DREI Ein tiefer Sturz

Onkel Slovius nahm ihn auf die Schultern. Sie wollten zusehen, wie die böse Maschine getötet wurde. Er legte die Hände über Onkel Slovius’ Stirn und erreichte, dass er sie runzelte. Das fühlte sich komisch an, er lachte, rutschte hin und her und zappelte so sehr, dass Onkel Slovius ihn an den Knöcheln festhalten musste, damit er nicht herunterfiel.

»Fass, sitz endlich still.«

»Ich klar, ehrlich.«

Er wusste bereits, dass man eigentlich ›Alles klar‹ oder ›Ich komme schon klar‹ sagte, aber etwas wie ›ich klar‹ war besser, denn dann lächelten die Erwachsenen und manchmal wurde man umarmt. Manchmal legten sie einem auch die Hand auf den Kopf und brachten einem das Haar durcheinander, aber trotzdem.

Sie gingen durch die Tür, die zum Hafen führte. Es war Frühling, und deshalb waren sie im Frühlingshaus. Er war schon groß. Er hatte in allen Häusern gewohnt, außer im Sommerhaus. Das kam als Nächstes an die Reihe. Dann hätte er sie alle durch. Und alles fing wieder von vorne an. So ging das. Onkel Slovius duckte sich, als sie durch die Tür traten, damit er sich nicht den Kopf anstieß.

»Hm, Vorsicht, dein Kopf«, hörte er seinen Papa irgendwo hinter sich leise sagen.

Seine Mama seufzte. »Du sollst ihn nicht immer bemuttern, Liebster.«

Er konnte seine Eltern nicht sehen, sie waren hinter ihm und Onkel Slovius, aber er konnte sie hören.

»Hör mal, das war kein Bemuttern, ich wollte nur …«

»Ja, du …«

Das war es wieder, dieses komische Gefühl im Magen, das er immer spürte, wenn Papa und Mama in diesem Ton miteinander redeten. Er klatschte einen Trommelwirbel auf Onkel Slovius’ Stirn und rief: »Mehr Geschichte! Mehr Geschichte!«, während sie zum Flieger hinabstiegen.

Onkel Slovius lachte. Das Schütteln übertrug sich durch seine Schultern auf Fassins Hinterteil und weiter auf seinen ganzen Körper. »Was sind wir doch für ein eifriger Schüler.«

»So kann man es auch nennen«, sagte seine Mutter.

»Nun komm schon«, sagte sein Papa. »Der Junge ist nur wissbegierig.«

»Ja, natürlich, du hast Recht«, sagte seine Mama. Man hörte ihren Atem zischen. »Mein Fehler. Entschuldige, dass ich es wage, eine Meinung zu äußern.«

»Nun hör doch mal, ich wollte wirklich nicht …«

»Mehr über die Voerin!«

»Voehn«, verbesserte Onkel Slovius.

»Ich habe einen Voerin! Einen ganz großen, der kann sprechen und klettern und schwimmen und springen und sogar unter Wasser laufen. Er hat ein Gewehr, mit dem er auf die anderen Spielsachen schießt. Und ich habe viele kleine, die sich nur bewegen. Sie haben auch Gewehre, sie sind nur zu klein, man sieht sie nicht gut, aber sie können sich gegenseitig umwerfen. Ich habe fast hundert. Ich sehe mir immer Einsatztruppe Voerin an! Am liebsten mag ich Captain Chunce, weil der so schlau ist. Commander Saptpanuhr mag ich auch, und Corporal Qump, der ist komisch. Jun und Yoze mögen Commander Saptpanuhr am liebsten. Das sind meine Freunde. Siehst du dir auch Einsatztruppe Voerin an, Onkel Slovius?

»Ich muss zugeben, ich hab’s noch nie geschafft, Fass.«

Fassin runzelte die Stirn und dachte nach. Wahrscheinlich hieß das ›nein‹. warum sagten Erwachsene nicht einfach nein, wenn sie nein meinten?

Sie stiegen in den Flieger. Dazu musste er von Onkel Slovius’ Schultern herunter, aber dafür durfte er neben ihm vorne sitzen. Er brauchte gar nicht mehr zu sagen, dass ihm schlecht wurde, wenn er hinten saß. Ein Diener setzte sich auf seine andere Seite. Hinten war Großonkel Fimender mit zwei alten Damen, die seine Freundinnen waren. Er lachte, und sie lachten auch. Seine Mama und sein Papa waren alt, aber Onkel Slovius war richtig alt, und Großonkel Fimender war nun wirklich uralt.

Der Flieger hob ab und machte einen Lärm wie das Angriffsschiff Rächer in Einsatztruppe Voerin. Sein Modell des Angriffsschiffs Rächer konnte auch fliegen, aber nur auf Geschützten Freiflächen, und wenn es Schüsse abgab und Raketen abfeuerte, machte es die gleichen Geräusche. Er hatte es mitnehmen wollen, aber das hatte man ihm nicht erlaubt, obwohl er geweint hatte. Er hatte überhaupt kein Spielzeug mitnehmen dürfen. Überhaupt kein Spielzeug!

Er zog an Onkel Slovius’ Ärmel. »Erzähl mir von den Voerin!« Er suchte nach etwas, um Onkel Slovius zum Lachen zu bringen. »Mehr Geschichte!«

Onkel Slovius lächelte.

»Die Voehn sind die Folterknechte der Culmina, Kind«, sagte Großonkel Fimender von hinten und beugte sich vor. Sein Atem roch wie immer irgendwie komisch. Großonkel Fimender trank gerne mal einen Schluck. Manchmal redete er auch komisch, als wären alle Wörter nur ein einziges langes Wort. »Du solltest dich nicht allzu sehr für den Abschaum begeistern, der das Erbe unserer Spezies gestohlen hat.«

»Nimm dich in Acht, Fim«, sagte Onkel Slovius und drehte sich zu Großonkel Fimender um. Zuvor warf er einen Blick auf den Diener, doch der verzog keine Miene. »Wenn dich die falschen Leute ernst nähmen, könnte es dir ergehen wie dieser Schurken-KI. Hmm?« Er lächelte Großonkel Fimender zu, und der setzte sich wieder zwischen seine alten Damen und nahm ein Glas vom Picknicktischchen.

»Das wäre mir eine Ehre«, sagte er leise.

Onkel Slovius lächelte auf Fass hinunter. »Die Voehn sind vor sehr, sehr langer Zeit auf die Erde gekommen, Fassin. Bevor die Menschen Raumschiffe bauten – fast schon, bevor sie überhaupt Schiffe bauten.«

»Wie lange ist das her?«

»Etwa achttausend Jahre.«

»4051 v. d. Z.«, sagte Großonkel Fimender gerade so laut, dass man es hören konnte. Aber Onkel Slovius hatte es offenbar nicht gehört. Fassin wusste nicht, ob Großonkel Fimender Onkel Slovius widersprechen wollte oder nicht. Fassin merkte sich jedenfalls 4051 v. d. Z. als wichtige Zahl.

»Sie haben auf der Erde Menschen getroffen«, sagte Onkel Slovius, »und sie auf ihrem Schiff mit zu anderen Sternen und Planeten genommen.«

»Entführung von Ureinwohnern!«, sagte Großonkel Fimender. »Barbarenmuster sammeln. Aus eigener Machtvollkommenheit. Oder?« Das hörte sich nicht so an, als würde er mit ihm und Onkel Slovius sprechen. Fass verstand ohnehin nicht, was Großonkel Fimender damit sagen wollte. Die alten Damen lachten.

»Nun«, sagte Onkel Slovius und lächelte schwach, »wer weiß schon, ob Menschen entführt wurden oder nicht? Die Leute im alten Ägypten, Mesopotamien und China waren zu primitiv, sie wussten nicht, was vorgeht. Wahrscheinlich hielten sie die Voehn für Götter und sind mit ihnen gegangen, ohne dass man sie entführen musste, und wir wissen nicht einmal, ob die Voehn ganze Menschen mitnahmen. Vielleicht nahmen sie auch nur ihre Zellen.«

»Vielleicht auch Babys oder Föten, oder sie ernteten ein paar tausend befruchteter Eier«, sagte Großonkel Fimender. Und dann: »Oh, vielen Dank, meine Liebe. Ups! Ganz vorsichtig.«

»Jedenfalls«, sagte Onkel Slovius, »setzten die Voehn einige Menschen auf anderen Planeten aus, die von der Erde weit weg waren. Dort wuchsen die Menschen mit anderen Arten heran, und die Culmina sorgte dafür, dass die anderen Arten den Menschen halfen, so dass sie schnell zivilisiert wurden und all die Dinge erfinden konnten, die auch von den Menschen auf der Erde erfunden worden waren. Aber diese Menschen auf den anderen Planeten wussten immer, dass sie Teil einer galaktischen Gemeinschaft waren, nicht wahr?« Onkel Slovius sah ihn mit fragendem Blick an. Fass nickte schnell. Was eine galaktische Gemeinschaft war, wusste er: Das waren alle anderen.

»Jedenfalls hörten die Leute auf der Erde nicht auf, Dinge zu erfinden, und irgendwann erfanden sie Wurmlöcher und Portale …«

»Das Angriffsschiff Rächer geht durch Wurmlöcher und Portale«, teilte er Onkel Slovius mit.

»Natürlich«, sagte der Onkel. »Und als nun die Menschen ins All flogen und Aliens kennen lernten und ihr Wurmloch mit allen anderen Wurmlöchern verbanden, da stellten sie fest, dass sie nicht die ersten Menschen waren, denen diese Aliens begegnet waren oder von denen sie gehört hatten. Denn die Menschen, die von den Voehn zu den anderen Planeten gebracht worden waren, waren bereits recht gut bekannt.«

»Restmenschen«, sagte Großonkel Fimender. Seine Stimme klang komisch, als würde er gleich zu lachen anfangen.

Onkel Slovius drehte sich um und sah ihn lange an. »Die Namen sind nicht so wichtig, auch wenn sie manchmal etwas hart klingen.«

»Sorgfältig ausgewählt, um uns auf unseren Platz zu verweisen und daran zu erinnern, was wir ihnen verdanken, im Guten wie im Schlechten«, sagte Großonkel Fimender.

»Die Culmina sagt, jemand hätte sich um die Erde gekümmert, nachdem die Voehn die Menschen zu den anderen Sternen gebracht hätten. Sie hätte dafür gesorgt, dass der Erde nichts Schlimmes passierte, dass sie zum Beispiel nicht von einem großen Felsen getroffen würde.«

Großonkel Fimender lachte oder hustete. »Kann jeder behaupten.«

Fass schaute nach hinten. Einerseits wollte er, dass der Großonkel still wäre, damit er Onkel Slovius zuhören konnte, andererseits aber wieder nicht, denn auch wenn er nicht immer alles verstand, was Großonkel Fimender sagte, so verriet es ihm doch allerlei über das, was Onkel Slovius erzählte. Es war, als würden sich die beiden gleichzeitig zustimmen und widersprechen. Großonkel Fimender zwinkerte ihm zu und deutete mit seinem Glas auf Onkel Slovius: »Nein, nein, pass nur gut auf!«

»Die Menschen von der Erde erreichten also endlich die Sterne und stellten fest, dass es überall Aliens gab«, fuhr Onkel Slovius fort. »Und einige davon waren wir!« Er lächelte breit.

»Und es gab sehr viel mehr Alien-Menschen als solche, die glaubten, sie wären die Menschheit«, ergänzte Großonkel Fimender. Es klang so, als machte er sich lustig. Onkel Slovius seufzte und schaute nach vorn.

Der Flieger flog über schneebedeckte Berge. Vor ihnen erschien ein Stück Wüste, so rund wie ein Kreis. Onkel Slovius schüttelte den Kopf und schien nichts mehr sagen zu wollen, aber der Großonkel wollte reden, deshalb drehte sich Fass auf seinem Sitz um und hörte ihm zu.

»Und diese so genannten f-Menschen waren technisch weiter fortgeschritten. Höher entwickelt, aber eingeschüchtert. Eine Sklavenrasse, genau wie alle anderen auch. Und alle Träume der Erde von grenzenloser Expansion und Inbesitznahme waren plötzlich verflogen wie ein Furz. Die Antwort auf die Frage: ›Wo sind sie denn alle?‹ lautete nun: ›Überall‹, aber der Einsatz im galaktischen Pokerspiel ist ein Wurmloch, und so mussten wir uns eines finanzieren, damit wir mitspielen konnten. Dann entdeckten wir, dass ›Überall‹ tatsächlich ›Überall‹ bedeutete, und jedes verdammte Ding, das man sehen und nicht sehen konnte, bereits irgendeinem Dreckskerl gehörte: jeder Felsen, jeder Planet, jeder Mond und jede Sonne, jeder Komet, jede Staubwolke, jeder Zwerg, sogar das verdammte Nichts im Weltall war für irgendjemanden die Heimat. Du landest auf einem gottverlassenen Aschebrocken, ziehst eine Schaufel heraus und glaubst, du kannst jetzt etwas ausgraben, etwas bauen oder sonst etwas damit anstellen, und hast du nicht gesehen, schon streckt ein zweiköpfiges Alien seine zwei Köpfe aus seinem Bau und sagt dir, du sollst verschwinden, oder bedroht dich mit einem Gewehr. Oder einem Erlass – Ha! Was noch schlimmer ist!«

Fassin hatte Großonkel Fimender noch nie so viel reden hören. Er war nicht sicher, ob der Großonkel wirklich mit Onkel Slovius oder mit ihm redete oder vielleicht doch mit seinen zwei alten Freundinnen, denn er schaute niemanden an, sein Blick war nur auf den Picknicktisch gerichtet, der vom Vordersitz heruntergeklappt war. vielleicht betrachtete er das Glas und die Karaffe. Und sein Gesicht war traurig. Die alten Damen klopften ihm auf die Schulter, und eine strich ihm übers Haar, das tiefschwarz war, aber dennoch alt aussah.

»Sie nennen es Präparieren«, sagte er vielleicht zu sich selbst, vielleicht auch zu dem Picknicktisch. »Aber es ist eine verdammte Entführung.« Er schnaubte. »Man weist die Leute in ihre Schranken und hält sie dort fest. Man lässt uns Träume spinnen und zersticht sie dann wie Seifenblasen.« Er schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus seinem blanken Glas.

»Präparieren?«, fragte Fass, um sich zu vergewissern, dass er das Wort richtig verstanden hatte.

»Hmm? Oh ja.«

»Aber das ist doch schon immer so gewesen«, sagte Onkel Slovius. Es klang sanft, und Fass war nicht sicher, ob Onkel Slovius mit ihm oder mit Großonkel Fimender sprach. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, während er einen der Fliegerbildschirme herauszog. Hätte man ihm erlaubt, Spielsachen mitzunehmen, er hätte auf jeden Fall seinen RoboFreund eingepackt und ihn einfach gefragt, doch nun zwangen ihn die verdammten Erwachsenen dazu, sich an einen Schirm zu wenden. Er starrte die Buchstaben, Zahlen und Zeichen an (Onkel Slovius und Großonkel Fimender redeten immer noch).

Er wollte nicht sprechen, er wollte eintippen wie die Erwachsenen. Er probierte ein paar Knöpfe. Nach einer Weile bekam er ein viele-Bücher-Symbol, neben dem ein großes Kind stand, und ein Ohr-Symbol. Das große Kind sah ziemlich verwahrlost aus, es hielt eine Drogenschale in den Händen, und um seinen Kopf flatterten Zeilen, kleine Satelliten und Vögel. Na schön.

»Präparieren«, sagte er, drückte aber auf Text. Auf dem Schirm erschien:


PRÄPARIEREN: Altbewährte Praxis, in jüngster Zeit u. a. von der Culmina angewendet. Besteht darin, einige wenige Exemplare einer präzivilisiatorischen Spezies (gewöhnlich in Form von Klonoklasten oder Embryonen) von ihrer Heimatwelt zu holen und sie zu unterjochten Spezies/Sklaven/Söldnern/Mentorierten zu machen, so dass die ursprünglichen Bewohner dieser Welt, wenn sie schließlich die galaktische Stufe erklimmen, nicht die zivilisiertesten/fortgeschrittensten Vertreter ihrer Art sind (oft sind sie nicht einmal die zahlreichste Gruppierung). von so behandelten Spezies wird erwartet, dass sie sich ihren so genannten Mentoren (die i. A. auch behaupten, in der Zwischenzeit Kometen abgelenkt oder ähnliche Katastrophen verhindert zu haben, ob dies nun der Wahrheit entspricht oder nicht) verpflichtet fühlen. Die Praxis war verboten, als die pan-galaktischen Gesetze (s. Galaktischer Rat) noch galten, pflegt aber in weniger zivilisierten Epochen wieder aufzuleben. Sie wird jeweils als Präparieren, Aufwerten oder Aggressives Mentorieren bezeichnet. Lokalrelevante Terminologie: f-Menschen und r-Menschen (Fortgeschrittene und Rest-Menschen).


Und das war erst der Anfang. Fassin kratzte sich den Kopf. Zu viele lange Wörter. Und dabei war dies nicht einmal eine ’pädie für Erwachsene. vielleicht hätte er doch die Seite für nicht ganz so große Kinder suchen sollen.

Sie landeten. Mann! Er hatte nicht einmal bemerkt, dass die Maschine tiefer ging. In der Wüste standen Flieger in verschiedenen Größen, viele waren auch noch in der Luft, und jede Menge Leute liefen herum.

Sie stiegen aus und gingen über den Sand. viele Leute blieben auch in ihren Fliegern sitzen. Er durfte wieder auf Onkel Slovius’ Schultern reiten.

In weiter Ferne stand inmitten eines großen Kreises ein Turm mit einem dicken Klumpen an der Spitze. Das war die böse Maschine, die sich in einer Höhle in den Bergen versteckt hatte und von der Cessoria gefangen worden war. (Die Cessoria und die Lustrale fingen böse Maschinen. Er hatte sich ein paarmal ›Lustral-Patrouille‹ angesehen, aber das war mehr eine Serie für alte Leute, es wurde viel geredet und viel geküsst.)

Die böse Maschine in dem Klumpen an der Spitze des Turms durfte eine Rede halten, aber sie verwendete zu viele lange Wörter. Fassin langweilte sich, und es war sehr heiß. Kein Spielzeug! Onkel Slovius machte zweimal ›Pst!‹. Er versuchte, Onkel Slovius nur so zum Spaß mit Schenkeln und Knien zu würgen, um sich dafür zu rächen, dass er zweimal ›Pst‹ gemacht hatte, aber Onkel Slovius schien es gar nicht zu bemerken. Mama und Papa redeten immer noch leise miteinander, rollten wie üblich mit den Augen und schüttelten den Kopf. Großonkel Fimender und seine beiden alten Freundinnen waren im Flieger geblieben.

Dann redeten Lustrale in einem Flieger – Menschen und ein Whule, der aussah wie eine große graue Fledermaus – und dann war es endlich Zeit, und die böse Maschine wurde getötet. Aber auch das war nicht so toll, der Klumpen auf der Turmspitze wurde nur rot und spuckte jede Menge Rauch aus, dann gab es einen großen hellen Blitz, aber auch wieder nicht soo groß oder soo hell, und dann krachte es, qualmende Teile fielen herunter, und ein paar Leute jubelten, aber die meisten waren still. Der Krach hallte ringsum von den Bergen wider.

Als sie zum Flieger zurückkamen, hatte Großonkel Fimender rote Augen und sagte, seiner Meinung nach seien sie soeben Zeuge eines schrecklichen Verbrechens geworden.


»Aha, der junge Taak. was soll denn dieser Unsinn? Wieso können wir keinen richtigen Trip machen, worunter ich natürlich einen Fern-Trip verstehe?«

Braam Ganscerel, Oberster Seher des Sept Tonderon und damit der ranghöchste Seher überhaupt – und obendrein Fassins künftiges Familienoberhaupt – war groß und schlank und hatte eine dichte weiße Mähne. Er sah jünger aus, als er tatsächlich war, immerhin zählte er nach der naheliegendsten Art zu rechnen fast siebzehnhundert Jahre. Er hatte ein scharfes, kantiges Gesicht mit großer Nase, seine Haut war wachsbleich und fast durchsichtig, und seine Finger und Hände waren lang und wirkten zerbrechlich. Wenn er ging oder stand, nahm er den Kopf zurück und drückte die Brust heraus, so als hätte er sich schon vor langer Zeit gelobt, nicht gebeugt zu erscheinen, wenn er ein ehrwürdiges Alter erreichte, nur um dann in die andere Richtung zu übertreiben. Durch diese seltsame Haltung legte er den Kopf stets so weit in den Nacken, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als auf jeden, mit dem er sprach, an seiner monumentalen Nase entlang herabzuschauen. In den Händen hielt er zwei lange glänzende Stöcke, als sei er soeben von einem besonders mondänen Skihang gekommen – oder dorthin unterwegs.

Mit seinem langen, weißen Haar, das er zu einem Knoten aufgesteckt hatte, der hellen Haut und dem schlichten, aber elegant geschnittenen Seher-Anzug – schwarze Wickelgamaschen, Pluderhosen und lange Jacke – machte er den Eindruck eines reizenden, etwas gebrechlichen und sehr sympathischen älteren Herrn, atemberaubend vornehm und mit fast göttlicher Autorität ausgestattet.

Er fegte mit klappernden Stöcken und Stiefelabsätzen in die Offiziersmesse des schweren Kreuzers Pyralis, begleitet von einem blassen Gefolge aus einem halben Dutzend Juniorsehern – die eine Hälfte Männer, die andere Hälfte Frauen – alle grau und voller Ehrerbietung. Die Nachhut bildete, schlaksig und stets lächelnd, Paggs Yurnvic, ein Seher, den Fassin mit ausgebildet hatte, der sich aber anschließend weniger lange in der Langsamkeit realer Trips aufgehalten hatte und nun sowohl zeitbereinigt als auch vom Aussehen her älter war als sein damaliger Lehrer.

»Oberster Seher«, sagte Fassin, stand auf und nickte so förmlich, das es fast schon eine Verbeugung war. Der schwere Kreuzer brachte die ganze Gesellschaft nach Third Fury, den im nahen Orbit befindlichen Mond von Nasqueron, von dem aus sie auf ihre Trips gehen sollten – entweder nur virtuell oder, wenn Fassin sich durchsetzen konnte, in einer Kombination aus virtueller und direkter Präsenz.

Braam Ganscerel hatte erklärt, in seinem Alter und seinem körperlichen Zustand komme ein Flug mit hoher Beschleunigung – trotz Schutzanzügen, Überlebenskapseln und Schockgel – zu dem Mond nicht in Frage. Deshalb flog das Schiff nun mit einer sanften Standard-Ge und erzeugte eine gefühlte Schwerkraft, die doppelt so hoch war wie auf ’glantine und etwas geringer als auf Sepekte. Selbst diese Standardschwerkraft erfordere, so verkündete Braam Ganscerel, dass er sich auf seine beiden Stöcke stützte. Natürlich sei ein solches Opfer in der derzeit so ernsten Lage nur recht und billig, es sei sogar seine Pflicht, es zu erbringen. Fassin fand, er sehe mit den Stöcken aus wie ein Stelzer, ein Whule vielleicht.

»Nun?«, fragte der Oberste Seher und blieb vor Fassin stehen. »Was hast du gegen einen virtuellen Trip, Fassin? Was ist los mit dir?«

»Ich habe Angst«, antwortete Fassin.

»Angst?« Braam Ganscerel beugte seinen Kopf probeweise noch weiter nach hinten, stellte fest, dass es möglich war, und ließ ihn dort.

»Angst, dass Sie mich als lediglich fähigen ›Langsamen‹-Seher vorführen könnten.«

Braam Ganscerel kniff ein Auge halb zu und sah Fassin eine Weile an. »Du machst dich über mich lustig, Fassin.«

Fassin lächelte. »Ich bin real besser, Braam. Das wissen Sie so gut wie ich.«

»Stimmt«, sagte Ganscerel. Er drehte sich mit ruckartiger Eleganz um und ließ sich auf die Liege fallen, auf der Fassin gesessen und sich die Nachrichten auf dem Bildschirm angesehen hatte. Auch Fassin nahm wieder Platz. Paggs hockte sich auf eine Armlehne der nächsten Liege, der Rest von Ganscerels Gefolge verteilte sich nach irgendeiner geheimen Hackordnung in unmittelbarer Nähe.

Fassin nickte Paggs zu.»Seher Yurnvic«, sagte er lächelnd und hoffte, Paggs würde die Förmlichkeit nicht wörtlich nehmen.

Paggs grinste. »Schön, dich zu sehen, Fass.« Das war also in Ordnung.

»Aber ich denke, wir müssen das gemeinsam durchziehen«, sagte Braam Ganscerel und schaute nach vorne auf den Bildschirm, wo immer noch stumm die Nachrichten liefen. Ein Bericht über die Beisetzung weiterer Navarchie-Angehöriger, die bei dem Angriff auf das Dock-Habitat an Sepektes Lagrangepunkt L5 ums Leben gekommen waren. Ganscerel hatte einen seiner zwei Stöcke neben sich auf die Liege gelegt, den zweiten hielt er noch in der Hand. Damit deutete er nun auf den Bildschirm, und der verwandelte sich gehorsam in ein Schott zurück. Die Offiziersmesse des schweren Kreuzers war ein großer Raum, der aber durch senkrechte Säulen und schräge Strebepfeiler stark untergliedert war. wie das übrige Schiff war sie für menschliche Verhältnisse recht bequem, allerdings hatte sich Colonel Hatherence mit einer Kabine zufrieden geben müssen, die für eine Oerileithe ausnehmend eng war. Man hatte ihr angeboten, auf einem Geleitkreuzer mit geeigneteren Unterbringungsmöglichkeiten zu fliegen, aber das hatte sie abgelehnt.

»Wir können doch trotzdem zusammenarbeiten«, sagte Fassin. »Sie und Paggs virtuell, der Colonel und ich direkt. auf diese Weise steht immer ein Ersatz bereit, falls einer Gruppe irgendetwas zustoßen sollte …«

»Aha«, sagte Ganscerel. »Siehst du, junger Taak, genau das ist der Punkt. Wenn wir alle auf Third Fury bleiben und dieses schöne Schiff und sein Geleitschiff uns beschützen, dann sind wir alle in Sicherheit. Du möchtest mit einem winzigen Gasschiff in die unentwegt stürmische Atmosphäre des Planeten fliegen. Das ist selbst in guten Zeiten ein gefährliches Unterfangen. In Kriegszeiten ist es einfach tollkühn.«

»Braam, das alte Portal wurde von einer ganzen Flotte beschützt und dennoch zerstört. Third Fury mag sich bewegen, aber seine Bewegung ist sehr berechenbar. Wenn jemand angreifen wollte, bräuchte er nur einen kleinen Felsen auf knapp unter Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen und auf Abfangkurs zu bringen. Wenn das geschieht, kann uns ein schwerer Kreuzer nur helfen, wenn er – die Chance steht eins zu einer Million – sich gerade zu diesem Zeitpunkt dazwischen befindet und den Treffer abfängt. Da niemand den ganzen Mond mit einer Kugel aus Schiffen umgeben wird, halte ich es für unklug, sich darauf zu verlassen, dass ein paar Kriegsschiffe uns vor etwas schützen, gegen das es so gut wie keinen Schutz gibt.«

»Warum sollte jemand einen Kleinmond wie Third Fury angreifen?« , fragte Paggs.

»Wahrhaftig«, sagte Ganscerel, als hätte er gerade die gleiche Frage stellen wollen.

»Kein besonderer Grund«, sagte Fassin. »Aber in letzter Zeit werden eine ganze Reihe von Orten angegriffen, ohne dass es einen besonderen Grund dafür gibt.«

»Das könnte auch für Nasqueron gelten«, gab Ganscerel zu bedenken.

»Nasqueron hält sehr viel mehr aus als Third Fury.«

»Du könntest auch selbst ins Visier genommen werden.«

»In einem Gasschiff wäre ich – selbst mit Colonel Hatherence als Copiloten – praktisch nicht zu orten«, erklärte Fassin.

»Es sei denn«, sagte Paggs, »sie müsste ständig Kontakt mit ihren Vorgesetzten halten.«

»Und das könnte der tiefere Grund sein, warum wir alle zusammen auf Third Fury bleiben und uns auf einen virtuellen Trip beschränken sollten«, seufzte Ganscerel und sah Fassin an. »Kontrolle. Zumindest der Anschein davon. Unsere Herren sind sich vollauf bewusst, wie wichtig diese Mission ist, auch wenn sie es im Augenblick nicht für nötig halten, all jenen Auskünfte über ihre wahre Natur zu geben, die eigentlich Bescheid wissen müssten. Natürlich haben sie eine Heidenangst davor, dass man ihnen die Schuld gibt, wenn etwas schief geht. Tatsächlich liegt alles an uns: ein Haufen Gelehrter, für die sie nie viel übrig hatten, auch wenn …« – Ganscerel sah die versammelten Juniorseher an – »der Umstand, dass Ulubis ein Zentrum für Dweller-Forschung ist, das Einzige darstellt, was unser System in irgendeiner Weise bemerkenswert macht.« Wieder richtete er den Blick auf Fassin. »Sie können sehr wenig tun, deshalb werden sie sich mit äußerster Sorgfalt auf jede Kleinigkeiten konzentrieren, die sie beeinflussen können. Wenn wir alle scheinbar sicher auf Third Fury sitzen, von einer kleinen Kriegsflotte beschützt, werden sie das Gefühl haben, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um uns zu helfen. Wenn sie dich nach Nasqueron fliegen lassen und etwas schief geht, gibt man ihnen die Schuld. Insoweit haben sie Recht.«

»Es wird nicht funktionieren, Braam.«

»Ich denke, wir müssen es versuchen«, sagte der Alte. »Schau.« Er streichelte Fassins Arm. Fassin trug die Uniform eines Majors der Justitiarität und fühlte sich unter seinen Seherkollegen damit fehl am Platz. »Hast du in letzter Zeit einen virtuellen Trip versucht?«

»Schon lange nicht mehr«, gestand Fassin.

»Es ist anders geworden«, nickte Paggs. »Sehr viel lebensnäher, wenn du verstehst, was ich meine. Überzeugender.« Paggs lächelte. »In den letzten zweihundert Jahren hat es viele Verbesserungen gegeben. Ehrlich gesagt haben wir das hauptsächlich der Real-Trip-Bewegung zu verdanken.«

Oh Paggs, warum schmeichelst du mir?, dachte Fassin.

Ganscerel streichelte wieder seinen Arm. »Versuch es wenigstens einmal, Fassin, ja ? Tust du mir den Gefallen?«

Fassin wollte nicht sofort ja sagen. Das tut alles nichts zur Sache, dachte er. Selbst wenn ich nicht wüsste, dass Third Fury möglicherweise in Gefahr schwebt, ist das schlagende Argument doch dies, dass uns die Dweller, mit denen wir reden müssen, einfach nicht ernst nehmen, wenn wir nur virtuell zu ihnen kommen. Es hat mit Respekt zu tun, damit, dass wir Risiken eingehen, um ihre Welt mit ihnen zu teilen, dass wir wirklich bei ihnen sind. Aber er durfte nicht stur erscheinen. Behalte noch ein paar Argumente in der Hinterhand; man sollte immer Reserven haben. So nickte er nach kurzem Zögern. »Nun gut. Einverstanden. Aber nur ein Probe-Trip. Ein oder zwei Tage. Das reicht, um etwaige Unterschiede festzustellen. Danach müssen wir uns endgültig entscheiden.«

Ganscerel lächelte. Alle anderen auch.

Das Abendessen mit den Offizieren der kleinen Flotte, die sie nach Third Fury brachte, war sehr angenehm.

Irgendwann bekam Fassin Ganscerel allein zu fassen. »Oberster Seher«, sagte er. »Ich werde diesen virtuellen Trip machen, aber wenn ich das Gefühl habe, die Methode ist nicht gut genug, muss ich darauf bestehen, selbst hinunterzufliegen.« Er gab Ganscerel Gelegenheit, sich zu äußern, aber der Alte warf nur den Kopf zurück und sah ihn an. »Ich bin dazu berechtigt«, fuhr Fassin fort. »Das geht aus den Instruktionen von Admiral Quile und dem Komplektor-Rat eindeutig hervor. Mir ist klar, dass diese Anweisungen von Leuten innerhalb des Systems untergraben wurden, die sich eigene Vorstellungen machen, wie man das Problem am besten bewältigt, aber wenn es sein muss, werde ich so weit nach oben gehen, wie ich kann, um mich durchzusetzen.«

Ganscerel überlegte eine Weile, dann lächelte er. »Glaubst du, dieser Trip – vielleicht werden es auch mehrere – glaubst du, diese Mission wird Erfolg haben?«

»Nein, Oberster Seher.«

»Ich auch nicht. Aber wir müssen es dennoch versuchen, und wir müssen tun, was wir können, um Erfolg zu haben, auch wenn das Scheitern wahrscheinlich schon vorprogrammiert ist. Man muss deutlich sehen, dass wir unser Möglichstes tun, wir müssen uns bemühen, niemand aus den höheren Rängen zu verärgern, und wir müssen bestrebt sein, den guten Namen und die Zukunftsaussichten der ›Langsamen‹-Seher in ihrer Gesamtheit zu schützen. Dazu sind wir auf jeden Fall imstande. Meinst du nicht auch?«

»So weit gehe ich mit.«

»Wenn du aufrichtig der Meinung bist, einen realen Trip machen zu müssen, werde ich dir nicht im Wege stehen. Ich werde dich auch nicht unterstützen, denn damit würde ich mich in meiner Position allzu offenkundig hinter ein Verfahren stellen, das ich im Grunde immer noch für unverantwortlich halte. In jeder anderen Situation würde ich dir einfach befehlen, das zu tun, was dein ranghöchster Oberster Seher von dir verlangt. Aber du hast Anweisungen von oben, Fassin Taak – von sehr hoch oben – und das ändert die Lage. Wie auch immer. Versuche es mit diesem virtuellen Trip. vielleicht bist du überrascht. Und dann triff deine Entscheidung. Insoweit hast du meine volle Unterstützung.« Ganscerel zwinkerte ihm zu und wandte sich ab, um sich mit dem Captain des schweren Kreuzers zu unterhalten.

Fassin hatte noch nie erlebt, dass volle Unterstützung so gleichbedeutend war mit ›jemanden im Regen stehen zu lassen‹.


Die Pyralis zog einen grellen Leuchtschweif hinter sich her, als sie in den schützenden Magnetschatten von Third Fury eintrat, einer kleinen Felskugel von zwanzig Kilometern Durchmesser, die nur 120 000 Kilometer über Nasquerons blauen Wolkenmassen kreiste. Der Gasriese erfüllte den ganzen Himmel, er war so nahe, dass er nicht mehr rund wirkte, sondern wie eine mächtige Wand. Seine Gürtel und Zonen aus rasenden, wirbelnden, ewig brodelnden Wolken erinnerten an planetenbreite gegenläufig rotierende Ströme von Flüssigkeit in irren Farben, die unter vollkommen durchsichtigem Eis aneinander vorbeirasten.

Third Fury hatte so gut wie keine Atmosphäre und nur eine leise Andeutung von Schwerkraft. Der schwere Kreuzer hätte fast direkt an dem Seher-Stützpunkt auf der Seite des kleinen Mondes andocken können, die ständig Nasqueron zugewandt war. Dennoch wurden sie von einem Truppentransportschiff dorthin gebracht. Die Pyralis hielt ein paar Kilometer Abstand, wurde im Grunde ein weiterer temporärer Satellit des Gasriesen. Die Eskorte aus zwei leichten Kreuzern und vier Zerstörern postierte sich dreißig bis vierzig Kilometer weiter draußen in einem komplizierten Netzwerk von Orbits um den Mond. Ihre schmalen Schatten waren nur zu sehen, wenn sie langsam vor dem gebänderten Antlitz des Planeten vorüberzogen.

Third Fury war vor Milliarden von Jahren von einer der ersten Spezies, die den Nasqueron-Dwellern ihre Aufwartung machten, auf einem bereits vorhandenen Kleinmond erbaut oder vielmehr in diesen hineingebaut worden. Dweller waren die am weitesten verbreitete planetengestützte Spezies der Galaxis mit einer Präsenz in allen Gasplaneten – die ihrerseits den häufigsten Planetentyp darstellten. In Anbetracht dessen sprach die Tatsache, dass von mehr als neunzig Millionen von Dwellern bewohnten Supergloben genau acht eine Bevölkerung hatten, die bereit war, Fremdwesen zu empfangen und nicht nur über völlig belanglose Dinge mit ihnen zu kommunizieren, Bände – genauer, Bibliotheken – über das so gut wie nicht vorhandene Interesse dieser Spezies am Alltagsleben der übrigen galaktischen Gemeinschaft.

Aber es war eben nur so gut wie nicht vorhanden; die Dweller waren in keiner Beziehung vollkommen, und so lebten sie auch nicht vollkommen zurückgezogen. Sie suchten, sammelten und speicherten ungeheuere Informationsmengen, allerdings ohne dass beim Erwerb oder der Speicherung irgendein logisches System zu erkennen gewesen wäre, und wenn man sie danach fragte, schienen sie nicht nur vollkommen unfähig, eine nahe liegende oder auch obskure Begründung für diese an sich sinnlose Anhäufung von Daten zu geben, sondern auch aufrichtig verwundert darüber, dass man ihnen eine solche Frage überhaupt stellte.

Es hatte auch in der historisch belegten Zeit – selbst wenn man die notorisch unzuverlässigen Aufzeichnungen außer Acht ließ, die von den Dwellern selbst über solche Dinge angefertigt wurden – immer wieder einige wenige Planetenbevölkerungen gegeben, die für Gespräche und Informationshandel zur Verfügung standen, auch wenn dergleichen unweigerlich nur zu den ausgefallenen und von Launen bestimmten Bedingungen der Dweller gewährt wurde. Seit dem Ende der Ersten Diaspora-Epoche, als Galaxis und Universum etwa zweieinhalb Milliarden Jahre alt waren, hatte es immer aktive Zentren der Dweller-Forschung gegeben, aber in den folgenden zehneinhalb Milliarden Jahren waren zu keiner Zeit mehr als zehn solcher Zentren gleichzeitig in Betrieb gewesen.

Annehmbare Partner kamen und gingen.

Die Dweller gehörten zu den ›Langsamen‹, jenen Spezies, die sich mindestens Millionen von Jahren in zivilisierter Form halten konnten. Die Spezies, denen sie erlaubten, zu ihnen zu kommen, sie zu besuchen und mit ihnen zu sprechen und mit denen sie auch Informationen tauschten, zählten gewöhnlich zu den ›Schnellen‹, die ihre Zeit als zivilisierte Verbände nach Zehntausenden von Jahren und oft nicht einmal so lange bemaßen. Die Dweller duldeten auch andere ›Langsame‹ Spezies und redeten mit ihnen, aber gewöhnlich nicht so regelmäßig und häufig. Es bestand der Verdacht, dass sich die Dweller trotz ihrer sprichwörtlichen Geduld – eine Spezies, die eine ganze Galaxis mit Durchschnittsgeschwindigkeiten von weniger als einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit kolonisierte (Zwischenaufenthalte nicht mitgerechnet), musste geduldig sein – mit den Spezies, die mit ihnen sprechen wollten, und die sich durchaus auch langweilen konnten. Indem sie nur Vertreter der ›Schnellen‹ auswählten, stellten sie sicher, dass sie niemals zu lange den Umgang mit Wesen erdulden mussten, die sie am liebsten von hinten sahen. Man brauchte nur ein wenig zu warten – für Dweller-Verhältnisse nicht mehr als einen Lidschlag – und die lästigen Gäste waren kein Problem mehr.

Seit sechzehnhundert Jahren – kaum ein halber Lidschlag für einen Dweller – wurden die Menschen von den Dwellern von Nasqueron als ihre Ansprechpartner im Ulubis-System akzeptiert. Ihre Besuche wurden zumeist geduldet, sie waren nicht ungern gesehen, ihre Sicherheit war fast immer gewährleistet, und ihre Bemühungen, mit den Gasriesenbewohnern ins Gespräch zu kommen und ihre gewaltigen, aber herausfordernd phantasievoll organisierten und indizierten Datenschichten auszubeuten, stießen nur auf sehr formalen Widerstand, gelinden Spott und wenig entschlossene Verschleierungsstrategien.

Dass diese koketten Spielchen, die kaum noch messbare Zurückhaltung und die sanften Hindernisse, die diesen Namen kaum verdienten, den betroffenen Menschen als monumentale Barrieren von unübersehbarer Komplexität und Früchte eines boshaften und schier unerschöpflichen Erfindungsreichtums erschienen, zeigte nur wieder einmal, wer so etwas schon fast so lange trieb, wie das Universum existierte, und wer erst seit knapp zweitausend Jahren.

Natürlich hatte man es auch mit anderen Ansätzen versucht.

Selbst ein noch so begabter und engagierter Arbitrageur tat sich schwer damit, Wesen zu bestechen, für die Geld nur ein Witz war. Die Dweller hielten unerschütterlich an einem System fest, in dem die Macht, nun, mehr oder weniger willkürlich verteilt wurde, so schien es jedenfalls manchmal, und Autorität und Einfluss fast ausschließlich vom Alter abhängig waren. Da gab es wenig Hebelpunkte, an denen man ansetzen konnte.

Hin und wieder versuchte alternativ dazu eine Spezies, mit Waffengewalt an sich zu bringen, was die Dweller-Forscher ihren Studienobjekten mit höflichen aber hartnäckigen Fragen zu entlocken suchten. Doch Gewalt, so hatte man – erstaunlich oft und unabhängig voneinander – entdecken müssen, funktionierte bei den Dwellern nicht so recht. Sie spürten keinen Schmerz, maßen ihrem eigenen (und bei der leisesten Provokation auch dem Leben anderer) relativ geringe Bedeutung bei und schienen offenbar bis in die letzten Fasern davon überzeugt zu sein, das Einzige, was wirklich zähle, sei ein Ehrbegriff, der nur für sie existierte, und den sie als besondere Art von Kudos definierten. Dabei war einer der zentralen Grundsätze, dass jeder Versuch, von außen Einfluss zu nehmen, von allen Betroffenen bis zum letzten Atemzug und ohne Rücksicht auf Verluste abgewehrt werden müsse.

Dweller waren fast überall, und das beinahe von Anfang an. Sie hatten im Lauf der Zeit eine gewisse Erfahrung in der Kriegführung erworben, und obwohl ihre Kriegsmaschinen als ebenso unzuverlässig – und ausgefallen im Entwurf, im Bau und in der Wartung – galten wie jede andere Technik, mit der sie sich jemals zu beschäftigen geruht hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie nicht tödlich sein konnten. Gewöhnlich bekamen das alle Beteiligten in einem erschreckend weiten Umkreis zu spüren.

Gelegentlich hatte eine andere Spezies gegen die Dweller gesiegt. Ganze Planetenpopulationen waren ausgelöscht und ganze Gasriesen zerlegt worden, um Rohstoffe für eines der monströsen Megaprojekte zu liefern, die besonders ›schnelle‹ Spezies mit solchem Eifer offenbar nur deshalb in Angriff nahmen, weil sie zeigen wollten, dass sie dazu imstande waren. Doch auf lange Sicht waren die Folgen dieser Siege bisher ausnahmslos unerfreulich gewesen.

Wer mit einer Spezies, die so weit verbreitet, so langlebig, so reizbar und – wenn sie wollte – so zielstrebig war wie die Dweller, einen Streit vom Zaun brach, erlebte nur allzu oft, dass gerade dann, wenn – oder auch ganze geologische Epochen später – er glaubte, der Staub hätte sich gelegt, das Vergangene sei vergessen und alle unseligen Meinungsverschiedenheiten seien Geschichte, unversehens ein kleiner Planet in seinem Heimatsystem auftauchte. Der Planet wurde begleitet von einer Flotte von Monden, die ihrerseits von Scharen asteroidengroßer Brocken umgeben waren. Jeder dieser Brocken bewegte sich in einer flauschigen Schale aus unzähligen Felsen von beachtlicher Größe, die wiederum in eine Lawine noch kleinere Steine gepackt waren. Der ganze Albtraum flog so knapp unter Lichtgeschwindigkeit, dass selbst eine besonders wachsame und misstrauische Spezies gerade so viel Vorwarnung erhielt, um die regionale Entsprechung von ›Was zur Höl…?‹ zu japsen, bevor sie in einem eindrucksvollen, wenn auch verschwenderischen Strahlungsfeuer unterging.

Vergeltungsschläge, wo sie noch möglich waren und wo man sie, selten genug, versucht hatte, mündeten ausnahmslos in einen grausamen und blutigen Zermürbungskrieg. Der dauerte dann so lange, bis die Spezies, die so unklug gewesen war, sich überhaupt mit den Gasriesenbewohnern anzulegen, zu der ernüchternden Erkenntnis kam, dass sie gegen eine Zivilisation dieser Größe (soweit von Zivilisation überhaupt die Rede sein konnte) und gegen Wesen, die schon so lange lebten – und davon wohl auch weiterhin nicht abgehen würden – wohl keine Chance hatte.

Auch der Versuch, die Dweller-Bevölkerung im eigenen System als Geisel zu nehmen, um eine – oder mehrere – andere zu beeindrucken, war eine geradezu lächerlich lahme, ja sogar kontraproduktive Strategie. Den Dwellern irgendeines beliebigen Gasriesen lag wenig genug an ihrer eigenen kollektiven Sicherheit; wer ihnen einen Vorwand lieferte zu zeigen, wie wenig solidarisch sie sich mit anderen Gruppen ihrer eigenen Art fühlten, beschwor damit nur besonders spektakuläre Grausamkeiten herauf. Dabei waren die genetischen und kulturellen Unterschiede zwischen Dweller-Populationen viel geringer als bei allen anderen galaxisweit verteilten Gruppierungen.

So war man, besonders unter den Zivilisationen, die noch die blauen Flecken von früheren Zusammenstößen mit einer der wohl erfolgreichsten Spezies der Galaxis spürten, oder in deren Datenbanken neuere Bilder vom Schicksal anderer Dweller-Opfer ruhten, schon lange übereingekommen, dass es alles in allem am Besten sei, die Dweller einfach in Ruhe zu lassen.

Wenn man die Dweller sich selbst überließ, störten sie niemanden, allenfalls gelegentlich sich selbst und diejenigen, die sich zu viele Gedanken darüber machten, wie man sie denn nun wirklich zu verstehen hätte. Schließlich war ihre Geschichte wie die Geschichte der Galaxis geprägt von Ruhe und Frieden – wenn auch nicht ganz ohne Unterbrechungen. Über Milliarden und Abermilliarden von Jahren passierte zum Glück nur sehr wenig. In mehr als zehn Milliarden Jahren zivilisierten Lebens hatte es nur dreimal ein großes Chaos gegeben, und die Zahl von wirklich galaxisübergreifenden Kriegen schaffte es nicht einmal bis in die Zweistelligkeit. Und das auf der Basis acht!

Die Dweller hielten das offenbar für eine Leistung, auf die alle Beteiligten ein wenig stolz sein dürften. Besonders sie selbst.


»Ich heiße Sie alle herzlich willkommen! Oberster Seher, ich freue mich, Sie zu sehen! Seher Taak, Seher Yurnvic. Junge Freunde. Und das muss Colonel Hatherence sein. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madame.« Duelbe, der kahlköpfige, kugelrunde Haushofmeister der Gemeinschaftsanlage Third Fury begrüßte die Gäste in der Transithalle, während der Truppentransporter wieder ablegte und zur Pyralis zurückflog. Zwei von den jüngeren Sehern, die dem eindeutig ballförmigen Duelbe noch nie begegnet waren, rissen die Augen auf. In solchen Momenten drängten sich üblicherweise Vergleiche zwischen der Form von Third Fury und dem Haushofmeister seiner Gemeinschaftsanlage auf. Zum Glück blieben sie bei dieser Gelegenheit unausgesprochen.

Diener kümmerten sich um die Gepäckpaletten. Hatherence verscheuchte alle Bediensteten, die ihr helfen wollten, sich durch den vergleichsweise engen Raum zu bewegen – die Kuppelhalle war wie der Rest der zumeist unterirdischen Anlage seit dem Abzug der letzten Spezies, der man Seher-Status gewährt hatte, nach menschlichen Dimensionen umgebaut worden, ohne dass man größere räumliche Zugeständnisse an andere, effektiv größere Spezies gemacht hätte. Colonel Hatherence konnte sich sehr gut ohne Hilfe vorwärts bewegen, vielen Dank. Die drehbaren Flügelräder an der Außenseite ihres diskusförmigen Schutzanzugs brachten sie von einem Ort zum anderen.

»Aha!«, rief Braam Ganscerel. Er sprang mit langen, federnden Schritten durch die Halle und sorgte mit lässigen Stößen eines seiner Stöcke dafür, dass er der Decke nicht zu nahe kam. Es sah aus, als übte er Stabhochsprung in die falsche Richtung. »So ist es schon besser! Man schätzt die Schwerkraft immer dann am meisten, wenn am wenigsten davon zu spüren ist, nicht wahr, Duelbe?«

Der Haushofmeister lächelte breit, aber Fassin wusste, dass er diesen Ausspruch von dem Alten sicher schon mehr als ein Dutzend Mal gehört hatte. Die Juniorseher in seinem Gefolge kannten ihn offenbar noch nicht. Sie taten so, als müssten sie sich eisern beherrschen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.


Drei Doppelscheiben schwebten über einer großen gekrümmten Wolkenschlucht in einer konvexen, hundert Kilometer hohen blutroten Masse, die an eine Schneewechte erinnerte. Hoch über ihnen rasten gelbe Bänder vorbei und gewährten immer wieder einen kurzen Blick auf einen Himmel in blassem Kirschrot mit vielen spitzen Sternenpünktchen. Gelegentlich zog ein einzelner Mond wie ein weicher brauner Schneeball darüber hin. Die Flugmaschinen schwenkten in strenger Formation auf die blutrote Dampfmasse zu und verschwanden darin.

Die Sinne schalteten um. Nun nahm Fassin mühelos magnetische, radioaktive, Gravitations-und Radiostrahlung auf und setzte daraus ein Bild seiner Umgebung von mehreren Kilometern im Durchmesser und hunderten von Kilometern Tiefe zusammen. Plötzlich war das Breitlichtbild, das immer noch zur Verfügung stand, von einem riesigen, glasklaren Netz von Magnetfeldern, Strahlungs-und Gravitationsgradienten überlagert. Darunter erstreckte sich das gallertartige Geisterbild der akustischen Landschaft.

Paggs führte das Trio an. Er stürzte auf eine scharf abgesetzte Sprungschicht zu, die ein Dutzend Kilometer tiefer in Sicht kam. Die anderen folgten ihm.

Sie durchquerten eine große Blase mit relativ klarer Sicht, dann einen Schauer aus Wasserschnee. Sie tauchten tiefer, durchstießen eine Druck-und Temperaturschicht, wo Wasserregen heftig gegen die Außenhaut ihrer rotierenden Doppelräder prasselte, dann umfing sie tiefe Finsternis, die nicht einmal das Breitlicht zu erhellen vermochte, und schließlich landeten sie im warmen, dampfenden Wasserstoffschlick. Hier hüpften die Räder wie riesige Doppelkegeljojos auf und ab und schickten einander flackernde Maserbotschaften.

Wie gefällt es dir, junger Taak ? Freust du dich, wieder nach Hause zu kommen ?

Es ist faszinierend, stimmte Taak zu. – Wo sind wir? Er befragte zweimal seine internen Navigationsinstrumente. – Zwei Äquatorialsatelliten weiter in der Horizontalen und ein Band weiter oben?

Hör zu, Fass, begann Paggs.

Wenn ich also Folgendes mache – sendete Fassin und ließ sein Doppelrad auf das von Paggs zuschießen. Paggs hatte erraten, was er vorhatte, und wich bereits nach rückwärts und nach oben aus. Fassins Maschine schien auf die ferngesteuerte Drohne des anderen Sehers zuzustoßen, zog sich zurück und hielt kurz vor der Stelle an, wo Paggs eben noch gewesen war. – hat man gerade genug Zeit, um aus dem Weg zu gehen, erklärte Fassin sachlich.

Seher Taak … begann Braam Ganscerel.

Hätte ich dagegen etwas Ähnliches auf der anderen Seite des Planeten versucht, fuhr Fassin fort, – am anderen Ende einer ganzen Satellitenkette, selbst ohne die Verzögerungen bei der Signalverarbeitung fast eine volle Lichtsekunde entfernt, dann könnten wir uns jetzt beide von unseren Drohnen anhören, dass ich zumindest jeden Anspruch auf Garantieleistungen verwirkt hätte.

Fassin, sendete Ganscerel mit einem Seufzer. – Ich denke, wir alle sind uns der Lichtgeschwindigkeit und des Planetendurchmessers bewusst. Und diese Drohnen sind außerdem weder vollkommen dumm noch ungeschützt. Sie haben ein hoch entwickeltes Kollisionsvermeidungssystem. Wir mussten uns ausdrücklich die Erlaubnis von deinen Freunden in der Justitiarität holen, um es einbauen zu lassen, es steht so dicht davor … intelligent zu sein.

Aber was ist, wenn ein Dweller nur so zum Spaß einen Laser auf Sie richtet ?, fragte Fassin. – Nur weil er sehen will, wie Sie zurückzucken? Was nützt Ihnen dann das Kollisionsvermeidungssystem ?

Vielleicht, empfahl Ganscerel milde, – sollte man sich mit einer Sorte von Dwellern, von denen ein solches Verhalten zu erwarten ist, erst gar nicht einlassen.

Leider sind das diejenigen, von denen man am ehesten interessante Infos bekommt, alter Mann, nicht die vertrockneten, harmlosen aber auch ahnungslosen hirnweichen Exemplare, denen du die ganze Zeit den Hof machst, dachte Fassin. Er war ziemlich sicher, dass es nur ein Gedanke war. Die Leute machten sich immer Sorgen, weil man im VR Dinge sagen konnte, die man nur denken wollte, aber er war, was die Besonderheiten von Fern-Trips anging, nicht so eingerostet, dass ihn das wirklich belastet hätte. Außerdem täte es Braam Ganscerel vielleicht ganz gut, wenn er hin und wieder ein paar Dinge zu hören bekäme, die man höflicherweise nicht aussprechen konnte.

Das mag schon sein, Oberster Seher, war alles, was er sendete.

Hmmm. Dann sollten wir jetzt aussteigen, ja?


Sie kehrten in die Realität einer Fernsende-Suite in den Tiefen der Anlage auf Third Fury zurück und blinzelten ins Licht. Techniker halfen ihnen, sich von den Liegen loszuschnallen. Sie rutschen unter den Halbkugeln mit den NMR-Anschlüssen hervor, gaben die Ohrhörer und die Augenbinden aus schlichtem schwarzem Samt zurück und dehnten und streckten sich, als hätten sie einen wirklich langen Trip hinter sich. Dabei war es nur etwa eine Stunde bei eins-zu-eins-Zeit gewesen.

Paggs bewegte seine Finger und löste die letzten Polster,über die er mit den dünnen Pneumoschläuchen verbunden war, die seine Bewegungen aufgenommen hatten und ihn daran gehindert hätten, sich bei besonders energieaufwändigen Aktionen selbst von der Liege zu katapultieren.

Ganscerel hatte die Augen geschlossen und atmete in tiefen Zügen, während ihn die Techniker von der Maschinerie abkoppelten.

Paggs schaute herüber. »Können wir dich gar nicht überzeugen, Fass?«

»Ihr habt mich überzeugt, dass Fern-Trips heutzutage noch einfacher sind als früher.« Fassin stemmte sich mit stetigem Druck eines kleinen Fingers von der Liege hoch und schwebte sanft zu Boden. »Aber das hätte ich dir auch so geglaubt.«


»Du hast also nur ein Drittel der betreffenden Bände, junger Taak«, sagte Ganscerel.

Fassin hielt in einem Ersatzteillager neben dem zweiten Schiffshangar eine private Besprechung ab. Ganscerel hätte das Treffen lieber in seine Unterkunft verlegt, aber dort hätte sich der Colonel nicht hineinzwängen können. anwesend waren Fassin, Ganscerel, Paggs und Colonel Hatherence. Fassin wollte, dass jeder über das, was er auf jenem Trip vor langer Zeit gefunden hatte und wonach sie auf dem Trip suchen wollten, den sie am nächsten Tag anzutreten hofften, so viel wusste wie er selbst – oder zumindest so viel, wie er für richtig hielt.

»Ja«, sagte er. »Ich habe einige HD-Aufnahmen von expressionistischen Gemälden aus dem Europa des 20. jahrhunderts auf der Erde eingetauscht gegen – unter anderem – die Dreifachübersetzung eines Lutankleydar-Epos aus der Zeit vor dem Dritten Chaos, ein privates, nie veröffentlichtes Werk, verfasst – oder vielleicht in Auftrag gegeben – von einem Dogen der Enigmatiker. Alles war doppelt verschlüsselt und komprimiert, aber man wusste immerhin, dass es sich um drei Bände handelte. Ich bekam auch drei Bände von Valseir, nur – aber das stellte sich erst Jahre später heraus, als die Jeltick den Inhalt endlich entstümmelt hatten – waren es nicht Band eins, zwei und drei, sondern Band eins in dreifacher Ausfertigung in drei verschiedenen Sprachen. Und das Werk stammte auch nicht von einem Enigmatiker-Dogen.

Einer der Bände verwendete eine früher einmal bekannte, aber bis dahin unübersetzbare Penumbra-Sprache aus der Zeit der Summation. Als nun die Übersetzung fertig war, diente sie als Rosette-Stein; sie lieferte den Schlüssel zu vielen anderen Texten, und damit war alle Welt für eine Weile beschäftigt. Dann entdeckte ein stieläugiger Jeltick-Gelehrter ganz am Ende im Anhang eine Anmerkung in einer primitiven, aber verwandten Slang-Sprache, eine Anmerkung, die offenbar später, aber nicht allzu viel später hinzugefügt worden war. Sie besagte im Wesentlichen, der Wälzer sei während der Langen Überfahrt des Zweiten Schiffes von einem ausgestoßenen Dweller geschrieben worden, der die Penumbra-Sprache beherrschte, und es gebe, natürlich, eine Dweller-Liste. Das Schiff oder seine Besatzung hätten den Schlüssel dazu, und dieser Schlüssel sei in Band zwei oder drei des Epos zu finden. Natürlich befinde er sich auch auf dem Schiff, und das sei auf dem Weg ins Zateki-System. Deshalb schickten die Jeltick sofort, nachdem sie die Übersetzung hatten, eine Expedition dorthin.«

»Warum nicht hierher, nach Nasqueron, um den Dritten Band zu suchen?«, fragte Paggs und lächelte.

»Weil ihnen die Justitiarität nicht gesagt hatte, woher die Daten kamen. Ob das Versehen oder Absicht war, hat man uns verschwiegen. Die Jeltick könnten erraten haben, dass sie von einem Zentrum für Dweller-Forschung stammten, aber sie konnten nicht sicher sein, ob das wirklich stimmte, und wenn ja, wussten sie noch nicht, aus welchem Zentrum. wahrscheinlich zogen sie Erkundigungen ein, aber sie wollten niemand anderen auf die Bedeutung ihres Fundes aufmerksam machen. Vergesst nicht, die Texte waren mehrfach abgeschrieben worden – sie lagen in Datenspeichern in der ganzen zivilisierten Galaxis herum. Durchaus möglich, dass bereits jemand den Haupttext übersetzt und gelesen hatte, aber noch nicht bis zu den Anhängen und der darin enthaltenen wichtigen Anmerkung vorgedrungen war. Der kleinste Hinweis, dass sich in dieser Tranche etwas von strategischem Interesse befände, und alle Welt hätte das Ding abgestaubt, gelesen und – peng – schon hätten die Jeltick ihren Vorsprung verloren. Deshalb trieben sie Treibstoff und Ausrüstung auf und setzten die Segel, um nach Zateki zu reisen.«

»Das Ganze könnte auch ein einziger großer Schwindel sein«, schnaubte Ganscerel, runzelte die Stirn und zog seinen Anzug glatt. »Es erinnert mich fatal an die vielfach gewundenen Labyrinthe des Dweller-Humors. Vielleicht ist es nur ein Scherz auf Kosten all jener, die so töricht sind, darauf hereinzufallen.«

»Das wäre zwar möglich«, nickte Fassin. »Aber wir haben unsere Befehle, und wir müssen es zumindest versuchen, nur für den Fall, dass alles der Wahrheit entspricht.«

»Wir suchen also nach den restlichen zwei Bänden dieses … wie heißt es denn nun genau?«, fragte Colonel Hatherence.

»Die beste Übersetzung«, sagte Fassin, »lautet Der Algebraist. Es handelt nur von Mathematik, die Navigation als Metapher, Pflicht, liebe, sehnsucht, ehre, lange Reisen nach Hause … lauter solches Zeug.«

»Und was ist oder war diese Lange Überfahrt?«, fragte Ganscerel gereizt. »Ich habe davon noch nie gehört.«

»Die Reise vom Triangulumnebel, wie er bei den Menschen genannt wurde, zurück nach Hause«, sagte Fassin mit einem kleinen Lächeln.

»Nun«, sagte Ganscerel und runzelte abermals die Stirn. »Sehr viel weiter sind wir wohl nicht gekommen? Und wie, bitte, heißt dieser Triangulumnebel heute, Seher Taak?«

»Wir nennen ihn die Zweite Galaxis der Verlorenen Seelen, Oberster Seher. Die Reise wurde deshalb als Lange Überfahrt bezeichnet, weil sie dreißig Millionen Jahre dauerte. Die Hinreise nahm angeblich so gut wie keine Zeit in Anspruch, weil sie durch ein intergalaktisches Wurmloch führte, und die Lage des dazugehörigen Portals ist mit vielen anderen in der Dweller-Liste verzeichnet.


Hervil Apsile, der Meistertechniker der Gemeinschaftsanlage Third Fury, fuhr mit dem tragbaren Ultraschallgerät ein letztes Mal über das Steuerbordtriebwerk des Gasschiffs und lächelte zufrieden, als er die glatte Linie auf dem Bildschirm sah. Über seinem Kopf stand auf ausgefahrenen Beinen und mit offenen Frachtraumtüren eines der Absetzschiffe der Anlage, ein gedrungener Raumgleiter. Vor der durchsichtigen Kuppel des Haupthangars war auf einer Seite nur Dunkelheit zu sehen, immer wieder erhellt von langen Blitzen, die wie Bahnen aus Diamantsplittern das Licht einer mattblauen Sonne einfingen.

»Suchen Sie nach Skrits, Hervile?«, fragte Fassin, der in langen Sätzen über den Schmelzsteinboden gesprungen kam.

Apsile grinste, als er Fassins Stimme hörte, aber sein Blick blieb auf den Bildschirm seines Handgeräts gerichtet, bis er am Ende der Naht angelangt war, die er gerade überprüfte. Dann schaltete er die Maschine ab und wandte sich an Fassin. »Bisher wurden nur die Standardarten entdeckt, Seher Taak.

Skrits waren die aller Wahrscheinlichkeit nach mythischen Wesen, denen die Dweller immer die Schuld gaben, wenn irgendwo in ihrer Umgebung etwas Schlimmes passierte. Die Menschen, die als Letzte den Stab übernommen hatten und die Dweller-Forschung weiterführten, hatten schon früh die Vorstellung der Skrits aufgegriffen, um die vielen Störungen zu erklären, denen alle Interaktionen mit – oder sogar in der Nähe der – Dweller unterworfen waren. Die Alternative wäre gewesen, die angeborene Fahrlässigkeit der Dweller in technischen Dingen und ihre natürliche Unlust, wenn es darum ging, Maschinen zuverlässig in Stand zu halten, für ansteckend zu halten.

Fassin klopfte auf die schwarze Flanke des dicken, pfeilspitzenförmigen Gasschiffs. Es war seine eigene Maschine, speziell für und teilweise von ihm selbst entworfen. Das Schiff war etwa fünf Meter lang, vier Meter breit, wenn man die außenbords angebrachten Steuertriebwerke mitrechnete, und knapp zwei Meter hoch. Der Rumpf war völlig glatt bis auf die Stoßfugen verschiedener Manipulatoren und Steuerungsräder, einige Sensorausbuchtungen und den Triebwerksblock am Heck, dessen Turbinenschaufeln momentan noch eingeklappt waren. Fassin fuhr mit der Hand über die Backbordschwanzflosse. »Alles startklar, Herv?«

»Ganz und gar«, antwortete Apsile. Er war schwarz wie ein Nubier, schlank, aber muskulös, und hatte einen glänzend kahlen Schädel. Nur ein paar Fältchen um die Augen ließen ungefähr erkennen, wie alt er war, und er war sehr alt. Etwa einmal im Jahr, vor der jährlichen Ganzkörperdepilation – eine Genbehandlung war ihm ein zu schwerer Eingriff – erschien ein weißer Stoppelpelz auf seiner Kopfhaut, und der sah aus wie ein Himmelsabschnitt voller Sterne. »Und was ist mit Ihnen?«, fragte er.

»Ach, ich bin ebenfalls startklar«, erklärte Fassin. Er war soeben von der letzten Tagesbesprechung mit den Leuten von der Aktuellen Dweller-Lage zurückgekommen. Ihr anspruchsvoller Auftrag lautete, er solle versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben, was das Geschehen in der vollkommen chaotischen Dweller-Gesellschaft anging, und nebenbei den Standort der großen Dweller-Gebäude und -Einrichtungen und – ganz besonders – den Aufenthaltsort Interessanter Individuen zu verfolgen.

Es gab schlechte Nachrichten: zwischen Zone Zwei und Gürtel C braute sich ein Formalkrieg zusammen, zumindest löste sich eine langlebige Sturmformation zwischen Zone Eins und Gürtel D gerade auf, während sich anderswo zwei neue Formationen aufbauten, und die Interessanten Individuen hatten in letzter Zeit eine ausgeprägte Wanderlust an den Tag gelegt. Man könnte es auch Sprunghaftigkeit nennen. Was den Aufenthaltsort von Choal Valseir anging, nun ja. Der Bursche war seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen worden.

Dweller waren von jeher schwer zu verfolgen gewesen. Früher hatte man versucht, ferngesteuerte Drohnen auf einzelne Individuen anzusetzen. Aber das betrachteten die Dweller als groben Eingriff in ihre Privatsphäre, und sie hatten ein unheimliches Geschick darin, alle noch so kleinen und intelligenten Plattformen, Mikro-Gasschiffe oder Wanzen aufzuspüren und zu zerstören. Dweller konnten auch schmollen. wenn jemand verblendet genug war, etwas so Hinterhältiges zu versuchen, wurde jede Kooperation eingestellt. Manchmal für die ganze Population. Und manchmal über Jahre.

Die ›Langsamen‹-Seher von Nasqueron hatten eine recht gute Beziehung zu ihren Dwellern. Für die Begriffe der Dweller-Forschung konnte man fast von einer engen Beziehung sprechen, aber nur deshalb, weil sich die Seher bemühten, so wenig wie möglich in das Leben der Dweller einzugreifen. Im Gegenzug waren die Dweller vergleichsweise kooperativ und sendeten täglich einen aktualisierten Bericht über den Standort ihrer wichtigsten Städte, Gebäude und Einrichtungen. Dieses etwa achtstündlich eintreffende Bulletin galt in der Dweller-Forschung als sprichwörtlich – geradezu legendär – in seiner Vertrauenswürdigkeit, denn es erreichte gelegentlich Genauigkeitswerte von fast neunzig Prozent.

»Beim Sept Bantrabal alles in Ordnung?«, fragte Apsile.

»Bestens. Slovius lässt grüßen.« Fassin hatte ein paar Stunden zuvor mit seinem Onkel gesprochen und weiter versucht, ihn zum Verlassen des Herbsthauses zu überreden. Der Zeitunterschied zwischen Third Fury und ’glantine war gerade so groß, dass eine mehr oder weniger normale Unterhaltung möglich war. Auch mit Jaal hatte er gesprochen, sie hielt sich auf der anderen Seite von ’glantine im Frühlingshaus ihres Sept auf. Auf ’glantine ging das Leben einigermaßen normal weiter, der neue Notstand beeinflusste die Menschen dort offenbar weniger als auf Sepekte.

Apsile zog einen Rollbildschirm aus seinem Ärmel und tippte auf einige Felder. Dann schaute er nach oben zu dem Absetzschiff, das über dem kleinen Gasschiff stand und nur darauf wartete, es in seinen offenen Frachtraum aufzunehmen und in die Gasriesen-Atmosphäre hinunterzubringen. Fassin folgte dem Blick des Meistertechnikers. Im Frachtraum hing bereits eine schwarze Gestalt, sie ragte daraus hervor wie ein dickes Rad. Er runzelte die Stirn. »Das sieht ganz wie Colonel Hatherence aus«, sagte er.

»Gibt nicht viele Stellen, wo sie reinpasst«, murmelte Apsile.

»Wie bitte?«, dröhnte eine Stimme. Dann, etwas leiser: »Mein Name? Ach so. Ja, ich bin es. Seher Taak. Major Taak, sollte ich sagen. Hallo. verzeihung. Bin eingeschlafen. Nun, manchmal muss das sein. Ich dachte, ich probiere mal aus, ob dieser Raum hier groß genug ist. Passt sehr gut, muss ich sagen. Ich kann auf diesem Schiff notfalls ohne Probleme in die Atmosphäre von Nasqueron befördert werden. Glaube ich jedenfalls. Sie auch, Meistertechniker?«

Apsile lächelte breit und zeigte dabei Zähne, die so schwarz waren wie seine Haut. »Ich glaube auch, Madame.«

»Dann sind wir uns einig.« Der Riesendiskus ließ sich innerhalb des deltaförmigen Transporters an seiner Aufhängung so weit nach unten fallen, dass er sich ihnen zuwenden konnte. »Schön. Major Taak. wie steht es um Ihre Bemühungen, den Obersten Seher Braam Ganscerel davon zu überzeugen, dass er Ihnen einen ›realen Trip‹ gestatten sollte?«

Fassin lächelte. »Sie haben Ähnlichkeit mit einem Langzeit-Trip, Colonel ; es geht überaus langsam.«

»Wie schade!«

Apsile berührte ein Feld auf seinem Rollschirm, schob den Schirm wieder in den Ärmel zurück und deutete auf das kleine Gasschiff. »Es ist fertig. wollen wir es einladen?«, fragte er.

»Warum nicht?« Es war fast schon Tradition, dass Apsile und Fassin das Schiff in den Transporter hoben. Sie bückten sich, packten jeder ein Ende und hievten – zunächst sehr langsam – die Pfeilspitze nach oben. am Ende hoben sie mit den Füßen vom Boden ab und ließen sich mitziehen, um den Schwung etwas abzubremsen. Bei Third Furys minimaler Schwerkraft wog das Gasschiff fast nichts, aber seine Masse betrug mehr als zwei Tonnen, und der Trägheits-wie der Impulssatz blieben gültig. Sie wurden drei Meter weit in den Frachtraum des Absetzschiffs getragen, direkt in die Arme des wartenden Halteschlittens für das Gasschiff. Der Schutzanzug des Colonels nahm zweimal so viel Platz ein wie das kleine Gasschiff, dennoch hätte man in diesem Raum noch fünf weitere Schiffe unterbringen können. Die Pfeilspitze rastete neben dem hohen Diskus mit Colonel Hatherence darin ein. Die beiden Männer vergewisserten sich, dass die Pfeilspitze korrekt befestigt war und ließen sich auf den Boden zurückfallen. Der Colonel schwebte mit ihnen hinab.

Fassin schaute zu dem Gasschiff mit seinen schnittigen Linien empor. Wie klein es ist, dachte er. Ein winziger Raum, um Jahre darin zu verbringen … Jahrzehnte … sogar Jahrhunderte … Dann landeten sie. Apsile hatte mehr Erfahrung und bekam die Kniebeuge genau richtig hin. Fassin prallte einmal ab.

Der riesige Schutzanzug musste sich schräg legen, um die offenen Frachtraumtüren passieren zu können, dabei kippte er etwas zu weit ab und stellte sich mit schwirrenden Flügelrädern und einem deutlichen Luftzug wieder gerade. »Ich muss sagen, ich würde es vorziehen, direkt in die Atmosphäre einzutreten. Ich meine, tatsächlich, genauer gesagt, in der Realität«, rief der Colonel.

»Ja«, sagte Fassin. »Ich auch, Colonel.«

»Viel Glück dabei!«, dröhnte die Oerileithe.

»Danke«, sagte Fassin. »Ich nehme an, Glück wird nötig sein, auch wenn es allein nicht ausreicht.«

Wenige Stunden später hatte er gerade noch Zeit, um sich zu vergegenwärtigen, dass sich ausgerechnet durch ein Unglück die Gelegenheit ergab, nach der sie gesucht hatten, dann musste er um sein Leben rennen.


Schließlich ließ er sich doch überreden. thay, Sonj und Mome kamen mit. Warum wollte er denn nicht? Er war doch wohl nicht nervös? Oder vielleicht nur zu faul?

Er war nicht nervös und auch nicht – ganz – so faul. Er wollte nur im Nest zurückbleiben, um bei K zu sein, die im Traumalysator steckte und an einem damit verbundenen Narko-Infusor dem Ende eines T-Traums entgegendämmerte. Ihr schlanker, graziler Körper schwebte, leicht vertäut, in halb fötaler Stellung in dem sanften Strom, der aus dem Luftstuhl kam. Ihre Arme schwangen hin und her, das lange, zu einem Pferdeschwanz gebundene kastanienbraune Haar erblühte über ihr wie der Schild einer Kobra, legte sich um ihren Kopf und wurde wieder nach hinten geweht. Das NMR-Netz umfasste ihren Kopf von hinten wie eine Hand mit mehr als zwanzig schlanken Fingern. Der durchsichtige Schlauch des Narko-Infusors verschwand in einem winzigen Neuro-Anschluss gleich hinter ihrem linken Ohrläppchen. K’s Augen bewegten sich träge hinter den Lidern, ein starres Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

Sie befand sich im Endstadium eines langen T-Traums, so als wäre sie aus unergründlichen Tiefen aufgetaucht und als schwämme sie nun langsam durch mehrere Kilometer sonnenbeschienenen seichten Wassers ans Ufer. Er konnte natürlich hinauswaten, konnte ihr entgegengehen, ohne selbst in das Pseudobewusstsein des chemisch/NMR-holo-induzierten Traumzustands einzutreten, er konnte sozusagen mit ihr schnorcheln, während sie, noch mit Kiemen atmend, dem Strand der weltlichen Realität zustrebte.

He, Fass!, hatte sie gesendet, als er zum ersten Mal eingetaucht war. Er hatte sich einen kleinen NMR-Kragen übergestreift und war Teil ihres sich langsam verflüchtigenden Traums geworden. Sie war anderthalb Tage fort gewesen; ein langer Trau m. – Du kommst mir entgegen? Danke, Partner!

Hat es Spaß gemacht?, fragte er.

Mehr als das. Rate mal, wo ich war?

Er sendete ein Achselzucken. – Keine Ahnung.

Ich war auf einem Trip! Ein Trip im T-Traum, wie es die Seher machen. Nach Nasqueron! Nun, es war nicht wirklich Nasq, es war ein anderer Gasriese namens Furenasyle. Das muss die Vorlage für den Chip gewesen sein. Hast du schon einmal von Furenasyle gehört?

Ja, das ist auch ein Planet, wo man Dweller-Forschung betreibt. In deinem T-Traum warst du also dort? Auf einem Trip? Tatsächlich?

Klar doch. Warum tust du so, als wäre das was Besonderes? Fass, es war toll! Der beste T-Traum … nun ja, der zweitbeste T-Traum, den ich jemals hatte! K schickte ein verschwörerischanzügliches Grinsen in seine Richtung. Er konnte sich denken, welchen T-Traum sie meinte. Sie hatten ihn zusammen erlebt. Ein Liebes-T-Traum, eine gemeinsame Immersion in die Gefühle, die sie füreinander hegten. vermutlich jedenfalls. Liebes-T-Träume waren in mancher Beziehung kitschig – man konnte auch darin noch über seine Gefühle lügen, und wenn man die richtige Vorlage aus dem Traumalysator wählte und die dazu passenden Chemikalien in den Narko-Infusor gab, war ein unvergleichlicher T-Traum mit großen Augen, Herzklopfen und blinder Glückseligkeit praktisch garantiert, sogar bei zwei Personen, die einander im Grunde hassten. aber für sie beide war es ein guter Traum gewesen. Gut, aber nichts, was er hätte wiederholen wollen. vermutlich stand er allen VR-Erlebnissen mit Misstrauen gegenüber, und T-Träume, besonders mit zugeschaltetem Narko-Infusor, der die entsprechenden synthetischen Chemikalien ins Gehirn einspeiste, waren die immersivste VR, die man finden konnte. Jedenfalls im Bereich der Legalität oder Halblegaliltät.

Du solltest es probieren! Wirklich! Glaubst du nicht, dass das eine gute Übung für dich wäre?

Schon möglich. Falls ich solche Trips irgendwann zu meinem Beruf machen sollte. Du würdest es also empfehlen?

Wenn es so ist wie eben, dann sicher.

Er war keineswegs sicher. Er war noch jung, hatte sich noch nicht entschieden. Sollte er ein ›Langsamen‹-Seher werden, wie es offenbar alle Welt von ihm erwartete, auch die Leute, mit denen er das Nest auf Hab 4409 (dem ›Happy Hab‹) teilte? Oder sollte er etwas ganz anderes machen? Er wusste es immer noch nicht. Allein die Tatsache. dass jedermann glaubte, er würde nach ein paar wilden Jahren doch irgendwann Seher werden – und es waren wirklich wilde Jahre, kein Leben, wie man es für immer oder auch nur für längere Zeit führen konnte – stärkte seine Entschlossenheit, solche Erwartungen nicht zu erfüllen … wobei ›Entschlossenheit‹ sicher ein zu starkes Wort war. Widerstreben. Stärkte sein Widerstreben. Das war vermutlich besser. trotzdem, vielleicht würden sie sich alle noch wundern. vielleicht zog er davon und suchte sich etwas völlig anderes, etwas, das unerhört aufregend war. Er musste nur sehr viele verschiedene Dinge ausprobieren, bis er das Richtige gefunden hatte.

Hör zu, ich gehe wahrscheinlich mit den anderen zur Demo. Es sei denn, du brauchst mich, du weißt schon …

Wunderbar! Ich habe nichts dagegen. Geh nur. Ich würde auch mitkommen. Aber ich muss erst aus diesen Untiefen raus. Als ich beim letzten Mal untergetaucht bin, bekam ich eine richtige Gänsehaut. Igitt!

Okay. Bis später.

Bis später, Partner!

Er verließ das Nest.

Das Nest – eine Kapsel mit niedriger Schwerkraft, bestehend aus etwa vierzig zumeist kleinen kugelförmigen Räumen, eine Art Kommune aus (ausschließlich menschlichen) Aussteigern, Neinsagern, T-Träumern, ausgeflippten Wohlstandskindern, Eiferern und Fixern – befand sich mit vielen anderen Wohneinheiten nahe an der Längsachse des Habitats, unweit des (ziemlich willkürlich) so genannten Westends, nicht weit unter dem Sonnenrohr. Offiziell gehörte das Nest der Mutter eines der Wohlstandskinder, inoffiziell war es jedoch die Volksrepublik der Unreifen und Unentschlossenen (und konnte das auch mit halb offiziellen Dokumenten und Computerprogrammen belegen.)

Hab 4409 war eines von etlichen hunderttausend Habitaten, die um Sepekte kreisten. Es war von der Größe her durchschnittlich, ein Zylinder aus umgeformten Asteroidenmaterial, fünfzig Kilometer lang und zehn Kilometer breit, der auf der Innenfläche durch Drehung eine Schwerkraft von etwa zwei Drittel einer Ge erzeugte, und drehte sich im ewigen Sonnenschein wie eine riesige, die Photonen platt drückende Gartenwalze. Zwei zwölf Kilometer große Spiegellinsensysteme – eins an jedem Ende – waren auf die Sonne Ulubis gerichtet wie zwei riesige, unerträglich dünne Blüten. Weitere Spiegelkomplexe leiteten das eingefangene Sonnenlicht durch zwei Fenster aus Diamantfolie in die Längsachse des Habitats, wo ein letzter Spiegelsatz – der an der Sonnenröhre auf und ab wanderte, um so etwas wie den Eindruck eines Planetentages zu erzeugen – das Licht schließlich auf die Innenfläche lenkte. Oder das Licht zumindest dort auf die Innenfläche lenkte, wo kein traubenförmiger Nestkomplex (mit weiteren Spiegeln) im Weg war.

In diesem System lebten viel mehr Leute in Habitaten als auf Planeten, und die meisten Habitate befanden sich irgendwo im Umkreis von Sepekte. Hab 4409 war fast seit seiner Gründung vor zwei Jahrtausenden – im Zuge eines heillos unübersichtlichen Manövers von Vermögenstransfers und Wertberichtigungen zwischen den ansässigen Spezies – ein liberaler, toleranter Hafen gewesen, wo Leute ein und aus gingen, denen alles egal war. Selbst die Besitzverhältnisse waren nie endgültig geklärt worden, und inzwischen hatten sich schon mehrere Generationen von Anwälten in einen finanziell wohl versorgten Ruhestand zurückgezogen – nachdem sie seit ihrer Referendariatszeit die epische Provenienz-und Prozessgeschichte von Hab 4409 verfolgt hatten, ohne dass jemals ein abschließendes Urteil in Sicht gewesen wäre.

Das Habitat zog also von jeher Bummelanten, Künstler, Außenseiter, geborene Exilanten, politische und andere Exzentriker und leicht gestörte oder schwer geschädigte Existenzen aller Art an. Die meisten stammten aus dem Ulubis-System, aber einige waren auch Exoten von fernen Welten, im Allgemeinen Wohlstandskinder und/oder Aussteiger, die durch die Portale aus dem Rest der Merkatoria kamen, um sich nach der Ausbildung und vor dem Ernst des Lebens eine Auszeit zu gönnen und sich zu entspannen. In dieser Atmosphäre entstanden gute Kunstwerke. Das Habitat diente als inoffizielle – aber steuerlich absetzbare – Privatschule für die oben erwähnten Kinder der Reichen (mit dem Hintergedanken: Lasst die lieben Kleinen die schrankenlose Freiheit ruhig kosten, sie werden schon sehen, wie hohl sie ist). Es war ein Rastplatz für alle, die auf dem Weg in die Schande waren oder aus der Hölle zurückkehrten, und eine Zwischenstation für jene, die vielleicht irgendwann einmal nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden oder sie zumindest von Grund auf wachrütteln würden. (Und wenn man wirklich paranoid sein wollte, dann war es – aus der Sicht der Behörden – ein relativ leicht zu überwachendes und noch leichter zu schließendes Sammelbecken für gefährliche Ideen: eine Radikalenfalle.) Mit anderen Worten, es war nützlich. Es erfüllte einen oder gar mehrere Zwecke. In einer Gesellschaft von der Größe, wie sie um Ulubis existierte, musste auch diese Art von Dienstleistung irgendwo erbracht werden.

Man musste die Leute eben nehmen, wie sie waren. Einige würden immer aufrecht sein, andere immer ein wenig verbogen, aber jeder hatte eine Rolle zu spielen, und letztlich war doch jeder in irgendeiner Hinsicht wertvoll.

Doch jetzt hatte die verdammte Merkatoria, die verdammte Hohe Kommandantur oder die verdammte Omnokratie, wer immer es verdammt nochmal sein mochte, vielleicht auch der verdammte Hierchon (oder einer aus der Schar seiner turnusmäßig wechselnden Berater, die hier eine Möglichkeit sahen, sich zu bereichern oder noch mehr Macht zu gewinnen), vielleicht auch der Peregal unter ihm oder der Apparitor unter diesem oder auch nur ein Kretin von Diegesian, der sich Gouverneur oder Bürgermeister nannte oder sonst ein verdammtes Amt innehatte (aber seinen Posten, sein Ansehen und die Leibwächter, die ihn beschützten, nur einem Streit um Einflussbereiche verdankte, der vor Jahrhunderten in einem faulen Kompromiss geendet hatte), jedenfalls hatte irgend so ein verdammtes hohes Tier, hatten die verdammten Typen, denen verdammt nochmal alles gehörte, oder die glaubten, irgendeinem Scheißkerl sollte alles gehören, sie hatten entschieden, verfügt, für richtig erachtet, dass das Eigentumsrecht an dem ganzen verdammten Habitat – und an vielen anderen ähnlichen Habitaten, bei denen das Eigentum ebenfalls umstritten/ unsicher/zweifelhaft/von irgendeinem glücklichen Zufall bestimmt war – an eine offiziell anerkannte und verantwortliche Institution übergehen sollte. Was im Grunde nichts anderes hieß als an sie selbst. Oder wenn nicht sie selbst, dann an ihre besten Freunde. An jemanden, der Dinge wie Eigentumsrecht, Mietinkasso und die Durchsetzung von kleinlichen Vorschriften ernst nahm. Es war eine Entscheidung der Gesetzesmacher, der Gesetzgeber, von der man zum Gesetzlosen erklärt wurde, aber man würde diese Entscheidung nicht so sehen, würde das Gesetz nicht passieren lassen, man würde es anfechten, es sollte nicht ohne verdammt energische Widerstände in die hiesige Rechtsordnung eingehen. Diese Flachwichser wollten aus irgendeinem hirnrissigen Grund einen Teil dessen zerstören, was an den Habitaten, am Sepekte-Orbit, am Ulubis-System, an der Gesellschaft gut war, zu der letztlich auch sie gehörten. Im Grunde waren sie nur dumm und zerstörungswütig, und deshalb war es nötig, dass ihnen diejenigen, die das alles deutlich sahen – weil sie an Ort und Stelle waren, an vorderster Front, mitten im Geschehen – ihr Fehlverhalten klar machten. Letzten Endes saßen doch alle im selben Boot, nur entfernten sich die Scheißkerle an der Macht manchmal zu weit von der Realität des Lebens, wie die meisten Leute es führten, und dann musste man Stellung beziehen, seine Stimme erheben und sich Gehör verschaffen.

Deshalb gingen sie zu dieser Demonstration, rutschten durch die Friktionsrohre, ließen sich an den Bungeeseilen hinab und strebten über die Bahnschienen zum Hauptplatz, wo sich bereits eine große Menge versammelt hatte.

»Man muss sich das nur mal vor Augen führen«, sagte Mome, als sie durch die letzte Straße gingen. »Die Beyonder greifen niemals Habitate an, niemals ganze Städte, niemals irgendein großes, einfaches, wehrloses Ziel. Sie greifen das Militär und die Regierung und die großen Infrastruktureinrichtungen an. Die Anschläge, die Gewalt, die militärische Strategie bilden einen Diskurs, der zu analysieren wäre, wenn man bereit ist, seine propagandistischen Vorurteile abzulegen. Und die Botschaft ist klar: sie kämpfen, sie führen Krieg gegen das System der Merkatoria, gegen die Hohe Kommandantur, gegen die Omnokratie und gegen die Administrata, aber nicht gegen das gemeine Volk, nicht gegen uns.«

»Ich verwahre mich gegen die Bezeichnung gemein!«, protestierte Sonj.

»Es ist schon allzu großzügig, dich in die Kategorie ›Volk‹ einzuordnen, Sonj«, schoss Mome zurück. Mome war ein kleines Kerlchen, blass und verkrampft, er ging ständig leicht nach vorne gebeugt, als sei er im Begriff, sich zu ducken oder sich auf etwas zu stürzen. Sonj war riesig; ein tollpatschiger Kauz mit dunkelbrauner Haut und kurzem, krausem rotem Haar. Er war starken Stimmungsschwankungen unterworfen und fühlte sich, unbeholfen wie er war, nur bei niedriger Schwerkraft wohl.

»Deshalb sind sie nicht zwangsläufig die Guten«, beharrte Fassin.

»Aber sie sind vernünftigen Argumenten zugänglich und fähig, sich auf einen sinnvollen Dialog einzulassen«, sagte Mome. »Auch wenn man sie uns als tobende Irre verkaufen will, die man wie Ungeziefer zertreten muss.«

»Und was hindert sie dann, mit uns zu reden?«

»Wir selbst«, sagte Mome.»Zum Reden gehören immer zwei.«

Alle sahen ihn an. Mome war bekannt dafür, dass er viel redete. Manchmal vor einem Publikum, das eigentlich längst eingeschlafen war. Er zuckte die Achseln.

»Meine Cousine Lain …«, sagte Thay.

»Noch eine Cousine?« Mome tat so, als könnte er es nicht fassen.

»Die Schwester von Cousine Kel und Halbschwester von Cousine Yayz«, erklärte Thay geduldig. Sie war mit Sonj zusammen, eine üppige Frau, bei niedriger Schwerkraft ungeschickt, aber bei zwei Drittel Ge auf der Innenfläche des Hab umso agiler. »Meine Cousine Lain«, fuhr sie entschlossen fort, »ist in der Navarchie, und sie glaubt, die Beyonder greifen nur deshalb so oft an, weil ihnen die Navarchie und die Generalflotte auf den Pelz rücken, wenn sie es nicht tun. Und unsere Leute beschränken sich nicht auf militärische Einrichtungen. Lain sagt, wir schießen auf die Habs der Rebellen. Töten sie zu Millionen. Viele Offs fühlen sich unwohl …«

»Viele Was fühlen sich unwohl?«, fragte Mome.

»Viele Offs«, wiederholte Thay.

»Das Wort habe ich verstanden«, seufzte Mome. »Aber nicht, was es bedeutet.« Er schnippte mit den Fingern. »Warte. Kurzform für ›Offiziere‹, richtig?«

»Genau.«

»Brillant. Mach weiter.«

»Viele Offs sind darüber nicht glücklich«, wiederholte Thay, »deshalb greifen die ’yonds – die Beyonder – uns nur an, um uns in der Defensive zu halten.« Sie nickte. »Das sagt meine Cousine Lain.«

»Yippie! Verrücktes Yonder-Geschwätz«, rief Mome und hielt sich die Ohren zu. »Ihr bringt uns noch alle ins Gefängnis.« Sie lachten.

»Wenigstens haben wir die Freiheit, so etwas zu sagen«, gab Fassin zu bedenken.

Worauf Mome sein ganz spezielles Hohles Gelächter erschallen ließ.


Auf dem Hauptplatz grüßte Fassin viele Bekannte und schwelgte in der allgemeinen Solidarität und der etwas schrillen Heiterkeit – viele phantasievolle Kostüme, riesige Wergskulpturen und summende Schwebeballons (die Spruchbänder hinter sich herzogen, Lieder brüllten und Narkonfetti verstreuten) – fühlte sich aber doch irgendwie fremd zwischen den zumeist menschlichen Demonstranten inmitten der prächtigen Kuppelbauten. Er hob den Kopf und sah sich um.

Das Habitat war eine riesige grüne Stadt in einer rotierenden Röhre: kleine Hügel, viele Berge und lange Alleen, die kreuz und quer zwischen niedrigen Wohnblöcken mit hängenden Gärten und vielfach gewundenen Flüssen verliefen. Schmale Türme ragten, teils bogenförmig gekrümmt, bis hinauf zur Sonnenröhre, wo sie sich zu den Türmen auf der anderen Seite hinüberneigten – oder sie gar berührten. trauben von Nestern – von Spiegeln umgeben und Friktionsröhren wie Dschungellianen hinter sich her ziehend – drängten sich um die Längsachse, darunter schwebten wie seltsam geformte Wolken halb transparente Lenkballons.

Da hörte Fassin vom Rand der Menge, die dem Palast des Diegesian, gegen den die Proteste sich richteten, am nächsten war, einen Aufschrei. Es roch auch etwas merkwürdig, aber wahrscheinlich hatte nur einer der Schwebeballons irgendeine Droge versprüht, die Fassins Immedio-Immunsystem nicht kannte. Doch dann begriff er, dass wohl doch irgendetwas nicht stimmte, denn plötzlich fielen wie auf ein Stichwort alle Schwebeballons herab. Außerdem erlosch die Sonne in der Sonnenröhre. Und das kam einfach nie vor. viele ungewohnte Geräusche drangen zu ihm, vielleicht schrie auch jemand. Es wurde rasch sehr kalt. Auch das war ungewöhnlich. Leute liefen an ihm vorbei, rammten ihn anfangs nur mit den Schultern, dann stolperten sie über ihn, und er erkannte, dass er Fassin?, dass er Fassin am Boden lag, dann wurde er Fassin geschlagen, aber er Fassin versuchte wieder aufzustehen, und er lag Fassin, er lag Fassin auf den Knien und wollte sich Fassin vollends aufrichten – er schwankte, ihm war ganz komisch, warum lagen ringsum so viele Leute auf dem Boden? – dann – Fassin – wurde er wieder zusammengeschlagen. Von einem Mann in stahlgrauer Panzerung mit einem riesigen Knüppel von Polizeikeule und keinem Gesicht und zwei kleinen surrenden Drohnen auf jeder Schulter, die Gas versprühten und ein schrecklich schrilles Winseln ausstießen, von dem er – Fassin! – nur möglichst schnell wegwollte, aber seine Nase, seine Augen und alles andere brannte und schmerzte, und er wusste nicht, was er tun sollte, er stand Fasssin! einfach nur da, und der Kerl mit der großen Keule so lang wie ein Speer stand vor ihm und er Fasssin? dachte noch, er könnte ihn ja fragen, was eigentlich vorging und was passiert Faaasssssiiinnn? passiert war, doch da holte der Mann mit seinem Keulen-Speer-Knüppel-Ding weit aus und knallte es ihm ins Gesicht, dass ihm die Zähne wegbrachen und er kopfüber

»Fassin ?«

Sein Name rüttelte ihn endlich wach.

»Wieder da? Gut.«

Der Sprecher war ein kleiner Mann in einem großen Stuhl hinter einem viel zu kleinen Metallschreibtisch. Der Raum – ein Raum? – war so dunkel, dass man nicht einmal mit Infrarot etwas sah. Die Stimme hörte sich an, als sei es kein sehr großer Raum. allmählich spürte Fassin Schmerzen im Gesicht, besonders der Mund tat weh. Er wollte ihn abwischen, aber er konnte die Hände nicht bewegen. Er schaute nach unten. Die Unterarme waren – er fand nicht gleich das richtige Wort – angekettet? Sie waren an den Stuhl gefesselt, auf dem er saß. was ›zum Teufel‹ hatte das zu bedeuten? Er fing an zu lachen.

Ein Schlag, der durch Mark und Bein ging. Sein ganzes Skelett erbebte wie ein Glockenspiel, sein Fleisch, seine Muskeln und seine Organe hatten sich gelöst, waren noch in der Nähe, noch mit ihm verbunden, und ein Dreckskerl – oder gar ein ganzer Haufen von Dreckskerlen – hatte mit vielen Hämmern gleichzeitig und mit voller Wucht auf jeden Einzelnen seiner Knochen eingeschlagen. Der Schmerz verschwand fast so schnell, wie er gekommen war, und ließ nur ein unheimliches Echo in seinen Nerven zurück.

»Wasch zum Teufel war dasch?«, fragte er das Männchen. Es klang komisch, weil ihm einige Zähne fehlten. seine Zunge betastete die Lücken. Zwei waren offenbar ganz weg, einer war locker. Er suchte sich zu erinnern, wie lange es dauerte, bis einem Erwachsenen die Zähne nachwuchsen. Der Mann sah mit seinem dicken, freundlichen Gesicht und den rosigen Pausbäckchen recht gutmütig aus. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten. Er trug eine Uniform, die Fassin unbekannt war. »Verdammt, wollen Schie mich foltern ?«, fragte Fassin.

»Nein«, sagte das Männchen sehr sachlich. »Ich will nur, dass Sie mir genau zuhören.« Er bewegte eine Hand über die Schreibtischplatte.

Fassins Knochen klapperten schon wieder, als hätte jemand darauf gespielt. Beim zweiten Mal fanden seine Nerven das Ganze nun wirklich nicht mehr lustig und protestierten mit heftigen Schmerzen.

»Schön! Schön!«, hörte er sich sagen. »Verdammt, ich habe verschanden. Verstanden«, wiederholte er. Er musste lernen, sich beim Sprechen auf seinen neuen Zahnstatus einzustellen.

»Sie sollten nicht fluchen«, sagte das Männchen und tat ihm wieder weh.

»Okay!«, schrie er. Sein Kopf hing nach unten. Der Rotz lief ihm aus der Nase, und Speichel und Blut tropften ihm aus dem Mund.

»Bitte fluchen Sie nicht«, sagte das Männchen. »Fluchen ist das Zeichen eines undisziplinierten Verstandes.«

»V…, sagen Sie mir einfach, was Sie von mir wollen«, bat Fassin. War das Wirklichkeit? Oder war er in einem unheimlichen VR-Traum gefangen, seit er K geholfen hatte, aus den Untiefen ihres T-Traums herauszukommen. war das die Strafe, wenn man sich billige Vorlagen oder illegale Kopien für seine T-Träume beschaffte? War das alles wirkich? Schmerzhaft genug wäre es gewesen. Er schaute auf seine Beine hinab, der Saum seiner Shorts triefte von Blut und Schleim und Rotz. Er konnte die einzelnen Haare unterscheiden, einige waren aufgerichtet, andere klebten auf der Haut. Er sah auch die Poren. war das kein Beweis, dass alles wirklich war? Nein, natürlich nicht. T-Träume, Simspiele, VR, sie alle beruhten auf der Erkenntnis, dass sich der Verstand nur auf eine Sache auf einmal konzentrieren konnte. Der Rest war Illusion. Das menschliche Sehvermögen, der komplexeste Sinn, den die Gattung besaß, arbeitete seit Jahrmillionen nach diesem Prinzip, um das Bewusstsein hinter den Augen zu täuschen. Man glaubte nur, Farben und verschiedene Einzelheiten im Weitwinkelformat (über die ganze Breite) zu sehen, aber das stimmte nicht; scharfes, farbiges Sehen war auf einen ganz kleinen Bereich des Sichtfeldes beschränkt, der Rest war verschwommen, schwarzweiß und registrierte nur Bewegungen.

Das Gehirn arbeitete mit verschiedenen Tricks, um sich vorzugaukeln, es sähe die Randbereiche seines Zielobjekts genauso scharf wie das Zentrum. Intelligente VR verwendete die gleichen Verfahren; sie fuhr an ein Detail heran und gestaltete es messerscharf mit aller Präzision aus, alles, was im Moment nicht Gegenstand des Interesses war, konnte gefahrlos ignoriert werden, bis der Betrachter seine Aufmerksamkeit darauf richtete. So wurde der Verarbeitungsaufwand in vernünftigen Grenzen gehalten.

Fassin riss sich von seinem blutbespritzten Bein los. »Ist das Wirklichkeit?«, fragte er.

Das Männchen seufzte. »Mr. Taak«, sagte es und blickte auf einen Schirm, »Laut Ihrem Profil kommen Sie aus einer angesehen Familie und könnten eines Tages sogar zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden. Sie hätten sich von den Leuten, mit denen Sie seit einiger Zeit zusammenhausen, besser fern gehalten. Sie alle haben sich sehr töricht benommen, und nun müssen andere unter Ihrer Torheit leiden. Sie haben lange Zeit in einem Traum gelebt, doch dieser Traum ist nun zu Ende. Das ist amtlich. Ich finde, Sie sollten nach Hause gehen. Meinen Sie nicht?«

»Wo sind meine Freunde?«

»Mr. Iifilde, Mr. Resiptiss, Ms. Cargin und Ms. Hohuel?«

Fassin starrte ihn sprachlos an. Scheiße, er war seit Monaten hier, aber er kannte immer noch nicht mehr als die Vornamen. Dies waren vermutlich die Familiennamen von Thay, Sonj und Mome, aber er hatte wirklich keine Ahnung. Hatte der Mann nicht vier Namen genannt? Hieß das, dass er auch K mitzählte? Aber sie war doch gar nicht mit auf der Demo gewesen?

»Entweder werden sie anderswo festgehalten, oder man hat ihre Personalien aufgenommen und sie gehen lassen, oder sie werden noch gesucht.« Das Männchen lächelte.

Fassin betrachtete seine Arme in den Metallreifen. Er versuchte vergeblich, seine Beine zu bewegen, beugte sich vor und schaute nach unten. Auch seine Beine waren angekettet. Oder er trug Fußfesseln. Sein Mund fühlte sich ganz fremd an. Wieder fuhr er mit der Zunge prüfend über die Stellen, wo seine Zähne gewesen waren. Wahrscheinlich musste er sich ein Provisorium machen lassen, bis die neuen nachgewachsen waren. Oder er gewöhnte sich an, wie ein Pirat zu grinsen. »Womit habe ich diese Behandlung verdient?«, fragte er.

Der Kleine sah ihn ungläubig an. Er schien schon im Begriff, Fassin mit einer neuen Schmerzwelle zu bestrafen, doch dann schüttelte er nur frustriert den Kopf. »Sie haben an einer gewalttätigen Demonstration gegen den Diegesian teilgenommen«, sagte er.

»Aber ich war doch nicht gewalttätig«, verteidigte sich Fassin.

»Sie persönlich vielleicht nicht. Aber die Demonstration ganz sicher.«

Fassin hätte sich gern den Kopf gekratzt. »Und das genügt schon?«

»Natürlich!«

»Wer hat als Erster Gewalt eingesetzt?«, fragte er.

Der Kleine breitete ruckartig die Arme aus. Seine Stimme wurde schrill. »Spielt das eine Rolle

Fassin hatte gemeint, welche Seite, aber der Kleine hatte wohl geglaubt, er frage nach einem bestimmten Demonstranten. Fassin seufzte. »Hören Sie, ich möchte nur zurück zu meinen Freunden, in mein Nest. Kann ich jetzt gehen? Ich habe nichts getan. Man hat mir die Zähne ausgeschlagen, ich kann Ihnen nichts sagen … gar nichts …« Er seufzte wieder.

»Sie können gehen, wenn Sie hier unterschrieben haben.« Der kleine Mann drehte den Schirm, so dass Fassin ihn sehen konnte. Er las sich die Aussage durch und sah sich die Fingerabdruckkissen und die Kamerafelder auf dem Bildschirm an, die bestätigen sollten, dass wirklich er es war, der die Unterschrift leistete (oder genauer gesagt den Speicherumfang der gefälschten Aussage geringfügig vergrößerte.)

»Ich kann das nicht unterzeichnen«, sagte er. »Im Grunde steht hier, dass alle meine Freunde Beyonder-Agenten sind und den Tod verdienen.«

Der Kleine verdrehte die Augen. »Würden Sie bitte genau lesen? Hier steht lediglich, dass Sie einen Verdacht in dieser Richtung hegen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, sie könnten allein durch Ihre Aussage irgendjemanden einer Straftat überführen ?«

»Aber warum soll ich dann überhaupt …?«

»Wir wollen, dass Sie zum Verräter werden!«, rief der kleine Mann, als läge das nun wirklich auf der Hand. »Wir wollen, dass Sie diesen Existenzen den Rücken kehren und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Das ist alles.«

»Aber sie sind meine Freunde.« Fassin musste husten und schluckte krampfhaft. »Könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser bekommen?«

»Nein. Und es sind nicht Ihre Freunde. Es sind nur Leute, die Sie kennen. Nicht einmal richtige Bekannte. sie haben sich mit ihnen betrunken, waren mit ihnen high, haben hin und wieder mit ihnen diskutiert und mit einigen auch Geschlechtsverkehr gehabt. Wahrscheinlich werden Sie alle sowieso schon bald getrennte Wege gehen und sich wahrscheinlich aus den Augen verlieren. Es sind nicht Ihre Freunde. Finden Sie sich damit ab.«

Fassin hütete sich, in dieser Situation den Begriff Freundschaft genauer unter die Lupe zu nehmen. »Trotzdem werde ich sie nicht verraten.«

»Die anderen haben es mit Ihnen bereits getan.«

Der kleine Verhörbeamte holte den Schirm zu sich heran, drückte ein paar Tasten und schob ihn Fassin wieder zu. Nun konnte er sehen, wie Thay, Sonj und Mome – alle waren an ähnliche Stühle gefesselt wie er, und Sonj wirkte ziemlich angeschlagen – aussagten, sie hielten Fassin für einen Beyonder-Sympathisanten, er sei eine Gefahr für die Gesellschaft und müsse beobachtet werden. Jeder murmelte etwas in diesem Sinne, unterschrieb auf dem Bildschirm und drückte den Daumen auf das Abdruckkissen. (Sonj hinterließ einen Blutfleck.)

Die Aufzeichnung erschütterte ihn. Obwohl sie wahrscheinlich eine Fälschung war. Er lehnte sich zurück. »Das ist doch getürkt«, stammelte er.

Der Kleine lachte. »Sind Sie verrückt? Warum sollten wir diesen Aufwand betreiben?«

»Ich weiß es nicht«, gab Fassin zu. »Aber ich kenne meine Freunde. Sie würden nie …«

Der Kleine beugte sich vor. »Dann unterschreiben Sie doch, und sollte der höchst unwahrscheinliche Fall eintreten, dass das Dokument jemals wieder auftaucht, dann sagen Sie einfach, wir hätten Ihre Aussage gefälscht.«

»Und wieso fälschen Sie sie dann nicht gleich?«, rief Fassin.

»Weil Sie dann Ihre Freunde nicht verraten hätten!«, schrie der Kleine zurück. »Nun los! Unterschreiben Sie endlich, dann können Sie gehen. Ich habe wahrhaftig Besseres zu tun.«

»Wieso machen Sie das eigentlich?«, fragte Fassin. Er war den Tränen nahe. »Wieso zwingen Sie die Leute, ihre Freunde zu verraten?«

Der kleine Mann betrachtete ihn einen Moment. »Mr. Taak«, sagte er dann demonstrativ geduldig und lehnte sich zurück. »Ich habe mir Ihr Profil angesehen. Sie sind nicht dumm. Irregeleitet, idealistisch, naiv, gewiss, aber nicht dumm. Sie müssen doch wissen, wie eine Gesellschaft funktioniert. Sie müssen zumindest eine Ahnung haben. Es geht nur mit Druck, mit Macht, mit Zwang. Die Leute benehmen sich nicht deshalb gut, weil sie nett sind. Das ist der Trugschluss der Liberalen. Die Leute benehmen sich gut, weil sie sonst bestraft werden. Das ist allgemein bekannt. Niemand kann es bestreiten. Eine Zivilisation, eine Gesellschaft, eine Spezies nach der anderen zeigt dieses Muster. Gesellschaft bedeutet Kontrolle: Kontrolle bedeutet Strafe und Belohnung. Belohnung bedeutet, an den Früchten der Gesellschaft teilhaben zu können und, eine allgemeine Regel, die aber durchaus gebrochen werden kann, nicht ohne Grund bestraft zu werden.«

»Aber …«

»Halten Sie den Mund! Das alberne Problem, über das Sie sich beschweren wollen – die Eigentumsrechte an einem Habitat – hat in Wirklichkeit gar nichts mit Ihnen zu tun. es ist eine juristische Frage, die nur den Besitzer angeht. Sie wurden nicht einmal hier geboren und wären höchstens noch ein paar Monate geblieben, geben Sie es doch zu. Es wäre besser gewesen, sich rauszuhalten. Sie haben sich anders entschieden, Sie wollten Unruhe stiften, und jetzt müssen Sie dafür bezahlen. Unter anderem, indem Sie uns zeigen, dass Sie sich aufrichtig von den Leuten distanzieren, mit denen Sie gemeinsame Sache gemacht haben. Wenn Sie uns davon überzeugt haben, können Sie gehen. Nach Hause, wie ich empfehlen würde. Ich meine, nach ’glantine.«

»Und wenn ich nein sage?«

»Sie meinen, wenn Sie nicht unterschreiben?«

»Ja.«

»Ernsthaft?«

»Ernsthaft.«

»Dann liegt Ihr Fall nicht mehr in meiner Hand. Dann kommen Sie zu Leuten, die so etwas gerne tun.«

Als der Kleine diesmal die Hand über den Schreibtisch bewegte, schrie Fassin vor Schmerz. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben, denn er schmeckte Eisen, und sein Mund füllte sich mit frischem Blut und heißem Speichel.

»Mir«, sagte der Kleine müde, »macht es nämlich keinen Spaß.«


Am Ende unterschrieb Fassin doch. Er hatte es irgendwie geahnt.

Das Männchen schien sich darüber zu freuen, und zwei hünenhafte Wärterinnen kamen herein, lösten Fassin die Fesseln und halfen ihm aus dem Stuhl.

»Vielen Dank, Mr. Taak«, sagte das Männchen und schüttelte ihm die Hand, bevor ihn die Frauen aus dem Zimmer führten. »Ich hasse es, so unfreundlich zu sein, und es tut immer wieder gut, wenn jemand vernünftig ist. Bitte denken Sie nicht zu schlecht von mir. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Man duschte ihn, versorgte seine Verletzungen, und nach einer ärztlichen Untersuchung bekam er einen Teller Suppe und einen papierdünnen Overall und konnte gehen. Als man ihn durch die Türen ins Freie führte, soweit in einem Habitat davon die Rede sein konnte, sah er sich um. Er war irgendwo im Palast des Diegesian gewesen.


Im Nest ging alles drunter und drüber. Die Räume waren geplündert und verwüstet worden, alles war zerbrochen oder mit einem stinkenden, zum Erbrechen reizenden Schaum besprüht, der sonst zur Massenkontrolle eingesetzt wurde. Sie gingen in eine Bar, aber sie redeten nicht über das, was nach der Demonstration und ihrer Niederschlagung geschehen war. Stattdessen erzählten sie von Gerüchten über Leute, die angeblich getötet worden oder spurlos verschwunden waren.

K war nicht dabei. die Soldaten hatten sie brutal zusammengeschlagen, als sie das Nest ausgehoben hatten. Sie lag drei Wochen auf einem Gefängnislazarettschiff, und am Tag ihrer Entlassung nahm sie sich mit einer Glasscherbe das Leben.


Erst Monate später erfuhr Fassin, was wirklich mit K geschehen war. Man hatte sie in einen Horror-T-Traum geschickt. Jemand, der mit den Polizisten gekommen war – vielleicht auch einer von ihnen, der mit der T-Traum-Apparatur umzugehen wusste – hatte sie gefunden, noch schwimmend, noch nicht aus dem T-Traum-Trip erwacht und hatte die Einstellungen am Traumalysator und am Narko-Infusor verändert. Währenddessen hatten andere sie festgehalten und waren über sie hergefallen. Wer immer die Sache mit dem Traumalysator gedreht hatte, musste Vorlagenchips dieser Art genau für solche Fälle bei sich getragen haben. Dann hatte man sie blutüberströmt und gefesselt in einen Albtraum geschickt, in dem sich Szenen des Grauens, vergewaltigungs-und Folterepisoden im Zeitraffer aneinander reihten.

Die alte Gruppe hatte sich aufgelöst, jeder hatte sich eine andere, zumeist verantwortungsvollere Tätigkeit gesucht, als sie sich das alles zusammenreimten. Sie wollten Beschwerde einreichen, eine Untersuchung fordern, öffentlich protestieren. Aber es blieb bei der Absicht.

Fassin flog nach ’glantine und schrieb sich für den Einführungskurs für Seher im übernächsten Semester ein. Dann kehrte er nach Sepekte zurück, besuchte zuerst die Habs und stürzte sich dann in Boogeytown in wilde Exzesse. Alkohol, Drogen, hemmungsloser Sex. Nach einer Weile zog er ganz allmählich und sehr vorsichtig Erkundigungen ein, trieb sich in einschlägigen Kneipen herum und traf sich mit bestimmten Leuten. Offenbar bestand er dabei einige Prüfungen, ohne es zu merken, und eines Nachts stellte man ihn einem Mädchen vor, das sich Aun Liss nannte.


»Fassin!«

Sein Name rüttelte ihn wach. Third Fury; die Kabine. Stockfinstere Nacht. Klirrende Geräusche. Der Bildschirm zeigte Stunde Vier. Ein rotes Licht blinkte. Hatte jemand mit ihm gesprochen?

»Was ist?«, fragte er, riss sich die Gurte ab, stemmte sich aus dem Bett und schwebt in die Kabinenmitte.

»Herv Apsile«, sagte eine Stimme. Hörte sich auch an wie Apsile. wie ein ziemlich aufgeregter oder erschütterter Apsile. »Wir stecken in Schwierigkeiten. Sieht ganz nach einem Angriff aus.«

Verdammte Scheiße! Fassin schlüpfte in seine Kleider und verlangte volles Licht. »War dieses verdammte Scheppern der Alarm?«

»Ganz recht.«

»Sie sind in der Kommandozentrale der Anlage?«

»Ja.«

»Wer mag das sein?« Über einem Gepäckfach leuchtete ein Lämpchen auf, das Fach drehte sich, ein Schutzanzug wurde sichtbar.

»Keine Ahnung. Zwei Schiffe sind bereits verdampft. Steigen Sie in den Anzug und …«

Die Lichter – alle Lichter – flackerten. Der Schirm wurde nicht wieder hell. Ein Zittern durchlief die Kabine. Im Bad zerbrach etwas mit scharfem Klirren.

»Spüren Sie das? Sind Sie noch da?«, fragte Apsile.

»Zweimal ja«, sagte Fassin und betrachtete den Anzug.

»Steigen Sie in den Anzug und begeben Sie sich durch einen Fallschacht in den Schutzraum.« Apsile hielt inne. »Haben Sie verstanden?« Wieder eine Pause. »Fass?«

»Hier.« Fassin zerrte sich seine Kleider wieder vom Leib. »Haben Sie das auch vor, Herv?«

»So verlangen es die Vorschriften.«

Wieder erbebte die ganze Kabine. Die Luft wabbelte wie Gelee.

Der Alarm verstummte. Aber das konnte Fassin seltsamerweise nicht beruhigen.

Der Bildschirm blinkte kurz auf, ein Kreischen war zu hören.

Fassin zerrte den Anzug aus dem Spind. »Wie steht’s mit dem Haupthangar?«, fragte er.

»Ist intakt. Die Geschosse scheinen aus der Rotationsrichtung von Nasq zu kommen, leicht nach hinten verschoben.«

»Wenn wir das Zentrum ansteuern, werden wir also näher herangetragen«, überlegte Fassin. war das ein Luftzug? Er hörte ein Zischen. Er legte sich den Interfacekragen des Schutzanzugs um, der Gelhelm entfaltete sich. Für einen Moment trübte sich der Blick, es wurde ganz still, dann entschied der Helm, die Gefahr sei noch nicht allzu groß, und öffnete Schlitze, durch die Fassin atmen, sprechen und hören konnte. Die Gesichtsmaske klarte auf, bis sie fast durchsichtig war.

»Im Moment schon«, stimmte Apsile zu. »Wenn die Richtung des feindlichen Feuers konstant bleibt, sind wir in zwei Stunden genau im Schussfeld.«

Fassin stieg in den Schutzanzug, zog ihn hoch und wartete, bis er sich mit dem Kragen verbunden hatte und der Anzug sich leise schmatzend an seinen Körper schmiegte. Eigentlich sehr bequem. »Und das ist wirklich Ihr Ernst, Herv? Sie wollen zusammen mit allen anderen wie die Maus im Loch hocken und hoffen, dass die Katze wieder abzieht?«

»So lauten die Befehle.«

»Ich weiß. Und nun raten Sie mal, was ich tun möchte.« Eine Pause trat ein. Ein weiteres, noch heftigeres Beben erschütterte die Kabine. Die Hauptluke sprang nach innen auf, schwankte hin und her. Man konnte in den Korridor hinaussehen. Die Pause zog sich in die Länge. »Herv ?«, fragte Fassin. Er sah sich um, ob er etwas mitnehmen wollte. Nichts. »Herv?«

»Wir treffen uns dort.«


Vor Nasquerons seitlich angestrahlter Oberfläche zuckte ein harter, bläulich weißer Blitz auf. Der Hangar verwandelte sich in ein Labyrinth aus gezackten, grell erleuchteten Flächen und tiefschwarzen Schatten. Fassin zuckte zusammen: Der Blitz wurde gelb, dann orange und erlosch; zwischen dem Mond und Nasqueron stand eine kleine matte Sonne.

Herv Apsile war vor Fassin eingetroffen. Er winkte ihm kurz zu, übersprang locker die acht Meter zur offenen Nasenkuppel der Trägermaschine und verschwand darin. Die Kanzel schloss sich.

»Herv?«, fragte Fassin, um die Notverbindung seines Anzugs zu testen. Keine Antwort. Er näherte sich in langsamen Sprüngen dem offenen Frachtraum. Colonel Hatherence war bereits dort. Ihr hoher diskusförmiger Schutzanzug schwebte dicht über dem Boden, genau an der gleichen Stelle wie vor einigen Stunden.

»Seher Taak! Ich dachte mir doch, dass Sie sich so entscheiden würden!«, rief sie.

Scheiße, dachte Fassin. Er hatte gehofft, der Colonel hätte wie alle anderen die Anweisungen befolgt und sich in den Schutzraum begeben, der sich 10 Kilometer tiefer im Kern des Mondes befand. Es musste doch wohl einen Fallschacht geben, der groß genug war? Na schön. Er kam unter dem kleinen Pfeilspitzenschiff zum Stehen, das über ihnen in seinem Schlitten hing, und nickte ihr zu. »Colonel.«

Würde sie versuchen, ihn aufzuhalten? Er wusste es nicht. Könnte sie es? Kein Zweifel.

»Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder entsetzt sein soll«, rief der Colonel. Aus dem Oerileithe-Schutzanzug löste sich ein Manipulator-Arm und klappte in Fassins Richtung aus. Verdammt, dachte er. Es geht schon los.

»Nach Ihnen !«, sagte der Colonel und deutete mit dem Arm nach oben.

Fassin lächelte und stieß sich ab. Sie schwebte mit schwirrenden Flügelrädern neben ihm nach oben. An der Decke des Frachtraums hielt er an, stützte sich ab und klappte das Cockpit des Gasschiffchens auf. Ein sargförmiger Raum wurde sichtbar. Er schlüpfte aus dem Anzug und löste den Helm.

»Runter mit der Uniform, Major«, sagte der Colonel leutselig. Ihre Stimme hallte von den Wänden des Frachtraums wider. Fassin ließ den Anzug langsam zu Boden fallen und trat in das Cockpit des kleinen Pfeilschiffs. »Du meine Güte!«, sagte Hatherence. »Haben alle menschlichen Männer diese Form?«

»Nur wenn sie gut aussehen, Colonel«, versicherte er ihr und ließ sich vorsichtig in das kühle Gel sinken. Das Dach schloss sich über ihm. Er rutschte im Dunkeln hin und her, um seinen Hals über dem Scannerkragen zu platzieren. Ein weiches Licht leuchtete auf, ein leiser Klingelton bestätigte ihm, dass alles in Ordnung war. Er griff nach der Doppeldüse der Kiemenwasserschlauchs, holte tief Atem, ließ ihn wieder ausströmen und steckte die Düsen in seine Nasenlöcher.

Fassin legte sich zurück, machte sein Bewusstsein so leer, wie er nur konnte und unterdrückte die Panik und den Würgereiz, als das Kiemenwasser, kalt wie das kälteste Eisgetränk aller Zeiten, in seine Nase, durch seine Kehle und in seine Lungen floss.

Für einen Moment war er verwirrt, desorientiert. Dann schmiegte sich der Kragen fester um seinen Hals, und das wärmende Gel schloss sich über seinem Körper und schickte seine Fühler in Ohren, Mund, Penis und Anus. Zwei schmerzhafte Stiche an den Unterarmen und je einer unter jedem Ohr – die Blutentnahmen.

»Fertig?«, gurgelte Herv Apsiles Stimme in seinen Ohren. Das Gel hatte sich noch nicht richtig gesetzt.

Gründlich, sendete er nur in Gedanken. – Was ist mit dem Colonel?

›Ich bin ebenfalls fertig!‹ Colonel Hatherences Stimme klang selbst über Funk überlaut.

Fassin hatte überlegt, ob er sie nicht irgendwie abschütteln könnte. aber es sah nicht danach aus.

»Ich schließe jetzt die Frachtraumtüren. Bereit zum Start«, sagte Apsile.

Fassin und sein Gasschiffchen wurden eins. Es bedeckte ihn, umfing ihn, drang an vielen Stellen in ihn ein und unterwarf sich ihm dabei vollkommen. Das Licht von unten verschwand, als die Türen zuglitten. fassin sah Colonel Hatherences Schutzanzug neben sich hängen, spürte seine Kälte und las seine elektromagnetischen Signaturen. Ebenso deutlich spürte er, wie sich die Systeme des Absetzschiffes bereit machten und erwartungsvoll die Muskeln spielen ließen, als das Schiff abhob. Mit anderen Sinnen registrierte er einen ungewöhnlichen Schwall von Strahlung, ein schwaches Schwerkraftfeld in einem sehr viel größeren und tieferen Trichter, eine Wolke von zusammenhanglosen Funkspruchfetzen, wirren Übertragungen und EM-Signalen vom Stützpunkt der Gemeinschaftsanlage – dann gab es einen plötzlichen Ruck, einen massiven, durch die Übertragung gedämpften Schlag, gefolgt von einer seltsam saugenden Seitwärts-Aufwärts-Bewegung. während er wartete, dass Apsile sich meldete, versuchte er selbst herauszufinden, was vorging. von ferne hörte er, wie das Trägerschiff mit leisem Zischen Luft in seinen Frachtraum pumpte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Apsile freundlich. »Bin wieder am Ruder. ziemlich ungewöhnliche Methode, den Hangar zum Vakuum zu öffnen. Keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist.«

Mit uns alles okay?, fragte Fassin.

»KGS«, antwortete Apsile. Es klang etwas verstört. »Keine Größeren Schäden.«

Dann machen Sie mal weiter, sendete Fassin.

»Danke.«

»Erleichterung streichen, Entsetzen betonen«, kommentierte der Oberst.

Fassin hoffte, dass sie nur mit ihm redete. Er überprüfte alle Einstellungen und Systeme des kleinen Gasschiffs und machte es sich darin ebenso bequem, wie es die Fühler der Lebenserhaltung in seinem Körper taten. Vom unteren Augenrand schwamm eine größere Lichterkette nach oben und wurde scharf. Er rief ein paar Anzeigen ab und startete mehrere Subroutinen, um sich zu vergewissern, dass alles funktionierte. Alles klar.

Er spürte, wie das Trägerschiff beschleunigte. Der Mond blieb hinter ihnen zurück. Eine Verbindung zu den Sensoren des größeren Schiffes erschien als Option auf seinen Armaturen, und er aktivierte sie.

Jetzt konnte er das Gleiche wahrnehmen wie Apsile.

Nasqueron füllte den Himmel vor und über ihm, die graubraune Oberfläche von Third Fury entfernte sich rasch nach unten. Schuttwolken. Fetzen von Funkverkehr. Mehr, als es in einer gut organisierten kleinen Flotte wie der geben sollte, die sie hierher gebracht hatte und seither den Mond bewachte. Keine Spur von Radarstrahlen oder anderen verdächtigen Ortungsversuchen. Wobei eine Zivilmaschine wie das Trägerschiff ohnehin nur detektieren konnte, was ohnehin schon grell ins Auge stach. Keine aktuellen Schadensmeldungen, nur Aufzeichnungen von kleinen Rumpftreffern, kaum mehr als Lochfraß. Spuren von Raumschifftriebwerken. Jäh aufflammende und wieder erlöschende Strahlung, als ein Schiff ein paar hundert Kilometer entfernt scharf abdrehte. Signalzyklen verbreiteten die Botschaft, man sei unbewaffnet und beanspruche Rettungsbootstatus. Ein Blitz! Genau von hinten. Auf der Oberfläche von Third Fury erhob sich ein nahezu halbkreisförmiger, glitzernder Schuttring über einem neuen, weiß glühenden Krater von etwa einem halben Kilometer Breite. Nun kamen drei kleinere Krater in Sicht, auch sie waren noch frisch, glühten aber nur noch orange und rot. Das Bild drehte sich, linien-und Rasteroverlays und Triebwerkssymbole leuchteten auf.

Apsile richtete die Nase des Trägers auf Nasqueron und flog in einer langen, gezielt unregelmäßigen Spirale auf den Gasriesen zu. Dabei beschleunigte er so stark, wie die Triebwerke des Absetzschiffs es zuließen.

Das Absetzschiff war keine hochgerüstete Militärmaschine; es hatte lediglich die Aufgabe, das Gasschiff von der Anlage zum Gasriesen zu bringen und später wieder abzuholen. Seine robuste Konstruktion war den Spannungen innerhalb von Nasquerons Schwerkraftfeld und den wechselnden Drücken bis hinunter zur Flüssigwasserstoffschicht gewachsen, und seine Triebwerke waren stark genug, um es samt seinen Schutzbefohlenen ohne Schwierigkeiten wieder aus Nasquerons Schwerkraftschacht zu heben. Aber es war nicht besonders wendig, hatte weder Panzerung noch Verteidigungswaffen und war nicht nur nicht getarnt, sondern ganz gezielt so gebaut, dass es mit möglichst vielen verschiedenen Sensoren möglichst gut sichtbar war. Kein boshafter Dweller sollte es zum Spaß beschießen und hinterher behaupten können, er bedauere, aber er hätte es nicht gesehen.

»Wie geht es da unten?«, fragte Apsile. Es klang unbekümmert, als habe er alles im Griff.

»Gut, soweit es mich betrifft«, antwortete der Colonel.

Schließe mich an, sendete Fassin. – Haben wir schon eine geschätzte Ankunftszeit?

Reisen von Third Fury nach Nasq dauerten gewöhnlich etwa eine Stunde. Fassin hoffte, sie könnten es in weniger als der Hälfte dieser Zeit schaffen.

»Das Haupttriebwerk feuert mit Maximalleistung, wir sollten in etwa zehn Minuten die Drehung einleiten können«, sagte Apsile. »Dann bremsen wir weitere zehn Minuten und brauchen … hmm, noch – höchstens fünf, würde ich hoffen – um tief genug in die Atmosphäre einzudringen.«

Er meinte, tief genug, um außer Reichweite von allen bis auf die Furcht erregendsten Waffen zu sein. Die Furcht erregendsten Waffen der Dweller natürlich nicht eingerechnet.

Lässt sich das noch verkürzen?, fragte Fassin.

»Wir könnten vielleicht schneller eintauchen, sobald wir den oberen Wolkenrand erreichen«, sagte Apsile. »Steiler, mit höherer Geschwindigkeit. Mag sein. Hmmm.« Fassin glaubte fast zu sehen, wie sich der Meistertechniker nachdenklich das Kinn rieb. »Ja, vielleicht, wenn wir die Wärme-und Druckwerte eine Spur über die Toleranzgrenzen steigen lassen.« Eine Pause. »Immer vorausgesetzt natürlich, dass das Schiff keine bislang unbekannten Schäden erlitten hat, als die Hangarkuppel getroffen wurde.«

Immer vorausgesetzt, nickte Fassin.

»Meistertechniker«, meldete sich Colonel Hatherence. »Werden wir verfolgt oder gezielt angegriffen?«

»Nein, Colonel.«

»Dann schlage ich vor, beim ersten Eintrittsprofil zu bleiben.«

Die Entscheidung liegt allein bei Ihnen, Herv, sendete Fassin.

»Verstanden.«

»Können Sie den militärischen Funkverkehr abhören, Meistertechniker ?«

»Leider nein, Madame, es sei denn, man richtet einen Laser-oder Radiostrahl direkt auf uns.«

»Schade. was geht denn eigentlich vor?«

»Sieht so aus, als hätte ein Feuergefecht stattgefunden. Möglicherweise dauert es noch an. Triebwerkssignaturen entfernen sich vom Mond in die Richtung, aus der die feindlichen Projektile gekommen zu sein scheinen. Mannomann!«

Der Blitz hatte auch Fassins indirekte Aufmerksamkeit erregt; auf der Oberfläche von Third Fury öffnete sich ein weiterer noch größerer weiß glühender Krater.

»Was ist mit den Leuten, die sich noch im Innern von Third Fury befinden?«, fragte der Colonel.

»Habe mitgehört«, sagte Apsile. »Ich werde versuchen, direkt Verbindung aufzunehmen. Einen Augenblick.«

Stille. Fassin beobachtete durch die Sensoren des Trägerschiffes, wie sich das All drehte. Er rief das Systemprofil des Absetzschiffes auf und orientierte sich, dann suchte und fand er ’glantine; ein winziger Lichtpunkt, weit entfernt. Mit Hilfe der Sensoren konnte er den Planetenmond so weit heranzoomen, dass er ihn als fast volle, durch die starke Vergrößerung körnig flimmernde Scheibe sah. Die Topographie war nur andeutungsweise zu erkennen. Konnte dies das Hochland sein? Dort, der Lichtfleck – die Erzsee? Ein Fünkchen. Da, weiter hinten … ein winziger Blitz? Hatte er das wirklich gesehen?

Eine eisige Hand, kälter und aufdringlicher als jeder Gelfühler, griff nach seinem Magen und seinem Herzen. Nein. Bestimmt nicht. Nur eine Störung im System. Er suchte nach dem Schalter, um die Aufzeichnung zu wiederholen.

»Verdammte Scheiße, da sind Trümmer …«, sagte Apsile. Das Schiff machte einen Satz und brach aus. Fassin wandte sich wieder dem Bild zu, das Apsile sah, und entdeckte es ebenfalls: ein Feld aus schwarzen Flecken hing vor ihnen über dem Planeten wie ein auseinander gerissener Vogelschwarm. Sie hatten fast Maximalgeschwindigkeit erreicht. Das Trägerschiff setzte zur Drehung an.

Von allen Seiten rasten dunkle Fetzen vorbei wie feine schwarze Rußflocken. Fassin spürte, wie sich seine Arme im Griff des klebrigen Schockgels an seinen Körper ziehen wollten, wie er instinktiv versuchte, ein kleineres Ziel zu bieten. Dann waren sie durch. Keine Kollisionen.

Wenig später spürte Fassin, wie das Absetzschiff herumschwenkte, um seine Triebwerke auf den Planeten zu richten und die Bremsphase einzuleiten.»Ich glaube«, sagte Apsile vorsichtig, »wir sind gerade noch mit …«

Etwas krachte. Das Schiff machte einen Satz – Fassin spürte ein durchdringendes Knacken durch das Trägerschiff, durch das Gasschiff und sogar noch durch das Schockgel. Die Verbindung zu den Sensoren des Absetzschiffs riss ab. Er war in seinem Pfeilschiffchen wieder allein. Sie rotierten. Und mit ihnen rotierte ein Licht. Licht?

Es kam von unten, wo die Frachttüren waren. Er sah Colonel H’s Schutzanzug, sie schwebte neben ihm. Oh-oh …

Das Schiff wurde langsamer und hörte auf, sich zu drehen, und wurde ruhiger. Das Licht von unten wurde schwächer, verschwand aber nicht. Dem Spektrum nach war es der Widerschein von Nasqueron. Licht vom Gasplaneten, obwohl die Türen geschlossen sein sollten. Fassin drehte den Sensorring des Gasschiffes und schaute senkrecht nach unten.

»Verdammt!«, versuchte er zu sagen. Ein kleines, aber gezacktes Loch, aus dem eine Masse herausquoll, als wären es die Eingeweide. Nasquerons Licht spiegelte sich in einigen blanken Flächen.

Kräfte bauten sich auf; wahrscheinlich bremste das Haupttriebwerk mehr oder weniger wie geplant. Er versuchte es noch einmal mit dem Interkom, dann sendete er ein Funksignal. – Herv?

»Hier. Tut mir Leid. Doch ein Treffer. Habe sie gedreht und ausgerichtet. wieder auf Kurs. Aber keinerlei Daten vom Frachtraum. Auch nicht von den Türen.

Ich denke, da ist der Einschlag. Ich sehe ein Loch.

»Wie groß?«

Seitenlänge vielleicht ein mal zwei Meter.

»Ich sehe es jetzt auch.« Der Colonel schickte gerne Funkbotschaften. »Es ist so, wie Seher Taak es beschreibt.

»Zu klein, als dass ihr beiden aussteigen könntet«, sagte Apsile.

Wie sieht’s mit dem Rest des Schiffes aus?, sendete Fassin.

»Hält momentan noch zusammen. Ich kann nicht sagen, wo das Ding, das uns getroffen hat, wieder ausgetreten ist, oder ob es innen noch etwas durchschlagen hat.«

»Mich, nehme ich an«, sagte Hatherence. »Genauer gesagt, das Gehäuse meines Schutzanzugs. wahrscheinlich.«

Eine Pause. Dann sagte Apsile: »Und … wie geht es Ihnen?«

»Ausgezeichnet. Ihre Frachtraumtüren haben den größten Teil der Energie geschluckt und mein Schutzanzug ist von hervorragender Qualität. Haltbarkeit und Schadenstoleranz können sich sehen lassen. Kaum ein Kratzer.«

Wenn wir es nicht schaffen, die Türen zu öffnen und auszusteigen, war das ganze Manöver sinnlos, Herv, sendete Fassin.

»Wir können uns immer noch im Träger unter den Wolken verstecken«, sagte Apsile. »Von der Anlage ist nicht viel zu hören. Sieht so aus, als hätte sie der letzte Treffer ziemlich schwer erwischt. Unter dem Gas sind wir womöglich immer noch sicherer, als wenn wir uns hier herumtreiben, wo uns jeder deutlich sehen kann.«

Von der Gemeinschaftsanlage auf Third Fury kamen keine verständlichen Meldungen, und kein Militärschiff sendete auf einer Zivilfrequenz. Die Interferenzen im elektromagnetischen Spektrum, ein Problem im Umkreis von Nasqueron auch bei besten Bedingungen, waren besonders stark. Apsis aktivierte zwei von den äquatorialen Relaissatelliten der Anlage, konnte aber, und das war ungewöhnlich, über ihre Transceiver keine Verbindung herstellen und bekam nur Statik und sinnloses Gefasel. Er versuchte es sogar mit einigen Spiegelsatelliten der Dweller. Dort hätte die Überraschung darin bestanden, etwas anderes als Unsinn zu empfangen, aber der Service war vollkommen normal. »Autsch«, hörten Fassin und Hatherence den Meistertechniker sagen. »Third Fury hat eben noch einen Treffer abgekriegt. wir gehen rein. Ziemlich langsam mit Rücksicht auf die Schäden, aber wir gehen rein.«

»Was immer Sie für richtig halten, Meistertechniker«, sagte der Colonel.

Das Trägerschiff erbebte, als es auf Nasquerons obere Atmosphäreschichten traf, und zog eine leuchtende Spur über die Wolkenschicht. Sie wurden langsamer. Das Gewicht kehrte zurück. Und stieg stetig an. Knarrende, tickende Geräusche übertrugen sich durch die festen Verbindungen mit dem Absetzschiff. Das Zittern ließ nach, wurde stärker, flaute wieder ab. Dumpfe Schläge und scharfes Krachen drangen durch den Rumpf des Absetzschiffes. Fassin erriet, dass von den gezackten Rändern der Bresche in den Frachtraumtüren Stücke abgerissen wurden, die aufglühten und Funken sprühten, als sich der Raum mit Gas füllte. Fassin detektierte neue Geräusche im Frachtraum. Sie waren jetzt richtig schwer geworden. Fassin spürte, wie sich das Schockgel um ihn verdichtete. Wie knirschender Schnee unter den Füßen. Er glaubte fast zu sehen, wie alle noch verbliebenen Gasbläschen in seinem Körper so flach wie Hämozyten wurden. So richtig schön schwer …

»Meistertechniker«, meldete sich plötzlich der Colonel.

»Moment mal«, sagte Apsile. »Das …«

Das ganze Schiff schüttelte sich kurz und begann zu rollen.

Herv?, sendete Fassin.

»Ich empfange da einen Zielsuchstrahl …«, begann Apsile, brach aber gleich wieder ab, als das Schiff noch einmal erbebte und wild über den Himmel schlitterte.

»Wir werden tatsächlich angepeilt«, verkündete Hatherence. »Meistertechniker«, rief sie über alle Frequenzen hinweg. »Können Sie uns jetzt schon absetzen?«

»Wie? Was? Nein! Ich …«

»Meistertechniker, versuchen Sie auf mein Kommando eine Rolle oder einen Überschlag«, verlangte Hatherence. »Ich werde uns absetzen.«

»Sie?« schrie Apsile.

»Ich. Ich kann es. Ich habe Waffen: und jetzt entschuldigen Sie mich, und viel Glück.«

Moment mal, begann Fassin.

»Seher Taak«, sagte der Colonel knapp, »schirmen Sie Ihre Sinne ab.« Der große Diskus neben ihm schickte einen grellen, blauweißen Lichtimpuls senkrecht nach unten. Die Türen wurden abgesprengt. Funken stoben davon. Draußen wirbelten gelbbraune Wolken vorbei. Fassins kleines Pfeilschiff sah nur noch Flecken und tauschte eilends seine beschädigten Sensoren aus. Er hatte sich wohl doch nicht rechtzeitig abgeschirmt. Jetzt schaltete er die Sensoren ab. »Absetzen in drei Sekunden«, sagte der Colonel. »Bitte leiten Sie jetzt das Manöver ein, Meistertechniker.«

Von oben rasten ein Strahlungsstoß und ein Hitzeschwall heran, als das Schiff zur Rolle ansetzte. Der Schlitten, der Fassin im Absetzschiff festhielt, klinkte aus, und er schoss wie eine Kanonenkugel aus dem Frachtraum. Einen Augenblick später kam der Colonel in ihrem Oerileithe-Anzug hinterher und holte rasch auf. Über sich sah er das Absetzschiff, das immer noch um die eigene Achse rollte. Plötzlich fuhr seitlich davon ein violetter Strahl herab, durchschnitt das Gas und brannte sich in seine eben erst reparierte Optik. Der Strahl verfehlte das Trägerschiff nur knapp, dann schoben sich dicke gelbe Nebelwolken zwischen ihn und das Schiff, und er und der Colonel waren allein. Ein winziger Pfeil und eine rotierende, schmutzig graue Münze schossen in Nasquerons weiten, turbulenten Himmel hinab.


»›Für alle, die sich mit solchen Dingen befassen, steht unumstößlich fest, dass es innerhalb gewisser Spezies eine Klasse von Wesen gibt, die ihren Mitkreaturen so viel Verachtung und Misstrauen entgegenbringen, dass sie nur Hass und Furcht erregen und diese Empfindungen auch für die aufrichtigsten halten, die sie sich erhoffen können, weil sie am seltensten vorgetäuscht werden.‹« Der Archimandrit Lusiferus schaute an der Wand empor. Der Kopf schaute mit starrem Blick über die Kabine, Schmerz, Entsetzen und Wahnsinn standen in den weit aufgerissenen Augen.

Der Attentäter war bald nach Antritt der langen Reise zum Ulubis-System gestorben. Die oberen Stoßzähne waren schließlich so tief in sein Gehirn eingedrungen, dass sie seinen Tod herbeiführten. Der Archimandrit hatte dem Mann die Augenlider wieder aufschneiden lassen, als die Mediziner meldeten, der Tod sei binnen weniger Tage zu erwarten; er hatte den Blick des Mannes sehen wollen, wenn er starb.

Als für den namenlosen Attentäter schließlich die Stunde gekommen war, hatte Lusiferus geschlafen, aber er hatte sich die Aufzeichnung oft genug angesehen. (Es war nicht viel geschehen. Das Gesicht hatte aufgehört, sich zu verzerren. Die Augen waren nach hinten gerollt und langsam, leicht schielend wieder an den alten Platz zurückgekehrt, während die Vitalzeichenanzeige neben dem Bild zuerst den Herzstillstand registrierte und wenige Minuten später die Kurve für die Hirnaktivität in eine flache Linie auslief. lusiferus hätte etwas mehr Dramatik vorgezogen, aber man konnte nicht alles haben.) Er hatte den Kopf abnehmen und in Augenhöhe vor dem Kopf des Rebellenführers Stinausin wieder anbringen lassen. Nun musste ihn Stinausin tagein tagaus ansehen.

Der Archimandrit warf einen Blick auf den Kopf des Namenlosen. »Was meinst du dazu?« Er schaute wieder auf den Text, seine Lippen bewegten sich, aber er las nicht laut. Dann verzog er den Mund. »Ich bin an sich mit der Beschreibung einverstanden, dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass sich eine Spur von Kritik dahinter verbirgt.« Er schüttelte den Kopf, schloss das alte Buch und warf einen Blick auf den Einband mit dem Namen des Autors. »Nie gehört«, murmelte er.

Zumindest hatte dieser moralinsaure Intellektuelle einen Namen, dachte Lusiferus. Inzwischen störte es ihn sehr, für den Attentäter keinen zu haben. Gewiss, der Bursche war gescheitert, er hatte für sein Verbrechen teuer bezahlt, und jetzt war er tot und nur noch eine Trophäe. Aber irgendwie empfand der Archimandrit den Umstand, dass der Name nie bekannt geworden war, wie einen Triumph für den Attentäter, so als wäre sein Sieg über den Schurken nicht vollkommen, solange ihm diese kleine Information vorenthalten wurde. Er hatte Leseum bereits angewiesen, die Angelegenheit noch gründlicher zu untersuchen.

Sein Privatsekretär erschien hinter der verspiegelten Diamantfolie, die das Arbeitszimmer vom Schlafgemach trennte.

»Ja?«

»Der Marschall Lascert.«

»In zwei Minuten.«

»Jawohl.«

Lusiferus empfing den Beyonder-Marschall im Audienzraum der Hauptkampfeinheit Lusiferus VII, dem Flaggschiff seiner Flotte. (Lusiferus hielt Bezeichnungen wie ›Schlachtschiff‹, ›Flottentransporter‹ und so weiter für altmodisch und allzu alltäglich.) Er hatte das Schiff umbauen lassen, um eine standesgemäße Unterkunft zu bekommen, aber irgendwann hatten die Marinearchitekten tatsächlich zu weinen angefangen, weil ›Hohlräume‹, wie sie es nannten, die eine bestimmte Größe überschritten, das Schiff zu sehr schwächten. In Folge dessen war der Audienzraum längst nicht so weitläufig und einschüchternd geworden, wie er es sich gewünscht hätte. Er hatte einige Spiegel und mehrere Holoprojektoren einbauen lassen, um ihn größer erscheinen zu lassen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass die Besucher diese Illusion durchschauten. Vom Stil her hatte er sich für den Neobrutalismus entschieden: viel frei liegender Ersatzbeton und rostige Rohre. Gefallen hatte ihm vor allem der Name, vom Erscheinungsbild war er schnell wieder abgekommen.

Er betrat den Raum gleich hinter seinem Privatsekretär. Gardisten, Höflinge, Verwaltungsbeamte und Offiziere von Heer und Marine verneigten sich, als er vorüberschritt.

»Marschall.«

»Archimandrit.«

Der Beyonder-Marschall war eine Frau. Sie trug einen leichten Harnisch, der zwar blitzblank poliert war, aber dennoch so abgewetzt aussah, als würde er täglich getragen. Sie war groß und schlank und von stolzer Haltung, aber etwas zu flachbrüstig für Lusiferus’ Geschmack. Er fand kahlköpfige Frauen ohnehin abstoßend. Sie nickte ihm höflich zu und zollte seiner Stellung damit so wenig Respekt, wie es in den letzten Jahrzehnten nur Leute gewagt hatten, die ihn abgrundtief hassten oder ohnehin dem Tod geweiht waren. Er wusste nicht, ob er die Geste erfrischend finden oder als Beleidigung werten sollte. Hinter ihr standen zwei höhere Offiziere in blitzenden Plattenpanzern, Jajuejein in der Standardkonfiguration, in der sie aussahen wie Steppenläufer und dem Marschall höchstens bis an die Taille reichten. Er hatte den Verdacht, dass man die Frau geschickt hatte, weil sie wie er ein Mensch war; das Oberkommando der Beyonder bestand nämlich fast ausschließlich aus Nichtmenschen.

Er nahm Platz. Seine Sitzgelegenheit war nicht unbedingt ein Thron, aber doch ein imposanter Sessel auf einem Podest. Der Beyonder-Marschall musste stehen.

»Sie wollten eine Unterredung, Marschall Lascert.

»Ich spreche im Namen des Übertritts, der Wahrhaft Freien und der BiAllianz. Wir wollen uns schon seit längerem mit Ihnen unterhalten«, begann der Marschall sanft. Eine tiefe Stimme für eine Frau. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu diesem Treffen bereit erklärt haben.«

»Es ist mir ein Vergnügen. Nun denn. Wie steht es an Ihrem Ende unseres kleinen Krieges? Natürlich nach Ihren letzten Informationen.«

»Soweit wir wissen, läuft alles gut.« Wieder lächelte der Marschall. Die Lichter spiegelten sich auf ihrem kahlen Schädel. »Sie selbst eilen, wie man hört, von Sieg zu Sieg.«

Er winkte ab. »Der Widerstand ist eher schwach«, sagte er. »Wann wollte Ihre Hauptflotte am Rand des Ulubis-Systems eintreffen? In einem weiteren Jahr?«

»In etwa.«

»Das ist um einiges später, als wir geplant hatten.«

»Die Invasionsflotte ist groß. Es hat eine Weile gedauert, sie zusammenzustellen.« Lusiferus versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihre unausgesprochene Kritik ihn kränkte, und dabei zugleich den Eindruck zu vermitteln, was sie denke, sei für ihn nicht weiter von Belang.

Sie waren tatsächlich im Verzug. Er hatte seinen – derzeitigen – Verbündeten persönlich zugesagt, die Invasion könnte ein volles halbes Jahr früher stattfinden, als es nun möglich zu sein schien. vermutlich war es seine Schuld, wenn von Schuld die Rede sein konnte. Er hielt seine Flotte lieber zusammen, anstatt die Schiffe je nach Geschwindigkeit aufzuteilen und erst für die eigentliche Invasion wieder zu formieren. Seine Admiräle und Generäle hatten ihm immer wieder erklärt (wenn auch nicht allzu energisch, sie wussten schließlich, was gut für sie war), es bräuchten nicht alle Teile der Flotte ständig beisammen zu sein, aber Lusiferus bevorzugte diese Strategie. Seine Streitmacht wirkte damit geschlossener, imposanter, einfach ordentlicher und irgendwie auch gefälliger.

Für die Beyonder bedeutete die Verzögerung, dass sie mehr als erwartet dafür verantwortlich waren, das Ulubis-System ›sturmreif zu schießen‹. Auf diese Weise hätte die Invasionsflotte leichteres Spiel, und die – hoffentlich stark dezimierten – Streitkräfte der Beyonder wären gegenüber seiner Masse von Schiffen in der schwächeren Position.

»Dennoch«, sagte Lascert, »könnte es sein, dass Ihre Vorauseinheiten bereits in diesem Moment zuschlagen.«

»Schon seit einer Weile sind automatische Kundschafter/ Warnschiffe und Drohnen für Hochgeschwindigkeitsangriffe dorthin unterwegs oder bereits in Stellung gebracht«, erklärte Lusiferus. »Man sollte immer auf alle Eventualitäten gefasst sein. Einige Einheiten mussten umprogrammiert werden, aber sie sollten in den ersten Phasen des Aufweichungsprozesses ihren Zweck erfüllen.« Er lächelte und beobachtete, wie sie auf seine durchsichtigen Diamantzähne reagierte. »Ich halte es für sehr nützlich, ein wenig Panik zu verbreiten, Marschall. viel Panik ist noch besser. wenn die Leute lange genug darunter gelitten haben, werden sie jede Macht willkommen heißen, die der Unsicherheit ein Ende macht, so groß der Widerstand zuvor auch gewesen sein mag.«

Auch der Marschall lächelte, aber es sah so aus, als müsse sie sich dazu überwinden. »Natürlich. Und wir hielten den Moment für günstig, uns eingehender über Ihre Strategie nach dem Eintreffen vor Ulubis zu unterhalten.«

»Ich gedenke das System einzunehmen, Marschall.«

»Gewiss. Es könnte natürlich sein, dass es gut verteidigt wird.«

»Das erwarte ich sogar. Deshalb habe ich eine so große Flotte mitgenommen.«

Sie befanden sich zwischen den Systemen weit draußen in der leeren Wildnis, im Fast-Nichts, knapp ein Jahr von Ulubis entfernt. Der schnelle Kreuzer der Beyonder und seine Eskorte aus zwei Zerstörern hatten sich nur wenige Stunden vorher mit seiner eigenen Flotte getroffen, sie hatten abrupt gewendet und mit einer Eleganz und Schnelligkeit ihre Geschwindigkeit angepasst, die seine eigenen Offiziere vor Neid erblassen ließ. Schöne Schiffe, kein Zweifel. Nun, sie hatten die Schiffe, und er hatte die Systeme; vielleicht kam man auf dieser Basis noch einmal ins Geschäft. Nun waren die drei schnellen Schiffe in eine Flotte von mehr als tausend Schiffen eingebettet, die sich vergleichsweise mühsam vorankämpften.

»Darf ich offen sprechen, archimandrit?«

Er sah sie mit seinen tiefroten Augen lange an. »Das erwarte ich sogar.«

»Wir haben Bedenken, was die mögliche Zahl von zivilen Opfern angeht, sollte Ulubis allzu aggressiv angegriffen werden.«

Wie kommt sie nur auf diese Idee?, dachte Lusiferus und lachte in sich hinein.

Er sah seinen Privatsekretär und seine Generäle und Admiräle an. »Marschall«, sagte er dann begütigend, »wir werden das System angreifen. Und wir werden einmarschieren.« Er lächelte breit und sah auch seine Admiräle und Generäle grinsen. »Finden Sie nicht, dass Aggressivität … dabei ganz wesentlich ist?«

Der eine oder andere seiner Lamettaträger lachte leise auf. Da hieß es immer, es sei schlecht, seine Untergebenen so in Angst und Schrecken zu halten, dass sie nicht wagten, einem schlechte Nachrichten zu überbringen, und immer lachten, wenn man selbst lachte (und so weiter). Man verliere dadurch den Anschluss an das wirkliche Geschehen. Aber wenn man es richtig anstellte, stimmte das nicht. Man musste nur entsprechend scharf beobachten. Manchmal lachten alle, manchmal nur einige, und manchmal brauchte man nur zu sehen, wer sich still verhielt, und wer Laut gab, um sehr viel mehr zu erfahren, als wenn man die Leute aufforderte, den Mund aufzumachen und die Wahrheit zu sagen. Es war wie ein Code, der sich entschlüsseln ließ. Und er hatte das Glück, auf diesem Gebiet ein Naturtalent zu sein.

»Sowohl Aggressivität als auch Augenmaß sind erforderlich, Archimandrit«, sagte der Marschall. Wir wissen natürlich, dass Sie über beides verfügen.« Sie lächelte. Er lächelte nicht zurück. »Wir wollten nur die Zusicherung, dass Ihre Truppen sich so verhalten, dass sie Ihr Lob und Ihren Ruhm mehren.«

»Lob?«, fragte der Archimandrit. »Ich verbreite Schrecken, Marschall. Das ist meine Strategie. Ich habe festgestellt, dass die Leute damit am schnellsten und zuverlässigsten begreifen, was für sie wie für mich gut ist.«

»Dann denken Sie an die Nachwelt, archimandrit.«

»Der Nachwelt zuliebe soll ich Gnade walten lassen?«

Der Marschall überlegte kurz. »Letztlich ja.«

»Ich werde das System so erobern, wie ich es für richtig halte, Marschall. Wir sind zwar Partner, aber Sie können mir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Das will ich auch gar nicht, Archimandrit«, sagte der Marschall schnell. »Ich akzeptiere, was Sie tun müssen, ich äußere nur eine Bitte hinsichtlich der Art und Weise, in der es geschieht.«

»Und ich habe Ihre Bitte zur Kenntnis genommen und werde sie gebührend beherzigen.« Diese Phrase hatte Lusiferus einmal gehört – er wusste nicht mehr von wem und wo – und bei genauerer Überlegung war sie ihm sehr geeignet erschienen. Besonders, wenn man sie etwas großspurig vortrug: langsam, gemessen sogar, und mit so unbewegtem Gesicht, dass das Gegenüber glaubte, man nähme es ernst und sich womöglich sogar Hoffnungen machte, man würde ihm die Bitte erfüllen, anstatt sie – bestenfalls – zu ignorieren. Schlimmstenfalls – soweit es das Gegenüber betraf – würde man genau das Gegenteil tun, nur um den anderen zu ärgern und ihm ganz deutlich zu zeigen, dass man sich nicht herumkommandieren ließ … Das konnte allerdings heikel werden; irgendwann versuchten die Leute womöglich, einen zu manipulieren, indem sie so taten, als würden sie das Gegenteil vorziehen. Und selbst ohne diese Komplikation änderte man sein Verhalten, weil irgendjemand sich so oder so geäußert hatte. Damit räumte man anderen eine gewisse Macht über das eigene Handeln ein. Und dabei hatte alles, was der Archimandrit tat, nur einen Zweck: niemand sollte sagen können, er hätte irgendwie Macht über ihn.

Macht war alles. Geld ohne Macht war nichts. Selbst Glück war nur Ablenkung, ein flüchtiges Gespenst, ein Druckmittel. Was war schon Glück? Etwas, das man verlieren konnte. Nur allzu oft brauchte man andere Menschen, um glücklich zu sein, und verlieh ihnen damit Macht, gab ihnen eine Handhabe gegen einen selbst, die sie jederzeit nützen konnten, indem sie einem wegnahmen, was immer einen glücklich gemacht hatte.

Lusiferus hatte Glück erlebt, und er hatte erlebt, wie es ihm genommen wurde. Sein Vater, der einzige Mensch, den er jemals bewundert hatte – obwohl er den alten Dreckskerl hasste –, hatte sich von Lusiferus’ Mutter getrennt, als sie alt und weniger attraktiv wurde. Er hatte sie, als Lusiferus kaum den Kinderschuhen entwachsen war, durch eine lange Reihe von jungen, erotisch begehrenswerten, aber seelenlosen, gleichgültigen, selbstsüchtigen jungen Frauen ersetzt, Frauen, die der Junge selbst gerne gehabt hätte, aber zugleich verabscheute. Seine Mutter wurde fortgeschickt. Er sah sie niemals wieder.

Sein Vater war in den Industriekomplexen der Leseum-Systeme als Omnokrat für die Merkatoria tätig gewesen. Er hatte ganz unten angefangen, als Pekulan (der Name bedeutet zynischerweise nichts anderes, als dass der Amtsinhaber korrupt sein musste, um anständig leben zu können, und damit ein Strafregister ansammelte, das man jederzeit aus der Schublade ziehen konnte, falls er später einmal aus der Reihe tanzen sollte). Dann war er Ovat geworden und hatte sich Stufe um Stufe bis zum Diegesian emporgearbeitet. Zunächst hatte er nur einen Stadtteil unter sich gehabt, dann eine kleine Industriestadt, eine mittlere und eine Großstadt und schließlich die Hauptstadt eines Kontinents. Er wurde Apparitor, als sein unmittelbarer Vorgesetzter in den Armen einer gemeinsamen Geliebten starb. Der Geliebten war es zunächst sehr gut ergangen – sie hatte im Grunde die Rolle seiner Gemahlin gespielt –, doch dann war sie zu anspruchsvoll geworden und hatte ebenfalls ein vorzeitiges Ende gefunden. Lusiferus’ Vater hatte seinem Sohn nie verraten, ob er sie hatte töten lassen.

Der Sohn wiederum hatte seinem Vater nie verraten, dass die Frau kurz vorher auch seine Geliebte geworden war.

Vom Apparitor stieg sein Vater zum Peregal auf. Als solcher herrschte er zunächst über einen Fab/Hab-Komplex im Orbit, dann über einen Kontinent und schließlich über einen größeren Mond. Die äußeren Zeichen von Macht, Reichtum und Prunk, die in einem aufstrebenden Verbund von Systemen wie Leseum mit einer solchen Stellung verbunden waren, fehlten natürlich nicht. An diesem Punkt hatte sein Vater zum ersten Mal in seinem Leben den Anschein erweckt, mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Er hatte sich entspannt und angefangen, das Leben zu genießen.

Das war das Ende. Als Lusiferus’ Vater endlich zum nächsten Sprung ansetzte, um Hierchon zu werden, hatte er, der einst mit dem Verkauf von Charter-und anderen Verträgen an die Händler und Fabrikanten der vielen Systeme ein großes Vermögen gemacht hatte, sich eines Apparitors erbarmt, der gerade vom Glück verlassen war, und ihn ohne Not an einem Schmiergeldgeschäft beteiligt. Binnen eines Monats wurde er wegen schwerer Korruption angeklagt, verurteilt und geköpft. Der junge Apparitor wurde sein Nachfolger.

Lusiferus hatte schon sehr früh eingesehen, dass er seinem Vater auf dessen eigenem Gebiet niemals das Wasser würde reichen können, und da Religion und Glaube schon immer eine gewisse Anziehung auf ihn ausgeübt hatten, war er einige Jahre zuvor zur Cessoria gegangen. Als sein Vater vor Gericht stand, war er Piteer gewesen, ein Jungpriester. Man hatte ihn zu einem der Beichtväter bestimmt, und er hatte den Verurteilten zur Hinrichtung begleitet. Zunächst war sein Vater sehr tapfer gewesen, doch irgendwann war er zusammengebrochen. Er hatte zu weinen angefangen, er hatte um Gnade gefleht und das Blaue vom Himmel versprochen (obwohl er bereits alles verloren hatte). Er hatte sich laut heulend an Lusiferus geklammert und sein Gesicht in der Priesterrobe seines Sohnes vergraben. Lusiferus hatte gewusst, dass man ihn beobachtete, und dass dieser Augenblick für seine Zukunft wichtig war. Und er hatte seinen Vater von sich gestoßen.

Sein Aufstieg durch die Cessoria war rasant. Er würde nie so mächtig werden wie sein Vater, aber er war klug und tüchtig, man achtete ihn, und er befand sich in einer wichtigen, aber nicht allzu gefährdeten Region einer der größten Metazivilisationen, die die Galaxis je erlebt hatte, auf dem Weg nach oben. Damit hätte er zufrieden sein können. Solange er sich keine Blöße gab wie einst sein Vater, konnte ihm nichts geschehen.

Dann kam es zur Separation. Die Zeit des Arteria-Zusammenbruchs hatte eine wahre Schneise von Portalzerstörungen durch den von Millionen Sternen bevölkerten Raum um Leseum geschlagen. Nur die dicht beieinander liegenden Leseum-Systeme waren in diesem ausgedehnten Hinterland vernetzt geblieben. Das System Leseum9 war wichtig und wohl auch lebensfähig gewesen und hatte sich sicher gefühlt, bis es Jahrtausende später seine eigene Separation erlebte. Ausgelöst wurde sie durch einen kleinlichen Streit innerhalb der immer noch anhaltenden Wirren der Streuungskriege, eine an sich belanglose Meinungsverschiedenheit zwischen drei Parteien, die bis dahin so gut wie unbekannt gewesen waren und die auch hinterher außer im Geschichtsunterricht keine Rolle mehr spielten. Aber der Schaden war angerichtet; das Portal bei Leseum9 war zerstört, und der riesige Raumsektor war vom Rest der zivilisierten Galaxis abgeschnitten.

Damit wurde alles anders. Die alten Strategien, um an der Macht zu bleiben, galten nicht mehr, und neue Bewerber kämpften um die höchsten Positionen.

Trotz allem verdankte Lusiferus seinem Vater auf die eine oder andere Weise alles, was er wusste, und eine der wichtigsten Lehren war: es gab keinen Stillstand. Man war im Leben entweder auf dem Weg nach oben oder auf dem Weg nach unten, der Weg nach oben war immer der bessere, und am sichersten war es, andere als Trittsteine, als Plattformen, als Gerüst zu benützen. Der alte Spruch, man solle sich auf dem Weg nach oben Freunde machen, damit man welche hätte, wenn es wieder abwärts ginge, hatte zwar seine Gültigkeit, aber es war der Spruch eines Miesmachers, die Maxime eines Verlierers. Besser war es, immer weiter und immer höher zu steigen, niemals zu ruhen, niemals nachzulassen, niemals absteigen zu müssen. wenn man es ernst meinte, war die Vorstellung, was man – sofern sie noch lebten – von denen zu gewärtigen hätte, die man einst gekränkt und ausgebeutet oder denen man sonst ein Unrecht zugefügt hatte, nur ein weiterer Ansporn. Das Tempo zu drosseln oder sich gar zurückfallen zu lassen kam nicht in Frage. Ein engagierter Bewerber musste sich immer neuen Herausforderungen stellen, er musste immer neue Kämpfe bestehen, er musste immer neue Höhen erklimmen, zu immer neuen Horizonten aufbrechen.

Das Leben war ein Spiel, und so wollte es auch behandelt werden. vielleicht war das die Wahrheit hinter der ›Wahrheit‹, jener Religion, in der Lusiferus als gehorsames Mitglied der Merkatoria erzogen worden war. Nichts, was man tat oder zu tun schien, war wirklich wichtig, denn alles war – vielleicht – nur ein Spiel, eine Simulation. Letzten Endes war alles nur Theater. Sogar den Hungerleider-Kult, als dessen Oberhaupt er auftrat, hatte er nur erfunden, weil sich der Name gut anhörte. Eine Spielart der ›Wahrheit‹, gelegentlich mit einem Schuss Selbstverleugnung gewürzt, um die Leichtgläubigkeit der anderen von einer höheren Warte aus betrachten zu können. Die Leute schluckten alles, einfach alles. Manch einer mochte das bestürzend finden. Für ihn war es ein Geschenk des Himmels, eine großartige Möglichkeit, die Schwachen im Geiste auszunützen.

Man wurde also für grausam gehalten. Menschen mussten leiden und sterben, andere lernten, einen zu hassen. und wenn schon? Es bestand doch immerhin die Chance, dass nichts von alledem wirklich war. Und wenn doch, nun, dann war das Leben ein Kampf. Das war es immer gewesen, das würde es immer sein. wer das begriff, der überlebte, wer auf die Lüge hereinfiel, der Forschritt und die Gesellschaft hätten den Kampf überflüssig gemacht, der vegetierte nur dahin und wurde zur Beute für die anderen, zum Futter für die Raubtiere.

Er hegte Zweifel, ob selbst die angeblich so brutalen und gesetzlosen Beyonder diese elementare Wahrheit erkannt hatten. Sie ließen Frauen an die Spitze ihrer militärischen Hierarchie gelangen; das war kein gutes Zeichen. Und der Marschall hatte offenbar nicht bemerkt, dass es nichts zu bedeuten hatte, als er sagte, er hätte ihre Bitte zur Kenntnis genommen und würde sie gebührend beherzigen.

»Ich danke Ihnen, archimandrit«, sagte sie.

Nun lächelte er doch. »Sie bleiben doch noch? Wir geben ein Bankett zu Ihren Ehren. Hier draußen zwischen den Sternen hat man so selten einen Anlass zum Feiern.«

»Es ist mir eine große Ehre, Archimandrit.« Wieder nickte der Marschall kaum merklich mit dem Kopf.

Und beim Essen werden wir um die Wette versuchen, einander die Würmer aus der Nase zu ziehen, dachte er. Du meine Güte, das ist ein Vergnügen für Intellektuelle. Da plündere ich schon lieber einen Planeten.


Haben Sie eine Ahnung, wo wir sind?, signalisierte der Colonel mit einem Spotlaser. Sie hielten das für die sicherste Art, sich zu verständigen.

Zone Null, am Äquator, sendete Fassin. – Irgendwo vor dem letzten großen Sturm, zehn-bis zwanzigtausend Kilometer hinter der Ohrengirlande. Ich sehe mir gerade das letzte Update an, das vor dem Absetzen geladen wurde.

Sie kreisten etwa zweihundert Kilometer unterhalb der obersten Wolkenschicht in einem langsamen Strudel um eine schwache Ammoniak-Fontäne vom Durchmesser eines kleinen Planeten. Die Außentemperatur war für menschliche Verhältnisse geradezu mild. Es gab in fast allen Gasriesen Schichten oder Zonen, in denen ein Mensch theoretisch auch überleben konnte, wenn man ihn ohne Schutzkleidung den Elementen preisgab. Natürlich müsste er wahrscheinlich in einer Wanne mit Schockgel oder einer ähnlichen Substanz liegen, weil er sechsmal mehr wöge, als sein Skelett gewöhnt war, was das Gehen und das Stehen schwierig machte. Die Lunge müsste mit Kiemenwasser gefüllt werden, damit er in einer Gasmischung, die Sauerstoff nur als Spurenelement enthielt, auch atmen konnte, und damit Rippen und Brustmuskulatur vom Schraubstock der Gravitation nicht völlig zusammengedrückt würden. Außerdem sollte er nicht in einen Schauer aus geladenen Teilchen kommen. Dennoch: für die Verhältnisse in den Weiten eines Gasriesen war diese Gegend so angenehm, wie ein Mensch es sich nur wünschen konnte.

Colonel Hatherence fand es etwas zu heiß, als Oerileithe hätte sie sich näher an der obersten Wolkenschicht sicher wohler gefühlt. Sie hatte bereits lauthals verkündet, ihr Anzug sei unbeschädigt und könne sie vor allem schützen, vom Vakuum im All bis hinunter zu Nasquerons Zehntausend-Kilometer-Schicht, wo der Druck eine Million mal so hoch war wie hier und die Temperatur etwas mehr als die Hälfte von der auf der Oberfläche der Sonne Ulubis betrug. Fassin ließ sich nicht auf einen Streit darüber ein, wer den besseren Schutzanzug hatte. Sein Gasschiff war im Notfall auch raumtauglich, aber in solchen Tiefen noch unerprobt.

Er hatte versucht, Verbindung zu Apsile im Absetzschiff aufzunehmen, aber nur statisches Rauschen empfangen. Das passive Positionsraster der Äquatorialsatelliten funktionierte zwar, aber nicht maßstabsgetreu und nur lückenhaft, ein Zeichen dafür, dass einige Satelliten zerstört oder ausgefallen waren.

Es war sehr wichtig zu wissen, wo in Nasqueron oder einem anderen Gasriesen man sich befand, aber reichte bei weitem nicht aus. Der Planet hatte einen festen Felskern, eine kugelförmige Masse von etwa zehn erdgroßen Planeten, versteckt unter siebzigtausend Kilometern Wasserstoff, Helium und Eis, und einige Puristen pflegten die Übergangszone zwischen diesen Felskern und dem Wassereis mit den hohen Temperaturen und den hohen Drücken oberhalb davon als die Planetenoberfläche zu bezeichnen. Doch nur ein echter Erbsenzähler würde diese Definition auch nur zum Schein ernst nehmen. Über dem Wassereis – Eis war es nur theoretisch, denn es war durch den gewaltigen Druck zwar tatsächlich fest geworden, dabei aber mehr als zwanzigtausend Grad heiß, was der menschlichen Vorstellung davon, wie Eis zu sein hatte, vollkommen zuwiderlief – türmten sich mehr als vierzigtausend Kilometer metallischer Wasserstoff. Dann folgte eine breite Übergangszone zur bereits erwähnten Zehntausend-Kilometer-Schicht aus molekularem Wasserstoff, die man mit viel Phantasie als Meer bezeichnen konnte.

Darüber, in den – mit nur ein paar tausend Kilometern relativ dünnen, aber immer noch unglaublich komplexen Schichten, die bis ins All reichten, befanden sich die Regionen, wo die Dweller lebten, die gegenläufig rotierenden Gürtel und Zonen der Gasturbulenzen, die den ganzen Planeten umgaben. Sie waren durchsetzt mit großen und kleinen Stürmen, durchzogen von Strudeln, verziert mit Girlanden, Stangen, Stäben, Streifen, Schleiern, säulen, klumpen, höhlungen, wirbeln, trichtern, Pilzwolken, Scherströmungen und unruhigen Subduktionszonen. Wo sich das Leben der Dweller abspielte, gab es keine festen Oberflächen und keine geografischen Landmarken, die ein paar tausend Jahre Bestand gehabt hätten. Nur die Gasbänder rasten bis in alle Ewigkeit aneinander vorbei wie große Atmosphäreräder, die so knapp ineinander griffen wie die Zähne in einem wild gewordenen Schaltgetriebe mit einem Durchmesser von einhundertfünfzigtausend Kilometern.

Üblicherweise passten sich die Äquatorialsatelliten der gemittelten Vorwärtsbewegung der breiten Äquatorzone an, so dass sich stationäre Lagen ergaben, relativ zu denen sich alle anderen Positionen festlegen ließen. verwirrend war es trotzdem. Nichts war fest. Die Zonen und Gürtel waren halbwegs stabil, aber sie schossen mit kombinierten Geschwindigkeiten aneinander vorbei, die für einen Menschen der Geschwindigkeit des Schalls entsprachen. Die Grenzen dazwischen veränderten sich ständig, wurden verschoben von wild brodelnden Strudeln, die hierhin oder dorthin wanderten oder zerrissen, komprimiert und aufgelöst wurden von Riesenstürmen wie dem Großen Roten Fleck auf dem Jupiter im Sonnensystem. Solche Stürme, die gefangen waren zwischen einer Zone, die in eine Richtung zog, und einem Gürtel, der sich in eine andere Richtung bewegte, und zusammengedrückt wurden wie riesige Wasserwirbel im brutalen Griff sich heftig bekämpfender Strömungen, hatten sich in den Jahrhunderten, seit die Menschheit sie beobachten konnte, mehrfach aufgebaut, ausgetobt und langsam wieder verteilt. In einem Gasriesen war alles entweder im Entstehen begriffen, drehte sich oder verschwand wieder, und alle menschlichen Vorstellungen von Oberflächen, Territorien, Land, Meer und Luft wurden rücksichtslos durcheinander gewirbelt.

Nahm man noch die Auswirkungen eines ungeheuer starken Magnetfelds dazu, die Schneisen mit starker Strahlung und die schieren Ausmaße dieser Umgebung – man konnte einen ganzen Planeten von der Größe der Erde oder Sepektes in einen einzigen größeren Gasriesensturm werfen –, dann hatte das menschliche Gehirn wahrhaftig eine Menge zu bewältigen.

Und dabei war die – gelinde gesagt – unbekümmerte Sorglosigkeit, die von den Dwellern so oft an den Tag gelegt wurde, wenn es darum ging, sich auf dem Planeten zu orientieren noch gar nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wie die (oftmals mangelnde) Hilfsbereitschaft, die ein völlig verwirrter Besucher von außerhalb traditionellerweise zu erwarten hatte.

Ich dachte, wir wären mitten unter ihnen, sendete der Colonel.

Unter den Dwellern?, fragte Fassin. Er studierte ein kompliziertes Diagramm, das ihm zeigen sollte, wer oder was in diesem Moment wo sein könnte.

Ja, ich dachte, wir würden uns in einer ihrer Städte wieder finden.

Sie betrachteten die riesige Wolke aus trägen Gaswirbeln, die sich – je nach dem, auf welcher Frequenz oder mit welchem Sinn man sie wahrnahm – nach allen Seiten mehrere Meter oder mehrere hundert Kilometer weit erstreckte. Sie spürten kaum eine Bewegung, obwohl sie Teil der Äquatorzone waren und deshalb mit mehr als hundert Metern pro Sekunde um den Planeten gerissen wurden und zugleich langsam um die Fontäne kreisten und mit ihr nach oben getragen wurden.

Fassin lächelte in seiner Schockgelhülle.

Nun, es gibt viele Dweller, aber es ist auch ein großer Planet.

Er fand es seltsam, dies ausgerechnet einem Wesen erklären zu müssen, dessen Gattung sich in solchen Planeten entwickelt hatte, und das folglich mit den Dimensionen eines Gasriesen vertraut sein sollte. Andererseits betrachteten viele Oerileithe nach Fassins zugegebenermaßen begrenzten Erfahrungen die Dweller mit widerwilliger Ehrfurcht und waren überzeugt, von Unmengen majestätischer Dweller-Gestalten und überwältigend imposanten Bauwerken umringt zu werden, sobald sie durch die oberste Wolkenschicht nach unten vordrängen (ein Irrtum, bei dem sicherlich noch kein Dweller auf die Idee gekommen war, ihn richtig zu stellen). Die Oerileithe waren nach menschlichen und nach den Maßstäben einer riesigen Mehrheit von Spezies in der entwickelten Galaxis ein uraltes Volk, aber – ihre Zivilisation reichte nur etwa achthunderttausend Jahre weit zurück – für die Dweller waren sie lediglich Eintagsfliegen.

Fassin kam ein Gedanke. – Waren Sie schon einmal in einem Dweller-Planeten, Colonel?

– Leider nein. Dieses Privileg wurde mir bisher vorenthalten. Hatherence sah sich demonstrativ um. – Eigentlich ist es fast wie zu Hause.

Noch ein Gedanke. – Sie haben aber doch die Genehmigung, Colonel? Nicht wahr?

– Was für eine Genehmigung, Seher Taak?

– Hier herunterzukommen. Nasq zu betreten.

– Ach so, sendete der Colonel. – Nicht so direkt, muss ich zugeben. Man ging davon aus, ich würde mit Ihnen und Ihren Kollegen von der Gemeinschaftsanlage vom Mond Third Fury aus virtuelle Trips unternehmen. Braam Ganscerel persönlich nahm sich die Zeit, mir das zu versichern, und gegen solche Besuche wurde auch kein Einwand erhoben. Ich glaube, man wollte erst dann eine Erlaubnis für mich einholen, wenn es nötig würde, dass ich Sie auch physisch in die Atmosphäre begleitete – was ja jetzt der Fall ist –, doch als ich das letzte Mal zu dieser Frage etwas hörte, hatte ich den Eindruck, die erforderliche Zustimmung sei noch nicht eingetroffen. Wieso fragen Sie? Rechnen Sie damit, dass das Probleme geben könnte?

Verdammter Mist.

– Die Dweller, erklärte Fassin, – sind in solchen Dingen manchmal … ziemlich pingelig. Von wegen pingelig, dachte er. Es war nicht auszuschließen, dass sie den Colonel zum Kind ehrenhalber erklärten, ihr eine halbe Stunde Vorsprung gaben und dann Jagd auf sie machten. – Sie legen großen Wert auf ihre Privatsphäre. Ungenehmigte Eintritte verbitten sie sich entschieden.

– Das ist mir bekannt.

– Tatsächlich? Gut.

– Ich werde um Asyl bitten.

– Aha. Ich verstehe.

Du bist entweder ziemlich tapfer und hast eine ordentliche Portion Humor, dachte Fassin, oder du hättest doch besser deine Hausaufgaben gemacht.

– Und wohin sollen wir uns nun wenden, Seher Fassin Taak?

– Es müsste in etwa vierhundert Klicks einen WolkenTunnel geben … in dieser Richtung,sendete Fassin und drehte das Gasschiff so, dass es ungefähr nach Süden und leicht abwärts zeigte. – Natürlich nur, wenn er nicht weitergewandert ist.

– Wollen wir?, fragte der Colonel und setzte sich in Bewegung.

Ich werde noch einen unserer Satelliten anpingen und melden, dass wir am Leben sind, teilte Fassin ihr mit.

Halten Sie das für klug?

War es klug?, überlegte auch Fassin. Es hatte ein Angriff auf die Infrastruktur der Seher um Nasqueron stattgefunden, aber das musste nicht heißen, dass die ganze planetennahe Umgebung in feindlicher Hand war. Andererseits …

Wie schnell kann sich Ihr Schutzanzug bewegen?, fragte er den Colonel.

Bei dieser Dichte etwa vierhundert Meter pro Sekunde. Die Dauergeschwindigkeit ist etwa halb so hoch.

Fassins Pfeilschiff konnte da gerade noch mithalten. Enttäuschend. Er hoffte immer noch, den Colonel irgendwann abzuschütteln. Aber es sah nicht so aus, als könnte er ihr einfach davonfliegen.

Ping abgesetzt, teilte er Hatherence mit. – Und nun los!

Sie machten sich rasch auf den Weg. Doch sie hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als hinter ihnen ein violetter Blitz die Wolkendecke zerriss und ein grelles, kurzlebiges Strahlenbündel da, wo sie Sekunden vorher noch geschwebt waren, durch den Gasraum fuhr.

Weitere Strahlen breiteten sich um den zuerst angepeilten Punkt herum aus und pulsierten, langsam länger werdend, ziellos suchend durch die Atmosphäre. Einer tauchte mit lautem Knistern und Knacken etwa fünfzig Meter vor ihnen auf. Alle anderen waren viel weiter entfernt, und nach etwa einer Minute war das Feuerwerk zu Ende.

Jemand ist offenbar nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen, Seher Taak, sendete der Colonel, während sie weiter durch das Gas flogen.

Sieht ganz danach aus.

Der Blitz und die elektromagnetische Welle folgten zwei Minuten danach. Das leise Donnergrollen holte sie mit noch größerer Verzögerung ein.

War das eine Atombombe?, sendete Fassin. Seine Instrumente ließen keine andere Deutung zu, dennoch konnte er es kaum fassen.

Ich kenne kein Phänomen, das eine Atombombe so überzeugend nachahmen könnte.

– Hölle und Teufel!

– Ich möchte mich verbessern. Jemand ist ganz und gar nicht gut auf Sie zu sprechen, Seher Taak.

– Die Dweller werden davon nicht sehr erbaut sein, erklärte Fassin. – Nur sie allein haben das Recht, in der Atmosphäre Atombomben zu zünden, erklärte er. – Und jetzt ist nicht einmal die Zeit für Feuerwerke.

Sie fanden den WolkenTunnel etwa an der Stelle, wo Fassin ihn vermutet hatte, nur hundert Kilometer seitlich verschoben und zwei Kilometer tiefer: für Nasqueron-Verhältnisse hatte er genau ins Schwarze getroffen. Der WolkenTunnel bestand aus einem Dutzend Carbon/Carbon-Röhren, die wie ein riesiger, nur locker verbundener Kabelstrang inmitten einer unendlichen, sanft wogenden, in Gelb-, Orange-und Ockertönen spielenden Wolkenlandschaft schwebten. Die beiden Hauptröhren hatten einen Durchmesser von etwa sechzig Metern, der kleinste – der hauptsächlich Wellenleiter für Kommunikations-und Telemetrieverbindungen enthielt – maß weniger als einen halben Meter. Das ganze Bündel hatte so dünn wie ein Faden gewirkt, als sie ihn zum ersten Mal aus etwa zehn Kilometern Entfernung erblickten, doch aus der Nähe sah er eher aus wie eine Trosse, mit der man einen Mond vertäuen konnte. Aus den beiden Hauptröhren war ein tiefes, grollendes Rauschen zu hören.

Was jetzt?, sendete der Colonel.

Mal sehen, ob ich das mir übertragene Kudos-Guthaben noch einlösen kann.

Fassin stieß mit einem Manipulator seines Pfeilschiffs einen der Wellenleiter an und bewegte die Drähte in der Röhre, ohne die Schutzhülle zu zerreißen. Ein haarfeiner Draht streckte sich in die Lichtmatrix, die das dünne Rohr ausfüllte. Aus dem anderen Ende des Drahtes strömten Informationen in das Biobewusstsein des Gasschiffs, in die Interfacesysteme und schließlich in Fassins Kopf. Ein verschlüsseltes Chaos aus unverständlichem Geplapper, wild flimmernden Bildern und anderen wirren sensorischen Empfindungen brach über ihn herein. Die Unterbrechung in den Lichtströmen war bereits registriert worden. Ein genau auf den feinen Draht gezielter Informationsimpuls sendete eine Identitätsanfrage und erkundigte sich, ob Hilfe benötigt würde, andernfalls möge man bitte aufhören, mit einem öffentlichen Informations-Highway Unfug zu treiben.

Ein Mensch, Fassin Taak, bei den Nasqueron-Dwellern als ›Langsamen‹-Seher akkreditiert, sendete er. – Ich bräuchte Hilfe, um vom jetzigen Standort nach Hauskip City zu gelangen.

Man wies ihn an zu warten.


»Fassin Taak, bandenloser Auswärtiger, Alien, Seher, Mensch! Und … was ist das?«

»Das ist Colonel Hatherence von der Ocula der Justitiarität, einem militärisch-religiösen Orden der Merkatoria. Sie ist Oerileithe.«

»Guten Tag, Dweller Y’sul«, sagte Hatherence. Sie hatten auf normale Akustiksprache umgestellt.

»Ein Klein-dweller! Wie faszinierend! Also kein kind?«

Y’sul, ein ziemlich großer Erwachsener mittleren Alters von gut neun Metern Durchmesser rollte durch das Gas, fuhr einen langen Spindelarm aus und klopfte mit einer Faustknolle (bing-bing-bing!) auf den Schutzanzug des Colonel.

»Halloooo da drin!«, sagte Y’sul.

Hatherences Diskus neigte sich unter dem Hagel unsanfter Schläge zur Seite. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, antwortete sie knapp.

»Kein kind«, bestätigte Fassin.

Sie befanden sich in einem Verdickten-Club in Hauskip City, in einem riesigen schüsselförmigen Raum mit einer Decke aus mikrometerdünnen Diamantplättchen.

Hauskip lag in der Äquatorzone von Nasqueron und war einer von hunderttausend großen Ballungsräumen in diesem Atmosphäreband. Aus dem richtigen Winkel und bei günstigem Licht betrachtet, hatte es viel Ähnlichkeit mit dem Innenleben einer antiken mechanischen Uhr, nur um mehrere tausend Mal vervielfältigt und vergrößert. Aus hinreichend großer Entfernung oder nur in einer Schemazeichnung ähnelte die Stadt Millionen von Zahnrädern, die sich ineinander verhakt hatten und mit größeren Rädern, die ihrerseits in noch größere Räder griffen, durch Naben, Dorne und Spindeln verbunden waren. Das ganze mächtige, langsam kreisende und in sich rotierende Gebilde hatte leicht zweihundert Kilometer im Durchmesser und schwebte hundert Kilometer unter der obersten Wolkenschicht in einer dicken Gassuppe.

Die Stadt war ein Knotenpunkt für mehrere WolkenTunnel-Linien. Nachdem sich ein leerer Wagen bis zu der Zugangsluke durchgekämpft hatte, die der Stelle neben dem Tunnel, wo Fassin und Hatherence ihre Zelte aufgeschlagen hatten, am nächsten war, hatten die beiden, ohne den Wagen zu verlassen, zweimal die Linie wechseln müssen, um durch das Netz von teilweise geräumten Hochgeschwindigkeitstransitröhren an ihr Ziel zu gelangen. Die ganze Reise hatte einen von Nasquerons kurzen Tag-Nacht-Zyklen gedauert. Beide hatten die meiste Zeit verschlafen, doch kurz bevor Fassin eingenickt war, hatte der Colonel gesagt: »Wir machen weiter. Meinen Sie nicht, Major? Wir setzen unsere Mission fort. So lange, bis man uns befiehlt, sie einzustellen.«

»Ganz Ihrer Meinung«, sagte er. »Wir machen weiter.«

Der Tunnelwagon hatte an einer TunnelKnospen-Wand angedockt und sich wie durch einen Schließmuskel in den Hauptbahnhof von Hauskip geschoben. Dort war er durch die gallertartige Atmosphäre geradewegs zum Club für Verdickte der Achten Progression gerast, wo Y’sul, Fassins langjähriger Führer/Mentor/Beschützer an einer Party anlässlich der Vollendungs-und Ausstoßungszeremonie eines Clubmitglieds teilnahm.

Dweller sahen am Anfang aus wie magersüchtige Mantarochen – das war die kurze kindheitsphase, in der sie gelegentlich gejagt wurden – dann wuchsen sie, wurden fett, spalteten sich in der Mitte fast bis nach unten (eine Art Pubertät) und stellten von horizontaler auf vertikale Orientierung um. Als Erwachsene sahen sie schließlich aus wie zwei große Wagenräder mit Schwimmhäuten und Flossensaum, verbunden durch eine kurze dicke Achse mit auffallend knolligen Außennaben, auf denen eine riesige Spinnenkrabbe saß.

Eine Phase des Übergangs vom frühen zum mittleren Erwachsenenstadium war die so genannte Verdickung. In diesem Stadium entwickelten sich die schmalen, zarten Scheiben der Jugend zu den kräftigen, robusten Rädern des späteren Lebens. Wenn es so weit war, trat der betreffende Dweller üblicherweise einem Club von Altersgenossen bei. an sich gab es keinen besonderen Grund, warum sich die Dweller gerade an diesem Punkt ihres Lebens zusammenrotten sollten, aber sie liebten es ganz allgemein, sich in Clubs, Bruderschaften, Orden, Ligen, Gemeinschaften, Genossenschaften, Kameradschaften, Verbindungen, Gruppen, Gilden, Allianzen, Splittergruppen, Offenbarungsvereinigungen und Freizeitvereinen zusammenzuschließen, wobei natürlich immer die Möglichkeit offen blieb, auch an spontanen, nicht zeremoniellen, zufällig und einmalig stattfindenden Veranstaltungen teilzunehmen. Die Liste an gesellschaftlichen Aktivitäten war lang.

Y’sul hatte die beiden in den mit Büchern und Kristallen gesäumten Bibliothekssaal seines Verdickten-Clubs gebeten anstatt zu sich nach Hause, damit er, wie er ihnen ganz offen erklärte, falls sie zu langweilig wären oder es zu eilig hätten, ohne große Verzögerung zu seinen Freunden zurückkehren könnte, die unten im Speisesaal beim Festbankett und der dazugehörigen Orgie waren.

»Wie schön, dass du wieder hier bist, Fassin!«, sagte Y’sul. »Warum hast du diesen Klein-dweller mitgebracht? Kann man sie essen?«

»Nein, natürlich nicht. Sie ist meine Kollegin.«

»Ach so! Aber es gibt keine Oerileithe-Seher.«

»Sie ist keine Seherin.«

»Also doch keine Kollegin?«

»Sie soll mich begleiten. Sie wurde von der Ocula der Justitiarität geschickt, dem militärisch-religiösen Orden der Merkatoria.«

»Verstehe.« Y’sul hatte seine besten Kleider an, schicker Freizeitstil mit vielen bunten Fransen und üppigen Spitzenmanschetten. Nun schaukelte er nach hinten, drehte sich ein wenig und kam wieder nach vorne. »Nein, ich verstehe gar nichts! Was rede ich denn? Was ist diese ›Ocula‹?«

»Nun ja …«

Die Erklärung dauerte eine Weile. Nach etwa einer Viertelstunde – zum Glück fand dies alles in Echtzeit statt, ohne jeden Verlangsamungsfaktor – glaubte Fassin, er hätte Y’sul so gut und umfassend informiert, wie er konnte, ohne allzu viel zu verraten. Auch der Colonel hatte hin und wieder ein paar Worte eingeworfen, aber Y’sul hatte keinerlei Notiz von ihr genommen.

Y’sul war ungefähr fünfzehntausend Jahre alt und damit voll erwachsen. In ein bis zwei Jahrtausenden würde er in die erste Phase der Reifeperiode eintreten und zum Traav werden. Mit neun Metern Vertikaldurchmesser (ohne seinen halboffiziellen Feststaat mit der imposanten Körperkrause, die ihn noch einen Meter größer machte) hatte er etwa die Endgröße für einen Dweller erreicht. Die Doppelscheibe maß fast fünf Meter in der Breite, die schlicht gekleidete Zentralachse war kaum als eigenes Teilstück zu erkennen, eher eine unerwartete Einschnürung zwischen den beiden großen Rädern. Dweller schrumpften ein wenig, wenn sie das mittlere Erwachsenenalter überschritten hatten, und verloren mit der Zeit die Gliedmaßen an Naben und Flossensaum. Wenn sie schließlich ins Milliardenalter kamen, waren sie oft fast aller Gliedmaßen beraubt.

Auch dann konnten sie sich in der Regel noch fortbewegen. Die Antriebskraft kam von einem System von Flügelrädern an den Innen-und Außenflächen der beiden Hauptscheiben. diese fuhren wie für einen Ruderschlag aus – manchmal drehten sie sich auch, um zusätzlichen Schwung zu liefern oder zum Steuern – und legten sich beim Rückschlag flach, so dass der Dweller durch die Atmosphäre zu rollen schien. Diese Fortbewegungsart nannte man rottern. Sehr alte Dweller büßten oft die Beweglichkeit der Flügelräder an der Außenseite der Scheiben oder auch die Räder selbst ein, behielten aber gewöhnlich die an der Innenseite, so dass sie sich immer noch herumrollen konnten, so gebrechlich sei auch sein mochten.

»Kurz gesagt« , stellte Y’sul schließlich fest, »läuft es darauf hinaus, dass du Choal Valseir suchst, um subjektspezifische Forschungen in einer Bibliothek wieder aufzunehmen, die unter seiner Kontrolle steht.«

»So ungefähr«, nickte Fassin.

»Ich verstehe.«

»Y’sul, du warst mir immer eine große Hilfe. Kannst du mich auch dabei unterstützen«?

»Problem«, sagte Y’sul.

»Problem?«, fragte Fassin.

»Valseir ist tot, und seine Bibliothek wurde den Tiefen übergeben oder wahllos an seinesgleichen, seine Verbündeten, Angehörigen, Spezialistenkollegen, seine Feinde oder auch an zufällig Vorüberkommende verteilt. wahrscheinlich beides.«

»Tot?«, fragte Fassin und ließ sein Entsetzen auf dem Signalpanzer seines Gasschiffs sichtbar werden; ein ganz spezielles Wirtelmuster, das intellektuelle und emotionale Bestürzung über das Hinscheiden eines Dweller-Freundes ausdrückte, der zu allem Unglück im Lauf einer Untersuchung gestorben war, von der man selbst sehr fasziniert war. »Aber er war doch erst Choal! Er hatte noch Milliarden Jahre zu leben!«

Valseir war etwa eineinhalb Millionen Jahre alt gewesen und hatte am Übergang von der Schwellen-zur Weisenperiode gestanden. Choal war die letzte Phase der Schwellenperiode. Das Durchschnittsalter für die Beförderung vom Schwellen-Choal zum Weisen-KIND betrug mehr als zwei Millionen Jahre, aber Valseir war von älteren und angeblich auch klügeren Dwellern trotz seines niedrigen Alters für reif erachtet worden. Er war ein anderthalb Millionen Jahre altes Wunderkind – jedenfalls, als er noch lebte. Außerdem war er, als Fassin ihn zum letzten Mal gesehen hatte, kräftig, stark und sehr vital gewesen. Gewiss, er hatte seine rotierende Schnauze fast immer in einer Bibliothek vergraben und war nicht viel ins Freie gekommen, trotzdem konnte Fassin nicht glauben, dass er nicht mehr am Leben sein sollte. Bei den Dwellern gab es nicht einmal Krankheiten, an denen er hätte sterben können. Wie konnte er tot sein?

»Segelunfall, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Y’sul. »Stimmt das auch?« Fassin spürte, wie der Dweller eine Infoanfrage an die Verbindungswände des Bibliothekssaals schickte. »Ja, es stimmt! Es war ein Segelunfall. Sein SturmJammer geriet in einen besonders üblen Wirbel, und das Schiff fiel einfach auseinander. Er wurde vom Hauptmast oder einer Rah aufgespießt. Erfreulich ist, dass man die Jacht zum größten Teil retten konnte, bevor sie in den Tiefen versank. Er war ein begeisterter Segler. Schrecklich ehrgeizig.«

»Wann war das?«, fragte Fassin. »Ich habe nichts davon gehört.«

»Noch nicht lange her«, sagte Y’sul. »Höchstens zweihundert Jahre.«

»In den Nachrichten wurde nichts gemeldet.«

»Wirklich? Ach! Warte.« (Wieder eine Infoanfrage.) »Ja. Wie ich höre, hat er Anweisung hinterlassen, seinen Tod als Privatsache zu behandeln.« Y’sul dehnte die Spindelarme auf den Radnaben zu beiden Seiten. Streckte sie alle waagrecht nach außen. »Kann ich gut verstehen! Habe das auch getan.«

»Wurde irgendwo festgehalten, was aus seiner Bibliothek geworden ist?«, fragte Fassin.

Y’sul schaukelte wieder, die zwei konischen Riesenräder drehten sich langsam von Fassin weg und kippten wieder nach vorne. Dann verharrte Y’sul im Gas und sagte: »Weißt du was?«

»Was?«

»Nein. Keinerlei Unterlagen! Ist das nicht merkwürdig?«

»Wir … ich würde mich wirklich gern eingehender mit der Sache befassen, y’sul. Kannst du uns dabei helfen?«

»Ganz sicher … äh, da wir gerade von Nachrichten sprechen, hier kommt gerade etwas über eine ungenehmigte Fusionsexplosion nicht weit von da, wo du dich über den WolkenTunnel gemeldet hast. Hat das irgendwas mit dir zu tun?«

Verdammte Scheiße, dachte Fassin wieder einmal. »Ja. Sieht so aus, als hätte es jemand auf mich abgesehen. vielleicht auch auf den Colonel hier.« Er deutete auf Hatherences Schutzanzug, der immer noch neben ihm schwebte. Sie schwieg schon eine ganze Weile. Fassin war nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war.

»Ich verstehe«, sagte Y’sul. »Und wenn wir schon über den guten Colonel sprechen, ich gebe mir alle Mühe, ihre Berechtigung ausfindig zu machen. Ich meine, wieso ist sie überhaupt hier?«

»Nun«, sagte Fassin, »wir sahen uns durch unprovozierte feindliche Angriffe genötigt, früher als geplant in Nasqueron Schutz zu suchen. Die Genehmigung für den Colonel wurde vor unserer Abreise beantragt, war aber noch nicht eingetroffen, als wir zu unserem Noteintritt gezwungen wurden. Der Colonel ist technisch gesehen ohne offizielle Genehmigung hier und bittet deshalb als Schiffbrüchige, Kriegsflüchtling und obdachlose Gasriesenbewohnerin um Aufnahme.« Fassin drehte sich um und sah den Colonel an. Sie rotierte um ihre Vertikalachse und erwiderte den vom Gasschiff gelenkten Blick. »Sie stellt Antrag auf Asyl«, schloss er.

»Das wird natürlich vorläufig gewährt«, sagte Y’sul. »Obwohl die genaue Bedeutung von ›unprovoziert‹ in einem größeren Zusammenhang umstritten sein könnte und auch die exakte Definition von ›Schiffbrüchige‹ zu diskutieren wäre, wenn man besonders penibel sein wollte. Kann ich davon abgesehen deinen Worten entnehmen, dass da draußen bei euch gewisse Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden?«

»Du hast ganz richtig verstanden«, antwortete Fassin.

»Oh nein, bitte nicht schon wieder einen von euren Kriegen!« , protestierte Y’sul und rollte in einer Weise den ganzen Körper zurück, die es dem Menschen vergleichsweise leicht machte, die Bewegung als Gegenstück eines Augenverdrehens zu interpretieren.

»Nun, man muss es wohl so nennen«, gestand Fassin.

»Mit welcher Begeisterung ihr euch gegenseitig Schaden zufügt, erstaunt, entzückt und entsetzt mich immer wieder.«

»Wie man hört, bahnt sich zwischen Zone 2 und Gürtel C ein Formalkrieg an«, bemerkte Fassin.

»Das hat man mir auch erzählt!«, strahlte Y’sul. »Glaubst du wirklich, dass es dazu kommt? Ich bin offen gestanden nicht sehr optimistisch. Meines Wissens wurden einige schauderhaft fähige Unterhändler zugezogen … Ach ja. Dein Rumpfpanzer, der dir so ungenügend den bedauerlicherweise fehlenden Körper ersetzt, zeigt Hinweise, denen ich entnehme, dass deine Bemerkung eben sarkastisch gemeint war.«

»Schon gut, y’sul.

»Nun denn, lassen wir das. Aber zu Valseir. Hier gibt es eine Übereinstimmung.«

»Tatsächlich?«

»Ja!«

»Worin? Zwischen welchen Punkten?«

»Seinem Ableben und dem aufkeimenden Krieg, auf den du soeben verwiesen hast!«

»Wirklich?«

»Ja! Ich glaube, seine alte Bibliothek – befindet sich in der derzeitigen Kampfzone.«

»Aber wenn sie bereits aufgelöst wurde …«, begann Fassin.

»Oh, es existieren sicherlich Kopien, und ich bin noch nicht einmal sicher, dass man den alten Burschen schon endgültig zur letzten Ruhe gebettet hat.«

»Nach zweihundert Jahren?«

»Komm schon, Fassin, es gab Erbschaftsfragen.«

»Und die Bibliothek liegt im Kriegsgebiet?«

»Sehr wahrscheinlich, ja! Ist das nicht aufregend? Wir sollten uns sofort dorthin auf den Weg machen!« Y’sul wedelte mit allen Gliedmaßen gleichzeitig. »Wir rüsten eine Expedition aus! Wir reisen gemeinsam.« Er sah Hatherence an. »Du kannst sogar deine kleine Freundin mitnehmen.«


Ich überlege, ob ich versuchen soll, über Ihre Satelliten oder direkt Verbindung mit Ihrer Gemeinschaftsanlage aufzunehmen, erklärte der Colonel.

Ich würde das nicht tun, sendete Fassin. – Aber wenn Sie es nicht lassen können, sagen Sie mir vorher Bescheid. Ich möchte dann nicht im betreffenden Raumabschnitt sein.

– Sie meinen, ein Angriff wie nach Ihrem ›Ping‹ könnte uns auch hier treffen?

– Wahrscheinlich nicht gerade mitten in einer Dweller-Stadt. Aber warum das Risiko eingehen? Wir wissen nicht, ob derjenige, der auf uns schießt, so genau einschätzen kann, worauf er sich einlässt, vielleicht knallt er uns einfach ab und kümmert sich um die Folgen später. Wir wären nicht dabei, um hämisch zu lachen.

– Wir müssen herausfinden, was vorgeht, Major Taak, drängte Hatherence.

Ich weiß, und nachdem ich die lokalen Sender abgehört habe, werde ich von einem weiter entfernten Punkt aus eine Anfrage an einen Satelliten absetzen.

Der Colonel schwebte herüber und schaute auf den riesigen, uralten und stark richtungsabhängigen Flachbildschirm, über den Fassin an Informationen zu kommen suchte. Sie waren in Y’suls Heim, einem baufälligen Rad-Haus in einem riesigen Viertel voll ähnlich schäbig aussehender Rad-Häuser, die an dünnen Stäben unter der Mittelebene der Stadt hingen. Das Ganze sah aus, als hätte man einen Schrottplatz voll explodierender Schaltgetriebe gefilmt und das Bild mittendrin eingefroren.

Y’sul hatte sie in heller Aufregung von seinem Club hierher begleitet. Dann hatte er sie alleine gelassen, und sich mit seinem Diener Scholisch auf die Suche nach einem annehmbaren Schneider begeben – sein Stammschneider hatte es sich ausgerechnet jetzt in den Kopf gesetzt, den Beruf zu wechseln und Matrose auf einem Panzerschiff zu werden; wahrscheinlich um sich so in den heraufziehenden Krieg hineinzumogeln.

Haben Sie etwas gefunden?, fragte der Colonel. Der Schirm füllte sich mit einem Bild des Third Fury-Mondes. – Hm. Der Mond sieht noch ziemlich intakt aus.

– Das ist eine alte Aufnahme, erklärte Fassin. Ich versuche gerade, eine aktualisierte Version zu bekommen.

– Werden die Feindseligkeiten erwähnt?

– Kaum, antwortete Fassin. Er bediente die klobigen, starren Schalter des alten Bildschirms mit einem Manipulator. Ein kurzer Hinweis auf einem Radiosender für Minderheiten, aber das ist auch schon alles.

– Immerhin hält man die Nachricht für erwähnenswert! Ich finde, das ist ermutigend.

– Freuen Sie sich nicht zu früh, sendete Fassin. – Wir reden von einem Sender, den ein paar Amateure für die wenigen Gleichgesinnten betreiben, die sich wirklich dafür interessieren, was im Rest des Systems vorgeht; er erreicht vielleicht ein paar Tausend Dweller, und das bei einer Bevölkerung von fünf oder zehn Milliarden.

– Ist die Zahl der Dweller in Nasqueron wirklich nicht genauer festzustellen?

– Oh, ich habe Schätzungen von zwei Milliarden bis hinauf zu zwei-oder gar dreihundert Milliarden gesehen.

– Auf solche Unsicherheiten bin ich auch bei meinen Recherchen gestoßen, sagte Hatherence, während Fassin manuell zwischen Kanälen, Modems und Imagetrails hin und her schaltete. – Ich dachte noch, das müsste ein Fehler sein. Wie kann man zwei Größenordnungen auf der Basis zehn danebenliegen? Können Sie nicht einfach einen von den Dwellern fragen? Oder wissen sie selbst nicht, wie viele sie sind?

– Sie können natürlich fragen, antwortete Fassin und unterlegte sein Signal mit leichtem Spott. – Einer meiner alten Lehrer pflegte über Fragen dieser Art zu sagen, die Antworten verrieten einem sehr viel mehr über die Psychologie der Dweller als über das eigentliche Thema.

– Lügen sie, oder wissen sie es selbst nicht?

– Auch das ist eine gute Frage.

– Sie müssen doch eine Vorstellung haben, protestierte der Colonel. – Eine Gesellschaft muss wissen, wie viele Wesen ihr angehören, wie sollte sie sonst ihre Infrastruktur und alles Übrige planen?

Fassin spürte ein Lächeln auf seinem Gesicht. – In so ziemlich jeder anderen Gesellschaft hätten Sie Recht, stimmte er ihr zu.

Es gibt Stimmen, die behaupten, die Dweller wären eigentlich gar nicht zivilisiert, sagte der Colonel nachdenklich – es gäbe keinen einzelnen Planeten, der so etwas wie eine Gesellschaftsordnung hätte, und in galaktischen Dimensionen könne man erst recht nicht von einer Zivilisation sprechen. Sie existierten eher in einem Zustand hoch entwickelter Barbarei.

– Die Argumente sind mir bekannt, erklärte Fassin.

Würden Sie ihnen zustimmen?

– Nein. Dies ist eine Gesellschaft. Wir befinden uns in einer Stadt. Und auch in diesem einen Planeten gibt es eine Zivilisation. Ich weiß, die Definitionen haben sich im Lauf der Jahre geändert, und Sie mögen das anders sehen als ich, aber in der Geschichte meines Planeten gibt es Zivilisationen, die auf ein einziges Fluss-System oder auf eine kleine Insel beschränkt sind.

– Ich vergesse immer wieder, wie kleinräumig man denken muss, wenn es um Lebensräume auf festen Planetenoberflächen geht, sagte der Colonel, offenbar ohne ihn beleidigen zu wollen. – Dennoch muss die Definition, was eine Zivilisation ist, sich weiterentwickeln, wenn man die galaktische Stufe erreicht, und die Dweller in ihrer Gesamtheit scheinen den Anforderungen nicht unbedingt zu genügen.

– Ich finde, das läuft darauf hinaus, wie man selbst die Bedingungen definiert, sagte Fassin. – Moment mal, das sieht vielversprechend aus.

Er wechselte von einem Mosaik von Unterbildschirmen auf ein einzelnes bewegtes Bild. Wieder Third Fury, aber diesmal verschwommener, weniger scharf umrissen, und aus einiger Entfernung aufgenommen. Am Rand des Kleinmondes waren deutlich, wenn auch nicht sehr klar, die flachen Kuppeln der Gemeinschaftsanlage zu erkennen. Seitlich davon fuhr ein Blitz in die Oberfläche, und eine halbkugelförmige Trümmerwolke breitete sich aus. wo der Blitz eingeschlagen hatte, klaffte ein glühender Krater.

Das sieht aus wie gestern, sagte Hatherence.

Ja, nicht wahr?, stimmte Fassin zu. Könnte von hoch oben in Gürtel A oder im Süden von Zone 2 gefilmt worden sein. Von einem Amateur, der rasch seine Kamera hochreißt. Fassin fand heraus, wie man die gespeicherte Aufzeichnung zurück und wieder vorlaufen lassen konnte, und entdeckte schließlich auch die Zoomfunktion. – Und da sind wir.

Auf einer glitzernden Blase unweit der Gemeinschaftsanlage erschien ein kirschroter Fleck. Sie konnten auf dem körnigen Bild gerade noch erkennen, wie die verschwommenen Trümmer der Hangarkuppel vor einem jäh auftauchenden und rasch wieder verschwindenden Nebelschleier nach außen gesprengt wurden. Ein winziger grauer Punkt löste sich aus der zerstörten Kuppel und entfernte sich im Schneckentempo: das Absetzschiff auf seinem halsbrecherischen Sturzflug in den Gasriesen.

Fassin ließ die Aufzeichnung vorlaufen. Die Position des Mondes veränderte sich rasch, Third Fury folgte seiner Bahn über den dunklen Himmel, und wer immer die Bilder aufzeichnete, wurde von dem zwanzigtausend Kilometer breiten Wirbelstrom unter sich in die entgegengesetzte Richtung davongerissen. – Eindeutig Band A, sagte Fassin.

Ein greller Blitz erfüllte den ganzen Schirm. Als er erlosch, war ein mehrere Kilometer breiter Krater entstanden. Überall breiteten sich Trümmer aus, als sei eine reife Samenkapsel unversehens in einen Hurrikan geraten. Das Innere des Kraters glühte erst weiß, dann gelb, orange und schließlich rot. Die Trümmer breiteten sich weiter aus. Die meisten schienen mehr oder weniger auf dem gleichen Orbit zu bleiben wie Third Fury.

Beide schauten schweigend zu. Der Mond veränderte sich. Er taumelte hin und her, schien teilweise in sich zusammenzubrechen und kehrte, nachdem er viel von seiner Masse verloren hatte, langsam und sehr plastisch wieder zur Kugelform zurück. Gelbe Wolken kamen ihm in nahezu flacher Linie entgegen und dann verschwand der kleine glühende Ball hinter dem Horizont.

Fassin ließ die Aufzeichnung bis zum Ende laufen und spulte zum Anfang zurück. Dann hielt er sie an. Der Bildschirm zeigte das erste Bild von Third Fury, fast genau über ihnen, kurz nach dem ersten Einschlag.

Das sieht nicht so aus, als hätte jemand überlebt, sendete der Colonel in ruhigem Ton.

Da haben Sie wohl Recht.

– Es tut mir sehr Leid. Wie viele Personen hielten sich wohl in der Gemeinschaftsanlage auf?

– Zweihundert.

– Ich habe keine Spur vom Schiff Ihres Meistertechnikers und auch nichts von den Angriffen auf uns gesehen, nachdem wir das Absetzschiff verlassen hatten.

Fassin verglich den Zeitcode der Aufzeichnung mit der Ereignisliste des Gasschiffs. – Die fanden erst später statt, erklärte er dem Colonel. Und von da, wo diese Aufzeichnung gemacht wurde, wären wir ohnehin hinter dem Horizont gewesen.

– So viel zum Thema Sicherheit und Ersatz. Der Colonel wandte sich ihm zu. – Aber wir machen doch weiter, ja?

– Ja.

– Und was jetzt, Fassin Taak?

– Jetzt müssen wir mit einigen Leuten sprechen.


»Du willst also mit deinesgleichen Verbindung aufnehmen?«, fragte Y’sul.

»Über ein Relais an einem abgelegenen Standort«, sagte Fassin.

»Warum hast du es noch nicht getan?«

»Ich wollte deine Erlaubnis einholen.«

»Du brauchst meine Erlaubnis nicht. Such dir einfach eine abgelegene Schüssel und setz deinen Spruch ab. Sekundäre Auswirkungen auf mein Kudos-Niveau wären wohl nicht einmal messbar.«

Sie befanden sich im Vorzimmer des Administrators der Stadt. Der Raum war ziemlich groß. An den Wänden hingen Teppiche aus alten Wolkendrücker-Häuten, gelbrot und gewirtelt. Bei einigen waren noch die Löcher zu sehen, wo man die Wesen durchbohrt hatte. Ein Wandabschnitt war ein riesiges gewölbtes Fenster, durch das man auf die Räderlandschaft von Hauskip schauen konnte. Der Abend senkte sich hernieder, überall in der Stadt gingen die Lichter an. y’sul schwebte an das Fenster und klappte es wenig elegant nach außen auf, indem er hart dagegenschlug. Dann schwebte er auf den so entstandenen Balkon hinaus, murmelte etwas von schöner Aussicht und vielleicht sollte er auch sein Haus hier herauf verlegen. Ein Windstoß wehte herein, und die WolkenDrücker-Häute bewegten sich, als wollten ihre längst verstorbenen Besitzer immer noch vor ihren Jägern fliehen.

Colonel Hatherence beugte sich zu Fassin. – Diese Kudos-Geschichte, sendete sie. – Ist das tatsächlich das Verfahren, nach dem sie ihren Wert bestimmen?

– Ich fürchte ja.

– Es ist also wahr! Ich hielt es für einen Scherz.

– Zwischen Wahrheit und Scherz zu unterscheiden, ist nicht gerade die Stärke der Dweller.

Y’sul kam zurück, ohne das Fenster zu schließen, und rotterte mit leise surrenden Flügelrädern durch das Gas auf die beiden zu. »Gib mir deine Nachricht«, sagte er. »Ich leite sie weiter.«

»Über einen abgelegenen Transceiver?«, fragte Fassin.

»Natürlich!«

»Sende einfach eine Botschaft an Sept Bantrabal. Teile mit, dass es mir gut geht, und frage, ob dort alles in Ordnung ist. Vermutlich weiß man bereits, was mit dem Third-Fury-Mond geschehen ist. Du könntest fragen, ob man etwas von Meistertechniker Apsile und dem Absetzschiff gehört hat, das dem Angriff auf den Mond entkommen ist, und was aus den Schiffen wurde, die Third Fury beschützen sollten.«

»Ähem«, räusperte sich der Colonel.

Beide sahen sie an. »Ist das klug?«, fragte sie.

»Sie meinen, ich sollte mich lieber tot stellen?«, fragte Fassin.

»Ja.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. aber ich möchte doch einigen Leuten mitteilen, dass ich noch lebe.« Er dachte an den kurzen Blitz während der Bombardierung von Third Fury. Das könnte ein Einschlag auf ’glantine gewesen sein. »Und ich möchte wissen, ob es meinen Freunden und meinen Angehörigen gut geht.«

»Natürlich«, sagte der Colonel. »Ich überlege nur, ob es nicht vernünftiger wäre, wenn ich mich zuerst mit meinen Vorgesetzten in Verbindung setzte. Wir könnten Dweller Y’sul bitten, mich dieses Relais benützen zu lassen. Sobald eine sicherere Verbindung eingerichtet wäre, vielleicht über eines von den Kriegsschiffen, die vermutlich immer noch irgendwo um den Planeten kreisen, könnte man auch eine Botschaft an Ihren Sept schicken und mitteilen, dass Sie wohlauf sind. Das braucht nicht allzu lange zu dauern.«

Während Hatherence sprach, war Y’sul dicht an sie herangeschwebt und schien durch die Frontscheibe ihres Anzugs spähen zu wollen, aber die war vollkommen undurchsichtig und sogar gepanzert. Irgendwann befand er sich einen Zentimeter vor der Oerileithe. Obwohl er sie weit überragte, wich der Colonel nicht zurück. y’sul klopfte – diesmal etwas behutsamer – mit einem seiner Randarme auf das Anzuggehäuse.

»Würden Sie das bitte unterlassen?«, sagte sie frostig.

»Warum steckst du immer noch in diesem Ding, Klein-dweller?« , fragte Y’sul.

»Weil ich an höhere und kältere Ebenen mit anderer Gasmischung und anderen Druckgradienten angepasst bin, Dweller Y’sul.«

»Verstehe.« Y’sul wich zurück. »Du hast einen merkwürdigen Akzent und eine sonderbare Grammatik. Ich könnte schwören, dass dieser Mensch besser spricht als du. Was sagtest du gleich noch?«

»Ich habe Sie höflich gebeten, jeden physischen Kontakt mit meinem Schutzanzug zu unterlassen.«

»Nein, vorher.«

»Ich machte den Vorschlag, mich mit meinen Vorgesetzten in Verbindung zu setzen.«

»Militärische Vorgesetzte?«

»Ja.«

Y’sul wandte sich an Fassin. »Klingt interessanter als dein Plan, Fassin.

»Y’sul, gestern sind zweihundert von meinen Leuten ums Leben gekommen. wenn nicht mehr. Ich möchte …«

»Ja, ja, ja, aber …«

»Wenn keine Satelliten mehr da sind, muss ich vielleicht ein Signal direkt nach ’glantine schicken«, sagte Hatherence. In diesem Augenblick öffnete sich in einer Wand eine hohe Tür, und ein Dweller in Amtstracht streckte seinen Rand heraus.

»Ich werde euch jetzt empfangen«, sagte der Administrator der Stadt.


Das Amtszimmer des Administrators war riesig, es hatte die Ausmaße eines kleinen Stadions und war von Holoschirm-Arbeitsplätzen gesäumt. Fassin zählte etwa hundert von diesen Stationen, aber nur wenige waren mit zumeist jungen Dwellern besetzt. Es gab keine Fenster, aber die Decke bestand aus Diamantplättchen, und die meisten Abschnitte ließen sich beiseite schieben, so dass der Raum zum rasch dunkler werdenden Himmel hin offen war. Schwebelampen hüpften auf und ab und übergossen sie mit weichem gelbem Licht, als sie dem Administrator zum abgesenkten Audienzbereich im Zentrum des riesigen Saales folgten.

»Du bist schwanger!«, rief Y’sul. »Wie entzückend!«

»Das höre ich andauernd«, sagte der Administrator verdrossen. Dweller waren in Ermangelung eines besseren Begriffs mehr als neunundneunzig Prozent ihres Lebens männlich und wechselten nur in die weibliche Form über, um schwanger zu werden und zu gebären. Weiblich zu werden und ein Junges zu gebären galt als gesellschaftliche Pflicht; die Tatsache, dass diese Verpflichtung besonders ehrenvoll war, machte sie in der Ethik der Dweller einmalig. Sie leistete einen massiven Beitrag zum Kudos-Guthaben und übte in jedem Fall eine gewisse sentimentale Anziehungskraft auf alle bis auf die eingefleischtesten Misanthropen dieser Gattung aus (statistisch gesehen etwa dreiundvierzig Prozent). Dennoch war der Zustand ohne Zweifel auch belastend, und nur sehr wenige Dweller ertrugen ihn, ohne wortreich darüber zu klagen.«

»Ich selbst habe immer wieder einmal daran gedacht, weiblich zu werden!«, sagte Y’sul.

»Das Erlebnis wird überschätzt«, erklärte der Administrator. »Besonders ärgerlich ist es, wenn man eine Einladung zum bevorstehenden Krieg hatte und jetzt wohl moralisch verpflichtet ist, sie abzulehnen. Bitte, sucht euch eine Grube.«

Sie schwebten zu einer Reihe von Vertiefungen im Audienzbereich und ließen sich vorsichtig darin nieder.

»Ich hoffe auch, in den Krieg ziehen zu können!«, rief Y’sul vergnügt. »Oder zumindest ganz in die Nähe. Ich war eben bei meinem Schneider, um mir die neueste und modernste Konflikttracht anmessen zu lassen.«

»Tatsächlich?«, sagte der Administrator. »Wer ist denn dein Schneider? Meiner ist eben in den Krieg gezogen.«

»Doch nicht etwa Fuerliote?«, rief Y’sul.

»Derselbe!«

»Das war auch der meine!«

»Der beste überhaupt.«

»Unbedingt.«

»Nun musste ich zu Deystelmin gehen.«

»Taugt er denn etwas?«

»Nun jaaa«, y’sul bewegte seinen Doppeldiskus skeptisch hin und her. »Man gibt die Hoffnung nie auf. Man könnte sagen, vor dem Spiegel macht er sich nicht schlecht, aber kann er seine Ideen auch in einen schmeichelhaften Schnitt umsetzen? Das ist die Frage, die man sich stellen muss.«

»Ich weiß«, nickte der Administrator. »Und er ist auf dem Sprung, als Junioroffizier auf einem Panzerschiff anzuheuern!«

»Nicht einmal das! Als Matrose!«

»Nein!«

»Doch!«

»Was für ein Abstieg für eine so angesehen Persönlichkeit!«

»Ich weiß, aber ein raffinierter Schachzug. Als Matrose einzusteigen, bevor das Anwerbungsfenster noch richtig offen ist, macht Sinn. Der Effekt der qualmenden Uniform.«

»Ach ja! Natürlich!«

Fassin versuchte, sich mit einem Räuspern bemerkbar zu machen, aber ohne Erfolg.

Der Effekt der qualmenden Uniform?, lichtflüsterte der Colonel.

Wie einem Toten die Schuhe auszuziehen, erklärte Fassin. – Interne Beförderungen finden erst statt, wenn die Feindseligkeiten begonnen haben. Wenn der Schneider Glück hat, wird sein Panzerschiff schwer beschädigt und verliert ein paar Offiziere, und dann wird er doch noch Offizier. Wenn er wirklich Glück hat, bringt er es auf diese Weise bis zum Admiral.

Hatherence überlegte. – Würde ein Schneider, wie angesehen auch immer, unbedingt einen guten Admiral abgeben?

– Wahrscheinlich wäre er nicht schlechter als der, den er ersetzte.

Das Problem war, dass für die Dweller alle Berufe im Grund Hobbys und alle gehobenen Positionen nur Scheinämter waren. Der Schneider, über den Y’sul und der Administrator so angeregt schwatzten, hätte es eigentlich nicht nötig gehabt, als Schneider zu arbeiten, er hatte nur festgestellt, dass er für diese Beschäftigung (oder, was wahrscheinlicher war, für den Klatsch und Tratsch, der untrennbar damit verbunden war) eine gewisse Eignung besaß. Er nahm Kunden an, um sein Kudos zu mehren, und die Kudos-Stufe erhöhte sich direkt proportional zur Macht der Leute, für die er schneiderte. So konnte jemand in einer einflussreichen Zivilposition auch dann zum Vorzugskunden werden, wenn er an sein Amt durch eine Lotterie, ein undurchschaubar kompliziertes Rotationssystem oder die altbewährte Methode der Zwangsverpflichtung gekommen war. Posten wie der des Administrators einer Stadt wurden nach all diesen und noch anderen Verfahren vergeben, abhängig davon, in welchem Band und welcher Zone das Amt zu besetzen war oder auch nur, um welche Stadt es sich handelte. Der Administrator pflegte sich für die ehrenvolle Behandlung zu revanchieren, indem sie in Gesprächen mit den richtigen Leuten ganz nebenbei von ihrem berühmten und kudosreichen Schneider schwärmte.

Y’sul besaß offensichtlich genügend eigenes Kudos, um sich die Dienste dieses Alpha-Ausstatters leisten zu können. wer in der Hackordnung weiter unten stand, hätte einen Schneider mit weniger guten Beziehungen beschäftigt oder sich seine Kleidung einfach kostenlos bei der Kommune besorgt, was in diesem Fall so viel bedeutete wie ›von der Stange‹. Im Allgemeinen verstand man darunter kudosfreie Massenprodukte, auf die man ein Anrecht hatte, weil man Dweller war … und in diese Kategorie fiel so ziemlich alles bis hinauf zum Raumschiff.

Fassin hatte allerdings einige Dweller-Raumschiffe gesehen und fand, dass die Methode ›stell ausreichend viele her und verschenke sie dann‹ durchaus ihre Nachteile hatte.

»Weißt du«, sagte Y’sul gerade, »meine Bewerbung um den Status eines Junioroffiziers ruht schon seit Jahrhunderten und wurde diesmal nicht einmal erwähnt. Als einfacher Matrose anzuheuern, mag erniedrigend sein, aber wenn es zu Opfern kommt, könnte es sich gewaltig auszahlen.«

»Gewiss, gewiss«, sagte der Administrator und heftete ihren Blick auf den Colonel. »Was ist das?«

»Eine Oerileithe, ein Klein-dweller«, sagte Y’sul. Es klang fast stolz.

»Du meine Güte! Doch wohl kein kind?«

»Man darf sie auch nicht essen. Ich habe gefragt.«

»Sehr erfreut«, sagte der Colonel so würdevoll, wie sie konnte. Offenbar begegneten die Dweller einer Oerileithe mit noch weniger Respekt, als Fassin – und vermutlich auch der Colonel selbst – erwartet hatten. Die Oerileithe hatten sich erst vor relativ kurzer Zeit ganz unabhängig von der riesigen und unsagbar alten Masse des galaktischen Dwellertums entwickelt und wurden folglich von ihren altehrwürdigeren Gasriesenmitbewohnern als Zwischending zwischen einem lästigen Kollektivanhängsel und einem Haufen unverschämter Planeteneroberer betrachtet.

»Und das ist wohl der ›Langsamen‹-Seher.« Der Administrator warf einen kurzen Blick auf Fassins Gasschiff, bevor sie den Blick wieder auf Y’sul richtete. »Müssen wir seinetwegen langsamer reden?«

»Nein, Administrator«, sagte Fassin, bevor Y’sul antworten konnte. »Ich laufe im Moment auf Ihrer Zeitskala.«

»Was für ein Glück!« Sie beugte sich zur Seite und aktivierte per Fernbedienung einen Bildschirm. Der Schein des Holos erhellte ihre Vorderseite. »Hmm. verstehe. Der ganze Aufruhr in den letzten ein bis zwei Tagen ist dann also deine Schuld?«

»Gibt es denn so viel Aufruhr, Madame?«

»Nun, die Teilzerstörung eines Monds im nahen Orbit würde für die meisten Leute in diese Kategorie fallen«, sagte der Administrator vergnügt. »Ein hübsches Bild am Himmel, so oft man sich zur obersten Wolkenschicht hinaufwagte. Nach Millionen von Jahren in Schlacke verwandelt, bis auf ein paar Prozent vollständig zerbrochen. Ein Schuttring über den Orbit verteilt, der Orbit selbst so stark verändert, dass alles andere da oben sich umschichten muss, um sich den neuen Bedingungen anzupassen. Ein kleineres Schuttbombardement über drei Bänder. Ein paar Brocken, die um Haaresbreite mehrere Teile der Infrastruktur von nicht nur sentimentalem Wert verfehlten, und andere, die automatische Laserbatterien zur Planetenverteidigung und damit eine Kaskade von Satellitenzerstörungen auslösten, die noch nicht wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Ach ja, und eine ungenehmigte Fusionsexplosion. Mitten im Nirgendwo, gewiss, aber dennoch. Zum Glück fällt nichts von alledem in meine Zuständigkeit, aber du scheinst doch von Schwierigkeiten verfolgt zu werden, Mensch Taak, und jetzt bist du in meiner Stadt.« Der Administrator rollte ein wenig näher an Fassins Gasschiff heran. »Hattest du vor, hier länger zu bleiben?«

»Nun ja …«, begann Fassin.

»Der Mensch steht unter meinem Schutz, Administrator!«, unterbrach Y’sul. »Ich verbürge mich für ihn und werde auch weiterhin alle Kudos-Folgen für seine Aktionen auf mich nehmen. Ich werde alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um ihn vor feindlichen Kräften zu schützen, die ihm schaden wollen. Darf ich darauf zählen, dass du die Expedition unterstützt, die der Mensch in die Kriegszone zu unternehmen gedenkt?«

»Du darfst«, sagte der Administrator.

»Großartig! Wir können in zwei Tagen bereit zum Aufbruch sein. Allerdings müsste man den Schneider Deystelmin dazu überreden, der in Auftrag gegebenen Kampftracht für mich Vorrang einzuräumen.«

»Ich werde mit ihm reden.«

»Zu gütig! Ich schwöre, dass ich dich niemals wieder für eine Zwangsverpflichtung nominieren werde!«

»Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen.«

Wenn Dweller Zähne hätten, dachte Fassin, dann hätte der Administrator jetzt damit geknirscht. »Verzeihung, Madame«, sagte er.

»Ja, Mensch Taak?«

»Haben Sie Nachricht über die Ereignisse anderswo im System?«

»Wie gesagt, verändern die verschiedenen Ringe und Monde leicht ihre Bahn, um sich den neuen Bedingungen …«

»Er denkt wohl weniger an Nasqueron als an das gesamte Planetensystem«, bemerkte Colonel Hatherence.

Die beiden Dweller drehten sich um und sahen sie an. Die äußeren Ränder der Scheibenkörper waren mit Sensorstreifen besetzt, außerdem hatten sie Augenblasen unten an den Außennaben. Im wütenden Anstarren hätten die Dweller galaxisweit sicher nicht den ersten Preis gewonnen, aber sie waren immer bereit, ihr Bestes zu geben. Für einen Dweller war der eigene Planet gleichbedeutend mit dem Universum. Die meisten Gasriesen hatten mehr Monde als ein durchschnittliches Sonnensystem Planeten und strahlten sehr viel mehr Energie ab, als sie von der Sonne empfingen, die sie umkreisten. Ihre Wärmeleitsysteme, ihr Wetter und ihre Ökologie wurden großenteils durch planeteninterne Prozesse gesteuert und waren nicht vom Sonnenlicht abhängig. Zwar mussten die Bewohner den Himmel genau beobachten, falls irgendetwas im Anflug wäre, doch auch diese Überlegung führte zu einer stark gasriesenzentrierten Denkweise. Die eigene Sonne und der Rest des Planetensystems waren für den Durchschnitts-Dweller von vergleichsweise geringem Interesse.

»Das würde ich so nicht unbedingt sagen«, schwächte Fassin schnell ab. »Ich dachte zum Beispiel an den Mond ’glantine; wurde er beschädigt?«

»Meines Wissens nicht«, sagte der Administrator mit einem weiteren strengen Blick auf Hatherence.

»Und die Militärschiffe im Orbit um Third Fury?«, fragte der Colonel.

( – Pst!, signalisierte Fassin.

Nein!, sendete sie zurück.)

»Was denn für Schiffe?« Der Administrator war sichtlich verwirrt.

»Was ist mit dem Planeten Sepekte?«, wollte Fassin wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte der Administrator und sah ihn forschend an. »Wolltest du mich nur deshalb sprechen? Um dich nach dem Schicksal von irgendwelchen Monden und fernen Planeten zu erkundigen?«

»Nein, Madame. Ich wollte Sie sprechen, weil ich befürchte, dass Nasqueron in Gefahr schwebt.«

»Wirklich?«, platzte Y’sul heraus.

»Tatsächlich?«, seufzte der Administrator.

Selbst Hatherence hatte sich gedreht und sah ihn an.

»Die ›Schnellen‹ stehen vor dem Ausbruch eines Krieges, Madame«, erklärte Fassin. »Er wird ganz Ulubis erfassen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass einige der beteiligten Streitkräfte versuchen, Nasqueron und seine Dweller auf irgendeine Weise in die Feindseligkeiten mit hineinzuziehen.«

Der Administrator kreiste ein Stück weit zurück und rollte den äußeren Flossensaum ein, was bei den Dwellern gleichbedeutend war mit einem Stirnrunzeln.

( – Major?, sendete der Colonel. – Davon haben Sie mir nichts gesagt. Worauf stützen Sie diese Behauptung? Gibt es etwas, das Sie mir verheimlichen?

– Eine Ahnung. Ich versuche nur, Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem muss ich Sie darauf hinweisen, dass Signalflüstern hier als unhöflich gilt.)

Der Administrator sah Fassin noch etwas länger an und wandte sich dann an Y’sul. »Ist dieser Mensch immer verrückt?«

Y’sul ließ ein schmatzendes Geräusch hören. »Definitionssache.«

»Nasqueron könnte Ziel weiterer Bombardierungen sein«, beharrte Fassin. »Sogar ein Überfall wäre möglich.«

»Ha!«, lachte Y’sul.

»Wir sind nicht wehrlos, Mensch Taak!«, sagte der Administrator laut.

Nein, aber eure Raumschiffe sind undichte uralte Klapperkisten und eure Planetenverteidigung ist auf dumme Felsen ausgerichtet, dachte Fassin müde. Du sagst das sehr überzeugend, aber wenn sich die Invasoren von Epiphanie 5 zu einem Angriff entschließen oder die Merkatoria mich für tot hält und auf direktere Weise in den Griff zu bekommen sucht, was immer sich in Valseirs Bibliothek befindet, könnt ihr nicht viel tun, um sie aufzuhalten. Nach allem, was ich gesehen habe, könnte ein einziger Zerstörer der Navarchie-Streitkräfte im Lauf der Zeit euren ganzen Planeten verwüsten.

»Natürlich nicht«, stimmte er zu. »Aber ich möchte Sie doch bitten, diese Information an die zuständigen Behörden weiterzugeben. Wer gewarnt ist, kann sich besser verteidigen.«

»Ich werde es mir merken«, erklärte der Administrator ungerührt.

Verdammte Scheiße, dachte Fassin. Du wirst einen Dreck tun. Du wirst niemandem ein Wort davon sagen.

Y’sul schaute auf. »Was ist das?«, fragte er.

Fassin schaute auf und erschrak zu Tode. Ein dicker, etwa zwei Meter hoher Zylinder mit Flügelrädern schwebte genau über ihnen in der Dunkelheit vor der Öffnung in der Decke aus Diamantplättchen und richtete ein langes schwarzes Rohr auf sie.

Der Administrator stöhnte. »Oh nein«, sagte sie dann. »Das ist die Presse.«


»Scholisch! Meinen guten Brustharnisch, du hirnlose schwartenkauende Abgaswolke!«

Y’sul warf mit einem Stück Panzerung quer durch den Raum nach seinem Diener. Die Karbonplatte mit der Tarnbemalung trudelte durch das Gas, wechselte hektisch die Farben, um sich ihrer Umgebung anzupassen, verfehlte nur knapp mehrere andere Dweller – der große Raum war ziemlich voll, die Leute mussten sich ducken, zur Seite hüpfen oder ausweichen – flog dicht an Scholisch vorbei und bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in ein SchwebeBaum-Paneel. Bevor sie genügend Zeit hatte, sich zu integrieren, zog Scholisch sie aus der Wand und verschwand murrend damit in einem Nebenraum.

»Verzeihung«, sagte Colonel Hatherence scharf zu einem Dweller, der in dem allgemeinen Gedränge, das durch den ganzen Raum ging, um dem Harnischteil freie Bahn zu schaffen, gegen sie gestoßen war.

»Gewährt!«, sagte der Dweller und setzte sein Gespräch mit einem von Y’suls Verwandten fort.

Y’sul schickte sich an, Hauskip zu verlassen und mit seinen Schützlingen, fassin und der Oerileithe, in den Krieg zu ziehen. Seine neue Kampftracht war erst heute Morgen (mit kudosvermehrender Schnelligkeit!) geliefert worden, und mit ihr waren allerlei Geschenke von Freunden und Verwandten eingetroffen. Die meisten der edlen Spender hatten es offenbar für ihre Pflicht gehalten, ihre überwiegend nutzlosen oder sogar gefährlichen Gaben persönlich zu überreichen und dabei Unmengen von widersprüchlichen, aber dafür umso lauteren Ratschlägen von sich zu geben.

Y’sul war sehr aufgeregt und fand es schmeichelhaft, dass man ihm so viel Beachtung schenkte. Er hatte alle Besucher zu einem kleinen Imbiss in seine Garderobe gebeten und war nun dabei, seine neuen Kleider anzuprobieren und sich zu vergewissern, dass ihm der antike Panzer, ein Familienerbstück, noch einigermaßen passte und sich mit all dem Krimskrams kombinieren ließ, den er dazubekommen hatte. Fassin zählte mehr als dreißig Dweller in diesem Raum, einem der größten in dem radförmigen Haus. Es gab ein Sprichwort, wonach ein Dweller die Vorstufe zu einem Streit war, zwei eine Verschwörung und drei ein Aufruhr. Was eine Versammlung von mehr als dreißig Exemplaren darstellen sollte, wusste er nicht genau, aber mit taktvoller Zurückhaltung hatte es sicher nichts zu tun. Der Lärm hallte von den gewölbten Wänden wider. Die Kleidung tat alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Über alle freiliegenden Körperteile flimmerten ausdrucksstarke Muster wie abstrakte Videoinstallationen. Magnetwellen plätscherten durch den Raum, Infraschall wurde Verwirrung stiftend von Wand zu Wand reflektiert, und eine berauschende Mischung von Pheromonen erzeugte überall wilde Ausbrüche von Dweller-Heiterkeit.

Gibt es noch andere Führer/Beschützer, die wir anwerben könnten?, fragte Hatherence und presste sich unterhalb von Fassin an die Wand, als sich ein weiterer mit Geschenken beladener Dweller durch die Menge auf Y’sul zuschob.

Eigentlich nicht, antwortete Fassin. – Als Y’sul sich damals als Mentor für Onkel Slovius zur Verfügung stellte, musste er in der Gilde der Beschützer/Mentoren beträchtliche Kudos-Einbußen hinnehmen, weil er sich mit einem Fremdweltler, noch dazu einem Alien einließ. Irgendwann hat er die Verluste wieder wettgemacht, aber es war eine mutige Entscheidung, zu der nicht viele bereit wären. Jemand Neuen zu suchen und wieder von vorne anzufangen, würde Jahre dauern, selbst wenn Y’sul damit einverstanden wäre.

Ein kleines, rundes, rosarotes Ding prallte gegen den Schutzanzug des Colonel und blieb daran kleben. Sie streifte es ab. – Was ist das denn?, fragte sie ärgerlich.

– Nur ein Ausdruck von Gastfreundschaft, sendete Fassin resigniert.

Bobfrüchte, wergbälle, Gummilüster-Sträucher und schwankende Windtabletts mit Süßigkeiten, Stimmungsballons, Narkocremes und Partyzäpfchen schwebten oder tanzten durch den Raum. Die Gäste bedienten sich ungeniert und aßen, schluckten, schnieften, massierten oder führten ein, was das Zeug hielt. Der Lärm schwoll von Minute zu Minute weiter an, die Kollisionen wurden häufiger – immer ein sicheres Zeichen dafür, dass Dweller die Kontrolle verloren. (Viele laute Schläge, hastiges ›Verzeihung!‹, unerwartetes Abkippen und Ausbrüche von besonders grölendem Gelächter beseitigten auch die letzten Zweifel daran, dass viele der Anwesenden ihren Auftrieb nicht mehr im Griff hatten).

Du meine Güte, sagte Fassin. – Das scheint zu einer Party zu entgleisen.

– Sind diese Leute etwa berauscht?, fragte Hatherence. Es klang aufrichtig schockiert.

Fassin wandte sich ihr zu und signalisierte Ungläubigkeit. – Colonel, sagte er. – Sie sind selten in einem anderen Zustand.

In Y’suls Nähe war ein Knall zu hören und jemand schrie auf. Mitten im Gas war eine Bobfrucht zerplatzt und sank nun langsam zu Boden. Die Umstehenden wischten sich das schaumige Fruchtfleisch von der Kleidung.

»Hoppla!«, sagte Y’sul unter allgemeinem Gelächter.

Er kann nicht der einzige Führer sein!, protestierte der Colonel. – Was ist mit den anderen Sehern? Sie haben doch sicher auch einen Führer?

– Schon, aber es ist eine sehr persönliche, exklusive Beziehung. Seinen Beschützer/Mentor zu entlassen, wäre eine schwere Beleidigung. alle würden an Kudos verlieren.

– Major Taak, wir können uns keine Sentimentalitäten leisten! Wenn es auch nur eine kleine Möglichkeit gibt, einen besseren, nicht ganz so schwachsinnigen Führer zu finden, sollten wir zumindest zu suchen anfangen.

– Alle Beschützer/Mentoren gehören einer Gilde an, Colonel. Das ist wie in einer Gewerkschaft. Wenn Sie einen davon entlassen, sind Sie für alle anderen gestorben. Natürlich könnten Sie irgendeinen Clown finden, der sich als Führer, Mentor, Beschützer oder sonst etwas anbietet – wahrscheinlich würden sie sogar Schlange stehen – aber das wären sehr junge und dumme oder sehr alte und … äh … exzentrische Dweller, die Sie eher in Schwierigkeiten brächten als Ihnen aus solchen herauszuhelfen. Außerdem würde die Gilde der Beschützer/Mentoren Sie von Anfang an schikanieren, und die große Mehrheit der anderen Dweller würde kein Wort mit Ihnen reden. Besonders die Bibliothekare, Archivare, Antiquare, Exo-Spezialisten – kurzum, all die Leute, auf die wir am dringendsten angewiesen sind – würden Ihnen nicht einmal Guten Tag sagen.

Sie machten Platz für Y’suls Diener Scholisch, der mit einem zweiteiligen, auf Hochglanz polierten Spiegelharnisch aus dem Nebenraum kam. Scholisch war ein schmächtiger Halbwüchsiger, erst ein paar hundert Jahre alt, kaum zu drei Vierteln ausgewachsen. Kammerdiener, die mindestens zwei Generationsstufen jünger waren als ihre Herren, waren in der Dweller-Gesellschaft durchaus keine Seltenheit, besonders, wenn sich der ältere Dweller für einen Hobbyberuf entschieden hatte, der ein Studium und/oder eine Ausbildung voraussetzte, so dass der Diener eine faire Chance hatte, seinerseits die Anfangsgründe des betreffenden Metiers zu erlernen. Die besseren Herren betrachteten ihre Diener eher als Lehrlinge, und gelegentlich gab es auch ganz besondere Exzentriker, die ihre Untergebenen fast wie Gleichgestellte behandelten.

Y’sul hatte sich gegen derart sentimentale Regungen bislang erfolgreich gewehrt.

»Das wurde ja auch Zeit, du Schleimwarze mit dem Puddinghirn!« , brüllte er Scholisch an und entriss ihm den Harnisch. »Du musstest den Panzer wohl erst schmieden oder weben? Oder hast du dein Spiegelbild bewundert und alles andere darüber vergessen?«

Scholisch murmelte eine Entschuldigung und verzog sich.

Ich weigere mich zu glauben, dass wir so machtlos sind, wie Sie unterstellen, Major, erklärte der Colonel.

Fassin sah die Oerileithe an. – Wir sind hier nur geduldet, Colonel. Es kommt vor, dass die Dweller plötzlich ohne erkennbaren Grund von einer ganzen Seher-Spezies genug haben. Niemand konnte bisher hinter solchen Reaktionen ein System erkennen. Man stellt nur plötzlich fest, dass man nicht mehr willkommen ist und das auch für alle Artgenossen gilt. Solange die Dweller noch dabei sind, eine eben erst zivilisierte Spezies kennen zu lernen, passiert so etwas gewöhnlich nicht, aber auch darauf kann man sich nicht verlassen. Auf jeden Fall kann sich der Einzelne ihre Gunst verscherzen – das habe ich selbst schon erlebt – und auch dafür gibt es meist keine Erklärung. Jedes Mal, wenn ich hierher komme, muss ich darauf gefasst sein, dass man diesmal für alle Zeiten nichts mehr mit mir zu tun haben will, obwohl bei meinem letzten Besuch noch alle Welt freundlich und hilfsbereit war. (Der Colonel lachte spöttisch.) Womöglich gibt man mir einen Tag Zeit, um zu verschwinden, bevor man Jagd auf mich macht. Jeder Trip – ob virtuell oder nicht – kann so enden. Als Seher muss man sich daran gewöhnen. Die Dweller brauchen einen gar nicht persönlich zu kennen; es ist schon vorgekommen, dass Seherkandidaten, die Jahrzehnte lang ausgebildet wurden und Jahrtausende alten, hoch geachteten Seher-Septen angehörten, gleich bei ihrem allerersten Trip zu hören bekamen, sie könnten sich die Mühe sparen, sie bräuchten nicht wiederzukommen. Dass man Sie so ohne weiteres akzeptiert, ist ein kleines Wunder. Und vergessen Sie nicht, y’sul hat sich offiziell für Sie verbürgt. Nur deshalb werden Sie nicht ständig wegen unbefugten Eindringens zur Rechenschaft gezogen.

– Das soll wohl heißen, wir werden diesen Komiker nicht los.

– So ist es. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber er ist noch einer von den Besseren.

– Dann helfe uns der Kern. Warum verschwenden wir unsere Zeit? Ich werde sofort meinen posthumen Orden beantragen.

Die Freiwillige Gilde der Beschützer/Mentoren hatte die Aufgabe, jene Dweller zu betreuen, die von anderen Bändern des gleichen Planeten oder, seltener, von einem anderen Gasplaneten gewöhnlich innerhalb desselben Systems zu Besuch kamen. Dweller reisten zwar – fast immer allein – auch von einem Sternensystem zu einem anderen, aber das geschah nicht oft und bedeutete gewöhnlich, dass das betreffende Individuum wegen eines besonders abscheulichen Verbrechens oder eines unverzeihlichen Charakterfehlers von seinem eigenen Gasriesen verstoßen worden war.

Seit der Zweiten Diaspora-Epoche, als die Galaxis etwa halb so alt war wie jetzt, hatten die Dweller fast ganz aufgehört, in Scharen durch den Weltraum zu ziehen. Diese sieben Milliarden Jahre fehlender Praxis wurden im Allgemeinen als Erklärung dafür herangezogen, dass die Raumschiffe der Dweller in Technik und Ausführung eine einzige Katastrophe waren. Fassin war freilich nicht sicher, ob man dabei nicht Ursache und Wirkung verwechselte.

Sie sollten am folgenden Tag in die Kriegszone aufbrechen. Seit der frustrierenden Audienz beim Administrator der Stadt hatten sie sich damit beschäftigt, dweller-Journalisten und ihre Nachrichtendrohnen abzuwehren und möglichst viel über das Geschehen im übrigen System herauszufinden. Irgendwann hatten sie notgedrungen Zuflucht zu Kompromissen und Tauschgeschäften genommen. Ein Journalist bekam von Fassin ein sehr vorsichtiges Exklusivinterview (mehr als vorsichtig – Colonel Hatherence hustete laut bei jeder Frage, die auch nur entfernt mit ihrer Mission zu tun hatte) im Austausch gegen Nachrichten von außen.

Der Mond Third Fury war vollkommen zerstört, und alle, die sich auf oder in ihm befunden hatten, waren umgekommen. Es gab keine Meldung über ein Schiff, das dem Angriff entronnen war, aber es gab auch keine Nachricht, dass Trümmer eines Schiffs gefunden worden wären. Es könnte natürlich auch in die Tiefen gestürzt sein … Viele Satelliten waren zerstört oder beschädigt worden. Die Satelliten der ›Schnellen‹ (damit war die Merkatoria gemeint) waren entweder verschwunden oder ausgefallen. Einige Kriegsschiffe der derzeit benachbarten ›Schnellen‹-Spezies hatten längere Zeit den Schutt des Mondes Third Fury untersucht. Der Mond ’glantine sah mehr oder weniger so aus wie immer. Der Verkehr innerhalb des Systems war schon seit einigen Tagen gering, aber das war nicht ungewöhnlich. Man hatte im Namen des Ocula-Colonels Hatherence mit Genehmigung des Beschützers/Mentors Y’sul von Hauskip eine Nachricht an den Mond ’glantine geschickt. Bisher war noch keine Antwort eingegangen. Der zuständigen Sendestation war im Anschluss an die Übertragung nichts zugestoßen.

Hinterher bemerkte der Journalist, sie hätten das alles mit der Zeit auch selbst herausfinden können. Man müsse nur wissen, wo man zu suchen hätte. Außerdem war er deutlich eingeschnappt. Sie hätten das bessere Geschäft gemacht, denn alles, was er ihnen erzählt habe, sei zu mindestens neunzig Prozent wahr gewesen, um sie nur ja nicht zu verärgern. In dieser Beziehung könnten die Aliens sehr komisch sein.


»Was hat dein Freund genau gesagt?«

»Er sagte, man habe ihn beauftragt … ›alle möglichen Kähne auf Gaslinienform zu trimmen …‹ Ich bin ziemlich sicher, dass dies der genaue Wortlaut war. Dann kam ihm offenbar zu Bewusstsein, dass er zu viel redete, zu viel verriet, und er wechselte das Thema. Das … Zögern, dieser plötzliche Themenwechsel gab der Bemerkung noch mehr Gewicht. Er hatte sich erinnert, dass er mit jemandem sprach, der einen großen Teil seines Lebens in Nasqueron verbracht hatte und deshalb die Bedeutung dieser Aktion ganz anders einschätzen würde als er.«

»Das wurde in welcher Sprache …«

»Humanisiertes G-Klar, nahe verwandt mit dem, was wir gerade sprechen. Die Wortbedeutungen sind ziemlich identisch, nur die Aussprache wurde an die menschliche Stimme angepasst.«

»Keine Anglisch-Worte dazwischen?«

»Keine.«

»Er sagte also ›auf Gaslinienform‹ nicht ›auf Stromlinienform‹ oder ›auf Luftlinienform‹?«

»›Auf Luftlinienform‹ würde man nicht sagen, soviel ich weiß. Normal wäre ›auf Stromlinienform‹. Er hat jedoch ganz automatisch ›auf Gaslinienform‹ gewählt, weil es der technisch richtigere und der präzisere Ausdruck ist. In diesem Kontext bedeutet ›gastauglich‹, ein vakuumtaugliches Schiff so umzubauen, dass es auch in einer Atmosphäre wie der von Nasqueron manövrieren kann.«

»Und daraus entnimmst du, dass eine Invasion oder ein größerer Überfall bevorsteht?«

»Ich halte einen Angriff für durchaus möglich.«

»Scheint mir ein dünner Faden, um eine so gewichtige Befürchtung daran aufzuhängen.«

»Ich weiß. Aber versteh mich doch, die Firma dieses Burschen baut und überholt drei Viertel der Kriegsschiffe in diesem System. ›Auf Gaslinienform trimmen‹ ist ein Fachausdruck, und das plötzliche Umschwenken, als er merkte, dass er mit jemandem redete, der sentimentale oder emotionale Bindungen an Nasqueron und Sympathien für die Dweller haben könnte, ist signifikant. Ich kenne diesen Mann, ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Ich weiß, wie er tickt.«

»Ein Überfall auf einen Gasriesen wäre dennoch eine folgenschwere Aktion. Die Merkatoria hat so etwas in siebentausend Jahren nicht versucht.«

»Das System ist in einer verzweifelten Lage. Noch in diesem Jahr droht eine Invasion. Ich meine ein Standardjahr, nicht eines von den euren. Hilfe ist mindestens ein weiteres Standardjahr entfernt. Die Invasion könnte sogar schon begonnen haben. Die Angriffe auf Third Fury und die anderen Standorte der Merkatoria um Nasq könnten damit zusammenhängen.«

»Und was versprechen sie sich davon, wenn sie in unseren Planeten eindringen?«

»Sie glauben, hier etwas finden zu können, was ihnen hilft, das Blatt zu wenden. Eine Information. Deshalb bin ich hier. Um danach zu suchen. aber wenn mich die Merkatoria für tot hielte oder mir den Erfolg nicht zutraute, könnte sie direkt eingreifen. Und die Invasoren, die ihr solches Kopfzerbrechen machen, könnten genauso denken und hätten noch weniger Grund zu zögern. Ich habe den Eindruck, die Fortsetzung der Dweller-Forschung steht auf ihrer Prioritätenliste ziemlich weit unten.«

»Fassin, was für eine Information könnte ein solches Vorgehen rechtfertigen?«

»Eine wichtige Information.«

»Genauer?«

»Eine sehr wichtige Information.«

»Mehr willst du mir nicht sagen.«

»Ich will nicht, und ich kann nicht. Je weniger du weißt, desto besser.«

»Nun rede schon.«

»Wenn ich der Meinung wäre, dich mit Einzelheiten überzeugen zu können, würde ich dich ja einweihen«, log Fassin.

Er sprach mit einem Dweller namens Setstyin. Setstyin bezeichnete sich gerne als ›Einflusshändler‹, ein sehr schlichter Ausdruck für jemanden, der über Verbindungen in die höchsten Kreise verfügte. Die Dweller-Gesellschaft war von der Sozialhierarchie her auffallend flach – flach wie die Oberfläche eines Neutronensterns verglichen mit den schroffen Höhen der ungeheuerlich barocken Merkatoria-Rangordnung –, aber insoweit es in dieser Gesellschaft ein Oben und ein Unten gab, war der Suhrl Setstyin mit beiden in Kontakt.

Er organisierte Feste und arbeitete in Teilzeit als Sozialarbeiter, machte Krankenbesuche und war ein Freund aller Mächtigen und aller Guten, soweit diese beiden Kategorien bei den Dwellern von Bedeutung waren; er war kontaktfreudig, vereinstauglich und interessierte sich aufrichtig für seine Mitwesen, sogar noch mehr als für sein Kudos (ein sehr ungewöhnlich, sogar befremdlicher und beinahe bedrohlicher Zug). Ein Mensch hätte ihn irgendwo zwischen einem komischen Kauz und einem coolen Typen angesiedelt. Komischer Kauz deshalb, weil er sich bizarrerweise nicht für das Einzige interessierte, was nach Meinung aller anderen wirklich wichtig war: sein Kudos. Und cooler Typ aus dem gleichen Grund, denn sich nicht um Kudos zu kümmern – nicht zwanghaft daran zu denken, ihm nicht nachzujagen, wo immer es zu finden sein mochte, sich nicht ständig mit allen anderen coolen Typen messen zu müssen – das allein war schon cool. Solange es nicht den Schatten eines Verdachtes gab, dass er irgendein abgefahrenes Täuschungsmanöver abzog und nur den Gleichgültigen spielte, um damit umso mehr Kudos einzuheimsen, solange man in seinem mangelnden Interesse die ungekünstelte Sorglosigkeit des weisen Narren sah, war er kudosreich, aber in einer Weise, um die ihn seltsamerweise niemand beneidete.

(Slovius hatte Fassin einst als Erster erklärt, was es mit dem Kudos auf sich hatte. Fassin hatte zunächst gedacht, es hätte Ähnlichkeit mit Geld. Slovius hatte widersprochen. Auch das Geld habe nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher, dennoch sei Kudos in manchen Fällen fast das Gegenteil davon. Je schwerer man sich sein Kudos verdient habe, desto weniger sei es wert.)

Setstyin war auch einer der vernünftigsten, ausgeglichensten Dweller, die Fassin jemals kennen gelernt hatte. Selbst als ein schlichter Mensch ihn aus dem Bett holen ließ und verlangte, dass er sich beeilte und ans Telefon käme, hatte er auf dieses Ansinnen mit einer Würde und einem Ernst reagiert, wie sie kaum ein anderer Dweller aufgebracht hätte.

Fassin hatte sich bei Hatherence unter dem Vorwand entschuldigt, sein menschliches Gehirn und sein Körper brauchten Schlaf, und sein Pfeilschiff müsse Reparaturarbeiten ausführen und Energien aufladen, und sich in den langen Speichenraum in Y’suls Haus zurückgezogen, den man ihn zugewiesen hatte. Es war eher ein dunkler, staubiger Gang, in dem stapelweise abgelegte Kleider herumlagen. An den Wänden standen uralte Schränke, und der Fußboden war übersät mit Gemälden und zerknitterten Wandbehängen, die niemand mehr haben wollte. Allerdings waren auch eine Doppelbettgrube für Dweller und eine mit Baumschaum ausgekleidete Garderobennische vorhanden, so dass man von einem Schlafzimmer sprechen konnte. Nicht dass Fassin oder sein Gasschiff so etwas gebraucht hätten.

Fassin hatte die Tür geschlossen und mit den Akustiksinnen seines kleinen Pfeilschiffs ein abnehmbares Deckenpaneel ausfindig gemacht. Dann war er durch das Doppeldach in die windige und relativ dunkle Nacht hinausgeschwebt.

Wie alle Dweller-Städte lag Hauskip in einer der historisch ruhigen Stellen innerhalb seines Atmosphäreabschnitts, dennoch herrschte in den Städten so etwas wie Wetter. Es gab Druckunterschiede, Böen, Nebel, Regen, Schnee, Winde von allen Seiten, steigende und fallende Luftströmungen, seitlich wirkende und Drehkräfte, je nach der Beschaffenheit des Gasstroms. Durchgeschüttelt von mäßig starken Winden, halb verborgen von dickeren Gasfetzen, die durch den Schein der Nachtbeleuchtung jagten, war Fassin über die schimmernden Dächer geflogen.

Der Verkehr war nicht allzu dicht gewesen – zumeist bewegte er sich innerhalb der Stäbe und Speichen, mit denen die Hauptkomponenten der Stadt verbunden waren – aber in der Ferne rotterten ein paar Dweller, und es waren so viele kleine Schiffe – meistens Paketzulieferer – unterwegs, dass Fassin gute Chancen hatte, nicht aufzufallen.

Tief unten flackerten Blitze auf.

Fassin hatte ein zentimeterdickes Wellenleiterkabel gefunden und war ihm zu einem verlassenen öffentlichen Platz gefolgt, der wie eine riesige leere Schüssel unter der matten Straßenbeleuchtung lag. Dort hatte er eine öffentliche Bildschirmzelle gefunden.

Setstyin befand sich ebenfalls im Äquatorialband, aber auf der anderen Seite des Planeten. vielleicht hatte Fassin deshalb gehofft, er wäre um diese Zeit wach, aber Setstyin hatte am Abend zuvor eine besonders rauschende Party gegeben und schlief sich nun aus. Dweller konnten viele Tage ununterbrochen wach bleiben, aber wenn sie schliefen, nahmen sie sich dafür ausreichend Zeit. Fassin hatte Setstyins Diener geradezu beschworen, seinen Herrn zu wecken, und auch dann hatte es eine Weile gedauert, bis Setstyin an den Apparat kam. Er sah angeschlagen aus und seine Stimme klang belegt, aber irgendwo in den Tiefen seines Innern war er offenbar doch wach.

»Und was soll ich denn nun deiner Meinung nach tun?«, fragte Setstyin und kratzte sich mit einem Randärmchen die Kiemenfransen. Er trug einen leichten Schlafkragen um die Mittelnabe, das Minimum, um den Anstand zu wahren, wenn man mit jemandem telefonierte, der weder ein enger Freund, noch ein Verwandter war. Dweller stellten ganz unbefangen ihre Mundpartien und die Lustorgane an der Inneren Nabe zur Schau, aber besonders im Umgang mit einem Alien war man auf Schicklichkeit bedacht. »Mit wem soll ich reden, Fassin, und was soll ich sagen?«

Ein Windstoß schüttelte das Pfeilschiff, die Flügelräder schnurrten, um es an Ort und Stelle zu halten, während Fassin in die Kamera schaute. »Geh so weit nach oben wie möglich, und überzeuge möglichst viele Personen möglichst diskret davon, dass tatsächlich eine Gefahr besteht. Lass den Leuten Zeit zu entscheiden, wie sie sich verhalten wollen, wenn es zu einem Angriff kommt. Es könnte ratsam sein, ihn einfach geschehen zu lassen. Keinesfalls angebracht wäre es, einen unüberlegten Gegenschlag zu führen und damit irgendeinen geisteskranken ›Schnellen‹ zu provozieren, Atombomben auf eine oder mehrere Städte zu werfen, nur um euch eine Lektion zu erteilen.«

Setstyin schien verwirrt. »Und wem würde das nützen?«

»Bitte vertrau mir einfach – ›Schnellen‹-Spezies sind imstande, so etwas zu tun.«

»Du möchtest also, dass ich mit Politikern und Vertretern des Militärs rede?«

»Richtig.« Politiker und Militärs waren in der Dweller-Gesellschaft ebenso Amateure und Dilettanten wie begabte Schneider oder begeisterte Party-Geber wie Setstyin – wenn auch vielleicht nicht ganz so engagiert – aber man musste, überlegte Fassin, mit dem arbeiten, was zur Hand war.

Setstyin sah ihn nachdenklich an. »Sie werden einer Invasion nicht tatenlos zusehen.«

Das war vermutlich richtig, dachte Fassin. Aber eine Invasion im eigentlichen Sinn des Wortes wäre auch nicht möglich. Die Ulubis-Streitkräfte hatten keine Aussicht, ein Volumen von der Größe Nasquerons oder eines anderen Gasriesen zu besetzen, selbst wenn er von einer von Natur aus friedfertigen, unterwürfigen und leicht einzuschüchternden Spezies bewohnt wäre anstatt von, nun ja, den Dwellern. Den Planeten mitsamt den Dwellern kontrollieren zu wollen wäre ähnlich, wie in eine Sonne zu pissen. Die Gefahr bestand darin, dass die Dweller, wenn die Merkatoria einen Angriff flog, um ein bestimmtes Volumen so lange zu sichern, bis sie die gesuchte Information aufgestöbert hatte, genauso reagieren würden, als erlebten sie eine ausgewachsene Invasion. Es schien Teil der Dweller-Psychologie zu sein, dass etwas, das eine Reaktion verdiente, erst recht eine Überreaktion verdiente, und Fassin wollte sich lieber nicht ausmalen, was das für alle Beteiligten bedeuten könnte.

»Du solltest betonen, dass es sich um einen größeren Angriff und die vorübergehende Besetzung eines begrenzten Gebiets durch aggressive Patrouillen handeln könnte, aber von einer Invasion nicht die Rede ist.«

»Und wo soll das stattfinden?«, fragte Setstyin. »Oder willst du behaupten, du hättest keine Ahnung?«

»Wir haben Anweisung, in oder ganz in der Nähe der neuen Formalkriegszone zu suchen.«

Setstyin ließ die Nabenarme fallen. Die Geste hatte etwa die gleiche Bedeutung, als wenn ein Mensch die Augen verdrehte. »Natürlich, wo sonst?«

»Ich nehme an, es ist völlig ausgeschlossen, dass der Krieg abgesagt oder verschoben wird?«

»Nichts ist unmöglich, aber dazu reicht es nicht, dass ein einfaches Partytier wie ich ein paar Worte in ein hochgestelltes Ohr flüstert. Denk nach: es besteht die Aussicht, dass es zu echten feindseligen Aktionen gegen uns kommt, zu einem Alien-Angriff in Nasquerons Winden, und du willst, dass wir einen Formalkrieg absagen? Da zetteln wir schon eher noch ein paar Kriege an, um zu zeigen, wie gefährlich wir sind, und um ein wenig in Übung zu kommen.«

»War ja nur eine Frage.«

»Wann brichst du in die Kriegszone auf?«

»Morgen früh, Ortszeit Hauskip.«

»Aha. Früh genug für die Eröffnungszeremonie.«

»Vielleicht habe ich andere Dinge im Kopf.«

»Hmmm. Wenn ich höheren Orts ein Wort über deine Warnung verliere, könnte das durchaus zur Folge haben, dass du von interessierten Parteien auf Schritt und Tritt beobachtet wirst, das ist dir doch klar?«

»Und unter normalen Umständen käme das nie vor? Ja, das ist mir klar.«

»Ich wünsche dir alles Gute, Fassin Taak.«

»Danke.«

Setstyin spähte auf den Kameraschirm und registrierte, wo Fassin sich befand. »Hat Y’sul kein Kudos mehr bei der Telefongesellschaft?«

»Ich habe noch einen zweiten Beschützer/Mentor in Gestalt einer Oerileithe. Sie ist Colonel bei den Streitkräften der Merkatoria und würde meine Handlungsweise vielleicht nicht verstehen. Ich habe mich davongeschlichen, um dich anzurufen.«

»Klingt sehr nach Mantel und Degen. Viel Glück bei der Suche, Fassin. Und lass wieder von dir hören.«


»Wenn du das siehst, Sal, bin ich tot. Natürlich weiß ich nicht, unter welchen Umständen ich gestorben sein werde. Ich stelle mir gern vor, dass ich tapfer und ehrenvoll im Kampf gefallen bin. Ich glaube eher nicht, dass du dir das ansiehst, weil mir friedlich im Schlaf die Holzpantinen von den Füßen gerutscht sind, denn das gedenke ich nicht zuzulassen, jedenfalls nicht, bevor etwas geschieht, das auch mit dir zu tun hat. Ein friedlicher Tod … eigentlich – hoffentlich – hieße das, dass du bereits vor mir gestorben wärst.

Die Sache, um die es geht, hat irgendwo auch mit Fass zu tun, wenn auch nicht auf die gleiche Weise. Mit dir und mir und Fass und Ilen. Die arme Ilen. Ilen Deste, Sal. Erinnerst du dich noch? Vielleicht auch nicht. Es ist alles so lange her, für alle von uns, aus verschiedenen Gründen, die letztlich alle auf das Gleiche hinauslaufen. Bei dir sind es die Behandlungen, bei Fass ist es die ›Langsam‹-Zeit und bei mir der Einsteineffekt, weil ich zu lange knapp unter Lichtgeschwindigkeit geflogen bin. Die Zeit konnte keinem von uns etwas anhaben, nicht wahr, Sal?

Wahrscheinlich hast du Ilen und was mit ihr passiert ist, aber doch nicht vergessen, denn schließlich war es für uns alle ein traumatisches Erlebnis. Wenn etwas so schrecklich und so dramatisch war, vergisst man es nicht wirklich. Wie könnte man auch? Man hat Albträume, manchmal überfällt einen die Erinnerung sogar bei Tag. Hast du das auch festgestellt? Mir geht es so. Manchmal gibt es eine gute Erklärung dafür, wenn man etwa auf dem Bildschirm jemanden sieht, der an den Fingerspitzen über einem Abgrund hängt, besonders, wenn es eine Frau ist. Auf dem Bildschirm werden die Leute natürlich meistens gerettet. Nicht immer, aber meistens. Aber manchmal kommt es auch … wie aus dem Hinterhalt. Ich mache etwas ganz Alltägliches, ohne jeden … Bezug, ohne einen … Stimulus, eine logische Verbindung, die die Erinnerungen heraufbeschwören könnte, und plötzlich bin ich wieder mit dir und Fass und Ilen in dieser riesigen alten Drecksau von einem Schiff.

Kennst du das? Mir passiert es immer noch, auch nach all den Jahren. Dabei sollte es inzwischen wirklich aufgehört haben. Verdammt, auch ohne die in der Nähe von c gestohlenen Jahre müsste es doch, du weißt schon, verdorrt, abgefallen sein. Sieh mich an; ich bin einundsechzig Jahre alt, Eigenzeit, wie man mir sagt. Fit wie eh und je, ich schlafe immer noch mit Jungs, die ein Drittel so alt sind, und – sehe ich etwa aus wie sechzig? Ich hoffe nicht. Aber meinst du nicht auch, ich müsste die ganze Geschichte inzwischen überwunden haben?

Die Zeit heilt alle Wunden und so weiter? Hat einfach nicht geklappt.

Also, geht es dir nun auch so? Klingelt es irgendwo, wenn du das hörst? Das wüsste ich wirklich gern. vielleicht finden wir es eines Tages heraus. Vielleicht kann ich dir die Frage stellen, vielleicht bekommst du das nie zu sehen, aber wir finden es irgendwann gemeinsam heraus. Vielleicht sieht sich die Aufzeichnung auch jemand anderer an. Eigentlich ist sie nicht für fremde Augen bestimmt, aber ich habe einen riskanten Beruf, und niemand weiß, was geschieht, wenn das Band fertig ist.

Jedenfalls solltest du Folgendes wissen: Ich weiß, was geschehen ist, und ich habe die Absicht, dich zu töten, Sal. Oder ich hatte sie. wie gesagt, wenn du dir das ansiehst, bin ich tot, und du lebst noch. Ich bin allerdings fest entschlossen, dich noch aus dem Grab heraus zu verfolgen, Sal, alter Junge. Mir ist klar, dass das nicht einfach ist, aber ich habe mich während meiner ganzen Karriere bemüht, eine Machtposition zu erreichen. Innerhalb der Navarchie so mächtig zu werden, dass ich bloß mit den Fingern zu schnippen brauche, und die Schlachtschiffe fahren ihre Triebwerke hoch, setzen den Kurs und starten. Ich habe Netzwerke geknüpft, mir Freunde geschaffen, verbündete gesucht, Liebhaber genommen, Prüfungen abgelegt und bin Risiken eingegangen, nur um eines Tages mächtig genug zu sein, um es mit einem Mann aufzunehmen, dem inzwischen wahrscheinlich fast das ganze System gehört. Der Portal-Zusammenbruch hätte mich fast aus der Bahn geworfen – und hat meine Pläne sehr verzögert –, aber ich schätze, wenn ich endlich nach Hause komme oder wenn das eintritt, was ich für den Fall meines Todes geplant habe, bist du immer noch am Leben und hast Spaß daran.

Natürlich kann ich dir nicht allzu viel sagen. Wie käme ich dazu, dich zu warnen? Du hast ohnehin alle Vorteile auf deiner Seite, nicht wahr? Bis auf das Überraschungsmoment vielleicht. Bist du jetzt überrascht? Wenn du dir das anhörst, wenn du mich siehst? Fragst du dich, was passieren wird? Frage dich ruhig. Frage dich, Sal, und hör nicht auf damit, hör nicht auf, dich zu fürchten, denn wenn du Angst hast, lebst du vielleicht ein wenig länger. Nicht viel. Ganz sicher nicht allzu lang, aber lange genug.

Ich denke, das reicht jetzt, meinst du nicht auch? Es ist sicher die längste Rede, die einer von uns jemals gehalten hat, auch damals, als wir noch zusammen waren, vor Urzeiten. vielleicht länger als alles, was wir jemals miteinander gesprochen haben. vielleicht nicht ganz.

Lass mich erklären, falls du es noch immer nicht kapiert hast: Ich habe die Spuren gesehen, Sal. Ich habe die drei roten Linien an deinem Hals gesehen, bevor du den Jackenkragen hochgeschlagen hast. Weißt du noch? Weißt du, wie du dich geschüttelt und ›K-Kragen‹ gesagt hast, oder so ähnlich?

Weißt du es noch? Es war nur einer von den vielen kleinen Fehlern, die man in der Situation vor lauter Angst und Aufregung nicht bemerkt, und die einem erst sehr viel später keine Ruhe mehr lassen. Auch hinterher blieb der Kragen oben, nicht wahr? Du hast die Jacke angelassen wie eine Schmusedecke, bis du ein Bad und einen Sanitätskasten gefunden hattest. Ich erinnere mich. Und als ich nach Ilen greifen wollte, sah ich ihre Fingernägel. Mit dem Blut darunter. Ich habe sie ganz deutlich gesehen. Fass nicht; er hat immer noch keine Ahnung, bis heute nicht. Aber ich habe sie gesehen. Was die Spuren an deinem Hals anging, war ich nicht ganz sicher, aber ich habe mich vergewissert. Erinnerst du dich an unseren Abschiedsfick zwei Wochen später? Das war nur zur Kontrolle. Inzwischen waren die Kratzer natürlich ziemlich verblasst, aber sie waren noch deutlich zu sehen.

Du hast sie immer begehrt, Sal, nicht wahr? Warst immer hinter der schönen Ilen her. Glaubst du, sie wollte Ja sagen, nur weil sie mit dir in das Schiff ging? Vermutlich spielt es keine Rolle. Ich weiß, was ich gesehen habe.

Und noch etwas ist komisch. Ich war am Ziel, du aber nicht. Ilen und ich. Nur einmal, aber auch das ist etwas, was ich nie vergessen werde. Oh, da wärst du sicher gern dabei gewesen, nicht wahr? Später habe ich auch mit Fass gevögelt, nur der Vollständigkeit halber. Er war übrigens viel besser als du.«

Die Gestalt in Uniform ging ganz dicht an die Kamera heran und starrte hinein. Die Stimme wurde tief und leise.

»Ich wollte dich holen, Sal. Wenn du das siehst, habe ich es nicht geschafft, nicht persönlich. Aber verdammt, ich komme und hole dich, noch aus dem Grab heraus.«

Das Bild erstarrte und verschwand. Eine Hand streckte sich aus und schaltete die Kamera ab. Sie zitterte nur leicht.

Загрузка...