nervösen Tick hatte.
Natürlich wäre so etwas auch bei einem guten Holo zu sehen, andererseits ließen sich diese kleinen Schwächen ausmerzen, wenn man die Übertragung über eine Kamera mit einem guten Bildbearbeitungssystem laufen ließ. theoretisch konnte jemand bei einer Konferenzschaltung Ströme von Schweiß vergießen und zucken, als säße er auf dem elektrischen Stuhl, aber nach einer vernünftigen, in Echtzeit arbeitenden Bildbearbeitung so wirken wie die sprichwörtliche Ruhe selbst.
Wobei man auch in der Realität so manches kaschieren konnte. Saluus’ Vater hatte für seinen Sohn zum dreizehnten Geburtstag eine Überraschungsparty ausgerichtet und ihm anschließend ein Überraschungsgeschenk gemacht, einen Aufenthalt in einer Perfektionierungsklinik. Dort hatte man ihm im Laufe eines langen und keineswegs schmerzfreien Monats die Zähne verschönert, die Augen vergrößert und deren Farbe verändert. (Saluus’ Aussehen war zwar schon im Mutterleib nach den Wünschen seiner Eltern festgelegt worden, aber als Vater hatte man doch wohl das Recht, seine Meinung zu ändern.) Wichtiger war, dass man ihm seine Zappeligkeit genommen, seine Konzentrationsfähigkeit erhöht und ihn darauf konditioniert hatte, seine Schweißdrüsen, seine Pheromonabgabe und die galvanische Hautreaktion zu kontrollieren.(Letzteres war streng genommen nicht legal, aber die Klinik gehörte schließlich einer Tochtergesellschaft von Kehar Heavy Industries.) All das verschaffte ihm einen Vorteil bei Konferenzen, Diskussionen und sogar bei zwanglosen Treffen. Und es ließ sich auch in die Kunst der Verführung einbauen, wenn man selbst als Erbe eines ungeheuren Vermögens nicht den gewünschten Erfolg erzielte.
Zusammengetreten war der Krisenstab des Kriegskabinetts, lauter hochrangige Würdenträger, die sich in einem kilometertief gelegenen Kommandobunkerkomplex unter einer Hand voll diskret bewachter Villen in den Außenbezirken von Borquille versammelt hatten.
Ein Treffen auf höchster Ebene, nur der Hierchon Ormilla fehlte. Er war sich wohl zu gut dafür, an einer einfachen Konferenz teilzunehmen, auch wenn sie von einer so bedeutenden Organisation wie dem Krisenstab des Kriegskabinetts einberufen wurde und das System in noch größerer Gefahr war als vor der katastrophalen Entscheidung, in Scharen in Nasquerons Atmosphäre einzufallen, sobald man glaubte, eine sichere Spur zu der Dweller-Liste zu haben – die wahrscheinlich ohnehin nur ein Mythos war.
Wieso konnte er eigentlich bei Konferenzen nie bei der Sache bleiben? Wieso schweiften seine Gedanken immer in eine – ganz bestimmte – Richtung ab, in Richtung Sex?
Wenn Saluus sich die Frauen ansah, die mit ihm in den Konferenzen saßen, fiel es ihm schwer, sie sich nicht nackt vorzustellen. Das passierte ihm schon bei eher schlichten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. Wenn sie auch nur halbwegs gut aussahen, war es unvermeidlich und hatte oft drastische Folgen. Wahrscheinlich lag es daran, dass man sie, wenn sie redeten, lange betrachten konnte, ohne dass es auffiel. Oder es manifestierte sich einfach der geheime Wunsch, die zivilisatorische Tünche abzuwerfen und vom braven kleinen Firmenangestellten wieder zum Höhlenmenschen zu werden, der sich in den Dreck warf und hemmungslos rammelte.
Gerade faselte der Erste Minister Heuypzlagger. Saluus verließ sich darauf, dass er den Anschein erweckte, sich kein Wort des Ersten Ministers entgehen zu lassen, und dass sein Kurzzeitgedächtnis ihn sofort zurückholen würde, wenn und falls irgendetwas wirklich Wichtiges ins Blickfeld gestolpert käme, das seine volle Aufmerksamkeit verdiente. Doch da er inzwischen der Körpersprache und dem allgemeinen Verhalten der anderen Teilnehmer wohl so ziemlich alles über die tatsächliche Lage entnommen hatte, was er je erfahren würde, glaubte er es sich leisten zu können, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Er warf einen Blick auf Colonel Somjomion, die einzige Frau in dieser Konferenz. Sie redete nicht viel, man hatte also nur selten Gelegenheit, sie direkt anzusehen. Keine auffallende Schönheit (obwohl er sich neuerdings einzureden suchte, er lerne reifere Frauen mehr zu schätzen als junge Mädchen und schaue allmählich auch hinter die äußeren Geschlechtsmerkmale). Die Vorstellung, eine Frau in Uniform zu entkleiden, war natürlich von besonderem Reiz, aber das hatte er längst hinter sich, er besaß sogar Aufzeichnungen davon. Lieber beschäftigte er sich mit seiner neuesten Geliebten.
Saluus dachte an die letzte Nacht mit ihr, an heute Morgen und an den Abend, an dem sie sich kennen gelernt und zum ersten Mal miteinander gebumst hatten. Das führte rasch zu einer fast schon schmerzhaften Erektion. In der Perfektionierungsklinik hatte man ihm auch beigebracht, solche Regungen zu kontrollieren, aber normalerweise ließ er das Auf und Ab da unten einfach zu, solange ihn weder das eine noch das andere gesellschaftlich unmöglich machte. vielleicht, so dachte er seit langem, konnte er seinem lieben alten Dad auf diese Weise heimzahlen, dass er ihm alle diese Verbesserungen aufgezwungen hatte, so nützlich sie ihm sonst auch gewesen sein mochten.
Er hasste Konferenzen immer noch.
Alles in allem hatte er sich hier noch recht gut aus der Affäre gezogen, dachte Saluus. Er hatte zwar einer eingehenden Prüfung der Verfahren zur Gastauglichmachung der Schiffe im Rahmen der allgemeinen Ursachenforschung nach der Niederlage zustimmen müssen, aber das war – trotz der versteckten Beleidigung und des damit verbundenen Zeitaufwands, den sie sich gerade jetzt nicht leisten konnten – nicht allzu schlimm. Den größten Teil der Kritik hatte er von sich abwenden können, indem er unter den Vertretern der Navarchie, der Sicherheitskräfte und der Ocula der Justitiarität einen Streit darüber provozierte, wer mit dem ganzen Schlamassel am wenigsten zu tun gehabt hatte.
Ein guter Trick. Teile und herrsche. In diesem System nicht weiter schwierig. Es war sogar wie geschaffen dafür. Saluus erinnerte sich an die Fragen, die er seinem Vater gestellt hatte, als er noch zu Hause unterrichtet wurde. Wozu dieser Wust von Behörden? Wozu diese Inflation (er hatte das Wort gerade entdeckt und benützte es mit Begeisterung) von militärischen, Sicherheits-und anderen Organisationen innerhalb der Merkatoria? Kriegsschiffe waren ein gutes Beispiel: die Sicherheitskräfte hatten Kriegsschiffe; die Truppen der Navarchie hatten Kriegsschiffe; die Außengeschwader hatten Kriegsschiffe; die Generalflotte hatte natürlich ebenfalls ihre Kriegsschiffe. daneben hatten die Techniker, die Propylaea, die Omnokratie, die Lustrale der Cessoria, die Justitiarität, die Ocula der Justitiarität und sogar die Administrata ihre eigene Flotte, und in jeder Flotte gab es auch ein paar Kriegsschiffe für wichtige Geleitschutzaufgaben. Warum so viele? Warum zersplitterte man seine Kräfte? Das Gleiche galt für die Sicherheitsdienste. Jede Organisation hatte auch ihre eigene Sicherheitsabteilung. War das nicht Verschwendung?
»Gewiss«, hatte sein Vater geantwortet. »Aber in der Verschwendung liegt eine Chance. Und was du Verschwendung nennst, könnte man auch als Redundanz bezeichnen. Aber soll ich dir sagen, worum es wirklich geht?«
Natürlich wollte Saluus das wissen.
»Um das alte ›Teile und Herrsche‹. Auch bei den eigenen Leuten. Man will Rivalitäten schüren. Auch das unter den eigenen Leuten. Sogar ganz besonders. Man sorgt dafür, dass alle zerstritten sind, dass alle sich gegenseitig belauern, dass jeder sich fragt, was die anderen wohl im Schilde führen mögen. Dass sie um Aufmerksamkeit, um Anerkennung buhlen. Gewiss, einerseits ist es Verschwendung, aber aus anderer Sicht ist es klug. So schafft es die Culmina, alles unter Kontrolle zu halten, junger Mann. So herrscht sie über uns. Und das mit Erfolg, findest du nicht auch?«
Saluus war damals nicht ganz überzeugt gewesen. Die krasse Vergeudung von Ressourcen hatte ihn empört. Inzwischen war er älter und klüger geworden und hatte sich daran gewöhnt, dass es wichtiger war, ob etwas überhaupt funktionierte, als dass es so funktionierte, wie es sollte (nur in den Augen der Öffentlichkeit war es natürlich genau umgekehrt).
Doch jetzt war man mit einer akuten und tödlichen Gefahr konfrontiert. Durfte man auch in dieser Situation Feindschaft Hass und Zwietracht zwischen Individuen und Organisationen schüren, wenn doch alle an einem Strang ziehen müssten, um der Gefahr Herr zu werden?
Zum Teufel damit! Rivalitäten würde es immer geben. Alle Streitkräfte waren darauf getrimmt, das eigene Revier zu verteidigen, Kämpfe zu führen, sich durchzusetzen. Natürlich kämpften sie auch gegeneinander.
Und angenommen, diese angeblich so verdammt gewaltige und allmächtige Merkatoria-Flotte raste nicht genau in diesem Moment auf Ulubis zu. Würden dann nicht einige – oder sogar sehr viele – Leute im System mit dem Gedanken spielen, sich der Invasion der Allianz aus Beyondern und Hungerleidern erst gar nicht zu widersetzen, sondern lieber zu versuchen, mit den Gegnern zu einer gütlichen Einigung zu kommen?
Trotz aller Propaganda, der man die Bevölkerung ausgesetzt hatte, ließ sich aus geheimen Umfragen und Polizeiberichten entnehmen, dass viele einfache Leute den Eindruck hatten, mit den Beyondern und Hungerleidern nicht unbedingt schlechter zu fahren. Und einige von den Machthabern dachten sicher genauso, besonders, wenn man von ihnen verlangte, für eine möglicherweise aussichtslose Sache Eigentum und Wohlstand zu opfern oder gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Sogar an diesem beeindruckend großen runden Tisch in diesem beeindruckend großen, kühlen, dezent beleuchteten Konferenzraum mit dem Flair einer Vorstandsetage könnte der eine oder andere in Versuchung geraten, über eine Reaktion auf die drohende Invasion nachzudenken, die nicht Widerstand bis zum letzten Schiff und zum letzten Soldaten bedeutete – wenn diese nahende Merkatoria-Flotte nicht wäre.
Man musste wohl davon ausgehen, dass die Flotte tatsächlich unterwegs war. Es gab auch andere Möglichkeiten, und Saluus hatte sie alle berücksichtigt – und mit seinen eigenen Beratern und Spezialisten durchgesprochen – sie aber dann letztlich verworfen. Ob die Dweller-Liste nun ein Mythos war oder nicht, wenn alle so taten, als existiere sie, zählte nur das. Es war fast wie mit dem Geld; eine Frage des Vertrauens, der Überzeugung. Der Wert lag nicht in der Sache an sich, sondern darin, dass man an sie glaubte.
Egal! Nachdem die neuesten Geheimdienstberichte abgehandelt waren und man sich lange genug darüber ereifert hatte, dass er es versäumt habe, die umgerüsteten Schiffe ausreichend gegen fremde Hyperwaffen zu schützen, kam man endlich zu einem sinnvolleren Thema.
Zurück in die grausige Wirklichkeit.
»Die Hauptsache ist«, erklärte Flottenadmiral Brimiaice (der Quaup-Kommandeur war ein großer Freund von ›Hauptsachen‹ und ›Letzten Enden‹) »dass die Dweller offenbar nicht beabsichtigen, die Feindseligkeiten fortzusetzen.«
Nachdem die Dweller anfangs nach der Devise ›Es werden keine Gefangenen gemacht‹ auch all jene gnadenlos abgeknallt hatten, die zunächst noch entkommen waren, hatten sie ebenso plötzlich auf ihre übliche Pose umgeschaltet, die naiven Tollpatsche gespielt und behauptet, alles sei nur ein schreckliches Missverständnis gewesen und ob sie nicht beim Wiederaufbau von Third Fury behilflich sein könnten?
»Und darüber können wir verflucht froh sein!«, sagte General Thovin von den Sicherheitskräften. »Andernfalls hätten wir nicht die geringste Chance. Gegen Beyonder und Hungerleider und die Dweller auf einmal! Schöne Scheiße! Keine Chance. Überhaupt keine Chance!« Thovin war ein Stier von einem Mann, ein dunkelhäutiges Kraftpaket mit einer rauen Stimme, die zu seinem Aussehen passte.
»Stattdessen haben wir nur fast keine Chance«, sagte Colonel Somjomion von der Justitiarität und lächelte dünn.
»Wir haben alle Chancen der Welt, Madame!«, donnerte Flottenadmiral Brimiaice und schlug mit einem Röhrenärmchen auf den Tisch. Sein Körper in der prächtigen maßgeschneiderten Uniform mit den vielen Orden stieg in die Luft wie ein Luftschiff von der Größe eines kleinen Flusspferds. »Gerade hier werden wir keine defätistischen Reden dulden!«
»Wir haben siebzig Schiffe weniger als vorher«, erinnerte ihn der Colonel der Justitiarität sachlich.
»Wir haben immer noch unseren Willen«, hielt Brimiaice dagegen. »Und das ist letzten Endes das Wichtigste. Und wir haben jede Menge Schiffe. Außerdem werden ständig neue gebaut.« Dabei sah er Saluus an. Der nickte und bemühte sich, seine Verachtung nicht zu zeigen.
»Vorausgesetzt sie funktionieren«, murmelte der Oberste Archivar Voriel. Der Cessorianer schien einen persönlichen Groll gegen Saluus zu hegen, den dieser sich nicht erklären konnte.
»Das haben wir doch alles schon behandelt«, warf der Erste Minister Heuypzlagger mit einem Blick auf Saluus rasch ein. »Wenn es Probleme bei der Schiffskonstruktion gibt, werden sie bei der Untersuchung sicherlich zu Tage kommen. wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, was wir sonst noch tun können.«
Saluus wurde es allmählich langweilig. Wozu noch länger warten? »Eine Abordnung«, sagte er. »Das möchte ich vorschlagen. Wir schicken eine Abordnung zu den Dwellern von Nasqueron. Sie soll den Frieden sichern und verhindern, dass es zu weiteren ›Missverständnissen‹ zwischen unseren Spezies kommt. Außerdem soll sie versuchen, die Dweller in die Verteidigung des Ulubis-Systems mit einzubinden und, wenn möglich – und vorzugsweise mit ihrer Einwilligung – entweder direkt oder in theoretischer Form an einige der außerordentlich eindrucksvollen Waffensysteme heranzukommen, die sie offenbar besitzen.«
»Hm«, sagte Heuypzlagger und schüttelte den Kopf.
»Ach, jetzt ist unser Angehöriger der Raffenden Klasse wohl auch noch Diplomat geworden?«, bemerkte Voriel. Sein Lächeln war an der Grenze zum Hohn.
»Dann bräuchten wir sicher noch mehr von Ihren angeblich gastauglichen Schiffen, um diese Waffen zu beschützen!«, protestierte Brimiaice.
»Haben wir denn überhaupt schon eines?«, fragte Thovin.
Oberst Somjomion sah ihn nur mit schmalen Augen an.
Die Konferenz dauerte nicht wirklich ewig. Irgendwann war sie vorbei. Am Abend traf sich Saluus auf Murla in seinem Haus auf der Wassersäule mit seiner neuen Geliebten. Dort hatte er sie zum ersten Mal bei Tageslicht richtig angesehen und entschieden, dass sie ihn interessierte. Das war einen Tag nach seinem und Fassins Besuch im Narkoteria in Boogeytown gewesen, beim Brunch, zusammen mit seiner Frau (und ihrer neuen Freundin) und den Segrette-Zwillingen.
Die FlugSchwinge Cheumerith flog hoch oben in den freien Gasräumen zwischen zwei hohen Dunstschichten mit dem gewaltigen, niemals endenden Jetstream, als wollte sie Schritt halten mit den fernen Sternen, die manchmal klein wie harte Pünktchen durch den gelben Dunst und die ewig vorbeihastenden dünnen Bernsteinwolken blinzelten.
Das Riesenluftschiff war ein schlanker Krummsäbel, wellenförmig untergliedert und mit vielen Triebwerksgondeln besetzt, zehn Kilometer breit, aber nur dreißig Meter lang und zwanzig Meter hoch, ein dünner Faden, der von unten betrachtet wie eine schnelle Wetterfront über der Wolkenwüste dahindüste. In windstillen Gastaschen im Innern von einfachen, nach hinten offenen Diamantschalen, die für das menschliche Auge wie hohle Hände aussahen, hingen Hunderte von Dwellern an Kabeln, die am hinteren Ende der Schwinge befestigt waren – wie Flugzeuge beim Auftanken in der Luft.
Die Dweller befanden sich in einer langen Drogentrance und waren zeitlich so verlangsamt, dass ihnen der Flug mindestens um das Zwölf-bis Sechzigfache schneller erschien, als er tatsächlich war. Unter ihnen rauschten wie Schaumflecken riesige Wolkenkontinente vorbei, oben drehten sich die Sternenfelder in wahnsinnigem Tempo, dünne Nebelschwaden rasten heran wie Wolkenfetzen in einem Hurrikan. Die Dweller an der Schwinge sahen Tage und Nächte um sich herum an-und ausgehen wie ein gewaltiges Stroboskop, und unter ihnen drehte sich der Planet, als spulte er ihr Leben ab.
Fassin Taak verließ den Düsenclipper, flog vorsichtig an die FlugSchwinge heran, passte seine Geschwindigkeit an und verankerte das Gasschiffchen ganz langsam an der Unterseite der Diamantschale mit dem Weisen-Jüngling Zosso, einem schlanken, dunklen Dweller von vielleicht zwei Millionen Jahren, der ziemlich mitgenommen aussah.
Fassin ging auf ›Langsam‹-Zeit. Die Schwinge, die Wolken, die Sterne wurden schneller und rasten schließlich vorwärts wie im Zeitraffer in einem Film. Das Dröhnen der Triebwerke und des Gasstroms schraubte sich immer höher und wurde zu einem schrillen, fernen Jaulen, bevor es die Hörschwelle nach oben vollends überschritt.
Über ihm zuckte und zitterte der Dweller in seinem kleinen Haltegeschirr. Er wartete, bis Fassin synchron war, dann sendete er: – Und was bist du, Person?
– Ich bin ein Mensch. Als Seher in Nasqueron akkreditiert. Dieses Gasschiff ist mein Schutzanzug. Mein Name ist Fassin Taak vom Sept Bantrabal.
– Und ich bin Zosso und gehöre eigentlich nirgendwohin. Sagen wir, ich bin von hier. Schöne Aussicht, nicht wahr?
– Oh ja.
– Ich nehme aber an, dass du nicht wegen der Aussicht hier bist.
– Sie haben Recht.
– Du möchtest mich etwas fragen?
– Ich soll an einen Ort reisen, von dem ich nie gehört habe, um nach einem Dweller zu suchen, den ich unbedingt finden muss. Man sagte mir, Sie könnten mir helfen.
– Das kann ich sicherlich, wenn ich will. Das heißt, wenn irgendjemand noch auf einen törichten alten Schwingenhänger hören will. Wer weiß? Ich bin nicht sicher, ob ich als junger Expeditionscaptain auf jemanden hören würde, der so alt und exzentrisch ist wie ich. Wahrscheinlich würde ich etwas sagen wie: ›Was will dieser alte Trottel …?‹ Oh, verzeihung, junger Mensch. Ich schweife wohl etwas ab. Wohin wolltest du gleich noch reisen?
– Ich glaube, der Ort wird manchmal Hoestruem genannt.
Einen Tag nach der Schlacht im Sturm war Drunisine höchstpersönlich und ohne Begleitung am Vormittag in die Kabine gekommen, die Fassin mit zwei Dwellern teilte.
»Wir haben dich lange genug aufgehalten. Du kannst gehen. Wir stellen dir für die nächsten zwei Dutzend Tage einen Düsenclipper zur Verfügung. Leb wohl.«
»Und nun«, hatte Y’sul bemerkt, »hast du auch einen wortkargen Dweller kennen gelernt.«
– Hoestruem?, fragte Zosso. – Nein, davon habe ich noch nie gehört.
Während er noch seine Signale aussandte, fegte die Nacht heran und hüllte sie ein.
– In oder in der Nähe von Aopoleyin?, sendete Fassin. – Glaube ich, wiederholte er, als der alte Schwingenhänger zu lange schwieg. – Es gibt irgendeinen Zusammenhang mit Aopoleyin.
Fassin verließ sich ganz und gar auf Valseirs Rat. Auch er hatte in den Datenbanken keinen Ort namens Aopoleyin gefunden. Allmählich fragte er sich, ob bei dem Speicherscan, dem man ihn unterzogen hatte, bevor er die Isaut verlassen durfte, womöglich die Informationsspeicher des Gasschiffs in Unordnung geraten waren.
– Aha, sendete Zosso. – Aopoleyin. Davon habe ich gehört. Hmm. Nun, in diesem Fall würde ich mich an deiner Stelle an Quercer & Janath wenden. Ja, die wirst du brauchen. Nehme ich an. Sag ihnen, ich hätte dich geschickt. Ach ja. Und sag ihnen, du willst meinen Flossenschal zurückholen. Das könnte hilfreich sein. aber ich kann für nichts garantieren.
– Quercer und Janath. Ihren Flossenschal.
Der alte Dweller rollte mit einem Ruck ein wenig zurück und schaute auf Fassin hinab. – Nur damit du es weißt, es war ein sehr guter Flossenschal.
Er rollte wieder nach vorne und starrte abermals in den ewigen Wirbel von Wolken und Sternen, tag und Nacht. – Ich könnte ihn hier oben gut gebrauchen. Es zieht nämlich.