Ich wurde in einem Wassermond geboren, der bisweilen, insbesondere von seinen Bewohnern, auch als Planet bezeichnet wurde. Aber bei einem Durchmesser von kaum mehr als zweihundert Kilometern halte ich den Begriff ›Mond‹ für zutreffender. Dieser Mond bestand ausschließlich aus Wasser, das heißt, er war eine Kugel nicht nur ohne Land, sondern auch ohne einen Felskern, eine Sphäre ohne festes Zentrum, nur flüssiges Wasser bis ganz ins Innere.
Wäre der Mond sehr viel größer gewesen, dann hätte er einen Eiskern gehabt, denn Wasser ist zwar angeblich nicht komprimierbar, aber das gilt nicht uneingeschränkt, und unter extremem Druck verwandelt es sich in Eis. (Das mag einem seltsam oder sogar widernatürlich erscheinen, wenn man auf einem Planeten lebt, wo das Eis auf dem Wasser schwimmt, dennoch verhält es sich so.) Dieser Mond war für die Entstehung eines Eiskerns etwas zu klein, und deshalb konnte man, wenn man die nötige Kühnheit besaß und ausreichend gegen den Druck des Wasser geschützt war, der mit zunehmender Tiefe immer höher wurde, bis ins Zentrum des Mondes vordringen.
Und dort passierte etwas Seltsames.
Denn im innersten Zentrum dieser Wasserkugel schien es keine Schwerkraft zu geben. Natürlich herrschte ein gewaltiger Druck von allen Seiten, aber im Grunde war man schwerelos. (Von der Oberfläche eines Planeten, eines Mondes oder eines anderen Himmelskörpers, ob Wasserwelt oder nicht, wird man immer zum Zentrum gezogen; ist man erst dort, dann wirken die Zugkräfte gleich stark nach allen Richtungen). Deshalb war auch der Druck von außen nicht ganz so hoch, wie man nach den Wassermassen, aus denen der Mond bestand, eigentlich erwartet hätte.
Das war natürlich.
Ich wurde in einem Wassermond geboren, der bisweilen, insbesondere von seinen Bewohnern, auch als Planet bezeichnet wurde. aber bei einem Durchmesser von kaum mehr als …
An dieser Stelle brach der Captain ab, ließ den Rest rasend schnell über den Bildschirm laufen, hielt mittendrin an, und las die Zeile: ›Und dort passierte etwas Seltsames.‹ Er scrollte weiter, hielt wieder an. ›Ich wurde in einem Wassermond geboren, der bisweilen, insbesondere‹
Geht das so weiter?, fragte er seine Nummer Drei.
Das ist anzunehmen. Genau die gleichen paar hundert Worte werden unentwegt wiederholt. Etwa zwölf-bis siebzehnmal. Mehr ist vom Datenspeicher nicht übrig. Sogar das Basisbetriebssystem und die Befehlslisten wurden überschrieben. Es handelt sich um ein Standardverfahren zur Datenlöschung, das als Destruktion durch Rekonstruktion bekannt ist.
Und es bleiben keine Spuren von dem, was vorher war?
Spuren sind vorhanden, aber die Rekonstruktion ergibt wieder nur einen kurzen, ständig wiederholten Text. Die Technikasse vermuten, dass es sich nur um die letzte von vielen iterativen Überschreibungen handelt. Von den ursprünglichen Datenspeichern aus der Zeit, bevor die Maschine erkannte, dass sie sich zerstören musste, wenn sie nicht gekapert werden wollte, ist nichts mehr vorhanden.
Soso.
Der Voehn-Captain drückte eine Taste, um ans Ende der Passage zu gelangen. Das Bild stockte kurz, dann zeigte es: Ich wurde in einem …
Das ist der allerletzte Abschnitt des Datenspeichers?
Jawohl.
Ein Ausdruck, den nur ein anderer Voehn als Lächeln erkannt hätte, glitt über das Gesicht des Captains, und seine Rückenflossen bewegten sich kurz.
Man hat alles überprüft, Nummer Drei? Es gibt keine anderen Inhalte, keine versteckten Botschaften?
Die Prüfung läuft noch. Die Speicherkapazität unseres Schiffes ist mit der Gesamtmenge der Daten überfordert, deshalb werden sie blockweise verarbeitet. Was Sie hier sehen, ist streng genommen nur eine Zusammenfassung.
Zeit bis zum Abschluss der Arbeiten?
Noch zwanzig Minuten.
Andere Medien, die imstande sein könnten, größere Informationsmengen zu speichern?
Keine. Das Konstrukt war im Wesentlichen das, was es schien: ein Kometenkörper. Der künstliche Teil war vor allem das Monstrum im Kern. Die Sensoreinheiten und der Antrieb sind davon getrennt und befinden sich kunterbunt durcheinander auf der Oberfläche. Die Technik teilt mit, dass die Untersuchung abgeschlossen wurde.
Ursprüngliche Sprache des wiederholten Texts?
Wie gesehen: Altes Standard.
Herkunft des zitierten Textes?
Unbekannt. Eine vorläufige Analyse der Technik/Soziologie geht mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzehn Prozent davon aus, dass er von den Quaup stammen könnte.
Die Quaup, die zum überwiegenden Teil der Merkatoria angeschlossen waren – der Captain hatte mit einem Quaup-Offizier auf einem Kriegsschiff gedient –, gehörten zu jener MetaSpezies, die man gewöhnlich die Blimps nannte, kleine bis mittelgroße ballonförmige Wesen, lufttaugliche Sauerstoffatmer. Der ständig wiederholte Text im Speicher der erbeuteten Maschine wurde ganz offensichtlich aus der Sicht eines unterwassertauglichen Wasserweltbewohners erzählt. Allerdings, dachte der Captain, kam es immer wieder vor, dass ein Verfasser aus der Sicht eines anderen Wesens schrieb. Er selbst hatte als Student Gedichte geschrieben, in denen er so tat, als gehörte er zur Culmina, bevor ihm klar wurde, dass er sich damit der Beleidigung der Obrigkeit schuldig machte. Nachdem er ein Geständnis abgelegt und die gerechte Strafe erhalten hatte, war ihm die Lust am Dichten gründlich vergangen.
Der einzige schwarze Fleck in der ansonsten makellosen Militärakte des Captains war eine Fördermaßnahme, die notwendig geworden war, um seinen Realisierbaren Empathie-Quotienten auf den vorgeschriebenen Stand zu bringen. Seine Schwäche in diesem Bereich ließ sich, laut einer späteren Diagnose, auf jene unbeabsichtigte Obrigkeitsbeleidigung und die spätere Disziplinierung zurückführen. Seither hatte er alle derartigen Gefühle unterdrückt. Immerhin hatte er es bis zum Captain gebracht, und in dieser Position war ein gewisses empathisches Fingerspitzengefühl unerlässlich, um die Haltung der Besatzung wie der Gegner einschätzen zu können.
Er schaute hinaus auf die zusammengeschmolzenen Überreste des erbeuteten Konstrukts. Das als Komet getarnte Schiff mit dem schwarzem Rumpf und den vielen Narben hatte ursprünglich einen Durchmesser von fast achthundert Metern gehabt, aber jetzt war fast ein Viertel herausgerissen. Es lag zwei Kilometer entfernt und strahlte nach seiner Teilzerstörung noch Restwärme ab. Ein kleiner Ring aus dunklen Splittern und Scherben umkreiste den verwüsteten Körper.
Im Schein der abgeschwächten Cr-Strahlen des eigenen Schiffs war die Szene so klar zu erkennen, wie man es sich nur wünschen konnte; kein Bildschirm, nicht einmal eine durchsichtige Rumpfwand und auch keine Atmosphäre oder ein anderes Medium trübten den Blick. Der Captain schaute vom Außensteuerstand – einem offenen Käfig aus massiven, aber elegant gedrechselten Rohren an der Außenseite seines Raumschiffs – geradewegs ins All. Auf dem Schiff befand sich keine andere Spezies, die Besatzung bestand zum Glück ausschließlich aus Voehn, und so waren auch die übrigen Bereiche zum Vakuum hin offen. Für die Dauer des Einsatzes hatten sie sich natürlich tief ins Schiffsinnere zurückgezogen, in den sicheren Kontrollraum, wo sie selbst von dicken Schilden und Rumpfschichten und ihre Sinne von Schirmen geschützt waren. Aber sobald das Wrack als ungefährlich eingestuft worden war, hatte sich der Captain mit seiner Nummer Drei und zwei seiner Lieblingsmatrosen nach draußen begeben, wo er den Blick auf den besiegten Feind besser genießen konnte.
Der Captain schaute sich um, als hoffte er, echte Kometenkerne vorbeischweben zu sehen. wenn er die Sichtblende auf eine bestimmte Stelle richtete und sie heranzoomte, konnte er gerade noch den Lichtschein aus den Triebwerken seiner beiden anderen Schiffe erkennen, die er nach Beendigung der Aktion ins innere System zurückbeordert hatte. Zwei matt blaue, stetig leuchtende Sterne. Ansonsten waren im näheren Umkreis nur sein eigenes Schiff und das zwei Kilometer entfernte Wrack zu sehen.
Ein kalter und einsamer Ort zum Sterben, dachte der Captain. Als Versteck für ein Maschinenmonstrum eine logische und vernünftige Wahl, aber sicher kein Ort, an dem ein – echtes oder scheinbares – Lebewesen, das anderswo aufgewachsen war, freiwillig seine letzten Augenblicke verbringen würde.
Er gab den Schirm an seine Nummer Drei zurück und richtete seine Primäraugen auf den Koloss. Aus der dem Offizier zugewandten Rückenvertiefung mit dem Sendekomplex und den Sekundäraugen flimmerten die folgenden Worte:
Ein Teil unserer Mission ist erfüllt. Nimm Kurs auf die Systembasis und bring AM-Sprengsätze in Stellung. Die Zündung erfolgt, sobald die Speicher des Monstrums vollends ausgewertet sind. Die Rückstände sollen die Größe von Elementarteilchen nicht überschreiten.
Verstanden.
Abtreten.
Das Schiff beschleunigte zügig, aber nicht allzu hart. Fassin hörte sein schwaches Dröhnen wie aus weiter Ferne. Ein kleines Polster unter seinem rechten Arm registrierte die Bewegungen seiner Muskeln und bewegte den Bildschirm vor oder vielmehr über ihm, als sich die Liege flach stellte und er nur noch vom Druckanzug gestützt wurde. So konnte er einen letzten Blick auf Pirrintipiti werfen, während sich das Schiff von Nasqueron entfernte und systemeinwärts auf Sepekte zuflog, den nächsten Planeten in Richtung Zentralgestirn, auf dem mehr oder weniger erdähnliche Bedingungen herrschten.
Auf dem Schirm erschien ’glantines tropische Hauptstadt als flimmerndes, mit vielen Türmen besetztes Band, ein Pinselstrich, der sich über viele dunkelgrüne Inseln in einem blassgrünen Meer hinzog. Seltsam, dachte Fassin, ich vermisse Pirri schon jetzt. Er hätte den Raumhafen dort ohnehin nicht verlassen können, aber er hatte sich darauf eingestellt, wie üblich von einem Suborb in die Untergrundbahn umzusteigen, um dann irgendwo in den Tiefen der gewaltigen Säule des Äquaturms darauf zu warten, dass ihn ein Fahrstuhl am Kabel empor zum Sathafen und in ein raumtüchtiges Schiff brachte. Direkt vom Herbsthaus ins All zu gelangen, erschien ihm irgendwie unnatürlich, ein Schnitt durch die Seele.
Ein Flug nach Sepekte dauerte je nach Planetenstand, bei der Standardbeschleunigung von einem Ge zwischen knapp fünf Tagen und mehr als einer Woche. Die Schiffe waren groß und bequem, man konnte sich frei bewegen, Restaurants und Bars besuchen, sich Filme ansehen oder in der Sporthalle trainieren, und auf den größeren Linienschiffen gab es sogar Schwimmbäder. Die Minuten der Schwerelosigkeit auf halbem Wege nützte man für komische Einlagen (und oft genug für schnelle und seltsam unbefriedigende sexuelle Abenteuer). Für die Bewohner von ’glantine war es manchmal nicht angenehm, dank der Standardschwerkraft doppelt so schwer zu sein wie zu Hause, aber auf Sepekte hatten sie in etwa das gleiche Gewicht, der Flug war also die richtige Vorbereitung.
Der Bildschirm zeigte Drücke von drei, vier und schließlich etwas über fünf Ge an. Fassin wurde in die Liege gepresst. Der Druckanzug erspürte seine Atemzüge und kontrollierte und unterstützte sie, so dass er seine Lungen ohne allzu große zusätzliche Anstrengung füllen konnte.
»Ich glaube«, sagte First Officer Dicogra, »ich gönne mir jetzt ein Nickerchen. Oder möchten Sie sich lieber unterhalten?«
»Schlafen Sie nur«, sagte Fassin. »Vielleicht lege ich mich auch ein bisschen hin.«
»Schön. die Lebensfunktionen werden ohnehin vom System überwacht. Bis später.«
»Angenehme Träume.«
Fassin beobachtete, wie ’glantine vom Schirm verschwand. Dahinter erschien nicht sofort das Dunkel des Alls mit seinen schäumenden Sternenbächen, sondern Nasquerons breites, sonnenbeschienenes Antlitz, aufgewühlt von Gaswirbeln in der Farbe einer Märchenwüste, die in gigantischen Bändern wie gegenläufige Flüssigkeitsströme um eine Kugel mit einem Durchmesser von einhundertfünfzigtausend Kilometern wanderten, einen Himmelskörper, in dem man ’glantine, Sepekte oder die Erde tausendmal versenken könnte, ohne dass es auffiele. Ein eigenes, gar nicht so kleines System innerhalb von Ulubis. Die riesige Welt war allem, was ein Mensch Heimat nennen konnte, denkbar unähnlich, dennoch war sie der Ort, an dem Fassin bereits jetzt, gelegentlich bei anderen Zeitgeschwindigkeiten, den größten Teil seines ungewöhnlichen Lebens verbracht hatte. Und so war dieser Planet trotz seiner exotischen Dimensionen, seiner starken Magnetfeld-und Strahlungsunterschiede, seiner extremen Temperaturen, seines alles zermalmenden Drucks, seiner nicht atembaren Atmosphäre und seiner unberechenbaren, exzentrischen Bewohner für ihn und seine Seherkollegen fast zur zweiten Heimat geworden.
Fassin wartete, bis auch Nasqueron schrumpfte,’glantine nur noch wie ein winziger Punkt über der riesigen, gebänderten ockergelben Oberfläche schwebte und ringsum die helleren Sterne auftauchten, dann schaltete er den Bildschirm aus und schlief.
Er erwachte. vier Stunden waren vergangen. Der Druck war immer noch so hoch wie vorher, in weiter Ferne dröhnten die Triebwerke. Er hatte ausgeschlafen, also schaltete er auf ›Langsam‹-Zeit zurück und hing seinen Gedanken nach.
Jeder Bewohner des Ulubis-Systems wusste genau, wo er sich aufgehalten hatte, als das Portal zerstört wurde. Das kam daher, dass dem Einzelnen, sobald er davon hörte, sofort klar war, dass er zumindest für die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte hier festsitzen würde. für die meisten, die überwiegende Mehrheit sogar – neunundneunzig Prozent waren Menschen – die nun das System nie mehr verlassen konnten, war das ein tiefer Einschnitt. Nun mussten sie den Rest ihres Lebens hier verbringen. Alle Träume, alle Hoffnungen, jemals den Rest der Galaxis zu sehen, würden sich nicht mehr erfüllen.
Für manche hieß es außerdem, dass ein geliebtes Wesen, das sich anderswo in der Galaxis, jenseits des verschwundenen Portals befand, für immer unerreichbar war. Die Entfernung nach Zenerre betrug zweihundertvierzehn Jahre: nicht nur das Licht brauchte mehr als zweihundert Jahre für die Strecke, das galt auch für Nachrichten und andere Signale, die von dort nach Ulubis geschickt wurden. Und selbst wenn sich die Techniker unverzüglich mit einem Portalträgerschiff auf den Weg machen sollten, mochten drei Jahrhunderte vergehen, bevor die Wurmlochverbindung wiederhergestellt würde.
Und wer konnte mit Sicherheit sagen, ob es überhaupt noch Techniker oder große Schiffe gab? Vielleicht war das Ulubis-Portal nicht das einzige Opfer gewesen, vielleicht waren gleichzeitig auch alle anderen Portale angegriffen und zerstört worden. Vielleicht existierte auch die Merkatoria nicht mehr, vielleicht gab es in der gesamten Galaxis keinen Komplex und keine Arteria und Portale mehr, und alles, was von der jüngsten großen Zivilisation übrig blieb, waren etliche tausend vereinzelte kleine Inselsysteme, zersplittert, entlegen, einsam und isoliert.
Im normalen Kommunikationsverkehr, der durch die Portale ging, hatte bis unmittelbar vor der Zerstörung nichts auf einen solchen galaxisweiten Angriff hingedeutet. allerdings war auch der erste Hinweis vor dem Anschlag auf das Ulubis-Portal erst zehn Minuten vor dem Auftauchen der größten Beyonder-Flotte gekommen, die Ulubis je gesehen hatte. Die glänzenden Schiffe waren wie aus dem Nichts erschienen, hatten sich auf die größte Streitmacht aus Schiffen und Weltraumgeschützen im ganzen System gestürzt und waren zu Hunderten ausgelöscht worden. aber sie hatten – ohne die Schiffe der Verteidiger zu beachten, solange sie ihnen nicht direkt im Weg waren – mit roher Gewalt und ohne Rücksicht auf eigene Verluste eine Abwehrfront nach der anderen durchbrochen, hatten geradewegs die Portalmündung angesteuert und schließlich mit einer Serie heftiger Antimaterie-Explosionen alles um sich herum ausgelöscht. Nur an diesen Detonationen hatte das System das Ausmaß und die Brutalität des Geschehens zu erkennen vermocht. Über allen bewohnten Welten hatte kurzzeitig ein Nova-Schwarm aufgeleuchtet, der lange Schatten warf und alles blendete, was ihm zu nahe kam. Die Reste der Beyonder-Flotte und viele ihrer Verfolger waren einfach verdampft.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als sei der Angriff gescheitert. Die letzte Verteidigungslinie hatte standgehalten und das Portal war noch da.
Doch bis zu diesem Moment war alles nur Schau gewesen. Der eigentliche Überfall begann erst, als aus der entgegengesetzten Richtung ein großes Schiff auftauchte – ein ausgehöhlter Asteroid von mehreren Millionen Tonnen, der mit mehr als neunundneunzig Prozent Lichtgeschwindigkeit flog. Im Grunde verfehlte auch dieser Angreifer sein Ziel, er schoss hundert Meter an der Portalöffnung vorbei und raste mitten hinein in einen Schwarm von Laserkampfsatelliten, die sich noch nicht einmal ihm zugewandt hatten. Sie wurden zusammen mit der Portaleinfassung, den Hilfsapparaturen und nahezu allen angeschlossenen Systemen auf der Stelle zerstört. Ein weiteres Feuerwerk aus gleißendem Licht erhellte den Himmel.
Trotzdem blieb das Portal unversehrt. Erst die relativistische Masse des geopferten Schiffs konnte es zerstören.
Portale wurden nur deshalb an Lagrange-Punkten oder in Orbits platziert, die von großen Himmelskörpern weit entfernt waren, weil sie nur in relativ flachen Raumzeitabschnitten funktionieren konnten. wurde der Gradient – etwa zu nahe am Schwerkraftfeld eines Planeten oder eines anderen großen Objekts – zu hoch, dann versagten sie den Dienst. Wurde die Raumzeit noch ein klein wenig stärker gekrümmt, dann kam es zu einer meist sehr heftigen Implosion, und sie verschwanden ganz und gar. Das heranrasende Asteroidenschiff war so massiv und flog so dicht unter Lichtgeschwindigkeit, dass es die gleiche bewegte Masse hatte wie ein Planet von der Größe Sepektes. Als sein Schwerkraftfeld so nahe und mit dieser extremen Geschwindigkeit an der Portalöffnung vorbeizog, brachen das Portal und das dazugehörige Wurmloch zusammen und schickten noch einen weiteren Unheil verkündenden Lichtblitz durch das System.
Die letzten Schiffe der ersten Angriffswelle flüchteten sofort, wurden aber zerstört oder so schwer beschädigt, dass die Selbstvernichtungssysteme den Rest erledigten.
Zwei Tage vor dem Angriff war Fassin irgendwo zwischen dem Weltraum und Sepekte gewesen. Er hatte in einem Drehrestaurant an der Spitze des Äquaturms von Borquille mit Taince Yarabokin gespeist, die nach dem Tod ihrer Mutter einen längeren Urlaub genommen hatte und sich am folgenden Tag in der Militärakademie der Generalflotte zurückmelden musste. Fassin hatte einen einmonatigen Streifzug durch einige der schäbigeren, weniger empfehlenswerten Vergnügungsviertel von ’skem, der zweiten Stadt auf Sepekte, hinter sich. Er fühlte sich erschöpft. Geradezu wie ein alter Mann.
Mit Taince war er seit dem Zwischenfall in dem Schiffswrack auch weiter in Kontakt geblieben, obwohl sie sich trotz einer wenig später gemeinsam verbrachten Nacht nie wirklich nahe gekommen waren. Saluus hatte sich im Anschluss etwas zurückgezogen, er war bald auf ein Privatcollege am anderen Ende der Galaxis gegangen und hatte dann zum Leidwesen seines Vaters Jahrzehnte lang den Playboy und Tunichtgut gespielt – wobei er sich mehr oder weniger ständig und galaxisweit so benahm, wie Fassin es nur hin und wieder und nur innerhalb des Systems tat. Nach Ulubis war er nur selten und ohne Voranmeldung zu kurzen Besuchen zurückgekehrt.
Ein Rettungs-Suborb der Sicherheitskräfte war wenige Minuten nach dem Navarchieschiff, das Taince gerufen hatte, bei dem Wrack auf ’glantines Nördlichem Ödland eingetroffen. Die Besatzung hatte das Alienschiff betreten und Ilens zerschmetterten Leichnam gefunden. Es gab eine Untersuchung. Sal wurde von den Zivilbehörden zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er das Schiffsinnere mehr verwüstet hatte, als es unbedingt notwendig gewesen wäre, um vor der äußeren Bedrohung Schutz zu suchen. taince hatte dagegen für ihren Einsatz von den Streitkräften der Navarchie zusätzliche Bonuspunkte erhalten.
Fassin heimste dank Tainces Aussage irgendeine zivile Tapferkeitsmedaille ein, konnte sich aber vor der Verleihungszeremonie drücken. Er selbst verlor nie ein Wort über das verbogene Metallteil, das Sal aus dem Wrack gestohlen hatte, aber Taince hatte das Thema beim Essen im Äquaturm zur Sprache gebracht. Sie hätte es schon damals bemerkt, aber es einfach nicht über sich gebracht, Sal das Ding wieder abzunehmen. Mochte er seine jämmerliche Trophäe behalten.
»Wahrscheinlich ist es bei den Aliens das Gegenstück zu einem Türknopf oder einem Garderobenhaken«, sagte sie wehmütig. »Aber ich wette zehn zu eins, sobald das Ding in Sals Spind oder auf seinem Schreibtisch lag, war es der Steuerknüppel des Schiffes oder der Feuerknopf des Hauptgeschützes.«
Taince beobachtete, wie der ferne Horizont und die weit nähere Oberfläche von Sepekte vor dem Restaurant vorbeiglitten. Durch die Drehung entstand der Anschein von Schwerkraft in diesem schwerkraftfreien Habitat, das an einem Ende einer vierzigtausend Kilometer langen Trosse an der Grenze zum Weltall hing. Das andere Ende war in Borquille, der Hauptstadt von Sepekte, am Boden verankert.
»Verdammt, du hast es also die ganze Zeit gewusst«, bemerkte Fassin und nickte. »Eigentlich hätte ich es mir denken können. Dir entgeht nicht viel, das war schon immer so.«
Taince war in jeder Beziehung zum Überflieger geworden. Sie war nach einer makellosen Karriere bei den Streitkräften der Navarchie für die Generalflotte auserwählt worden, eine der höchsten Institutionen der Merkatoria, in die nur sehr wenige Menschen jemals aufgenommen worden waren. Commander Taince Yarabokin sah noch sehr jung aus, sie hatte sich gut gehalten.
Das galt auch für die beiden Männer.
Sal konnte sich trotz seiner vielfältigen Ausschweifungen die allerbesten Behandlungen leisten, darunter vermutlich auch einige, die nicht unbedingt legal waren, und so hätte ihm niemand zugetraut, dass er seit Ilens Tod volle einhundertdrei Jahre durchlebt hatte. Neuerdings ging sogar das Gerücht, er gedenke sesshaft zu werden, als gehorsamer Sohn bei seinem Vater in die Lehre zu gehen und sich im Unternehmen zu engagieren.
Taince hatte jahrzehntelang knapp unter Lichtgeschwindigkeit die Schiffe der Beyonder-Rebellen verfolgt und ihre Stützpunkte angegriffen, und wer schnell kämpfte, der alterte langsam.
Fassin war doch ins Familiengeschäft eingestiegen und ›Langsamen‹-Seher geworden. Auch er hatte Jahrzehnte in gedehnter Zeit verbracht, um mit den Dwellern von Nasqueron Gespräche zu führen und ihnen ganz allmählich Informationen zu entlocken. Wie Saluus hatte er sich einige Jahre lang ausgetobt und als ›junger Wilder‹ auf ’glantine, Sepekte und darüber hinaus kein Abenteuer ausgelassen. Auf einer nicht ganz so bildungslastigen ›Bildungsreise‹ hatte er einige der bunteren Regionen der so genannten zivilisierten Galaxis erkundet und dabei Geld und Illusionen verloren, an Gewicht zugelegt und ein Quäntchen Weisheit gewonnen. Aber seine Exzesse hatten sich vermutlich in kleinerem Rahmen und auf jeden Fall in engeren zeitlichen Grenzen abgespielt als bei Sal. Er war relativ bald ernüchtert und sehr viel ruhiger wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte die Ausbildung angetreten und war Seher geworden.
Zwar hatte er immer noch gelegentlich seine wilden Phasen, aber sie waren weniger geworden und kamen in größeren Abständen, wenn auch in den Augen seines Onkels Slovius immer noch zu häufig.
Es war ihm gelungen, selbst in den jahrtausendealten heiligen Hallen der Seherschaft immer wieder für Aufruhr und Empörung zu sorgen. In den letzten fünfzehnhundert Jahren hatte man – unter Führung von Onkel Slovius – virtuelle Trips dem direkten Kontakt zunehmend vorgezogen. virtuelle oder Fern-Trips wurden von einem klinisch reinen Komplex der Seher-Fakultät auf Third Fury aus gesteuert, dem Mond, der im nahen Orbit knapp über den Randzonen von Nasquerons dunstiger Atmosphäre seine Bahn zog. Der Seher lag, streng überwacht, im Tiefschlaf, hielt durch eine Kombination von hoch auflösenden NMR-Scannern, Laserverbindungen, Kommunikationssatelliten und notfalls auch durch ferngesteuerte mechanische Drohnen, die ihm schmutzige oder gefährliche Arbeiten abnahmen, engen Kontakt mit Dweller-Horden, -Schwärmen, -Schulen und -Individuen auf dem Gasriesen und kommunizierte mit ihnen.
Fassin hatte sich als Rädelsführer einer kleinen Rebellion hervorgetan und bestand zusammen mit einer Hand voll anderer junger Seher, Männer wie Frauen, darauf, sich in ein enges pfeilspitzenförmiges Gasschiff zu zwängen, Kiemenwasser einzuatmen und sich Röhren und Ventile in jede größere Körperöffnung schieben zu lassen. Die Rebellen wollten sich selbst und ihr Schicksal diesem Schiffchen anvertrauen, das nur den Seher enthielt, Druck, Gift, Strahlung und alles andere schluckte und ihn unmittelbar in die Gasriesen-Atmosphäre brachte. Sie hofften, sich auf diese Weise leichter den Respekt und das Vertrauen der Bewohner zu erwerben, ihre Aufgabe besser zu erfüllen und mehr in Erfahrung bringen zu können.
Es hatte Todesfälle, Rückschläge, heftige Diskussionen, Verbote und Streiks gegeben. Doch mit der Zeit hatten sich die Jüngeren durchgesetzt, vor allem deshalb, weil ihre Rohdaten umfangreicher und ihre Ergebnisse unbestreitbar besser waren. (Unbestreitbar besser insofern, als sie allem Bisherigen deutlich überlegen waren, aber nicht so viel besser, dass die alte Garde nicht hätte behaupten können, so weit wäre man auch gekommen, wenn man in den eingefahrenen Gleisen weitergemacht hätte, eine Einstellung, die wahrscheinlich überhaupt erst den Anstoß zu dieser längst überfälligen Verbesserung gegeben hatte). Trips auf die harte Tour, reale Trips, bei denen man sich bildlich gesprochen die Hände schmutzig machte, waren inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Sie waren auf jeden Fall aufregender und risikoreicher, aber für den betreffenden Seher auch sehr viel lohnender und mit mehr Spaß verbunden sowie beobachterfreundlicher für alle Interessenten der Zusammenschnitte zeitverzögerten Materials, welche die fortschrittlicheren Seher-Häuser seit etwa einem halben Jahrtausend an die Unterhaltungsmedien lieferten.
»Du hast so etwas wie einen Sport daraus gemacht«, hatte Slovius eines Tages traurig bemerkt, als er mit Fassin in einem Staubboot auf der Erzsee von ’glantine beim Fischen war. »Früher war es eine eher geistige Tätigkeit.«
Dennoch war Slovius, zunächst ein überzeugter und eingefleischter Kritiker der ganzen Real-Trip-Bewegung, der jedoch keine Chance ausließ, die Interessen seines Sept zu fördern, zu einem Verteidiger des Konzepts geworden. Aber er hielt sich, wie es sich für jemanden in seiner Stellung ziemte, im Hintergrund und unterstützte Fassin diskret. Doch irgendwann stellte er sich mit dem ganzen Gewicht des Sept Bantrabal hinter ihn und seine Mitrevolutionäre. Das sollte sich als die erfolgreichste Einzelentscheidung seiner ganzen Amtszeit als Oberster Seher und Familienoberhaupt des Sept Bantrabal erweisen. Er und Fassin behielten Recht, ihr Sept gedieh und wurde der wohl produktivste und höchstgeachtete unter den zwölf Septen des Ulubis-Systems – und das Haus Bantrabal wurde zu einem der führenden Seherhäuser in der Galaxis.
Inzwischen war Fassin der wohl bekannteste Seher im System, besonders sein Aufenthalt beim Dimajrian-Stamm, jener Gruppierung von wilden halbwüchsigen Dwellern, mit denen er sich angefreundet hatte, um dann für ein Jahrhundert scheinbarer oder ein halbes Dutzend Jahre realer Zeit zu ihnen zu gehören, hatte ihn berühmt gemacht. Für einen Seher hatten seine besten Jahre noch nicht einmal begonnen, dennoch stand er bereits an der Spitze seines Berufsstandes. Er war vor dreihundertneunzig Jahren geboren worden, hatte nach Eigenzeit kaum fünfundvierzig Jahre gelebt und sah noch einmal zehn Jahre jünger aus.
Wenn er manchmal an den Albtraum in dem zerstörten Alien-Schiff zurückdachte und sich vergegenwärtigte, wie es Sal, Taince und ihm selbst seither ergangen war, dann schien es ihm, als stünden sie alle drei irgendwie unter magischem Schutz. Als hätte sich ein Fluch ins Gegenteil verkehrt und sie wären nun gegen alles Unheil gefeit, weil Ilen, ohne es zu wissen, auf ihre eigene strahlende Zukunft verzichtet und den Segen auf ihre Freunde verteilt hatte.
Er verabschiedete sich von Taince mit einem Kuss. Sie war auf dem Weg zum Portal und durch den Komplex zur Militärakademie am anderen Ende der Galaxis, wo sie ein Jahr lang unterrichten sollte. Fassins wollte nach Nasqueron, das derzeit auf der anderen Seite von Ulubis stand, um den Dwellern auch weiterhin möglichst viel von ihrem Wissen zu entlocken.
Taince hatte das Portal einen Tag vor seiner Zerstörung noch wohlbehalten passiert. Fassins Linienschiff war einen Tag zuvor von Sepekte gestartet. Noch während die Nachricht einging, war ihm klar, dass er seine Jugendfreundin vielleicht niemals wiedersehen würde.
Sal, der so oft unterwegs war, befand sich zum Zeitpunkt des Angriffs zu Hause bei seinem leidgeprüften Vater. In den ersten zehn Stunden war er wie erstarrt und wollte nicht glauben, was geschehen war, dann trauerte er einen Monat lang um seine verlorenen Freiheiten und versuchte, seinen Kummer in Ulubis’ Lasterhöhlen – so weit sie diesen Namen verdienten – zu ertränken, auszuräuchern oder wegzuficken. Tatsächlich gab es auf Sepekte, insbesondere in Borquille, durchaus verrufene Bars, Rauchkneipen und Bordelle – Borquille hatte mit Boogeytown ein ganzes Viertel für diese Art von Erholung und Entspannung reserviert – aber Sepekte war eben nicht der Rest der zivilisierten Galaxis, und das war das Problem. Einmal hatte Fass ihn zufällig in einer Drogenkaschemme in Boogeytown getroffen, aber Sal war schon so high gewesen, dass er seinen alten Freund nicht einmal erkannt hatte.
Irgendwann tauchte Sal aus dem Sumpf wieder auf. Er ließ sich die Haare schneiden, trennte sich von einigen Tätowierungen und vielen Bekannten, und stand in der folgenden Woche pünktlich zu Arbeitsbeginn im Büro der Firma, wo die Angestellten, völlig verschreckt von zahlreichen Fehlalarmen, immer noch hektisch durcheinander liefen und jeden Moment mit einer Invasion rechneten.
Die Fragen lauteten von Anfang an: Wieso? Warum gerade wir? Was nun? Und: Wer noch?
Waren solche Angriffe überall erfolgt?
Ulubis sollte mehr als zweihundert Jahre warten müssen, um zu erfahren, ob es Teil einer größeren Katastrophe war, oder ob der Angriff ihm allein gegolten hatte. Man war nicht abgelegener gewesen als jedes andere System am Ende eines einzelnen Wurmlochs – und deshalb um mehrere Größenordnungen weniger abgelegen als die vielen hunderttausend Raumfahrenden Rassen, die noch nicht oder noch nicht wieder angeschlossen waren – doch nun waren Ulubis, sein Hauptplanet Sepekte, seine drei größeren bewohnten Monde einschließlich ’glantines, seine tausenden von künstlichen Habitaten und die zwanzig Milliarden Seelen im gesamten System wirklich so ungeschützt und am Ende der Welt, wie sie beim ersten flüchtigen Blick auf eine galaktische Sternenkarte schon immer erschienen waren.
Die Sicherheitskräfte, die Truppen der Navarchie und die Außengeschwader von Ulubis, soweit noch vorhanden, sammelten sich und formierten sich neu. Man rief das Kriegsrecht aus und setzte einen Notstandsplan in Kraft, der den Löwenanteil der hoch entwickelten Produktionskapazitäten des Systems für den Bau von Waffen und Kriegsschiffen requirierte. So konnte Kehar Heavy Industries, das Unternehmen von Saluus’ Vater, in einer Weise wachsen und gedeihen, wie es sich sein Gründer in seinen gierigsten Träumen nicht erhofft hatte, und Saluus wandelte sich vom verschwenderischen Erben eines großen zum künftigen Besitzer eines unermesslichen Vermögens.
In der Hierarchie des Systems dachte man auf höchster Ebene darüber nach, ob Ulubis versuchen sollte, ein eigenes Wurmloch und eine Trägerflotte zu bauen, um das eine Ende nach Zenerre zu bringen. Doch abgesehen von den immensen Kosten und der Überlegung, dass man damit – immer vorausgesetzt, ein Portal würde in nicht allzu ferner Zeit die Reise in die Gegenrichtung antreten – viel Zeit und Arbeit verschwenden würde, ohne den Wiederanschluss zu beschleunigen, gab es noch ein zwingendes Gegenargument, das so lange Gültigkeit hatte, bis von Zenerre entweder kein Signal mehr käme oder die Nachricht vom völligen Zusammenbruch der Zivilgesellschaft einträfe: In der Merkatoria war es nur Technikern gestattet, wurmlöcher zu bauen und zu installieren.
Systeme und Herrscher, die es wagten, ohne ausdrückliche Genehmigung ein Wurmlochbauprogramm auch nur zu initiieren, hatten mit harten Sanktionen und Strafen zu rechnen. Und eine solche Genehmigung war im Notstandsplan der Merkatoria für Ulubis nicht vorgesehen.
Den wenigen im All geborgenen Trümmern von Beyonder-Schiffen im Umkreis des Lagrange-Punkts, an dem sich das Portal befunden hatte, ließ sich entnehmen, dass die Zerstörer des Portals jenen drei Gruppen entstammten, die Ulubis und einige der angrenzenden Raumsektoren schon seit tausenden von Jahren bedrängten. Für diese eine Aktion hatten sich die Grenzüberschreiter, die Wahrhaft Freien und die BiAllianz verbündet und waren in so großer Zahl aufgetreten wie nie zuvor. Unruhig, nervös und voller Angst vor dem, was eine Beyonder-Invasion bringen könnte, fielen die Bewohner des Systems in ein Entwicklungsstadium zurück, das eher dem der r-Menschen der Erde vor deren voller Integration in die galaktische Gemeinschaft glich.
Es war eine Binsenweisheit, dass alle Zivilisationen im Grunde so lange neurotisch waren, bis sie die Verbindung zu anderen Mitlebewesen hergestellt und ihren Platz innerhalb der in ständigem Wandel befindlichen Metazivilisation gefunden hatten. Solange die Sologesellschaften aufrichtig daran glaubten, allein im Universum zu sein, neigten sie dazu, ihre eigene Bedeutung zu überschätzen, und wurden zugleich angesichts der schieren Größe und vermeintlichen Leere des Alls von existenziellen Ängsten beherrscht. Doch obwohl die Kultur des Ulubis-Systems wusste, dass der Rest der galaktischen Gemeinschaft – selbst im schlimmsten Fall zumindest in irgendeiner Form – existierte, glitt sie unmerklich in jenen früheren Zustand vor der Aufnahme in diesen Verbund zurück.
Weil man sich durch das Kriegsrecht neuen und ärgerlichen, aber auch seltsam erregenden Einschränkungen unterworfen sah und alle Hände voll zu tun hatte, um mit der plötzlichen Isolation und der jetzt so deutlich spürbaren Verwundbarkeit zu Rande zu kommen, lebte man eher in den Tag hinein und raffte, nur für den Fall, dass es kein Morgen mehr gäbe, alles an Freuden und Genüssen zusammen, was man erhaschen konnte. Es kam nicht zu einem gesellschaftlichen Zusammenbruch, auch nicht zu größeren Unruhen oder Aufständen, aber es gab durchaus Proteste, die radikal niedergeschlagen wurden, und, wie die Regierung später – sehr viel später – eingestand, es wurden Fehler gemacht. Aber das System hielt zusammen und zerfiel nicht, und später sollte so mancher nicht ohne Nostalgie auf diese stürmische Epoche zurückblicken. Es war eine hektische, aber sehr lebendige Zeit, man fand den Anschluss an das Leben wieder, nachdem man von allem anderen getrennt worden war, und so erlebte das Ulubis-Separat, wie es nach und nach genannt wurde, eine innere Erneuerung, die für manchen Beobachter verdächtige Ähnlichkeit mit einer kulturellen Renaissance hatte.
Fassin bekam von der ganzen Aufregung nur wenig mit. Er nützte jede sich bietende Gelegenheit zu einem Trip, als hätte er Angst, in Zukunft keine Möglichkeit mehr dazu zu bekommen. Auch wenn er wieder in die Realzeit zurückkehrte, hielt er sich fern von den Exzessen, in die sich das System in seiner Mischung aus Angst und nervöser Unruhe stürzte. Anstatt sich nach Sepekte oder in eines der Ring-Habitate zu begeben, verkroch er sich lieber auf ’glantine und lebte dort im Schoß des Sept in einer der fünf Jahreszeitenresidenzen und nicht in Pirrintipiti oder einer der anderen Großstädte des Planetenmonds. Wenn er gelegentlich doch einmal nach Pirri reiste oder seinen Urlaub außerhalb von ’glantine verbrachte, spürte er die neuerdings so überhitzte Atmosphäre besonders deutlich.
Meistens freilich war er in einem zerbrechlichen kleinen Gasschiff in Nasqueron mit den Dwellern unterwegs, gelegentlich sogar bei normaler Lebensgeschwindigkeit. Mit den Jüngeren ritt er auf den Gasen und ließ sich von gasriesenumspannenden, planetenverschlingenden Superwinden und Hyperwirbelstürmen durchschütteln. Manchmal schwebte er auch – das war weit weniger spannend, brachte aber häufig bessere Ergebnisse – mit einem der älteren Dweller-Gelehrten gemächlich durch ein Arbeitszimmer oder eine Bibliothek in einer der Millionen von Dweller-Städten. Die Dweller schienen als einzige Bewohner des Systems das Portal überhaupt nicht zu vermissen. Einige der Höflicheren (sie waren selten) brachten mit Floskeln wie ›schade-aber-nicht-zu-ändern‹ ihr Bedauern zum Ausdruck, als kondolierten sie einem flüchtigen Bekannten zum friedlichen Tod eines alten Onkels, aber das war auch schon alles.
Wahrscheinlich war es töricht, dachte Fassin, von einer Rasse, die so uralt war, wie die Dweller es von sich behaupteten, etwas anderes zu erwarten. Angeblich hatten ihre Vorfahren lange, bevor sich der Planetennebel, aus dem Erde, Jupiter und die Sonne entstehen sollten, aus den Trümmern noch älterer Sternengenerationen gebildet hatte, die Galaxis bei wenigen Prozent Lichtgeschwindigkeit mehrfach durchreist. Seither behaupteten sie, sich eingeengt zu fühlen, nicht etwa durch jene absolute Grenze jeder konventionellen Reisegeschwindigkeit, sondern durch die bescheidenen Ausmaße der Galaxis, die bei jenen unendlich weit in der Vergangenheit liegenden, in ihrer Gemächlichkeit fast trotzig anmutenden Expeditionen offenbar geworden waren.
Aus den Tagen, wochen und Monaten des Wartens und der Vorbereitung auf eine Invasion wurde ein Jahr. Die Beyonder-Anschläge nahmen nicht etwa zu, sondern gingen fast auf null zurück, so als wäre der Überfall auf das Portal nicht der logische, wenn auch mit hohen Verlusten verbundene Vorläufer eines Eroberungskrieges, sondern ein letzter, irrer Husarenritt gewesen. Die Jahre rundeten sich zum Jahrzehnt, und allmählich entspannten sich Bürger und Institutionen und wiegten sich in dem Glauben, die Invasion würde niemals kommen. Die Mehrzahl der Notstandsmaßnahmen wurde aufgehoben, doch die Streitkräfte blieben zahlenmäßig stark und in Alarmbereitschaft und suchten mit Sensoren und Patrouillen die Raumsektoren im näheren Umkreis von Ulubis nach einer Bedrohung ab, aber sie schien verschwunden zu sein.
Nach allen Seiten erstreckte sich ein ödes, intergalaktisches Nichts. Der Weltraum war nahezu leer bis auf ein paar uralte, ausgebrannte Sonnen ohne Planeten oder mit Systemen ohne Leben, etliche Staub-und Gaswolken, braune Zwerge, Neutronensterne und anderen Weltraumschutt. Einiges davon, oder auch der Raum dazwischen, wäre theoretisch als Lebensraum für ›langsame‹ Exoten, Cincturier oder Enigmatiker geeignet gewesen, aber dort lebten offensichtlich keinerlei Spezies, die das Schicksal oder die Sorgen der Bewohner von Ulubis auch nur verstanden, geschweige denn Anteil daran genommen hätten. Es gab keine Verbündeten, niemanden, der Hilfe oder Beistand hätte leisten können, und schon gar keine Portalverbindungen.
Weiter draußen am galaktischen Arm war Zenerre fast parallel zum ausgefransten galaktischen Rand auf dem Weg in die dichter werdenden Massen aus Gas, Nebeln und Sternen. weiter nach innen, zwischen Ulubis und dem galaktischen Zentrum, breitete sich der Separat-Cluster Epiphanie Fünf aus, der aus einer Unmenge von einzelnen Separaten bestand, Millionen von Sternen, über Kubiklichtjahrhunderte verteilt. Dort wurden immer noch Welten vermutet, die bis vor siebentausend Jahren Teil der zivilisierten, durch ein Netz von Wurmlöchern verbundenen galaktischen Gemeinschaft gewesen waren, bevor der Arterie-Zusammenbruch den Krieg der Neuen ›Schnellen‹ einleitete und alles in ein heilloses Chaos stürzte.
Zwei Jahrhunderte, ein Jahrzehnt, vier Jahre und zwanzig Tage nach dem Angriff auf das Portal, also genau zum errechneten Zeitpunkt, traf das erste Signal von Zenerre ein, gleichsam die Wellenfront, der ein ständiger Strom von Informationen aus dem Rest der vernetzten Galaxis folgen sollte. Dort, so teilte man Ulubis mit, gehe das Leben weiter wie bisher. Beim Anschlag auf sein Portal habe es sich um eine Einzelaktion gehandelt, im Grunde sei mit der Merkatoria alles in Ordnung. Anschläge und Übergriffe von verschiedenen Beyonder-Gruppen fänden überall in der zivilisierten Galaxis auch weiterhin statt, ebenso wie Operationen gegen die Rebellen, aber alles halte sich auf dem Niveau, auf dem sich die Beyonder-Kriege seit Jahrtausenden bewegten. Im Grunde nicht mehr als eine Dauerbelästigung, aus taktischer Sicht störend und leider auch kostspielig, aber strategisch bedeutungslos, ein allgegenwärtiges Hintergrundrauschen von Mikrogewalttätigkeiten, das die Menschen inzwischen als ›das Brummen‹ bezeichneten.
Im Ulubis-System löste die Nachricht Erleichterung und Verwirrung aus, und man hatte das unbestimmte Gefühl, Opfer einer Schikane geworden zu sein. Weniger als ein Jahr nach der Katastrophe trat das Technikschiff Est-taun Zhiffir die Reise von Zenerre nach Ulubis an. Die Reisedauer wurde anfänglich auf 307 Jahre angesetzt und später, als das T-Schiff seine Geschwindigkeit steigerte und sich der Lichtgeschwindigkeit weiter annäherte, stufenweise reduziert, bis sich die Schätzung auf 269 Jahre einpendelte. Die Techniker an Bord regulierten die Systeme so, dass das mitgeführte Portal vor den Auswirkungen seiner eigenen und der relativistischen Schiffsmasse geschützt war. Die Bewohner des Ulubis-Systems wurden ruhiger, auch die letzten Reste des Kriegsrechts verschwanden aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die vielen nach der Portalzerstörung Geborenen malten sich aus, wie es sein könnte, eine Verbindung zur übrigen Galaxis zu haben, jener halb mythischen Metazivilisation, von der sie so viel gehört hatten.
Der Augenblick der Drehung war gekommen. Fassin spürte undeutlich, wie der Druck auf Brust, muskulatur und Gliedmaßen im Lauf von wenigen Sekunden wich. Sein Körper reagierte auf die Veränderung, indem er sich schlagartig aufblähte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er hielt die Augen geschlossen. Gleich darauf spürte er eine sanfte Kraft, einen gelinden Druck irgendwo unterhalb seines Kopfs, dann war er wieder schwerelos, und Augenblicke später folgte ein Ziehen irgendwo unterhalb seiner Füße. Das Gewicht kehrte zurück, der Druck baute sich rasch wieder auf, bis das Rauschen in seinem Kopf nachließ und er wieder nur das ferne Grollen des Schiffs hörte.
Der Archimandrit Lusiferus stand vor den Trümmern der Stadt. Er bückte sich, wühlte mit behandschuhten Fingern im weichen Boden, scharrte eine Hand voll Erde zusammen und hielt sie sich vor die Augen. Er starrte die Krumen eine Weile an, führte sie an die Nase und beroch sie, endlich ließ er sie fallen, klopfte sich die Handschuhe ab und schaute hinab in den riesigen Krater, wo einst ein großer Teil der Stadt gestanden hatte.
Noch war der Krater nicht voll gelaufen. Aus dem Mündungsdelta dahinter wälzte sich schäumendes, bräunlich weißes Meerwasser träge über die Kante. Danach verschwand der Wasserfall in einer riesigen Wolkenbank. wo die Fluten auf das Gestein trafen, verdampften sie zischend und fauchend, die große Felsschale kühlte nur langsam ab. Eine dicke Dampfsäule von mehr als drei Kilometern im Durchmesser stieg in den ruhigen pastellfarbenen Himmel, wogte durch die dünnen Wolkenschleier und wurde von den mittleren Atmosphäreschichten platt gedrückt.
Es war eine Marotte des Archimandriten. So oft er einem Planeten, der die notwendigen Voraussetzungen erfüllte, eine schmerzhafte Lektion erteilen musste, wählte er eine Stadt am Meer, ob sie sich ihm nun selbst widersetzt hatte oder nur stellvertretend für den Widerstand anderer Gruppen die Strafe erdulden musste, und gestaltete sie nach dem Vorbild seines geliebten Junch City auf Leseum9IV um. Ein Volk, das Widerstand leistete, sei es während der Eroberung oder unter seiner Besatzung, musste natürlich bestraft werden, doch zugleich dienten die Opfer einem höheren Zweck, denn mit ihrem Tod, mit der Zerstörung großer Teile ihrer Stadt wirkten sie – ahnungslos und ohne es zu wollen – an der Entstehung eines wahren Kunstwerks mit. Lag da unten am Fuß dieses Berges nicht eine neue Faraby-Bucht? War der Spalt, durch den die Wasser donnerten und die Erde erschütterten, nicht eine zweite Force-Schlucht? War dieser mächtige Dampfturm, der zuerst senkrecht nach oben stieg und sich dann bis zum Horizont ausbreitete, nicht ein Markenzeichen, sein ganz persönliches Siegel?
Natürlich war die Bucht zu rund geraten, und der Spalt war nicht mehr als ein Riss in einer bescheidenen Kraterwand, die hauptsächlich aus Mündungsschlamm bestand.Ästhetisch betrachtet blieb er hinter den mächtigen, Kilometer hohen Klippen der echten Force-Schlucht weit zurück. tatsächlich fehlte diesem neuen Junch City der Rahmen, der dramatische Gebirgsring, der die echte Stadt umgab. Der kleine Hügel in der Parklandschaft, auf dem er stand – seine Admiräle, Generäle und Leibwächter warteten gehorsam hinter ihm und störten ihn nicht in seinen Überlegungen –, war nur ein kläglicher Ersatz für die schroffe Klippe der Felsenzitadelle und die grandiose Aussicht aus seinem Arbeitszimmer.
Aber ein Künstler musste mit dem Material arbeiten, das eben zur Hand war. Wo einst nur eine geschäftige Meeresstadt wie viele andere am Strand geklebt hatte, hügelig, strukturlos um einen Nebenfluss herumgewuchert, mit den üblichen, von Hochhäusern, Hafenanlagen, Wellenbrechern und Ankerplätzen geprägten Randbezirken – mit anderen Worten kaum verändert durch so genannte Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünste, Beschuss von See oder aus der Luft oder frühere Invasionen –, da war nun das Bild eines fernen und lieblichen Ortes entstanden. Diese Landschaft mit ihrer wilden Schönheit war der richtige Rahmen für eine neue Stadt nach dem Bild seiner Herrschaft. Sie stellte – ja – so etwas wie eine heilende Verbindung zu jenen andern Völkern und Orten her, die sich seinem Willen unterworfen hatten, eine Verbindung im Leiden wie im Erscheinungsbild. Denn dieser majestätische Krater, sein jüngstes Werk, war nur seine letzte Schöpfung, ein weiterer Edelstein an einer Kette, die zurückreichte bis nach Junch City, jenem Urbild von Anmut und Schönheit.
Erobern und zerstören konnte jeder, der fest an sich glaubte, der ausreichend skrupellos war und (Lusiferus hielt dieses Eingeständnis für ein Zeichen von Bescheidenheit) das nötige Glück hatte – wenn der Wille vorhanden war und die Zeiten solche Maßnahmen erforderten. Einschätzen zu können, wie weit die Zerstörung gehen musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, zu wissen, wann man gnadenlos zu sein und wann man Nachsicht oder gar Großmut mit einer Spur Humor zu zeigen hatte, um seine Opfer zu betören und ihren Zorn zu entschärfen, das erforderte Augenmaß, Feingefühl und – ihm wollte kein anderes Wort einfallen – Kultur. Er verfügte über diese Eigenschaften. Seine Erfolge sprachen für sich. Noch einen Schritt weiter zu gehen und aus der bedauerlichen, aber unvermeidlichen Zerstörung nach dem Bild eines besseren Ortes ein Kunstwerk zu schaffen und Urbild und Abbild symbolisch zu einer Einheit zusammenzuschmieden … damit begab man sich als bloßer Krieger, als einfacher Politiker in eine andere Dimension, erhob sich in den Rang eines Schöpfers.
Um die Dampfsäule in der Mitte schlängelten sich Rauchfäden wie dünne schwarze Ranken um einen mächtigen, hellen Stamm. Der Rauch stieg von den abgestürzten Maschinen der Verteidiger auf, und da und dort hatten wohl auch die Erschütterungen der Kraterwaffe weitere Brände entfacht. Ein Teil der Kunst bei diesem Werk bestand darin, eine große Vertiefung zu schaffen, ohne ringsum alles völlig zu zerstören. (Schließlich sollte hier eine neue, eine wiedergeborene Stadt entstehen). Für so viel Präzision brauchte man hoch entwickelte Geschütze. Doch für solche Details waren seine Waffenexperten zuständig.
Der Archimandrit Lusiferus sah sich um und lächelte. Seine Stabschefs hatten sich respektvoll hinter ihm aufgereiht. Sie schienen sich in der frischen Luft dieses eben eroberten Planeten nicht sonderlich wohl zu fühlen. (Aber tat es denn nicht gut, diese Luft einzuatmen, trotz ihrer fremden Düfte? Waren die fremden Gerüche nicht allein schon ein Zeichen dafür, dass sie ihr ständig wachsendes Herrschaftsgebiet um ein neues Juwel bereichert hatten)? Hinter und über ihm schwebten mit leisem Summen waffenstarrende Kriegsschiffe inmitten von kleinen Wolken aus Sensor-und Waffenplattformen. Seine Leibwächter lagen oder knieten, die schwarz glänzenden Waffen im Anschlag, um ihn herum im Gras. Einige stapften in militärischen Exoskeletten schwerfällig auf und ab oder hatten sich zusammengekauert und die gespreizten Füße tief in die Erde gebohrt.
Am Fuß des Hügels, hinter einem weiteren Ring von Wachposten, wälzte sich unter dem wachsamen Summen von Wachdrohnen ein träger, graubrauner Flüchtlingsstrom dahin.
Stelzer; Erdfledermäuse oder Whule. Eine Spezies der Merkatoria. Seit Jahrtausenden separiert, gewiss, aber doch zur Merkatoria gehörig. Lusiferus schaute zum fahlgrünen Himmel auf und sah im Geiste die Nacht, die Sternenschleier und die eine ganz besondere Sonne immer näher kommen – die Sonne, die man ihm erst vor vierzig Stunden aus dem Orbit gezeigt hatte, als die Invasionstruppen für die erste Landung vorbereitet wurden, die Sonne, auf die sie zukrochen, zu der sie sich vorkämpften. Die Sonne mit Namen Ulubis.
In nebelhaften Fernen ragte der Äquaturm von Borquille wie ein dünner Stängel in den Himmel. Das kleine NavarchieSchiff glitt in Sepektes goldener Luft durch einen uralten Wald aus kilometerhohen Atmosphäreenergiesäulen und bescheideneren, aber immer noch eindrucksvollen Verwaltungs-und Wohntürmen auf den Palastkomplex zu und tauchte auf dem Empfangshof vor dem riesigen Palast des Hierchons in einen breiten, sanft abfallenden Tunnel ein. der Palast, eine Kugel mit einem Durchmesser von achthundert Metern, war von einem längst verstorbenen Sarkomagier nach dem Vorbild von Nasqueron selbst entworfen worden. Seine Etagen, die langsam gegenläufig um einen festen inneren Kern rotierten, ahmten sogar die einzelnen Bänder des Gasriesen nach. Orangerote, braune und ockerfarbene Wirbelmuster zogen, ganz wie die Wolken des fernen Gasriesen, wenn man sie vom Weltraum aus betrachtete, in ständigem Wechsel über die Fassade des Gebäudes und verdeckten Fenster und Balkone, Sensoren und Transmitter.
»Major Taak? Ich bin Lieutenant Inesiji von der Palastwache. Hier entlang, wenn ich bitten darf. Und so schnell wie möglich.« Die Stimme hörte sich an, als spräche ein menschliches Kind mit einem Mund voller Kugellager. vor Fassin stand ein Jajuejein, ein Wesen, das in Ruhestellung einem Insekt oder einem Steppenläufer von siebzig bis achtzig Zentimetern Durchmesser glich. Dieses Exemplar hatte sich zu Fassins Größe von zwei Metern aufgerichtet, aus dunkelgrünem und stahlblauem Reisig einen gitterförmigen Kopf gebildet, der an ein Vogelnest erinnerte – zum Glück hatte es wenigstens auf ein Gesicht verzichtet –, und stand auf zwei Strünken, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Beinen hatten. Der Rumpf, durch den man an einigen Stellen den Boden der Empfangshalle sehen konnte, war ein glatter Zylinder, behängt mit Streifen aus scheinbar weichem Material und kleinen Metallobjekten, die Schmuckstücke, technische Instrumente oder auch Waffen sein mochten. Nun strebte es, halb rollend, halb fließend, einem kleinen offenen Wagen zu, auf den der Whule-Matrose vom Schiff bereits Fassins Gepäck verlud.
Fassin drehte sich um und winkte der benommen lächelnden Dicogra zum Abschied zu, dann stieg er mit dem Jajuejein auf den Karren und wurde nach einer kurzen Sicherheitskontrolle in der Empfangshalle kurzerhand in einen Fahrstuhl verfrachtet, der sie zu einem gekrümmten Korridor brachte. Endlich erreichten sie eine Suite, die offenbar eine echte Aussicht nach Norden über die Stadt bot. In der Ferne waren schwach die schroffen Berge zu erkennen. Lieutenant Inesiji stellte Fassins Taschen mit eleganten fließenden Bewegungen auf das Bett und erklärte, er habe genau eine Dreifünftelstunde Zeit, um sich frisch zu machen, seine Paradeuniform anzulegen und vor seine Tür zu treten. Man würde ihn abholen und in den Audienzsaal geleiten.
Fassin meldete mit einem Signal an den Sept Bantrabal seine sichere Ankunft, dann beeilte er sich, Inesijis Anweisungen Folge zu leisten.
Der prächtige Audienzsaal hatte die Form einer Kugel und war sehr warm. Die weißgoldenen Wände glänzten im Schein einer galaxisförmigen Wolke aus winzigen Sternenfünkchen, die sich über die ganze Decke zog. Die untere Hälfte des Saales war terrassenförmig abgestuft. Lieutenant Inesiji führte Fassin zu einer der vielen Plattformen in den Terrassen. Der Boden verformte sich und produzierte einen dem menschlichen Körperbau angepassten Sitz. Fassin nahm Platz – die sperrige Uniform hemmte ihn in seinen Bewegungen. Der Lieutenant gurgelte heiser: »Bitte bleiben Sie bis auf Weiteres hier«, knickte zu einer Verbeugung ein, verwandelte sich in ein Gebilde, das einem Wagenrad täuschend ähnlich sah, und rollte die schräge Rampe hinauf zu einem Ausgang.
Fassin sah sich um. Der Saal fasste sicher an die tausend Personen, aber außer ihm waren nur etwa ein Dutzend anwesend, weiträumig um die flache Schale verteilt, wie um den Abstand zwischen den Einzelnen möglichst groß zu halten. Die Menschen – in ähnlich unbequemen, ziemlich bunten Paradeuniformen wie er selbst – waren knapp in der Überzahl, aber er sah auch ein Jajuejein – in Ruhestellung zusammengerollt, vielleicht schlafend, gefangen in einem Netz von schillernden Bändern. Zwei Whule hockten wie eckige graue, mit silbernen Blüten bedeckte Zelte auf dem Boden und starrten ihn an. Auch zwei Quaup waren zugegen, zwei Meter lange rotbraune Ellipsen, von denen eine im Raum schwebte und ihn ebenfalls ansah (oder auf ihn zeigte), während die andere mit einem Ende den Boden berührte und schlief oder vielleicht strammstand. Fassin hatte ein breites Wissen, was die Körpersprache von Aliens anging, aber keine spezielleren Kenntnisse, wenn es sich nicht gerade um Dweller handelte. Drei große Schutzanzüge mit Wasserweltbewohnern vervollständigten das Kontingent von Nicht-Humanoiden: zwei von den Anzügen sahen aus wie aquamarinfarbene Quaup-Masken und enthielten wahrscheinlich Kuskunde; der dritte war eine mattschwarze Raute so groß wie ein kleiner Bus und strahlte Wärme ab. Darin befand sich höchstwahrscheinlich ein Symbioschwarm von Ifrahile.
In der Mitte des Saales, am tiefsten Punkt der Kugel, dicht vor mehreren breiten, erhöhten, konzentrischen Plattformen, die die Symmetrie des Raumes störten, stand ein Gebilde, das ganz und gar nicht hierher passte. Es sah aus wie ein uralter eiserner Kochkessel, schwarz und bauchig, dreißig Meter im Durchmesser, mit einem flach gewölbten Deckel, und stand auf einem kurzbeinigen Dreifuß über dem Boden aus massivem, buttergelb glänzendem Gold. Die Kesseloberfläche war mit schmalen Leitschaufeln besetzt wie mit Nadelstreifen, doch sonst wirkte das Ding fast wie aus prähistorischer Zeit. Fassin hatte noch nie etwas dergleichen gesehen. Trotz der Wärme überlief es ihn kalt.
Der Quaup, der möglicherweise geschlafen hatte, zuckte plötzlich mit einer Seitenflosse, legte sich quer und wandte sich seinem dreißig Meter entfernten Artgenossen zu. Der drehte sich um und sah ihn ebenfalls an. Ausdrucksmuster huschten über die Gesichtszellen, dann schwebten sie aufeinander zu, blieben in der Luft stehen und kommunizierten ein paar Sekunden lang mit raschen Mimiksignalen, bis eine kleine Flatterdrohne von der Decke schwebte und ihnen – akustisch, mit schrillem Zwitschern und Quieken – befahl, ihre Plätze wieder einzunehmen. Die Quaup kreischten und knatterten die ferngesteuerte Maschine protestierend an, trennten sich aber und schwebten zu ihren alten Positionen zurück.
Kaum hatten sie die ihnen zugewiesenen Plattformen erreicht, als ein halbes Dutzend Jajuejein-Techniker in steifen, unbequemen Paradeuniformen aus matt schillernden Bändern, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit sichtlich einschränkten, durch eine Tür an einer Seite des Saalbodens kamen. Sie schoben komplizierte technische Geräte auf großen Paletten mit vor sich her, um sie um den Kochkessel herum aufzubauen. Fassin erinnerte sich plötzlich, dass die Körperbänder das Erkennungszeichen der Justitiarität waren. Ob er als Major der Ocula ihnen wohl Befehle erteilen könnte? Eine ähnlich große Gruppe – der Tracht nach menschliche Cessoria-Priester, vielleicht sogar Lustrale, obwohl das unter den höfischen Prunkgewändern schwer auszumachen war – kam aus der entgegengesetzten Richtung. Die Priester stellten sich dicht hinter die Techniker, aber die waren vollauf damit beschäftigt, ihre geheimnisvollen Apparaturen aufzustellen und zu justieren, und beachteten sie nicht.
Zuletzt marschierte ein Trupp aus vier menschlichen und vier Whule-Soldaten in den Saal, in voll verspiegelter Motorpanzerung und mit einem ganzen Sortiment von schweren Infanteriewaffen. Ein erschreckender Anblick. Die Atmosphäre im Saal veränderte sich; man spürte deutlich, wie die Stimmung bei allen Spezies umschlug. verwirrung und eine gewisse Neugier wandelten sich in Unruhe, sogar Angst. Die Quaup verständigten sich mit raschen, ausdrucksvollen Mimiksignalen, der Schutzanzug der Ifrahile erhob sich zischend von seiner Plattform, und die beiden Whule starrten sich an und musterten dann ihre Artgenossen in der Spiegelpanzerung mit empörten Blicken.
Wer schickte bewaffnete Streitkräfte in einen Audienzsaal? War das eine Falle? Hatten alle hier Anwesenden den Hierchon beleidigt? Sollten sie ermordet werden?
Die Soldaten bildeten einen großen Kreis um die Angehörigen der Justitiarität und der Cessoria, die Panzergelenke rasteten ein, die Waffen wurden in Anschlag gebracht. Doch sie waren nach innen auf den schwarzen Kochkessel gerichtet. Die Spannung im Saal ließ ein wenig nach. Dann leuchteten die Plattformen hinter dem Riesentopf und den verschiedenen Funktionären einmal auf und versanken im Boden, nur um Augenblicke später voll besetzt wieder aufzutauchen.
Ganz außen standen menschliche Hofbeamte in weißen Uniformen, dann folgte ein Ring aus Höflingen verschiedener Spezies mit prunkvollen Rangabzeichen. Die äußere Schicht des Kerns wurde von Angehörigen der Hohen Kommandantur, der Omnokratie, der Administrata und der Cessoria gebildet, die ebenfalls unterschiedlichen Spezies angehörten. Fassin kannte die meisten aus den Nachrichten und von den wenigen offiziellen Visiten bei Hofe, die er in den vergangenen Jahren pflichtgemäß absolviert hatte. Sie alle umstanden in ansteigenden Halbkreisen das Wesen im Zentrum: den Hierchon Ormilla höchstpersönlich. Er schwebte leise summend in der ganzen Pracht seines riesigen, platinverplatteten, diskusförmigen Schutzanzugs dicht über der höchsten Plattform. Hinter dem vorderen Diamantfenster des Anzugs war inmitten von brodelnden, roten Gaswolken sein schwarzes Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund zu erkennen. Der Anzug, sieben Meter hoch und drei Meter breit, war bei weitem der größte und eindrucksvollste Mikrolebensraum im Saal. Die Luftfeuchtigkeit kondensierte rasch auf den tiefgekühlten Oberflächen, die bald mit einer Eisschicht überzogen waren.
Als der Hierchon und sein Gefolge erschienen, begann Fassins Sessel warnend zu vibrieren und versank in der Plattform. Fassin verstand den Hinweis, stand auf und verneigte sich. Auch alle anderen Anwesenden bekundeten mit entsprechenden Gesten ihren Respekt. Der riesige Schutzanzug senkte sich kaum merklich, und als seine Basis die Plattform berührte, kam auch Fassins Sessel lautlos wieder zum Vorschein.
Der Hierchon Ormilla war Oerileithe: ein Gasriesenbewohner zwar, aber – und dieser Unterschied war für alle Beteiligten wichtig – kein Dweller, auch wenn er in seinem Schutzanzug so aussah. Ormilla war vor fast sechstausend Jahren eingesetzt worden, lange bevor die Menschen kamen, die jetzt den größten Teil seiner Untertanen ausmachten. Seither regierte er das Ulubis-System. Im Allgemeinen galt er als fähiger, wenn auch etwas phantasieloser Herrscher, der den Spielraum eines Hierchon innerhalb des Merkatoria-Systems mit Vorsicht, vernunft und gelegentlich sogar einem gewissen Mitgefühl zu nützen wusste. Seit der Zerstörung des Portals regierte er nach Einschätzung der offiziell sanktionierten Medien mit einer beeindruckenden Mischung aus atemberaubender Majestät, heroischer, absolut vorbildlicher Tapferkeit und einer rührend unerschütterlichen Solidarität mit seinen menschlichen Untertanen. Weniger freundliche, nicht sanktionierte und oft menschliche Kritiker mochten ihm vorwerfen, zunächst einen Hang zum Autoritarismus gepaart mit geradezu paranoider Unterwerfungssucht an den Tag gelegt zu haben, eine Haltung, die allerdings später, als er wieder auf seine Berater zu hören bereit war, von einem ruhigen, nach innen gerichteten Regierungsstil abgelöst worden sei.
Als Fassin sich die hohen Persönlichkeiten näher angesehen hatte, stellte er fest, dass die Regierungsbande im Grunde vollzählig versammelt war. Außer Ormilla und seinen zwei höchsten Stellvertretern waren die Peregale Tlipeyn und Emoerte gekommen, der Submeister Sorofieve, das ranghöchste Mitglied der Propylaea, das die Zerstörung des Portals überlebt hatte, Flottenadmiral Brimiaice, der höchste Navarchie-Offizier, General Thovin von den Sicherheitskräften, der Erste Minister Heuypzlagger von der Administrata, Colonel Somjomion von der Justitiarität – vermutlich sein eigener oberster Vorgesetzter für die Dauer dieses Notstandes, dachte Fassin – und der Oberste Archivar Voriel von der Cessoria. Die Elite von Ulubis.
Fassin betrachtete nachdenklich den bauchigen Kessel auf dem goldenen Boden und die schwer bewaffneten Soldaten. Was für eine phantastische Gelegenheit, sämtliche Lamettaträger des Systems auf einen Schlag zu beseitigen!
»Der Hof der Merkatoria von Ulubis hat sich in Anwesenheit des Hierchon Ormilla zu einer außerordentlichen Sitzung versammelt«, verkündete ein Beamter mit dröhnender Stimme über die Lautsprecheranlage im Saal. »Der Hierchon Ormilla!«, rief er gleich noch einmal, als fürchtete er, man könnte ihn beim ersten Mal nicht gehört haben.
Der Beamte sprach die menschliche Variante von Standard, der ›Lingua franca‹ der Galaxis. Man hatte sich vor mehr als acht Milliarden Jahren für Standard als artenübergreifende, pangalaktische Sprache entschieden. Besonders die Dweller hatten für seine Verbreitung gesorgt, obwohl sie ausdrücklich betonten, dass es sich nicht um ihre Muttersprache handele. Sie selbst hatten ein sehr altes Umgangsidiom und eine zweite, noch ältere Amtssprache, dazu viele Mundarten, die sich aus früheren Zeiten erhalten hatten oder inzwischen entstanden waren. Bei letzteren schwankte, wie in solchen Dingen üblich, die Popularität sehr stark.
»Oh nein, man hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben«, hatte der Dweller Y’sul, Fassins Führer und Mentor, seinem Schützling auf dessen erstem Trip vor mehreren hundert Jahren erklärt. »Es lief wie immer – jede Menge so genannte Universalstandards konkurrierten miteinander. Eine linguistische Meinungsverschiedenheit führte sogar zu einem ausgewachsenen Krieg – zwischen einer Gallert-und einer p-Linien-Spezies, wenn ich mich recht erinnere –, gefolgt von den üblichen Reaktionen: Erkundigungen, Missionen, Sitzungen, Berichte, Konferenzen und Gipfeltreffen.
Unser heutiges Standard wurde erst nach Jahrhunderten intensiver Forschung und heftiger Streitgespräche von einem vielköpfigen und daher schwerfälligen Komitee aus Vertretern von Tausenden von Spezies gewählt. Mindestens zwei dieser Spezies starben im Lauf der Beratungen aus. Erstaunlich ist, dass die Entscheidung nach Qualitätskriterien fiel. Es handelt sich nämlich um eine nahezu vollkommene Sprache: flexibel, anschaulich, neutral (was immer das heißen mag, aber man hielt es für wichtig), präzise aber formbar, hochgradig elegant, in sich vollständig, aber doch aufnahmefähig für externe Begriffe und mit einer außergewöhnlich losen und dennoch logischen Verbindung zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Form. Eine Sprache also, die nahezu jeden Phonem-, Szint-, Glyph-oder Pictal-Satz leicht und verständlich integrieren konnte und dennoch übersetzbar blieb.
Das Beste war, dass sie niemandem gehörte. Die Spezies, die sie entwickelt hatte, war mehrere Millionen Jahre zuvor endgültig ausgestorben, ohne eindeutig zuzuordnende Erben oder tiefere Spuren in den Weiten der Galaxis zu hinterlassen – mit Ausnahme dieses einen linguistischen Juwels. Noch erstaunlicher war, dass die anschließende Konferenz des Metakomitees zur Bestätigung der Entscheidung glatt über die Bühne ging und alle einschlägigen Empfehlungen angenommen wurden. Standard verbreitete sich rasch, die Akzeptanz war gut, und innerhalb von wenigen ›Schnellen‹-Generationen war es die erste und bislang einzige Universalsprache geworden. Es setzte Maßstäbe für die Kooperation zwischen den Arten, denen seither alle Welt nachzueifern sucht.
Was aber nicht heißen soll, dass diese Sprache von allen und überall geliebt würde. Besonders bei meiner eigenen Gattung hält sich der Widerstand gegen ihren Gebrauch bis auf den heutigen Tag, und einzelne Zwangsneurotiker und kleine wie größere Gruppen und Netzwerke von begeisterten Linguisten entwickeln andauernd neue und angeblich noch bessere Universalsprachen. Für manche Dweller ist Standard nach wie vor ein empörendes Diktat der Aliens und ein Symbol unserer feigen Kapitulation vor den Moden der Galaxis.
Solche Personen verwenden meist die alte Amtssprache. Zumindest diejenigen, die nicht eine eigene, einmalige und im Allgemeinen völlig unverständliche Sprache erfunden haben.«
Auf diesem seinem ersten Trip war der junge Fassin von seinem Onkel Slovius höchstpersönlich begleitet worden, für den dieser Trip sinnigerweise der letzte werden sollte. »Das ist wieder einmal typisch«, hatte Slovius später bemerkt. »Nur Dweller bringen es fertig, nach einem absolut fairen Wettbewerb vor acht Milliarden Jahren immer noch über den Ausgang zu streiten.«
Der Gedanke entlockte Fassin ein Lächeln. Er sah sich in dem riesigen Auditorium um. Die Worte des Beamten hallten von den goldenen Wänden wider und verklangen zwischen den prächtigen Gewändern. Die Inszenierung war etwas kitschig, fast schon vulgär, aber sehr eindrucksvoll. Wie viel langweiliges Zeremoniell, wie viele bombastische Reden mussten sie jetzt wohl über sich ergehen lassen, bevor irgendetwas Wichtiges geschah oder verkündet wurde? Rasch zählte er die Anwesenden. Die Abgesandten-Projektion hatte von dreißig Geladenen gesprochen, aber es waren mehr als doppelt so viele im Saal.
Vor ihm schob sich auf einer dünnen Säule ein Sensorbildschirm aus der Plattform, richtete sich aus und wurde hell. Such-und Notizfunktion waren aktiviert, aber weder Ton-, noch Bildaufzeichnungen. Fassin drückte ein Symbol, um seine Anwesenheit zu bestätigen. Auch alle anderen in dem kugelförmigen Raum wurden mit Bildschirmen oder speziesrelevanten Alternativen versorgt.
»Sie sind hier, um die Übertragung eines Signals vom Technikschiff Est-taun Zhiffir mitzuerleben«, ließ sich Ormillas tiefe Synthetikstimme vernehmen. »Soweit wir informiert sind, muss sich dieses Signal in Form einer Künstlichen Intelligenz manifestieren, eines Konstrukts, welches nach Beendigung der Audienz zerstört werden wird.« Ormilla hielt inne, um die Worte wirken zu lassen. Fassin glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Wie Sie die Informationen verwenden, die Sie von hier mitnehmen, ist abhängig von Ihrer Stellung und Ihrem Gewissen«, fuhr der Hierchon fort. »Anders ist es mit der Art der Informationsvermittlung. Auf jede Enthüllung bezüglich der Form des Signals steht die Todesstrafe. Man möge beginnen.«
Eine KI? Eine Maschine mit Bewusstsein? Ein Monstrum? War das ernst gemeint? Fassin konnte es nicht fassen. Die Geschichte der Merkatoria war eine einzige Dokumentation der unerbittlichen Verfolgung und Vernichtung von KIs und des unermüdlichen, beschwerlichen und mit Feuereifer geführten Kampfes, um deren Rückkehr in die zivilisierte Galaxis zu verhindern. Das war auch der Daseinszweck der Lustrale: sie waren KI-Jäger, gnadenlose, fanatische Verfolger aller Maschinenintelligenzen und jeglicher Forschung auf diesem Gebiet. Dennoch standen sie nun in aller Ruhe da und beobachteten den Kochkessel und die Techniker, die ihn umringten.
Über der schwarzen Maschine im Zentrum entstand ein halb transparentes, flimmerndes Bild. Das Hologramm stellte einen Menschen in der Uniform eines Admirals der Generalflotte dar. Fassin hatte nicht einmal geahnt, dass ein Angehöriger seiner Spezies derart Schwindel erregende Höhen erklommen hatte. Der Admiral war ein alter, aber noch kräftiger Mann mit tiefen Falten im Gesicht. Sein Kopf war natürlich kahl geschoren, aber dafür stark tätowiert. Er oder sein Abbild trug einen Raumkampfanzug für die höheren Ränge. Die Helmteile waren heruntergeklappt und um Hals und Schultern verstaut. Verschiedene Rangabzeichen auf der Anzugoberfläche bestätigten nicht übermäßig diskret, dass es sich bei dem Admiral um einen ausnehmend wichtigen Vertreter des Militärs handelte.
»Hierchon Ormilla, ich danke Ihnen«, sagte das Abbild, dann schien es seinen Blick direkt auf Fassin zu richten. Der erschrak zunächst, bis ihm klar wurde, dass wahrscheinlich jeder im Saal Anwesende diesen Eindruck hatte. Jedenfalls hoffte er das. »Ich vertrete Admiral Quile von der Generalflotte, Befehlshaber des Dritten Mittelgeschwaders der Kampfflotte, die das Technikschiff Est-taun Zhiffir unter dem Kommando von Flottenadmiral Kisipt auf dem Weg ins Ulubis-System begleitet«, sagte die Projektion ruhig und sachlich.
Kampfflotte?, dachte Fassin. Seit wann entsandte man eine Kampfflotte, um einem T-Schiff Geleitschutz zu geben, auch wenn es ein Portal beförderte? Normalerweise begnügte man sich mit ein paar Schiffen der Sicherheitskräfte oder ein bis zwei Einheiten der Navarchie sowie, manchmal nur aus zeremoniellen Gründen, einem einzelnen kleineren Kreuzer der Generalflotte. Er war kein Militärexperte, aber so viel wusste selbst er noch aus den Nachrichtensendungen zu den Anschlüssen und Wiederanschlüssen, die damals so aktuell gewesen waren. Er sah sich die Militärs auf den halbkreisförmigen Podien genau an. Auch sie schienen von der Nachricht überrascht zu sein.
»Ich habe den Auftrag, Ihnen zunächst Informationen und Befehle zu übermitteln«, erklärte das Hologramm. »Anschließend werde ich Fragen beantworten. Danach werde ich zerstört. Zuerst die Information. wir haben geheime Erkenntnisse, die ziemlich eindeutig sind. Danach wird das Ulubis-System wahrscheinlich innerhalb eines Jahres, möglicherweise auch schon Monate nach Eintreffen dieses Signals zum Ziel eines Großangriffs werden, der vom Separat-Cluster Epiphanie Fünf ausgeht.«
Das Hologramm verstummte und schien zu lauschen. Im Saal war es still geworden, alles stand wie unter Schock, aber Fassin hörte kein Keuchen und keinerlei Äußerungen von Angst oder Ungläubigkeit.
Er warf einen Blick über die Versammelten und versuchte herauszufinden, ob er wohl als Einziger von dieser Nachricht überrascht worden war. Über die Quaupgesichter flirrten die Mimiksignale, die Whule sahen sich mit großen Augen an, und der eine oder andere Techniker in der Nähe der schwarzen KI-Maschine wirkte einigermaßen verdutzt. vielleicht hatte auch der Schutzanzug der Ifrahile ein wenig geschwabbelt. Fassins Hand war noch auf dem Weg zum Sensorbildschirm, als der bereits aufleuchtete und ein etwa tausend Lichtjahre umfassendes Diagramm des galaktischen Umfelds zeigte. Im Zentrum befand sich, von der weit draußen gelegenen Sonnengarbe mit dem Ulubis-System aus gesehen zum Kern hin, eine Masse von Millionen Sternen: das Cluster Epiphanie Fünf.
»Unsere Strategen hielten es mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa sechs Prozent sogar für möglich, dass die Invasion bereits stattgefunden hätte, wenn dieses Signal hier einträfe.« Das Hologramm schaute sich im Saal um und lächelte. »Ich kann zu meiner Freude feststellen, dass dem nicht so ist.« Das Lächeln erlosch. »Andererseits hatte ich bei der Originalaufzeichnung dieses Signals noch gehofft, Ihnen sagen zu können, die Invasion liege noch drei bis fünf Jahre in der Zukunft. Doch seit meiner Manifestation kann ich auf einige Echtzeiterkenntnisse zugreifen, die Sie gewonnen hatten, und die lassen mir keine Wahl. Ich muss mich auf eine Schätzung festlegen, die Ihnen noch weniger Zeit zur Vorbereitung lässt, als wir gehofft hatten.« Das Abbild hielt kurz inne.
»Das E-5-Separat war bereits lange vorher für seine aggressive Expansionspolitik bekannt. Sonden zur Weltraumüberwachung fangen seit mehreren hundert Jahren Waffenblitze der Energiestufe acht auf, die von den Leseum-Systemen ausgehen.« Das Abbild warf einen Blick durch den Saal. »Mit anderen Worten, Weltraumschlachten und Atomexplosionen im hohen Megatonnenbereich. Alle Zeichen deuten auf eine Schurkenhegemonie hin, vermutlich beherrscht von einem Menschen, der sich Archimandrit Lusiferus nennt. Er war früher tatsächlich Angehöriger der Cessoria, allerdings nicht im Rang eines Archimandriten, sondern nur eines Hariolators. Wie es scheint, hat er sich selbst befördert. Auf jeden Fall dürfen wir ihn jetzt wohl als abtrünnig betrachten.« Das Hologramm lächelte schmal. »Die Leseum-Systeme waren bis vor nicht allzu langer Zeit der letzte noch angeschlossene Teil der Epiphanie-Fünf-Region. Leider fiel dieses Wurmloch-Portal einem kleineren Anschlag der Aussaatbewegung zum Opfer. Damit war der gesamte Raumsektor vollends von der Zivilisation abgeschnitten.« Das schmale Lächeln verschwand.
»Zehn Tage bevor das Signal abgesetzt wurde, griff eine aus etlichen hundert Großschiffen mit Gefolge und Truppentransportern bestehende Invasionstruppe aus dem E-5-Separat das Runanthril-System an, das vom E-5-Cluster aus gesehen kernwärts liegt. wir vermuten, die Angreifer wussten nicht, dass Ruanthril kurz vorher ein neues Portal erhalten hatte und an die Merkatoria angeschlossen war. Das System war bis dahin nicht Teil des Komplexes gewesen, das mag die Fehleinschätzung erklären. Jedenfalls waren Elemente der Generalflotte vor Ort, als die E-5-Streitkräfte angriffen. Der Angriff wurde mit schweren Verlusten auf beiden Seiten zurückgeschlagen.« Fassin war ganz sicher, in diesem Augenblick so etwas wie Bestürzung über die Gesichtspartien von Flottenadmiral Brimiaice huschen zu sehen. »Ja«, sagte das Abbild wie als Reaktion darauf. »Ich will nicht leugnen, dass auch wir überrascht wurden. Wir hatten einfach nicht genügend Schiffe. Noch bedauerlicher ist, dass im Anschluss das Portal zerstört wurde.« Hier setzte Flottenadmiral Brimiaice, ein Quaup, jene ausdruckslose Miene auf, die – wenn Fassin seinen Grundkurs für Gesichts-[oder gesichtsäquivalente] und Körpersprache der merkatorialen Spezies nicht ganz umsonst absolviert hatte – Schock und nachträgliche Beschämung verriet.
»Bevor es dazu kam«, fuhr das Hologramm fort, »wurden allerdings Informationen aus dem gekaperten feindlichen Flaggschiff in den Komplex übermittelt, unter anderem persönliche Aufzeichnungen des gegnerischen Großadmirals – also des Oberbefehlshabers der Invasionsflotte. Darin bekundete er für die Nachwelt oder für seine Memoiren sein Erstaunen darüber, dass so große Teile der gewaltigen Militärmaschinerie, der er angehörte und auf die er so stolz war, nicht dahin dirigiert würden, wo sie die stärkste Wirkung erzielen oder helfen könnten, die größte Zahl von Systemen in der kürzestmöglichen Zeit zu erobern. Mit anderen Worten, nicht zu den größten Sternenmassen, in Drehrichtung, rückwärts, aufwärts, abwärts und besonders kernwärts – sondern weg von diesen Regionen und hin zu den fast leeren Randbezirken der Galaxis, zu den Südlichen Riffranken, zum Quaternärstrom und zum Ulubis-System. ›Zu dem im Anus bohrenden, mit Scheiße verschmierten Finger am Ende eines verdorrten Armes‹, wie er das sehr bildlich ausdrückte.«
Fassin hätte fast laut aufgelacht. Die meisten Funktionäre auf den vorderen Plattformen zeigten sich, angeführt von den Menschen, in irgendeiner Form schockiert, entsetzt oder empört. Der Schutzanzug des Hierchon rollte einen halben Meter zurück, als hätte man ihn geohrfeigt.
Das Abbild warf in aller Ruhe einen Blick durch den Saal. »Zugegeben, nicht sehr schmeichelhaft. Ich bitte um Entschuldigung. Sie werden sich freuen zu erfahren, dass der Herr, dem wir dieses denkwürdige Bild verdanken, zurzeit dem Geheimen Inquisitariat der Vereinigten Streitkräfte bei seinen Ermittlungen behilflich ist.«
Auf einigen Gesichtern spiegelte sich Genugtuung, aber sie wirkte gezwungen. Sie haben tatsächlich nichts gewusst, dachte Fassin. Er hatte angenommen, der Hierchon und seine Vertrauten wären in groben Zügen informiert worden, aber sie waren offenbar ebenso ahnungslos gewesen wie er selbst.
»Natürlich haben wir auch das Sondenprofil, das vor der Invasion für die gescheiterte Eroberung von Ruanthril durch das E-5-Separat erstellt wurde«, sagte das Hologramm, »sowie die Profile mehrerer anderer Systeme, die mit der gleichen Kombination von Streitkräften überfallen wurden. Die Reflexionen des Befehlshabers der Invasionsflotte geben uns Grund zu der Annahme, dass Ulubis in beträchtlicher Gefahr schwebt. Ein Vergleich des Sondenprofils vor dem Angriff auf Ruanthril mit den jüngsten Überfällen und anderen feindlichen Aktionen innerhalb des Ulubis-Systems führt zu dem Schluss, dass besagte Gefahr akut und in einem Zeitfenster von wenigen Monaten bis knapp anderthalb Jahren zu erwarten ist. Für die Beyonder-Attacken existiert ein seit langem akzeptiertes und sehr konsistentes Angriffsprofil, und die Aggressionen, die das Ulubis-System im Laufe der letzten drei Jahre erleben musste, fallen aus diesem Rahmen.«
Fassin vermutete hinter dieser Bemerkung eine leise Kritik am Geheimdienst und den strategischen Planungsinstanzen des Systems, insbesondere der Navarchie. Flottenadmiral Brimiaice verhielt sich auffallend still, wie um nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig auf sich zu lenken. Die Information ließ außerdem auf ein größeres Vertuschungsmanöver schließen. fassin hatte ebenso wie Verpych geglaubt, diese ›aus dem Rahmen fallenden‹ Angriffe hätten erst vor etwas mehr als einem Jahr begonnen; dagegen hatte diese KI Zugriff auf Informationen, wonach die Attacken schon zwei Jahre länger andauerten. Aber das war nicht weiter überraschend. Man war längst daran gewöhnt, von den Behörden löffelweise mit rosarot gefärbten Falschinformationen gefüttert zu werden – und vorsichtshalber kein Wort zu glauben. Misstrauen kam erst dann auf, wenn man etwas präsentiert bekam, das aussah wie die schlichte, ungeschminkte Wahrheit.
»Ich habe noch mehr zu sagen«, erklärte das Abbild über dem Kochkessel den versammelten Zuhörern.»Aber ich spüre, dass einige von Ihnen kaum noch an sich halten können. Deshalb möchte ich Sie jetzt bitten, Ihre Fragen zu dem bisher Gehörten anzubringen. Sie brauchen sich im Übrigen nicht vorzustellen – sämtliche Anwesenden sind mir bekannt.«
Alles schaute auf den Hierchon, der auch gleich lospolterte: »Maschine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für diese Invasion?«
Das Hologramm schien von der ersten Frage nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Hatte es nicht sogar einen Seufzer ausgestoßen?
Fassin bekam die Antwort nur mit halbem Ohr mit; den folgenden Fragen und Antworten schenkte er noch weniger Beachtung. Es gab keine Informationen, die über das bereits Gehörte wesentlich hinausgegangen wären, und die meisten Äußerungen fielen im Grunde in die Kategorie von: Bist du sicher? Hast du den Verstand verloren? Belügst du uns, Monstrum? Und: Man wird doch hoffentlich nicht mir die Schuld daran geben?
Er wandte sich dem Sensorschirm zu und rief ein vernünftig dimensioniertes Hologramm auf, um sich eine genauere Vorstellung von der galaktischen Topografie zu verschaffen, um die es ging. Dann schaltete er zwischen der Verteilung der Zivilisationen im näheren Umkreis, wie er sie bis heute gekannt hatte – tatsächlich waren die Daten zweihundertfünfzig Jahre alt –, und der aktualisierten, erst siebzehn Jahre alten Version hin und her, die von der KI eingebracht worden war. Dabei wechselten die Sterne in riesigen Raumabschnitten von einer Falschfarbe in eine andere, so dass er sehen konnte, wie weit diese Hegemonie des Separat-Clusters Epiphanie Fünf ihren Einfluss bereits ausgedehnt hatte.
»… mit aller Kraft Widerstand leisten!«, brüllte Flottenadmiral Brimiaice.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte das Hologramm. »Allerdings weist alles darauf hin, dass Sie um ein Mehrfaches unterlegen wären, selbst wenn Sie alle verfügbaren Mittel und Ihre gesamte Zeit in ein Notprogramm zum Bau von Kriegsschiffen steckten und vollständig auf Kriegswirtschaft umstellten.«
Flottenadmiral Brimiaice raste vor Wut.
Auch Fassin hatte eine Frage auf dem Herzen, die er aber der KI nicht stellen wollte. Er hatte ohnehin das dumpfe Gefühl, sie würde früher beantwortet werden, als ihm lieb sein konnte. Die Frage lautete: Was ›zum Teufel‹ geht das alles mich an?
»Darf ich fortfahren?«, fragte das Abbild, als nach den nächsten Beiträgen unverkennbar war, dass die Fragen zu Unschuldsbeteuerungen, heroischen Entschlossenheitsbekundungen, positionswahrenden Erklärungen und Angriffen gegen andere anwesende Funktionäre zu entarten drohten und sich zunehmend der Grenze zur Geschmacklosigkeit näherten. Das Hologramm lächelte bedauernd. »Ich begreife durchaus, dass meine bisherigen Ausführungen für Sie alle in gewisser Weise schockierend sind. Dennoch waren sie, so Leid es mir tut, nur Vorbemerkungen. Der wichtigste Teil meines Auftrags folgt erst jetzt.«
Admiral Quiles Abbild hielt inne, um auch diese Aussage wirken zu lassen. Endlich sagte es: »Gut. In diesem Saal befindet sich ein Herr, der sich gewiss schon seit einer Weile fragt, was er eigentlich hier zu suchen hat.«
Fassin dachte gerade noch: Oh Scheiße, dann traf ihn der Blick des Hologramms. Sah es jetzt wirklich ihn an? Sahen auch alle anderen, dass es ihn ansah? Köpfe oder andere geeignete Körperteile drehten sich in seine Richtung. Die Antwort lautete wahrscheinlich ›ja‹.
»Seher Fassin Taak, würden Sie sich den anderen zu erkennen geben?«
Fassin rauschte das Blut in den Ohren. Er erhob sich, wandte sich dem Hierchon zu und verneigte sich langsam, aber nicht allzu tief. Er hatte das Gefühl, als schrumpfte ihm das Fleisch auf den Knochen. Alles schien sich um ihn zu drehen, er war froh, als er sich wieder setzen konnte. Obwohl er dagegen ankämpfte, schoss ihm das Blut in die Wangen.
»Seher Taak wurde zwar vor Jahrhunderten geboren, aber er ist noch ein junger Mann«, sagte das Abbild. »Er übt seinen Beruf pflichtbewusst und mit guten Ergebnissen bei den Gasriesen-Dwellern des Planeten Nasqueron aus. Für viele von Ihnen ist er, soviel ich weiß, kein Unbekannter. Nun wurde er zur Ocula der Justitiarität versetzt und in den Rang eines Majors erhoben. Die Gründe dafür werden sich zu gegebener Zeit erschließen.«
Fassin fühlte sich immer noch sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, bemerkte aber, wie ihm Colonel Somjomion, die Menschenfrau, die als kommissarischer Stabschef die im Ulubis-System stationierte Einheit der Justitiarität leitete, bei diesen Worten von ihrer Plattform auf der anderen Saalseite aus vorsichtig zulächelte. Fassin war nicht sicher, ob man bei der Justitiarität salutierte oder nicht, so erhob er sich nur ein wenig von seinem Sitz und nickte förmlich.
Bei sich dachte er: Oh, verdammt!
Das Hologramm über der Kochkessel-KI fuhr fort: »Der Grund, warum Seher – Major – Taak heute hier ist und hören kann, was ich Ihnen zu sagen hatte, ist folgender: Er hat etwas entdeckt – genauer gesagt, aber ohne ihm zu nahe treten zu wollen, er ist über etwas gestolpert – was überhaupt erst dazu geführt hat, dass ich heute hier bin.«
Verdammter Mist. Ich hatte immer schon befürchtet, dass mich die Trips eines Tages umbringen würden, aber ich dachte dabei eher an eine technische Panne. Allerdings war Colonel Somjomions Lächeln zwar zurückhaltend, ja sogar vorsichtig, aber weder gehässig noch spöttisch gewesen. Vielleicht komme ich doch noch mit dem Leben davon.
»Womit wir natürlich beim eigentlichen oder jedenfalls beim wichtigsten Grund für meinen Auftritt in dieser nahezu beispiellosen Form wären.« Das Hologramm tat so, als wollte es tief Luft holen.
Dann schaute es langsam in die Runde und bemerkte schließlich: »Sie werden mir sicher beipflichten, dass Ulubis ein angenehmes und einigermaßen begünstigtes System ist.« Wieder hielt es inne.
Fassin hörte inzwischen sehr aufmerksam zu und wäre jede Wette eingegangen, dass die alte Redensart von der Stecknadel, die man angeblich fallen hören könne, wörtlich zu nehmen war. »Und«, sagte die Projektion mit einem strahlenden Lächeln, denn jetzt war sie sicher, die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen zu haben, »als Zentrum der Dweller-Forschung ist es in der ganzen Galaxis gerade für Altertumsforscher und Intellektuelle sicherlich nicht ohne Bedeutung.« Wieder eine Pause. Fassin hatte den Eindruck, dass die KI, die das Hologramm steuerte, durchaus auch imstande war, ihm ein Funkeln in die Augen zu zaubern.
»Man könnte sich dennoch die Frage stellen – auch hier hoffe ich, niemandem zu nahe zu treten – warum gerade Ulubis die Aufmerksamkeit unserer neuen Gegner aus dem Cluster Epiphanie Fünf auf sich gezogen hat. Man könnte sich sogar überlegen – wenn man weiß, wie wichtig es der Merkatoria ist, all die vielen, vielen Systeme wieder zu vernetzen, die seit Jahrtausenden ohne Arteria-Zugang sind – warum der Transport eines neuen Portals von Zenerre nach Ulubis mit solchem Eifer in Angriff genommen wurde, während dichter bevölkerte Systeme von größerer strategischer Bedeutung, die zu jener Zeit eindeutig unter größerem Druck standen, doch wohl mehr Anspruch auf die Mittel und die Fachkenntnis unserer geschätzten Kollegen von der Technik-Fakultät hätten anmelden können. Bedenkenswert wäre weiterhin, warum das Technikschiff Est-taun Zhiffir von jenen Einheiten der Generalflotte begleitet wird, denen mein Original anzugehören die Ehre hat – ja, warum das T-Schiff Est-taun Zhiffir überhaupt mit solchem militärischem Aufwand eskortiert wird.« Das Hologramm hob den Kopf und schaute abermals in die Runde. »Vielleicht wäre es nicht einmal völlig abwegig, die vermeintlich unstrittigen Hypothesen und längst feststehenden Schlussfolgerungen in Zusammenhang mit der Zerstörung des Ulubis-Portals durch die Beyonder-Rebellen vor mehr als zweihundert Jahren neu zu hinterfragen.«
Fassin spürte, wie der ganze Saal leise erschauerte. Geht es hier immer noch um mich und das, was ich gefunden haben soll?, fragte er sich. Je mehr ich höre, desto mehr hoffe ich, dass dem nicht so ist.
»Es gibt einen Umstand, einen Nexus, in dem viele zufällige Informationen zusammenlaufen,« sagte das Abbild mit einem breiten, aber freudlosen Lächeln und einer gewissen Schadenfreude in der Stimme, »und in diesem Umstand vermuten wir die Ursache für alles, was eben angesprochen wurde.« Die Projektion wandte sich dem Hierchon Ormilla zu und sah ihn fest an. »An dieser Stelle muss ich darum bitten, dass alle, die nicht ausdrücklich zu diesem Treffen eingeladen wurden, den Saal verlassen. Die Soldaten können wir vielleicht ausnehmen, vorausgesetzt, ihre Kopfhörer werden abgeschaltet, aber ich würde gegen meine Befehle verstoßen, wenn ich fortführe, solange noch Unbefugte anwesend sind.«
»Admiral Quile«, dröhnte der Hierchon mit gerade so viel Nachdruck wie nötig. »Ich verbürge mich für jeden, der hier im Saal ist und versehentlich nicht auf der Liste steht, von der Sie sprechen. Sie können fortfahren.«
»Wenn die Entscheidung bei mir läge, würde Ihr Wort natürlich vollauf genügen, und ich hätte keinerlei Bedenken oder Vorbehalte«, versicherte das Abbild des Admirals. »Ich bedauere zutiefst, wenn Sie den Eindruck gewinnen könnten, ich hätte auch nur die leiseste Absicht, Ihre geschätzten Höflinge kränken zu wollen, aber ich bin an die Befehle des Komplektor-Rates gebunden, und er hat mir jedes weitere Wort ausdrücklich verboten.«
Autsch, dachte Fassin. Der Hierchon tat ihm fast Leid. Das Hologramm hatte ihm soeben nicht nur gezeigt, wer hier das Sagen hatte, es hatte ihn öffentlich gedemütigt. Ein Sarkomagier stand über einem Hierchon und war seinerseits einem Komplektor unterstellt. Und ein einzelner Komplektor mochte seine Macht innerhalb der zivilisierten Galaxis in jeder Hinsicht uneingeschränkt ausüben können – den Willen des Komplektor-Rates hatte er zumindest zu berücksichtigen. Die Angehörigen des Komplektor-Rates wiederum waren wahrhaft allmächtig und nur an die Naturgesetze gebunden, wobei alle Welt behauptete, sie gäben sich alle Mühe, auch die noch zu umgehen.
Hierchon Ormilla gab sich mit Anstand geschlagen, und wenige Minuten später hatte die Hälfte der bis dahin Anwesenden den Saal verlassen. Die unterschiedlich hohen Plattformen vor dem imposanten Schutzanzug des Hierchon wirkten verwaist. Alle Funktionäre und Höflinge waren murrend abgezogen. Fassin hatte noch nie so viel verletzte Würde auf einem Haufen gesehen. Die Militärbonzen waren noch zugegen, aber auch auf ihren Plattformen hatten sich die Reihen gelichtet. Colonel Somjomion von der Justitiarität und der Oberste Archivar Voriel von der Cessoria mussten bis auf Bodenhöhe hinabsteigen, um die die Bedienung der zwei wichtigsten Geräte zur Überwachung des Kochkessels und der darin enthaltenen KI zu übernehmen. Die Spiegelsoldaten standen nach wie vor mit eingerasteten Panzergelenken in einem großen Kreis hinter ihnen, doch jetzt waren sie taub.
Fassin hatte die ganze Zeit unbeachtet auf seinem Platz gesessen und sich gefragt, was er von alledem zu halten hatte. Dabei wusste er genau, was er denken sollte: Was zur Hölle mag ich da gefunden haben, was mag es sein, was ein solches Maß von Paranoia und Geheimniskrämerei bis in die höchsten Ränge rechtfertigen könnte? Aber das Denken fiel ihm schwer. Er wusste auch, was er spüren sollte: nämlich Angst. Das klappte besser: das Entsetzen, das ihn erfüllte, war messerscharf und übermächtig.
»Danke«, sagte das Abbild des Generals. »Und nun«, ein Blick in die Runde der noch Verbliebenen, »möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Was wissen Sie von der so genannten Dweller-Liste?« Die Gestalt hob die Hand. »Eine rhetorische Frage. Sie brauchen nicht zu antworten. Wer möchte, kann sich gerne über seinen Bildschirm oder das entsprechende Gerät informieren. Lassen Sie sich Zeit.«
Überall wurde hektisch getippt. Die Dweller-Liste?, dachte Fassin. Verdammter Mist; was soll der Unsinn?
Das Hologramm lächelte. »Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit sagen, inwiefern wir hier – wo das Signal und die Projektion entwickelt und aufgezeichnet werden – inwiefern wir dieses Thema für wichtig halten.«
Fassin hatte natürlich von der Dweller-Liste gehört; es gab keinen Seher, der sie nicht kannte. Leider wussten auch viele Laien von der Liste, und so war sie zu einem jener unerträglich ausgelutschten Themen geworden, die immer angeschnitten wurden, wenn jemand auf einer Party einen Seher kennen lernte – neben anderen uralten Klischees wie: ›Machen die Dweller wirklich Jagd auf ihre eigenen Jungen?‹ und: ›Sind sie tatsächlich so alt, wie sie behaupten?‹
Die Dweller-Liste war eine Sammlung von Koordinaten. Sie war, soweit sich das mit Sicherheit feststellen ließ, gegen Ende des Burster-Krieges vor vierhundert Millionen Jahren aufgetaucht und wahrscheinlich schon damals gründlich veraltet gewesen. angeblich waren auf der Liste die geheimen Arteria-Portale der Dweller aufgeführt, die seit der Epoche des Langen Zerfalls schrittweise angelegt worden sein sollten. Damals hätten, so hieß es, die Dweller entschieden, man könne nicht davon ausgehen, dass die anderen Spezies – oder Speziesgruppen –, mit denen sie ihre Galaxis teilen müssten, imstande seien, ihre eigenen oder die gemeinschaftlich betriebenen Wurmloch-Netzwerke wirksam zu schützen. wenn man sicher und ohne Umstände von einem Gasriesen zum anderen reisen wolle, sei es daher ratsam, ein eigenes Arteria-Netz zu bauen und zu kontrollieren – und dieses Netz vor allen anderen geheim zu halten.
Natürlich berücksichtigte diese Geschichte die Einstellung der Dweller zu Zeit, Raum, Größe und mehr oder weniger allem anderen in keiner Weise. Die Dweller brauchten keine Wurmlöcher, die es ermöglichten, so gut wie ohne Zeitverlust von einem System zum anderen zu reisen. Sie hatten eine Lebenserwartung von Milliarden von Jahren und konnten ihren Metabolismus und ihre Denkvorgänge so weit verlangsamen, dass eine Reise von tausend, zehntausend oder auch hunderttausend Jahren für sie nicht länger dauerte als eine einzige Schlafperiode oder nicht mehr Zeit beanspruchte, als man brauchte, um ein gutes Buch zu lesen oder ein kompliziertes Spiel zu spielen. Außerdem waren sie bereits überall gewesen; nach eigener Aussage hatten sie sich in der Ersten Diaspora-Epoche, die zu Ende ging, als das Universum erst zweieinhalb Milliarden Jahre alt war, über die ganze Galaxis ausgebreitet. Selbst wenn das geprahlt sein sollte, eine typische Dweller-Übertreibung, war nicht zu leugnen, dass Dweller in beachtlicher Anzahl in mehr als neunundneunzig Prozent aller Gasriesenplaneten der Galaxis zu finden waren, und das schon so lange, wie irgendjemand sich erinnern konnte. (Die große Ausnahme war der Jupiter. Der Gasriese im Hinterhof der Menschheit fiel insofern aus dem Rahmen, als er vergleichsweise wasserarm war. Für die Dweller galt er als Wüstenplanet und wurde nur selten aufgesucht.)
Nachdem Fassin Jahrhunderte in Echtzeit und Jahrzehnte in scheinbarer Zeit bei den Dwellern verbracht hatte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, die Dweller verabscheuten die ›Schnellen‹-Spezies wie die Menschen und alle anderen in der Merkatoria, die es für nötig hielten, wurmlöcher zu benützen – und bedauerten sie zugleich.
In den Augen der Dweller bedeutete ›schnell‹ zu sein – derart überstürzt zu leben – sich zu einem frühen Ende zu verurteilen. Das Leben habe eine Bahn, eine natürliche Kurve, der man sich nicht entziehen könne. Evolution, Entwicklung, Fortschritt: all das wirke zusammen, um eine empfindungsfähige Spezies in einer bestimmten Richtung voranzutreiben, der Einzelne könne nur entscheiden, ob er die Straße im Laufschritt hinter sich bringen oder sie entlangschlendern wollte. Die ›Langsamen‹ ließen sich Zeit und stellten sich auf die Größe und die natürlichen Grenzen ihrer Galaxis und des ganzen Universums in seiner derzeitigen Existenzform ein.
Die ›Schnellen‹ suchten nach Abkürzungen und schienen entschlossen, sogar die Struktur des Raumes ihrer Hektik und Ungeduld zu unterwerfen. Wenn sie intelligent waren, setzten sie ihren Kopf durch, führten aber ihr eigenes Ende damit nur umso früher herbei. Sie lebten rasch und starben noch rascher, rasten wie jäh aufflammende, prachtvolle aber schnell verblassende Leuchtspuren über das Firmament. Die Dweller wollten wie alle ›Langsamen‹ auch noch fernere Zeiten erleben und waren bereit, so lange zu warten.
Warum sich die Dweller also die Mühe gemacht haben sollten, ein geheimes Wurmlochnetzwerk zu bauen, war daher ein Rätsel, ebenso, wie es ihnen gelungen war, ein solches Netz über so viele hundert Millionen Jahre geheim zu halten, und erst recht, wie sich das damit vereinbaren ließ, dass jede einzelne Dweller-Gemeinde ganz offensichtlich Wert darauf legte, sich von allen anderen zu isolieren.
Trotz alledem war der Mythos der Dweller-Liste für die Allgemeinheit und erst recht für die Verschwörungstheoretiker nach wie vor ein aufregendes Thema. Besonders in diesen schwierigen und gefährlichen Zeiten wäre es mehr als großartig gewesen, wenn solch ein geheimes Wurmlochnetzwerk existiert hätte.
Fassin war sich mit den Fachbüchern darüber einig, dass die Liste nicht zufällig zum ersten Mal während des Burster-Krieges aufgetaucht war, als die ganze galaktische Gemeinschaft auseinander zu fallen drohte und man sich auch noch an den letzten Strohhalm klammerte. Damals war die Gesamtzahl der Portale von fast 39 000 – einem Stand, der nie mehr übertroffen werden sollte – auf knapp tausend zurückgegangen. Im Dritten Chaos wurde mit galaxisweit weniger als hundert Löchern die Talsohle erreicht, aber die Dweller waren nicht eingesprungen und hatten etwa ihr geheimes System zur Nutzung freigegeben. Wenn nicht in einem Augenblick, da das Licht der Zivilisation auf der großen Linse vollends zu erlöschen drohte, wann denn? Würden sie der Galaxis überhaupt jemals aus irgendeinem Grund zu Hilfe eilen?
Zum Teil bestand die Faszination der Liste in ihrer Größe. Angeblich enthielt sie mehr als zwei Millionen Portalkoordinaten, das hieß, mehr als eine Million Arteria, die, so nahm man an, zu einem einzigen allumspannenden Netzwerk verbunden waren. Auf dem Höhepunkt des Dritten Komplexes achttausend Jahre früher hatten genau 217 390 bekannte Wurmlöcher die Galaxis zusammengehalten, und soweit man wusste, war dies das dichteste Netz aller Zeiten gewesen. wenn die Dweller-Liste tatsächlich existierende Portale und Arteria aufführte, könnte mit ihr der größte Wandel in der Geschichte der Galaxis eingeleitet werden. Man könnte auf einen Schlag zwei Millionen Systeme miteinander vernetzen, von denen viele noch nie in Verbindung gestanden hatten. Man könnte fast alle Bewohner überall zusammenführen – noch der entlegenste, isolierteste Stern wäre höchstens ein bis zwei Jahrzehnte vom nächsten Portal entfernt. Und man könnte kurzerhand die gesamte galaktische Gemeinschaft wiederaufleben lassen, in einem Ausmaß, wie es in fast zwölf Milliarden zäher, immer wieder stockender Zivilisierung noch nicht da gewesen war.
Doch Fassin und die meisten seiner Seherkollegen hielten solche Hoffnungen schon seit langem für unbegründet. Die Dweller brauchten keine Wurmlöcher, und nichts wies darauf hin, dass sie welche benützten. Als Dweller behaupteten sie natürlich, Experten der Arteria-und Portal-Technik zu sein, und sie hatten sicherlich auch keine Angst vor Wurmlochreisen, sie sahen nur einfach keine Notwendigkeit dafür … aber selbst wenn sie sich jemals ernsthaft mit dem Wurmlochbau beschäftigt hätten, wären diese Zeiten längst vorbei. Außerdem wäre man mit der Liste selbst, die seit hunderten von Jahrmillionen in zahllosen Kopien in Bibliotheken und Datenspeichern herumlag, so dass jeder mit einem entsprechenden Datenanschluss darauf zugreifen konnte, noch längst nicht am Ziel; sie enthielt nur grob die Koordinaten von zwei Millionen Gasriesen in zwei Millionen Systemen. Man brauchte aber präzise Angaben.
Die naheliegendsten Stellen für eine Suche wären die jeweiligen Trojanischen oder Lagrange-Punkte gewesen, gravitationsstabile Zonen auf und zwischen den Bahnen der verschiedenen Planeten in den angegebenen Systemen. Doch diese Möglichkeiten hatte man längst eliminiert. Danach wurde es schwieriger. Theoretisch konnte man eine Wurmlochmündung in jedem stabilen Orbit irgendwo im System absetzen, wo sie unentdeckt bliebe, falls nicht jemand durch Zufall darüber stolperte. Aktive Portale waren bis zu einem Kilometer breit und hatten eine effektive Masse von mehreren hunderttausend Tonnen. Ein geschrumpftes und stabilisiertes Portal mit relativ einfachen automatischen Systemen, die dafür sorgten, dass es auch in diesem Zustand blieb, hinterließ dagegen nur eine Gravitationssignatur von weniger als einem Kilogramm und konnte mehr oder weniger unbegrenzt lange in einem Orbit kreisen, der so weit draußen lag wie die Oort’sche Wolke eines Systems. Die Schwierigkeit war nur, den Ort adäquat zu beschreiben.
Angeblich existierte noch ein weiterer Koordinatensatz oder auch eine einzelne mathematische Operation, eine Transformation, die wie von Zauberhand die genauen Positionen der Systemportale lieferte, wenn man sie auf die in der ursprünglichen Liste aufgeführten Koordinaten anwendete. Dagegen ließ sich natürlich einwenden, dass kein bekanntes Koordinatensystem nach mindestens vierhundert Millionen Jahren noch zuverlässig angeben konnte, wo sich ein so kleines Objekt wie ein Wurmloch-Portal befand. (Es sei denn, die Löcher hätten sich über die ganze Zeit alle mit irgendeiner Automatik in der gleichen relativen Position gehalten. Doch in Anbetracht der unbekümmerten Lässigkeit, mit der die Dweller an alle technisch anspruchsvollen Verfahren herangingen, wäre dies ausgesprochen unwahrscheinlich.)
»Vielleicht«, sagte das Abbild über dem schwarzen Kessel im Zentrum des Audienzsaals, »darf ich davon ausgehen, dass inzwischen jedermann weiß, wovon die Rede ist …« Es sah sich noch einmal um. Niemand widersprach.
»Die Dweller-Liste«, sagte das Hologramm,»die angeblich die ungefähre Position von zwei Millionen uralter Portale aus der Zeit vor der Dritten Diaspora-Epoche angibt, wurde über eine Viertelmilliarde Jahre als belanglos, als Schwindel oder als Mythos abgetan. Die so genannte Transformation zur Ergänzung der Informationen, die man braucht, um auf dieses geheime Netzwerk zuzugreifen, bleibt bislang unauffindbar, und ist, falls sie tatsächlich existieren sollte, wahrscheinlich unbrauchbar. Sei dem, wie es wolle. inzwischen sind neue Informationen ans Licht gekommen, und das verdanken wir Seher, jetzt Major Taak.«
Fassin spürte, wie sich wieder alle Blicke auf ihn richteten. Er selbst starrte unverwandt auf das Hologramm.
»Vor knapp vierhundert Jahren«, sagte das Hologramm, »nahm Seher Taak an einer längeren Expedition teil – einem so genannten ›Trip‹ – der ihn zu den Dwellern von Nasqueron führte, genauer gesagt zu einer Gruppe von Halbwüchsigen, die sich Stamm Dimajrian nannte. während dieses Aufenthalts machte er die Bekanntschaft eines uralten Dwellers, und der eröffnete dem Seher – in einem Anfall von Großzügigkeit, wie er bei seinesgleichen ungewöhnlich ist – Zugang zu einer kleinen Bibliothek, die Teil eines größeren Informationshortes war.«
(Eigentlich war es genau umgekehrt gewesen – der Mythos hatte die Fakten verdrängt. Fassin hatte mit Valseir Jahrhunderte verbracht, mit dem Stamm Dimajrian dagegen nicht einmal ein ganzes Jahr. Hoffentlich waren die übrigen Informationen des Admirals zuverlässiger. Dennoch erschien plötzlich vor seinem inneren Auge ganz deutlich der Choal Valseir, wie er, uralt und riesig, mit Lumpen und Lebensamuletten behängt, gedankenverloren in seiner riesigen Nestschüssel von Arbeitszimmer schwebte, tief in dem verschollenen Abschnitt des unbewohnten WolkenTunnels am Rand eines abflauenden Riesensturms, der sich seither längst aufgelöst hatte. »Wolken. Ihr seid wie die Wolken«, hatte Valseir zu Fassin gesagt. Der hatte damals nicht verstanden, was der greise Dweller meinte.)
»Die Rohdaten mit dieser Information wurden an die Justitiarität zur Analyse weitergegeben«, sagte die Gestalt über dem schwarzen Kessel. »Zwanzig Jahre später, nachdem die üblichen Untersuchungen und Interpretationen abgeschlossen waren und man an sich auch ausreichend Zeit für alle Bedenken, Neubewertungen und plötzlichen Eingebungen gehabt hätte, teilte man diese Daten im Rahmen eines offiziellen Informationsaustauschs mit den Jeltick.«
Die Jeltick waren eine arachnoide Spezies mit acht Beinen – was innerhalb der galaktischen Gemeinschaft üblicherweise mit 8ar abgekürzt wurde. Mit ihrer Besessenheit, alles zu katalogisieren, waren sie eine von zwei Spezies von selbsternannten Historikern, deren Arbeit am meisten überzeugte. zaghaft, vorsichtig, bedächtig und (aus sicherer Entfernung) ungemein neugierig, hatten sie sich sehr viel länger gehalten, als es bei ›Schnellen‹ Spezies sonst üblich war.
»Es ist kaum zu glauben, aber den Jeltick fiel etwas auf, was der Justitiarität entgangen war«, fuhr das Hologramm fort. (Jetzt war es an Colonel Somjomion, ein peinlich berührtes Gesicht aufzusetzen.) »Für diese Unfähigkeit rollten einige Köpfe«, bemerkte das Abbild und lächelte. »Und das ist nicht bildlich gemeint.«
Colonel Somjomion presste die Lippen zusammen und kontrollierte etwas an dem Gerät, für das sie zuständig war.
»Binnen weniger Monate«, nahm das Hologramm den Faden wieder auf, »schickten die Jeltick die für ihre Verhältnisse beste Schlachtflotte, die sie aufbieten konnten, ins – seit Jahrtausenden unbeachtete – Zateki-System, das etwa achtzehn Jahre vom Portal bei Rijom entfernt ist. Sie erreichten ihr Ziel in zwanzig Jahren, man kann ihnen also nicht vorwerfen, sie hätten getrödelt. Man sollte darauf hinweisen, dass sich die Jeltick normalerweise nie auf ein Abenteuer einlassen würden, das so viel Dynamik erfordert und so risikobehaftet ist.
Im Zateki-System wurden die Schiffe der Jeltick von einem unbekannten Feind einfach in Stücke gerissen. Das vermutlich einzige Schiff, das entkommen konnte, wurde später von den Voehn aufgelesen. Es befand sich auf der Flucht, alle Insassen waren tot, und sein Biobewusstsein war gestört. Es erflehte die Gnade eines unbekannten Gottes und bettelte um Vergebung für seinen Auftrag, die Suche nach den Überresten eines ›Zweiten Schiffes‹, in dem sich die Transformation zur Dweller-Liste befinden sollte.«
Aha, dachte Fassin. Die Theorie des Zweiten Schiffes. Ein kleinerer Trugschluss im Gefüge des Dweller-Listen-Wahns. Je tiefer man in den Listen-Mythos eindrang, desto komplizierter wurde er, und desto mehr Möglichkeiten taten sich auf. Nichts als Unsinn natürlich, so hatte man jedenfalls bislang gedacht.
»Irgendwie bekamen, vermutlich durch Spione, die Beyonder-Rebellen und – möglicherweise über die Beyonder – das E-5-Separat Wind von der Sache. Kaum einen Monat später griffen die Beyonder das Ulubis-Portal an. Das plötzliche Interesse des E-5-Separats an Ulubis datiert ebenfalls aus dieser Zeit. Als die Jeltick erkannten, dass ihr Geheimnis kein Geheimnis mehr war«, setzte die Projektion ihren Bericht fort, »ließen sie ihre Entdeckung weiträumig durchsickern, um sich nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen und ihren Ruf als uneigennützige Makler zu bewahren.« Die Gestalt verzog das Gesicht.»Auch davon ist man bei der Hohen Kommandantur nicht sehr angetan – man darf davon ausgehen, dass die Jeltick irgendwann dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Jedenfalls verfolgten volle fünf Geschwader der Generalflotte – mehr als dreihundert Großschiffe – die Flugroute der Jeltick nach Rijom und Zateki zurück, fanden aber nichts. Als alles offen gelegt wurde, stellte sich heraus, dass die einschlägigen Informationen ohnehin unvollständig waren; man könnte sagen, es wurde nur die halbe Spur gelegt. Die Jeltick hatten einen riskanten Zug gemacht, sie hatten selbst mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit von lediglich zwölf Prozent gerechnet. Allein, dass eine so vorsichtige Spezies ihren Ruf und ihre Zukunft derart bedenkenlos aufs Spiel setzt, beweist, wie hoch der Gewinn war, den sie sich versprach.«
Das Hologramm klatschte hörbar in die behandschuhten Hände. »Nun weiß also jeder Bescheid, der sich für diese neue – wie auch immer beschaffene – Spur zu der Transformation interessiert, einschließlich des Separats des Hungerleider-Kults und – auch wenn sie sich in letzter Zeit recht ruhig verhalten haben – der Beyonder, ob sie nun mit dem E-5-Separat im Bunde sind oder nicht. So erklären sich die jüngsten Angriffe auf Ulubis und die bevorstehende Invasion.
Aber vergessen Sie nicht …« in der grimmigen Stimme schwang Jubel mit, »so schrecklich die Gefahr auch sein mag, der Lohn ist unermesslich. wenn wir herausfänden, wo die verborgenen Portale liegen – immer vorausgesetzt, sie sind überhaupt vorhanden – könnten wir vielleicht im Ulubis-System intervenieren, bevor die Invasionstruppen des Hungerleider-Kults hier eintreffen. Das allein würde den vollen Einsatz, die größten Opfer rechtfertigen. Noch wichtiger ist freilich, dass uns diese Portale vielleicht – nur vielleicht –, denn es gibt keine Gewissheit, die Galaxis öffnen und für die Merkatoria und für uns alle eine neue Epoche des Wohlstands und der Sicherheit einläuten könnten.« Wieder hielt die Projektion inne. »Allerdings liegen selbst nach den positivsten Schätzungen unserer Strategen die Erfolgschancen bei den Aktionen, zu denen wir Sie auffordern werden, unter fünfzig Prozent.« Die Projektion holte tief Luft. »Aber das tut nichts zur Sache. Die kleinste Chance, den großen Preis zu erringen, um den sich nur so wenige bewerben dürfen, macht den Kampf zur Pflicht. Uns bietet sich hier eine ganz und gar außergewöhnliche, womöglich einmalige Gelegenheit, und nur das zählt. Wir müssten uns alle schwerer, ja krimineller Versäumnisse zeihen, wenn wir nicht alles einsetzten, um diese Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, nicht nur in unserem eigenen Interesse, sondern zum Wohle aller unserer Mitkreaturen und der noch ungeborenen Generationen.«
Das Abbild hatte wieder sein kaltes Lächeln aufgesetzt. »Im Auftrag des Komplektor-Rats habe ich folgende Befehle zu übermitteln: Seher – jetzt Major – Taak …« (Die Projektion hatte Fassin schon seit längerem unverwandt angesehen. Nun folgten viele der Anwesenden im Saal ihrem Beispiel.) »… Sie kehren nach Nasqueron zurück, suchen den betagten Dweller auf, von dem Sie jene erste Information bekommen hatten, und bringen möglichst viel über die Dweller-Liste, das Zweite Schiff, seinen derzeitigen Standort und die Transformation in Erfahrung.« (Das Abbild sah sich im Saal um). »Für alle anderen hier Anwesenden gilt: Erstens: Sie unterstützen Major Taak nach Kräften bei seiner Mission und unterlassen alles, was diese Mission verzögern, behindern oder gefährden könnte. Zweitens: Das Ulubis-System wird unverzüglich wieder in einen Zustand versetzt, in dem es sich auf eine unmittelbar bevorstehende Invasion und einen totalen Krieg mit allen Konsequenzen einstellen und alle Kräfte mobilisieren kann, um sich den Angreifern zu widersetzen. Ihr Ziel sollte – und das ist keine Übertreibung – der Kampf bis zur allerletzten Kreatur, zum allerletzten Sterblichen, zum allerletzten Atemzug sein.«
Das Hologramm wich ein wenig zurück, wie um alle ins Auge zu fassen. »Lassen Sie mich eines ganz deutlich machen: Sie selbst haben Ihr Schicksal in der Hand, daran kann kein Zweifel bestehen. Und, was noch wichtiger ist, dies könnte auch für das Schicksal der Merkatoria und der gesamten zivilisierten Galaxis gelten. Haben Sie Erfolg, dann winkt Ihnen ein Lohn, der in seiner Größe und seinem Glanz ohne Beispiel ist. Scheitern Sie, so warten nicht nur Schmach und Schande auf Sie, Sie stürzen in bisher unbekannte Tiefen des Grauens. Ein Letztes noch. Sie wissen, dass das Technikschiff Est-taun Zhiffir, das dieses Signal ausschickte, und die Kampfflotte, von der es eskortiert wird, das Ulubis-System erst in siebzehn Jahren erreichen werden. Ich kann Ihnen mitteilen, dass große Teile der Generalflotte von mehr als Geschwaderstärke bereits vor dem Start des T-Schiffs von Zenerre hierher in Marsch gesetzt wurden. Diese Kampfverbände halten seither mit weit höherer Geschwindigkeit als das T-Schiff direkt auf Ulubis zu und werden etliche Jahre vor ihm und seiner Eskorte hier eintreffen. Die Schiffe werden sich ohne Rücksicht auf Verluste – allen Gegnern der Merkatoria entgegenwerfen und – verlassen Sie sich darauf – sie werden siegen.«
Wieder lächelte die Gestalt. »Ich würde Ihnen zu gerne sagen, wann genau das Vorauskommando von heute an gerechnet hier auftauchen wird. Leider steht das nicht in meiner Macht; dieses Signal wurde von der Flotte ausgeschickt, die das T-Schiff begleitet, und wir wissen weder, wie weit sich diese Schiffe zum Zeitpunkt des Absetzens der Lichtgeschwindigkeit angenähert hatten, noch kennen wir ihre Geschwindigkeit beim Eintreffen des Signals. wir können nur Vermutungen anstellen. wenn sich die Vertreter des Separats noch zwei Jahre Zeit lassen, könnten die Kampfgeschwader durchaus vor ihnen hier sein. Sonst landen sie in einem System, das bereits an den Feind gefallen ist oder sich – hoffentlich – noch irgendwie zur Wehr setzt. Wie sie sich dann verhalten, hängt weitgehend von Ihrer Tapferkeit und Ihrer Entschlossenheit sowie von Ihren Nehmerqualitäten ab.«
Die Projektion lächelte. »Das war alles. Gibt es noch weitere Fragen?«
Die Beyonder hatten sie offenbar erwartet. Die Rebellenschiffe flogen bereits mit neunzig Prozent der halsbrecherischen Geschwindigkeit, die sie selbst anstrebten, als sie auf den Fernscannern des vordersten Schiffes erschienen.
Taince Yarabokin schwamm in Fötushaltung im Schockgel, ihre Lungen waren mit Flüssigkeit gefüllt, sie war mit dem Schiff verbunden und wurde von ihm ernährt. Sie sprach mit ihm, hörte ihm zu, fühlte sich in ihm geborgen. Der Druckanzug, der seinen Träger wie eine zweite Haut umgab, vervollständigte das Bild des Kriegers als ungeborenes Wesen noch weiter. Die Verbindung zum Schiff wurde allerdings über Implantate und eine Induktionsmanschette und nicht durch einen Schlauch hergestellt, der durch ihren Nabel führte, und ihre Brust bewegte sich nur schwach, wenn das Kiemenwasser Sauerstoff in ihr Blut schwemmte und Abfallgase wieder ausfilterte. Im Dunkel hinter den geschlossenen Lidern zuckten ihre Augäpfel ohne ihr Zutun. Sie teilte das Gefängnis mit etwa vierzig ihrer Kameraden. alle lagen zusammengerollt, gut geschützt und verkabelt in ihren Überlebenskapseln tief im Bauch der Mannlicher-Carcano, des Flaggschiffs der Flotte.
Vorne an der Spitze scherte der Zerstörer Petronel aus, jagte seine Triebwerke hoch und verschwand in einer Lichtflut, die sich abschwächte, als die Sensoren die Helligkeit kompensierten. Die Abschirmung wurde durchlässiger, und Taince konnte die noch verbliebene Hälfte des Leitschiffs haltlos durch das All taumeln sehen. Der Rumpf löste sich in schwarze, geschwungene Trümmerfontänen auf, einzelne Bruchstücke wurden gegen den Tunnelbogen aus harten, blauweißen Sternen geschleudert, die sich vor ihnen zusammenballten.
– Spitze registriert Vielfachkontakte bei Flottengeschwindigkeit neunzig, sagte eine Stimme. Die Meldung kam von den Fernsensoren.
– Spitze ist getroffen, meldete eine zweite Stimme. Der Flottenstatus.
– Kontakt zur Spitze verloren, folgte prompt eine dritte.
– Spitze verschwunden. Flottenkommunikation und Status kamen fast gleichzeitig.
Taince war sofort wach und hörte gerade noch, wie ein verängstigtes Stimmchen in ihrem Inneren protestierte: Nein! Nicht ausgerechnet auf meiner Wache! Noch dazu, während der Flottenadmiral sein Nickerchen machte und sie allein die Verantwortung hatte. Doch bevor die Reaktion in ihrem Kopf verklungen war, fragte sie bereits Werte ab, beurteilte, überlegte und schickte sich an, Befehle zu erteilen. Sie wechselte mehrmals zwischen der weitgehend realitätsnahen Sicht der Tiefraumsensoren, wo die Sterne vor ihr zu einem blauweißen Kreis zusammengedrängt waren und sich hinter ihr zu einer verschwommenen roten Pfütze sammelten, während in allen anderen Richtungen tiefe Dunkelheit herrschte, und dem Takraum, einer Sphäre mit vielen Linien und Radien. Hier wurden die Schiffe der Flotte als kleine, stilisierte Pfeilspitzen in verschiedenen Größen und Farben dargestellt, gefolgt von Linien aus erlöschenden Punkten, die den Kurs anzeigten, und begleitet von grün leuchtenden Identitäts-und Statuscodes.
Das vorher vereinbarte Trennungsmanöver ließ sich so nicht durchführen. Das Schiff, das soeben der Petronel die Spitze überlassen hatte, war noch auf dem Weg zurück zum Hauptverband, und eine Trennung nach Plan eins würde schlimmstenfalls zu Vielfachkollisionen führen und wäre bestenfalls zu langsam.
Na schön, es wurde allmählich Zeit, dass sie sich ihren Sold verdiente und die Kommunikation in die Hand nahm. Taince sendete:
– Alle Schiffe nach Plan fünf ausschwärmen. BK-drei, außerdem zwei Strich nach innen, Delta schräg links, Zeit fünf, dann zurück.
Die Schiffe meldeten ›Verstanden‹, das erste Signal kam von ihrem eigenen Steuermann. als Letzter bestätigte der Schlachtkreuzer Jingal den leichten Knick, den sie seinem Kurs verpasst hatte, um ihren Z-Sieben besser eingliedern zu können. Zerstörer sieben, die Culverin, war das Schiff, das sich hatte zurückfallen lassen, nachdem es mit der Petronel die Spitze getauscht hatte. Nur am Rande drang in ihr Bewusstsein, dass ihr Körper eine Bewegung registrierte, eine jähe Richtungsänderung, so extrem, dass nicht einmal das Schockgel sie vollständig abpuffern konnte. Ringsum mussten die Schiffe aufflammen wie lautlos explodierende Schrapnelle.
– Hüllenbelastung fünfundachtzig, kam die Meldung von Schiffsintegrität/Schadenskontrolle.
– Alle Einheiten antworten. Fächerformation fünf voll ausgefahren, meldete Flottenstatus.
– Z-sieben: vielen Dank, schließen uns an.
– K-eins: einzelner Kontakt, fünf Nord-abwärts-West
– Z-drei: Doppelkontakt; minus vier Nord-aufwärts-Ost.
Der Kreuzer Mitrailleuse und der Zerstörer Cartouche hatten Feinde ausgemacht. taince brauchte nicht einmal einen Blick in den Takraum zu werfen, sie wusste auch so, dass sie nun von beiden Seiten bedrängt wurden.
– Wir sind also eingekeilt.
– Eine Zange. voll erwischt.
Die letzten Kommentare kamen von den zwei ranghöchsten Taktikoffizieren.
– Hört sich an, als spielten wir Schiffe versenken. (Das war Flottenadmiral Kisipt. Er war aufgewacht und beobachtete das Geschehen. Hatte aber offenbar nichts dagegen, taince vorerst das Kommando zu überlassen.)
– K-eins: Feindberührung bestätigt. Erbitten Feuererlaubnis.
– Z-drei: Feindberührung bestätigt. Erbitten Feuererlaubnis.
Die Mitrailleuse und die Cartouche wollten schießen.
– Empfehlen Feuer frei/Empfehlen Feuer frei, riefen die anderen Taktiker im Chor.
– Feuer frei, genehmigte Flottenadmiral Kisipt. – Vize?
Vizeadmiral Taince Yarabokin war der gleichen Meinung. – K-Eins, Z-Drei; Feuer frei.
– K-eins: Feuer.
– D-drei: Feuer.
Im Takraum sah man von den beiden Schiffen grellrote Strahlen aufzucken. Die limonengrünen Pünktchen mit den eigenen Statusleisten waren Raketen, die auf die feindlichen Schiffe zurasten.
– Mehrfachtreffer im Trümmerfeld Z-Eins, meldeten die Fernsensoren.
– Fächer fortsetzen?
– Fächer fortsetzen, bestätigte Taince. Sie beobachtete die Blitze vor sich. Die wild rotierenden, umherwirbelnden, Purzelbäume schlagenden Trümmer der Petronel wurden weiter von feindlicher Artillerie getroffen. Die Reste stürzten rasch auf die Hauptflotte zu, die sich rasch nach außen verteilte. Sie rief den Countdown bis zur Kollision ab: sechsundsiebzig Sekunden. Sie stellte die Anzeige auf Hautkontakt um, um ihr Sichtfeld nicht unnötig zu überfüllen.
Das Laserfeuer der Mitrailleuse und der Cartouche hatte bisher nichts bewirkt. Die Raketen waren noch auf dem Weg zum feindlichen Schiff. Noch gab es keine Anzeichen für einen Gegenschlag.
Und wenn wir uns irren?, dachte Taince. Vielleicht haben sie uns und unser ach so raffiniertes Manöver ja schon längst durchschaut? Ohne es selbst zu merken, brachte sie in den Tiefen ihrer Überlebenskapsel so etwas wie ein Achselzucken zustande. Und wenn schon. Dann sind wir eben bald tot. Wenigstens müsste es schnell gehen.
– Fächer fortsetzen?
– Fächer fortsetzen, bestätigte sie abermals. Wartete, wog ab, fragte sich, ob das Manöver wohl klappen würde. Im Takraum erschienen aus zweiter Hand, zunehmend überholt, die Kontakte, die die Petronel ausgemacht hatte. Eine leuchtende Wolke aus pulsierenden gelben Echos, die sich langsam auflöste. Die beiden harten Kontakte, die immer noch von den Sensoren der Mitrailleuse und der Cartouche registriert und nun auch von anderen Schiffen in der Nähe bestätigt wurden, waren rote Blinklichter, die langsam näher kamen. Die Trümmer der Petronel, eine getüpfelte, violette Masse, die sich allmählich ausdehnte, trieben genau von vorne auf sie zu.
Alles in Ordnung, beruhigte sich Taince. Es ist zu schaffen.
Sie hatten das ganze Verfahren in VR-Simulationen immer und immer wieder geprobt, um sich gezielt auf diesen Fall, diesen Hinterhalt samt Manöver und Reaktion vorzubereiten.
Die Beyonder würden sicherlich damit rechnen, dass eine Flotte von Zenerre nach Ulubis geschickt wurde. Und es gab natürlich nur eine schnellstmögliche Route; die Direttissima, gerade wie ein Laserstrahl, leicht gekrümmt nur durch Einbeziehung der minimalen Relativbewegung der beiden Systeme, die mit dem Rest des galaktischen Randes in fünfzigtausend Lichtjahren Entfernung um den Kern des großen Rades kreisten.
Sollte die Flotte also diese Route wählen und sich Überfällen durch andere Schiffe und – noch bedrohlicher – durch Weltraumminen aussetzen? (Wozu überhaupt Weltraumminen, wenn ein paar Tonnen zertrümmertes Gestein die gleiche Wirkung erzielten? Man zerschlage einen kleinen Asteroiden zu Kies von Reiskorngröße und verstreue ihn über den Weg, den die Flotte nehmen würde. wenn die Schiffe schnell genug flogen, bliebe nichts übrig. So knapp unter Lichtgeschwindigkeit brauchte man keine zielsuchenden Explosivgeschosse, jede einfache Kollision war vernichtend.) Oder sollte sie weiter ausschwenken, um nicht so leicht abgefangen zu werden, und dafür in Kauf nehmen, dass sie später ans Ziel kam?
Und sollten die Schiffe zusammenbleiben (was vernünftig, aber auffällig war) oder sich trennen? Sollten sie einzeln nach Ulubis fliegen und sich erst kurz vor dem Ziel zusammenfinden (sehr riskant, aber möglicherweise eine Taktik, die der Feind nicht erwartete)? Letztlich hatte der Flottenadmiral aus einem Bündel schwach gekrümmter Routen, die von den Strategen und ihren Sub-KI-Maschinen empfohlen wurden, eine ausgewählt, und dann hatte die gesamte Flotte diesen Kurs genommen.
Es war ein Lotteriespiel. Sie riskierten, dass sie abgefangen wurden, besonders wenn die Beyonder tatsächlich so viel Material zwischen Zenerre und Ulubis deponiert hatten, wie man vermutete. Für sie wäre die einfachste Strategie, etwa auf halbem Wege kleinere Schiffe und Sensorplattformen zu postieren und die eigentlichen Abfangschiffe – bereits mit hoher Geschwindigkeit – in weitem Abstand folgen zu lassen, um ihnen Zeit zu geben, sich für den Angriff zu sammeln. Die Beyonderschiffe waren zahlenmäßig und was die Bewaffnung anging hoffnungslos unterlegen und hätten in einer offenen Schlacht keine Chance. Aber wozu sollten sie sich auf eine offene Schlacht einlassen? Sie brauchten die Merkatoria-Flotte ja nur zu behindern, wo es ging, und dazu wären kleine Überfälle und Hinterhalte geeigneter, bei denen man die ungeheure Geschwindigkeit des Gegners gegen ihn verwenden konnte.
Theoretisch hätte die Merkatoria-Flotte auch auf Nummer sicher gehen und langsam fliegen können. Wer wäre ihr gewachsen? Mit ihrer überlegenen Bewaffnung konnte sie sich jederzeit den Weg freischießen. Aber man hatte ihr befohlen, so schnell wie möglich und ohne Rücksicht auf Verluste Ulubis zu erreichen, deshalb musste sie dicht an der Höchstgeschwindigkeit fliegen und lief dadurch Gefahr, von einer Hand voll kleinerer Schiffe und ein paar Tonnen pulverisierten Felsgesteins in Stücke gerissen zu werden.
Also hatte man sich einen eigenen Überraschungsplan ausgedacht.
Nadelschiffe waren so gebaut, dass sie auch durch schmale Wurmlöcher passten. So einfach war das. Die größten Arteria und die breitesten Portale maßen einen Kilometer im Durchmesser, aber im Mittel betrug der Wurmlochdurchmesser weniger als fünfzig Meter und ein paar sehr alte Arteria waren kaum zehn Meter breit. die Herstellung einer Arteria und ihrer beiden Portale erforderte einen ungeheuren Aufwand an Energie und/oder Material, und hatte man sie erst installiert, dann war es schwierig, kostspielig und gefährlich, sie zu erweitern. Was nützte es der Merkatoria, ein Netz von superschnellen Reiseverbindungen in der gesamten Galaxis zu haben, wenn ihre Schiffe zu dick dafür waren? Deshalb orientierten sich die Maße von Kriegsschiffen – dem letzten Druckmittel für die Merkatoria wie für alle früheren Imperien, Halbimperien und anderen Regierungsformen, die im Lauf der Geschichte versucht hatten, ihre Vorstellung von Frieden durchzusetzen oder der galaktischen Gemeinschaft ihren Willen aufzuzwingen – an der Breite der Öffnungen, die sie zu durchfliegen hatten.
In früheren Zeiten hatte es Großschiffe gegeben, die sich durch Selbstdemontage in viele kleinere, schlankere Bauteile zerlegten, um durch ein Wurmloch zu passen, und sich am anderen Ende wieder zusammenfügten. Aber das war ein allzu aufwändiges Verfahren gewesen. Nadelschiffe waren, obwohl technisch ungeheuer komplex und kostspielig, die einfachere und billigere Lösung. In der Kampfflotte auf dem Weg von Zenerre nach Ulubis waren die größten Schiffe einen Kilometer lang, aber nur knapp vierzig Meter breit.
Die von der Mitrailleuse abgeschossene Rakete erlosch unmittelbar vor dem feindlichen Schiff und wurde durch ein kleines Trümmerfeld ersetzt. Signale vom Kreuzer, den Sensoren und dem Flottenstatus bestätigten den Verlust.
– Die Rakete hat ein feindliches Profil durchschlagen, bevor sie abgeschossen wurde, meldete die Waffenkontrolle. Am Bildschirmrand erschienen die Daten, die die Rakete gesendet hatte.
– Sceuri-Schiff, Sulcus-oder Fosse-Klasse, sendete ein Taktikoffizier.
Sie hatten es also – zumindest bei diesem Schiff – mit der Todesspirale zu tun, dachte Taince. Diese Beyonder-Gruppierung bestand ausschließlich aus Sceuri; Wasserweltbewohnern mit einem tiefen Hass auf die Merkatoria im Allgemeinen und die eigenen Artgenossen, die ihr angehörten (und das waren die meisten), im Besonderen. Die Todesspirale war berüchtigt für ihre Grausamkeit, dabei hatte sie nicht einmal die Ausrede, ihre kostbaren Zivilhabitate schützen zu müssen. Sie unterhielt nämlich keine Habitate, ihre Mitglieder lebten fast ausschließlich auf Schiffen. Mit anderen Worten, es handelte sich um Freibeuter und Terroristen, schlichte Fanatiker. Dennoch waren sie, soweit sich das feststellen ließ, an dem Angriff auf das Ulubis-Portal nicht beteiligt gewesen.
– Damit operieren in diesem Raumabschnitt nicht drei, sondern vier verschiedene Beyonder-Gruppen, sendete der Admiral und fasste damit Tainces Überlegungen in Worte.
– Noch zwei mehr, und sie sind komplett, antwortete sie.
Sie kehrte in den Takraum zurück und beobachtete, wie die Rakete der Cartouche in weitem Bogen einer gekrümmten Leuchtspur entgegenflog, dem zweiten Feindschiff, das in der Nähe war. Die Rakete erreichte die Spur und überlagerte sie. Ein weißer Blitz flammte auf, ein Nebel aus winzigen Teilchen, rot mit grünen Flecken, breitete sich aus.
– Z-drei: Treffer! Feind getroffen!
Die beiden anderen Taktiker an Bord des Flaggschiffes stimmten ein Freudengeheul an.
– Gut gemacht, Z-drei, lobte Kisipt.
– Fächer fortsetzen ?
– Fächer fortsetzen. Taince blendete den Jubel der anderen und ihre eigene Erregung aus. Sie beobachtete den Takraum, lauschte auf das Geplapper des Schiffes und spürte, wie der Countdown ablief.
Die Flotte verteilte sich noch immer, die Kurse der Schiffe führten fächerförmig nach außen wie dünne Blumenstiele in einer kurzen Vase. taince wartete und wartete und wartete, bis sie zu spüren glaubte, wie Flottenadmiral Kisipt und alle anderen Luft holten, um sie anzuschreien.
Vierzig Sekunden. Sie sendete:
– Fächer einstellen. Formation fünf auflösen.
– Verstanden, sagte ihr eigener Steuermann. Die anderen Bestätigungen folgten. Im Takraum schoben sich die auseinander fließenden Schiffsspuren unverzüglich wieder zusammen, die Abstände zwischen ihnen verringerten sich.
– K-eins: Das wird eng.
Aber es war machbar. Sie konnten in die frühere Formation zurückkehren, bevor sie auf die Reste der Petronel trafen, und nur darauf kam es im Augenblick an. Der Takraum zeigte, dass die Formierung reibungslos vonstatten ging. Nach vorne war der grell leuchtende Trümmernebel der Petronel zu sehen, er schien sich über den ganzen Himmel auszubreiten und auf die dunkle, sternenlose Röhre zu beiden Seiten überzugreifen. Taince holte das Bild näher heran, suchte sich eine freie Stelle im Zentrum des Feldes und überprüfte sie im Takraum. Da.
Die beiden harten Kontakte begannen zu flimmern, wurden orange und breiteten sich aus. Der Takraum spannte Wahrscheinlichkeitskegel auf, Schätzungen, wo sich die Schiffe befinden könnten. Der Himmel leuchtete kurz in einem einheitlich fahlen Gelb, ein Hinweis darauf, dass der Rest der Beyonder-Flotte überall in diesem Abschnitt sein konnte. Dann löste sich aus dem Sumpf ein Schwarm von hellroten, harten Kontakten, und das Gelb erlosch.
Die Flotte formierte sich. Man kehrte an den Ausgangspunkt zurück. Zumindest, dachte Taince, müssten sie die Beyonder verwirrt haben.
– Alle Schiffe Formation null.
Noch in der Überlebenskapsel spürte sie den Ruck, als das Flaggschiff abbremste, sich ausrichtete und wieder beschleunigte. Sie beobachtete jede Bewegung im Takraum. Die Flotte fiel in sich zusammen, wurde schmäler, verlängerte sich nach vorne und hinten. schiff um Schiff glitt in die Reihe und schob sich mit dem Bug dicht ans Heck seines Vordermannes heran.
– BC-Vier, etwa zehn wieder nach unten. Z-elf, fünf nach vorne. S-drei und S-zwei an Z-acht ausrichten. BC-vier und halten.
Taince beobachtete das Drängeln und Schieben im Takraum und dirigierte die Schiffe so lange auf ihre Positionen, bis alle genau in einer Linie waren.
– Schiffe in Reih und Glied, vize?, sendete der Flottenadmiral, der ebenfalls zuschaute.
– Jawohl.
Es gab keine Kollisionen, keine verpfuschten Manöver, kein Triebwerk, das zu lange gezündet und das Schiff hinter sich versengt hätte. Die Linie fügte sich so mühelos zusammen wie in den VR-Simulationen. Das Schlachtschiff Gisarme übernahm die Führung, sprengte ein paar winzige Partikel weg, die vom Wrack der Petronel übrig geblieben waren, und versuchte mit kurzen Laserfeuerstößen alle kinetischen und anderen Minen abzufangen, die man ihnen in den Weg gelegt haben mochte.
Auch das war ein Lotteriespiel. Wenn es klappte, kämen sie durch und flögen einer hinter dem anderen im Pulk hinter der Gisarme her wie eine lange Kette von Rammböcken. wenn es nicht klappte, könnte es sein, dass zuerst die Gisarme mit etwas kollidierte und dann die Übrigen mit dem zusammenstießen, was von ihr noch übrig war. Die ganze Flotte könnte in einer einzigen großen Massenkarambolage, einem Wasserfall von Kollisionen ausgelöscht werden. Das Risiko war gering – geringer, so behaupteten die Simulationen, als bei allen anderen Manövern – aber nur deshalb, weil diese Taktik so überraschend war, dass sie allein durch ihren Neuigkeitswert eine Art Sicherheitsbonus bekommen müsste. Wenn das nicht zutraf, wäre sie gewagter als alles andere.
Die Beyonder waren nicht auf das Manöver gefasst. Es wich zu sehr vom Standardverhalten der Generalflotte ab. Die Nadelschiffe schossen wie eine einzige Riesennadel durch das Trümmerfeld des Zerstörerwracks, feuerten aus allen Rohren und trafen mehrfach feindliche Schiffe, die mit voller Kraft von außen heranrasten. Im Takraum loderten Feuerstrahlen nach allen Seiten wie die Speichen um eine fadendünne Nabe, dazwischen trudelten grün leuchtend wie winzige Smaragde die Raketen. Die Beyonder versuchten noch, die Flotte einzukreisen, aber es war zu spät. Die feindlichen Maschinen, die am dichtesten herankamen, wurden nur selbst zerstört. Zwei Minuten später hatte die Merkatoria-Flotte das Feld ohne Verluste durchquert, und eine Minute danach war alles Feuer nach hinten gerichtet: ein Kegel aus roten Linien fegte wie ein wirbelnder Rock in die sich leerenden Tiefen des Weltalls. von jetzt an hätte die Flotte in allen Kampfhandlungen das Sagen und könnte mit ihrer überlegenen Feuerkraft den Anfang wie das Ende bestimmen.
– Gute Arbeit, Vize. Flottenadmiral Kisipt klang ein wenig überrascht, ein wenig enttäuscht und ziemlich beeindruckt. Taince wusste, dass viele ihrer Offizierskollegen sich eine richtige Schlacht gewünscht hätten, aber diese Lösung war besser, schneller und eleganter gewesen. ›Gute Arbeit‹ – von einem Voehn war das höchstes Lob.
– Danke. Tainces Gedankenstimme blieb ruhig, aber innerlich war jetzt ihr nach einem Freudengeheul zumute. Sie ballte in ihrer dunklen Fruchtblase, inmitten von Schläuchen und Drähten die Fäuste, ihre Züge entspannten sich zu einem Lächeln, und ein leises Zittern durchlief ihren schwimmenden Körper.
Das Haus der Familie Kehar auf Murla, einer Insel vor der Südküste, ein paar hundert Kilometer von Borquille entfernt, war kugelförmig wie der Palast des Hierchon. Es hatte nur ein Viertel von dessen Größe, aber dafür balancierte es auf einer gewaltigen Wassersäule wie ein Ball auf einer Fontäne auf dem Rummelplatz.
Saluus Kehar stand, adrett bis in die Fingerspitzen, strotzend vor Gesundheit und strahlend wie eines der blitzblanken Raumschiffe, die in seinen Fabriken gebaut wurden, auf der schlanken Hängebrücke, um Fassin persönlich willkommen zu heißen. Die Brücke überspannte die Kluft zwischen der Landzunge, die in den uralten, überfluteten Krater hineinragte, und dem Haus, das leise zitternd auf der tosenden, Gischt versprühenden Wassersäule schwebte.
»Fassin! Wie schön, dich wiederzusehen! He! Die Uniform steht dir ausgezeichnet!«
Fassin hatte erwartet, instruiert/indoktriniert/psychogetestet/ angefeuert/und sonst wie durch die Mangel gedreht, auf ein Schiff gesteckt und schnurstracks nach Nasqueron verfrachtet zu werden. Doch die Bürokratie von Ulubis verließ auch in der dringendsten Notlage ihrer Geschichte die eingefahrenen Geleise nicht und hielt sich offenbar an die zentrale Maxime: Allzu große Eile bei Maßnahmen von großer Tragweite könnte von Übel sein.
Nachdem die KI-Projektion im Audienzsaal des Hierchon ihre Befehle übermittelt und um Fragen gebeten hatte, ging es hoch her. Es wurden Reden geschwungen, jeder versuchte, Punkte zu machen und sich abzusichern, man schoss zurück und wehrte schon im Vorfeld eventuelle Schuldzuweisungen ab. Admiral Quiles Abbild beantwortete alle Fragen mit einer unerschütterlichen Ruhe, die wahrscheinlich mehr als alles andere bewies, dass es sich tatsächlich um eine KI handelte. Ein Mensch – noch dazu ein Admiral, der an prompten und widerspruchslosen Gehorsam gewöhnt war – hätte lange vor dem Ende der Veranstaltung die Geduld verloren. Man deutete so oft auf Fassin und verwies auf ihn, bis er sich schließlich des Gefühls nicht mehr erwehren konnte, alles sei allein seine Schuld. was wohl irgendwie auch richtig war. Das Ganze dauerte so lange, dass Fassins Magen – vielleicht angeregt von der Stimmung im Saal – zu knurren anfing. Schließlich hatte er seit dem Frühstück am frühen Morgen auf ’glantine nichts mehr gegessen.
»War das wirklich alles?«, fragte die Projektion über dem Kochkessel, als endlich auch dem Redseligsten unter den Anwesenden die Fragen und Argumente ausgegangen waren und es keinen Rücken mehr zu decken gab. Es klang weder flehentlich noch erleichtert, obwohl Fassin beides durchaus hätte verstehen können.
»Nun gut. Dann möchte ich mich verabschieden und Ihnen viel Glück wünschen.«
Das Hologramm des kahlköpfigen Mannes mit den Schädeltätowierungen, dem Faltengesicht und der mit Orden behängten, gepanzerten Uniform warf einen letzten Blick in die Runde, grüßte den Hierchon mit einer zackigen Verbeugung und verschwand. Zunächst wusste niemand so recht, was er tun sollte. Dann begann der schwarze bauchige Kessel im Zentrum des Saales laut zu summen. Colonel Somjomion von der Justitiarität und der Oberste Archivar Voriel von der Cessoria, denen man die Aufsicht über die Kontrollgeräte übertragen hatte, als die Techniker den Saal verlassen mussten, beschäftigten sich nun eingehend mit verschiedenen Bildschirmen und Bedienungselementen. Die Soldaten mit der Spiegelpanzerung klopften sich ans Ohr, brachten ihre Waffen in Anschlag und richteten sie auf den Kochkessel. Das Summen wurde lauter, der Kessel begann in Infrarot zu leuchten. Das Summen stieg weiter an und gewann an Tiefe, die Schwingungen verstärkten sich, bis die Maschine sichtbar vibrierte. wer ihr zu nahe stand, wich entweder zurück oder hätte es zumindest gerne getan. Die Maschine schien unmittelbar vor der Explosion zu stehen. vor den gerippten Wänden flimmerte die Luft. Über dem Kessel waberte und zitterte die Atmosphäre, als sei eine gespenstische Mutation des Abbilds, das eben noch hier gestanden hatte, darin gefangen und wolle sich freikämpfen.
Dann begann das bauchige Ding in der Mitte kirschrot zu glühen, und alles – die Geräusche, die Vibrationen und die Hitzewellen – hörte auf. Die Umstehenden entspannten sich. Somjomion und Voriel holten tief Luft und nickten dem Hierchon zu. Die Soldaten schulterten ihre Waffen. Das komplexe Substrat, mit dessen Hilfe sich die KI in Gestalt des Admirals manifestiert hatte, war in dem schwarzen Kessel zu Asche verbrannt.
Der Hierchon Ormilla ließ sich aus den Tiefen seines prächtigen Schutzanzugs vernehmen. »Hiermit setze ich den Notstandsplan in vollem Umfang in Kraft. Nach Abschluss dieser außerordentlichen Sitzung wird das Kriegsrecht ausgerufen. Wer vorher ausgeschlossen wurde, möge auf seinen Platz zurückkehren.«
Das hektische Intrigieren, das Fassin zuvor beobachtet hatte, war nur ein laues Lüftchen verglichen mit dem Sturm, der losbrach, als man nun – ohne einem nicht direkt Eingeweihten nähere Einzelheiten mitzuteilen – die Maßnahmen besprach, die später unter dem Begriff ›Der Aktuelle Notstand‹ zusammengefasst werden sollten. Bei der Neuverteilung von Rollen und Verantwortungen entbrannten Streitigkeiten zwischen verschiedenen und innerhalb einzelner Abteilungen, bestehende Regelungen wurden revidiert, ein zweites Mal revidiert, von Neuem ausgehandelt, weiter erörtert, ein drittes Mal revidiert und schließlich festgeschrieben.
Fassins Magen knurrte immer noch hörbar, als die Sitzung endlich geschlossen wurde, doch nun wurde er zu einer Einsatzbesprechung mit seinen Vorgesetzten in die Ocula der Justitiarität beordert. Auf der Etage der Ocula im Palast des Hierchon ließ man ihn in einem Vorzimmer warten; er legte die oberste Schicht seiner unbequemen Paradeuniform ab und holte sich an einem Automaten, der in einem gekrümmten Außenkorridor stand, eine für Menschen genießbare Mahlzeit. Von hier aus konnte man auf den Empfangshof sehen. (Lange Abendschatten, im Schein der untergehenden Sonne aufglühende Turmspitzen. Er suchte nach einem äußeren Zeichen dafür, dass Stadt, Planet und System nun wieder unter Kriegsrecht standen, fand aber nichts.) Er war noch dabei, sich die Finger abzuwischen, als man ihn hereinrief.
»Major Taak«, sagte Colonel Somjomion. »Willkommen.«
Man führte ihn an einen großen runden Tisch, der mit bereits mit uniformierten Vertretern der Justitiarität besetzt war. Zumeist waren es Menschen oder Whule, aber Fassin sah auch zwei Jajuejein, die sich nach Kräften bemühten, wie sitzende Humanoide auszusehen, und einen einsamen Oerileithe in einer matteren und etwas kleineren Ausgabe des Schutzanzugs, wie ihn auch der Hierchon trug. Der Diskus steckte zur Hälfte in einem breiten Schlitz im Boden. Dennoch schien er Kälte zu verströmen und den ganzen Raum zu beherrschen.
Somjomion wies auf den Oerileithe. »Das ist Colonel Hatherence«, erklärte sie Fassin. »Sie ist bei diesem Einsatz Ihre Vorgesetzte.«
»Sehr erfreut«, dröhnte der Colonel und vollführte eine winzige Drehung in Richtung Fassin. Ihr Schutzanzug hatte keine durchsichtige Frontscheibe wie der des Hierchon, man sah nur Panzerung und Sensoren aber nichts von dem Wesen im Innern.
Fassin nickte. »Madame.« Er hatte bisher geglaubt, außer dem Hierchon selbst gebe es im System nur Oerileithe, die zu seiner Familie und seinen Freundinnen zählten (›Harem‹ wäre um eine Winzigkeit zu negativ gewesen). Nun fragte er sich, ob Colonel Hatherence wohl in eine der beiden Kategorien gehöre.
Man erklärte ihm, man könne ihn natürlich nicht so ohne weiteres alleine nach Nasqueron schicken, um seinen Auftrag auszuführen. Im Lauf der nächsten Stunde brachte ihm Somjomion, immer wieder unterbrochen von eingehenden Funksprüchen, Kurzmitteilungen und Fernaudienzen mit dem Hierchon persönlich, allmählich bei, er sei zwar ausdrücklich allein mit dieser Aufgabe betraut worden, dennoch könne er sein Ziel am besten erreichen, wenn er von Personen begleitet und beaufsichtigt würde, die auch wirklich das Vertrauen des Hierchon und seines Höflingsklüngels genössen.
Demzufolge würde Fassin auf seinem nächsten Trip in guter Gesellschaft sein. Nicht nur Colonel Hatherence sollte ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen, sondern auch zwei seiner menschlichen Seherkollegen würden ihn begleiten, Braam Ganscerel, der Oberste Seher des Sept Tonderon, der von allen Septen das höchste Ansehen genoss, und – als Juniorpartner – Paggs Yurnvic vom Sept Reheo, mit dem Fassin schon einmal gearbeitet hatte. Der Oberste Seher Ganscerel halte sich derzeit in einem Habitat im Orbit um Qu’arunze auf und treffe alle Vorbereitungen für einen raschen Aufbruch. Er würde sich mit Colonel Hatherence, Major Taak und Seher Yurnvic auf Third Fury treffen. von dort aus sollten die Trips baldmöglichst starten.
Qua’runze war der zweite große Gasriese im Ulubis-System – außerdem gab es noch zwei kleinere Exemplare. Alle hatten auch Dweller-Populationen, die aber, verglichen mit Nasqueron, von der Größe her unbedeutend waren. Fassin vermutete, dass Ganscerel für die Reise von Qua’runze nach Nasqueron und zu dem Stützpunkt auf Third Fury weit über eine Woche brauchen würde. Der alte Knabe liebte seine Bequemlichkeit, außerdem könnte man ihn, selbst wenn er einverstanden wäre, auf dem Flug nicht mit sehr viel mehr als einer Ge belasten.
Fassin fühlte sich bei alledem noch sehr unsicher. Plötzlich hatte er mit Organisationen und Machtstrukturen zu tun, an die er im Traum nicht gedacht hätte, und musste mit Hierarchien und Netzwerken zu Rande kommen, von denen er nur eine sehr vage Vorstellung hatte. Er hatte soeben – wahrscheinlich nur bildlich gesprochen – auf den Tisch hauen und sich beklagen wollen, weil er den Auftrag, den man ihm eindeutig erteilt hatte, nicht sofort ausführen konnte. Doch dann wurden Ganscerel und sein Flug von Qua’runze erwähnt, und er sah ein, dass bereits alles entschieden war und er keine Aussicht hatte, den Gang der Dinge zu beschleunigen.
Einerseits war ihm das ganz recht. wenn das System tatsächlich akut von einer Invasion bedroht war und er mitten in der heißesten Phase auf den wichtigsten Trip seines Lebens geschickt wurde – bei der Zeitspanne, die vor dem Eintreffen der Feinde angeblich noch blieb, war es sogar sehr wahrscheinlich, dass er sich noch in Nasqueron befand, wenn es so weit war – dann wollte –, musste – er einen letzten privaten Trip in die Unterwelt von Borquille unternehmen, in den zwielichtigen, aufregenden und gefährlichen Sündenpfuhl der Stadt. Plötzlich hatte er noch eine Menge zu tun. Er musste mit gewissen Personen sprechen, zumindest mit einer Person. Da konnte es ganz nützlich sein, wenn sich die Abreise Ganscerels wegen verzögerte. Seine Vorgesetzten wollten ihn wahrscheinlich nicht aus den Augen lassen, aber er würde sich schon zu helfen wissen.
Außerdem hatte er den Verdacht, dass man vorhatte, den Trip von Third Fury aus durchzuführen. Er, Ganscerel und Paggs sollten wahrscheinlich verkabelt im Stützpunkt liegen und mit ferngesteuerten Sonden in Nasqueron kommunizieren. (Ganscerel war sicherlich nicht mehr in der Verfassung, in ein Gasschiff zu steigen, Kiemenwasser zu atmen und, in Schockgel gepackt, eine hohe Ge-Belastung auszuhalten – das alles hatte er noch nicht einmal getan, als er noch jung war.) Auch hier musste Fassin einen Ausweg finden.
Also beschwerte er sich zunächst mit gut gespielter Empörung, dass man ihm nicht gestatten wollte, an die Arbeit zu gehen, und forderte dann ein paar Tage Pause.
»Sie wollen Urlaub?« Somjomion starrte ihn fassungslos an. Sie haben eine sehr intensive Einweisungs-und Trainingsphase vor sich, Major Taak. Die Arbeit vieler Tage muss in wenige Stunden gepresst werden. Für Urlaub ist nun wirklich keine Zeit.«
Er erklärte ihr, dass Ganscerel alt und gebrechlich sei und deshalb nur langsam reisen könne. Somjomion widersprach entrüstet, prüfte die Behauptung aber nach und verlangte dann ein weiteres persönliches Gespräch mit dem Hierchon. »Tatsächlich«, seufzte sie schließlich. »Aus dem Profil des Obersten Sehers geht hervor, dass er körperlich nicht in der Lage ist, Belastungen über 1, 5 Ge auszuhalten, und er hält sogar das für eine Zumutung. Er kann den Stützpunkt auf Third Fury erst in neun Tagen erreichen.« Colonel Somjomion sah Fassin scharf an. »Sie beginnen gleich morgen mit einer ausführlichen Einweisung, Major Taak. wenn danach noch Zeit ist, können Sie einen oder zwei Tage Urlaub nehmen. Aber ich will nichts versprechen.«
»Soso. Ein neuer Notstand«, sagte Saluus und lächelte breit. »Und wie man hört, habe ich das dir zu verdanken, Fass.« Er reichte ihm eine schmale Sektflöte.
Fassin nahm das Glas. »Ganz allein mein Werk.«
Sal gehörte zu den wenigen Personen in diesem System, für die das Inkrafttreten eines Notstandsplans ein legitimer Grund zum Feiern war.
»Tatsächlich?«, fragte Saluus. »Dann bist du noch bedeutender, als ich dachte. Und dabei siehst du immer noch aus wie zwanzig, du Hund.« Sals Lachen klang unbeschwert, ein Mann, der es sich leisten konnte, mit Komplimenten um sich zu werfen. Die beiden stießen an. Sie tranken Champagner der Marke Krug. Es war ein unvorstellbar alter Jahrgang, der noch von der Erde stammte und wahrscheinlich so viel wert war wie ein kleines Raumschiff. Wohlschmeckend, aber nur wenig moussierend.
Die beiden Männer standen auf einem Balkon und schauten über den Krater. Die aufschießenden Wasser bildeten eine gewaltige schäumende Wand, die sich unter dem Haus nach allen Seiten ausbreitete, ein flacher Hohlkegel aus kleinen Schaumhügelchen und -rippen, die sich wild aufbäumten, in sich zusammenfielen und schließlich nach außen rasten, wo sie sich ein wenig beruhigten und in tosenden Wellen ausliefen. Der Balkon befand sich dicht über dem Äquator des Kugelhauses, so dass die beiden die Wassersäule, auf der alles ruhte, nicht sehen konnten. Nur der Lärm schallte von den zwei Kilometer entfernten Kraterwänden zu ihnen zurück.
Sie waren nach einem schlichten Empfang und einem kleinen Essen mit einigen Freunden von Sal und seiner Frau – lauter Prominenten, die nur für den Nachmittag gekommen waren – hier heraufgestiegen. Fassin wollte zwei Tage bleiben, dann brauchte ihn die Justitiarität wieder in Borquille. Er trug noch immer die dunkelgraue Uniform mit den auffälligen blauen Biesen.
Sal lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. »Ich freue mich jedenfalls, dass du gekommen bist.«
Fassin nickte. »Ich bedanke mich für die Einladung.«
»Es war mir ein Vergnügen. Obwohl mich deine Anfrage etwas überrascht hat.«
»Zu dir haben sie Vertrauen, sal.« Fassin zuckte die Achseln. »Ich musste raus aus diesem ganzen militärischen Zirkus, und sie hätten mich nicht einfach durch das Palasttor und weiter nach Boogeytown spazieren lassen.« Er schaute über die tobenden Fluten. »Und überhaupt« – ein Blick auf Sal – »haben wir uns viel zu lange nicht gesehen.« Sein alter Freund sollte den Eindruck haben, er hätte nur einen Vorwand gesucht, um die längst fällige Versöhnung in die Wege zu leiten. Sie hatten sich in den zweihundert Jahren seit der Zerstörung des Wurmlochs nur sporadisch getroffen, gewöhnlich bei gesellschaftlichen Massenveranstaltungen, vor denen man sich kaum drücken konnte, obwohl man sich dabei leicht einsam fühlte. Zu einer offenen Aussprache war es nicht gekommen.
Auch jetzt brauchten sie sich mit ganzen Passagen ihres Lebens nicht weiter zu befassen. Womit sich jeder von ihnen beschäftigte und wie er lebte, war ein offenes Geheimnis, es wäre fast kränkend gewesen, sich danach zu erkundigen. Fassin kannte Sals Frau schon aus den Klatschspalten der Medien, es war fast überflüssig, ihn mit ihr bekannt zu machen. Beim Empfang hatte es keine einzige Person gegeben – die Dienerschaft natürlich ausgenommen – über die Fassin, der sich wahrhaftig nicht allzu sehr für das Gesellschaftsleben interessierte, nicht sofort eine Kurzbiographie hätte verfassen können. Saluus war über Fassin wahrscheinlich weniger gut informiert als umgekehrt, aber er hatte ihm bereits zu seiner Verlobung mit Jaal Tonderon gratuliert, soweit war er also im Bilde. (Oder, was wahrscheinlicher war, er hatte einen tüchtigen Sekretär mit einer umfassenden Datenbank.)
»Was kannst du mir denn nun erzählen, Fass?«, fragte Sal beiläufig und krauste die Nase. »Oder darfst du gar nichts sagen?«
»Über den Notstand?«
»Darüber, was hinter dem ganzen Theater steckt.«
Es war mehr als nur Theater; es war ein Krieg auf niedrigem Niveau. Einen Tag nach der Ausrufung des Kriegsrechts hatte eine Serie von Angriffen stattgefunden. Ziel waren meist vereinzelte Schiffe und Siedlungen am Rand des Systems gewesen, aber es war auch zu mehreren beunruhigenden Anschlägen im Innern des Systems gekommen. Unter anderem hatte der Beschuss eines Dock-Habitats der Navarchie an Sepektes Lagrange-Punkt L5 mehr als tausend Opfer gefordert. Niemand wusste, ob die Urheber dieser neuerlichen Gewalttaten die Beyonder-Rebellen oder die Vorhut des E-5-Separats waren, oder vielleicht beide zusammen.
Noch unerklärlicher war ein anderer Vorfall, der Fassin weit mehr erschütterte. nur einen Tag vorher war das Hochsommerhaus des Sept Litibiti auf ’glantine zerstört worden; durch eine Atombombe aus dem Weltraum, als handelte es sich um eine militärische Einrichtung. Die Residenz hatte leer gestanden, nur eine Hand voll Gärtner und das übliche Reinigungspersonal, die bis zur Saison alles in Schuss hielten, waren umgekommen. Dennoch befürchteten die Seher im ganzen System, sie könnten plötzlich aus unbekannten Gründen zur Zielscheibe werden. Fassin hatte eine Nachricht an Slovius geschickt und zu bedenken gegeben, ob es nicht ratsam wäre, den ganzen Sept an einen anderen Ort auf ’glantine zu bringen. vielleicht in eine der Residenzen, die von der Jahreszeit her nicht an der Reihe wäre. Er hatte noch keine Antwort erhalten, das konnte entweder bedeuten, das Slovius seinen Rat ignorierte, oder dass die von den Behörden neu eingeführte Software zur Kontrolle und Zensur des Nachrichtenverkehrs noch ihre Macken hatte. Beides hätte ihn nicht überrascht.
»Sag mir, was du weißt«, schlug Fassin vor. »Ich werde die Lücken füllen, soweit ich kann.
»Man will Kriegsschiffe, Fass.« Sals Lächeln sah traurig aus. »Eine Unmenge von Kriegsschiffen. wir sollen so viele bauen, wie wir können und so lange wir können, und das besser heute als morgen. Alle schwierigeren Projekte, die länger als ein Jahr dauern könnten, werden zurückgestellt, auch wenn sie schon angelaufen sind. Wir sollen alle möglichen Kähne auf Gaslinienform trimmen …« Sal hielt inne, dann räusperte er sich und winkte ab.»Verdammter Schwachsinn; man verlangt, dass wir eine Grobplanung für die Umrüstung von allen möglichen Zivilschiffen vorlegen: bewaffnete Kauffahrer; Bergwerksschiffe für die Gaswolken, Umbau von Kreuzfahrtschiffen etc. Beim letzten Notstand war davon noch nicht die Rede. Was immer also vorgeht, es ist ernst, die Bedrohung ist vermutlich glaubwürdig, wie unsere militärischen Freunde sagen würden, und sie ist nicht sehr weit weg. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Ich kann über vieles nicht sprechen«, begann Fassin bedächtig. »Und das meiste davon würde dich ohnehin nicht interessieren.« Er überlegte, wie viel er sagen konnte und was er sagen musste. »Es hat vermutlich mit dem so genannten Separat Epiphanie Fünf zu tun.«
Sal zog eine Augenbraue in die Höhe. »Hm. Ziemlich weit weg. Man fragt sich, was die Leute hierher locken mag. Wenn sie von dort aus kernwärts fliegen, finden sie reichere Beute.«
»Aber ein beträchtlicher Teil der Generalflotte ist unterwegs. Sagt man.« Fassin grinste.
»Hmhm. Verstehe. Und was ist mit dir?« Sal beugte sich näher zu Fassin und senkte die Stimme. »Was spielst du bei alledem für eine Rolle?«
Fassin fragte sich, wie weit das ständige Rauschen des Wassers ihre Worte übertönen würde, falls jemand sie von ferne belauschte. Er hatte nach seiner Ankunft geduscht und vom Haus frische Kleider angefordert – mit der Begründung, er sei länger unterwegs gewesen als geplant, deshalb sei ihm die Garderobe ausgegangen. Die Erklärung war unnötig. Die Diener schienen durchaus daran gewöhnt, Kleidung in verschiedenen Größen und für beide Geschlechter an Hausgäste auszugeben. Immerhin – heutzutage konnte man auch ohne die verbotenen Gräuel der Nanotechnik sehr kleine Wanzen produzieren. Ob ihm die Justitiarität oder die Leute des Hierchon wohl einen Spürsender oder ein Mikrofon angehängt hatten? Und was war mit Sal? War es für ihn womöglich Routine, seine Gäste überwachen zu lassen? Sein Freund wartete auf eine Antwort.
Fassin schaute in sein Glas. Ein paar Gasbläschen stiegen an die Oberfläche, zerplatzten und entließen eine winzige Menge Erdsubstanz in die Atmosphäre eines zwanzigtausend Lichtjahre entfernten Planeten. »Ich habe nur meine Arbeit gemacht, Sal. Bin auf Trips gegangen, habe mit den Dwellern gesprochen und mitgenommen, was sie mich mitnehmen ließen. Meistens war es nichts Weltbewegendes, nichts Wichtiges, nichts, was viel verändert hätte, nichts, was irgendjemand haben wollte oder wofür er alles aufs Spiel setzen würde.« Er sah Saluus Kehar fest in die Augen. »Ich bin einfach so durchs Leben gestolpert, verstehst du? Über alles, was auf dem Weg lag. Wusste nie, was wohin führen würde.«
»Wer weiß das schon?«, fragte Sal, dann nickte er. »Aber ich verstehe, was du meinst.«
»Bedauere, aber viel mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.«
Sal lächelte und schaute über die künstliche Brandungswand und die tobenden Wellen dahinter zu den schroffen Felsen, die in der Ferne braunschwarz in den diesigen azurblauen Himmel ragten.
»Ach, da kommt ja dein Kindermädchen«, sagte er. Ein Stück entfernt war Colonel Hatherence von der Justitiarität in ihrem Schutzanzug erschienen. Sie schwebte wie eine dicke graugoldene Scheibe tief über den schäumenden, wild kochenden Wassern. Rotierende Flügelräder an beiden Seiten des Anzugs verhinderten, dass sie in den Mahlstrom geriet. Von hier oben sah der Schutzanzug sehr klein aus, während er gewaltig wirkte, wenn man dicht daneben stand.
»Hast du Schwierigkeiten mit ihr?«
»Nein. Sie ist in Ordnung. verlangt nicht, dass ich andauernd salutiere oder sie mit ›Madame‹ anrede. Hat nichts gegen einen zwanglosen Umgangston.« Dennoch hoffte er, den unerwünschten Aufpasser vor oder nach der Landung in Nasqueron irgendwie loszuwerden.
Fassin beobachtete, wie sich der Colonel über die Wellenlandschaft tastete. »Hältst du es für möglich, dass ich mich nach Boogeytown schleiche, obwohl sie mir auf Schritt und Tritt folgt?«, fragte er.»Wenigstens für eine einzige letzte Nacht?«
Sal schnaubte. »Die Kneipen sind zu schäbig und die Decken zu niedrig.«
Fassin lachte. Es ist wie Sex, dachte er. Oder eher wie ein Verführungsritual, einer dieser albernen Balztänze. Willst du oder willst du nicht, kommst du oder kommst du nicht? Er führte Sal in Versuchung und führte ihn zugleich an der Nase herum …
Hatte er wohl genügend in Rätseln gesprochen und doch durchblicken lassen, er sei unter Umständen zu haben? Er brauchte diesen Mann.
Abendessen mit Sal, seiner Frau, den Konkubinen der beiden und einigen Geschäftspartnern. Unter Letzteren ein Whule, ein Jajuejein und ein Quaup. Man unterhielt sich über neue Anschläge auf entlegene Außenposten, über das Kriegsrecht, die Verzögerungen im Nachrichtenverkehr, die Reisebeschränkungen und darüber, wer bei dem neuen Notstand gewinnen und wer verlieren würde (wer sich hier auf den Liegen räkelte, rechnete allenfalls damit, für begrenzte Zeit auf ein paar kleinere Freiheiten verzichten zu müssen). Colonel Hatherence saß schweigend in einer Ecke. Sie brauche keine externe Nahrung, vielen Dank, sei aber sehr erfreut und fühle sich geehrt, dabei sein zu dürfen, während die anderen sich stärkten, Gespräche führten und gesellschaftliche Beziehungen pflegten. Sie selbst bemühe sich inzwischen, ihr Wissen über Nasqueron und seine berühmten Dweller auf den neuesten Stand zu bringen (das sei dringend nötig!).
Getränke, leicht narkotisierende Speisen, Drogenschalen. Vor dem Balkon des Speisezimmers sorgte eine Truppe von menschlichen Akrobaten bei Flutlicht für Unterhaltung.
»Nein, ich meine es ernst!«, rief Sal seinen Gästen zu und deutete auf die Akrobaten, die an Seilen und Trapezen durch die Luft flogen. »Wenn sie abstürzen, sind sie höchstwahrscheinlich tot! Im Wasser ist so viel Luft, dass der Körper nicht schwimmt. Er geht sofort unter. Wird von der Unterströmung mitgerissen. Nein, du Schwachkopf!«, fuhr er seine Frau an. »Zum Atmen reicht die Luft nicht!«
Einige Gäste verabschiedeten sich. Später wurden Getränke serviert, die Menschen blieben unter sich. Man besichtigte Sals Trophäensaal, für Colonel Hatherence waren Gänge und Räume leider zu klein (schon gut; ohnehin müde; gute Nacht!). Sals Frau ging zu Bett, die letzten Gäste zogen sich zurück. Bald waren die beiden allein mit den ausgestopften, gefirnissten, geschrumpften oder ummantelten Tierköpfen von Dutzenden von Planeten.
»Du hast Taince getroffen? Kurz bevor das Portal zerstört wurde?«
»Wir haben zusammen gegessen. Ein oder zwei Tage vorher. Im Äquaturm.« Fassin deutete in die Richtung, in der er Borquille vermutete. Der Äquaturm mit seinen Lichtern war vom Haus aus als dünner roter Streifen zu erkennen, der in den Himmel ragte. Seltsamerweise war die obere Hälfte manchmal klarer zu sehen, wenn die Atmosphäre unten trüb war und die Signalfeuer an der Spitze durch die dünnere Luft in spitzerem Winkel nach unten gebrochen wurden.
»Ging es ihr gut?«, fragte Sal, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte überlaut. »Als ob das noch eine Rolle spielte. Nach zweihundert Jahren. trotzdem.«
»Damals war alles bestens.«
»Schön.«
Sie waren zu Cognac übergangen. Ebenfalls von der Erde. Vor langer, langer Zeit gebrannt. Weit, weit entfernt.
Fassin bekam den Schwimm.
»Oh Scheiße«, sagte er. »Jetzt packt mich der Schwimm.«
»Schwimmen?«, fragte Saluus.
»Schwimm«, verbesserte Fassin. »Du weißt schon; wenn einem fast schwindlig wird, weil man plötzlich denkt: ›He, ich bin ein Mensch, aber ich bin zwanzigtausend Lichtjahre von zu Hause weg, und wir leben unter stockverrückten Aliens, umgeben von Superwaffen, mittendrin in dem verdammten, wahnwitzigen Trubel galaktischer Geschichte und Politik!‹ Das Gefühl: Ist das nicht gruselig!«
»Und wie nennst du das? Schwingen? Wirbel?« Sals Verwirrung war aufrichtig.
»Nein, Schwimm!«, rief Fassin. Er konnte nicht fassen, dass Sal davon noch nichts gehört haben sollte. Kannte das nicht jeder? Manche Leute – genauer gesagt, die meisten Leute, so hatte man ihm jedenfalls erklärt – erlebten den Schwimm niemals selbst, viele aber doch. Und nicht nur Menschen. Allerdings keine Dweller. Die hatten den Begriff nicht einmal in ihrem Vokabular.
»Nie davon gehört«, gestand Sal.
»Das habe ich mir fast gedacht.«
»He, soll ich dir etwas zeigen?«
»Was immer es ist, ich kann’s verdammt nicht mehr erwarten.«
»Komm mit!«
»Als du das zum letzten Mal gesagt hast …«
»Wir hatten doch ausgemacht, nicht wieder davon anzufangen.«
»Verdammt! Richtig. Nehme alles zurück. was immer du mir zeigen willst, ich will es sehen.«
»Hier entlang.«
»Na schön, dann Abmarsch.«
Sal führte Fassin weiter in sein Arbeitszimmer – sein Allerheiligstes. Der Raum hätte Fassins Erwartungen entsprochen, wenn er sich darüber Gedanken gemacht hätte: viel Holz, Inseln aus weichem Licht, unzählige Bilder und ein Schreibtisch von der Größe eines versunkenen Zimmers. In einer Ecke standen bizarr verdrehte Gebilde aus Metall oder einem anderen glänzenden Material. Fassin hielt sie für Teile von Raumschiffen.
»Da.«
»Wo? Was soll ich mir denn ansehen?«
»Das hier.« Sal hielt ein sehr kleines verbogenes Metallstück auf einem Holzsockel in die Höhe.
Fassin überlief es eiskalt, aber er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Stattdessen spielte er den Betrunkenen, obwohl er noch ziemlich klar im Kopf war.
»Und? Was soll’n dassein?« (Etwas übertrieben, aber Sal bemerkte es offenbar nicht.)
Saluus hielt ihm das seltsame Ding direkt vor die Nase. »Das habe ich aus dem Scheißwrack geholt, Mann.« Sal schluckte und holte Luft. Fassin sah seine Unterlippe zittern. »Das ist …«
Gleich fängt mir das Arschloch noch zu heulen an, dachte Fassin. Er schlug Sal herzhaft auf die Schulter. »So geht das nich’«; sagte er. »Wir brauchen ’nen Tapetenwechsel, ich weiß nicht; irgendwas anderes. Wir müssen hier raus. ’Ne andere Luft atmen. Andere Zeit, anderer Stoff, anderer Ort. Könnte meine letzte Nacht in Freiheit sein, sal.« Er packte den Freund mit hartem Griff an seinem tadellos sitzenden Jackett. »Das is’ mein voller Ernst! Du hast ja keine Ahnung, was mir noch alles bevorsteht! Scheiße, Sal, du hast keine Ahnung, was uns allen noch bevorstehen könnte, und ich kann’s dir verdammt nochmal nicht sagen. Heut Nacht könnt’ ich mich zum letzten Mal richtig amüsieren, und du … und du zeigst mir einen verdammten Garderobenhaken, und ich weiß nicht …« Er schlug kraftlos nach dem verbogenen Metallstück, traf es nicht richtig, stieß es aber zur Seite. Dann richtete er sich auf, schniefte und tat so, als würde er wieder nüchtern. »’tschuldige«, sagte er. »’tschuldige, Sal.« Wieder klopfte er dem anderen auf die Schulter. »Aber vielleicht ist heute für mich wirklich die letzte Gelegenheit, mich zu amüsieren, und … hör zu, ich bin für jeden Spaß zu haben – ich wünschte, Boogeytown wäre gleich vor der Haustür, ehrlich, andererseits waren die letzten Tage ziemlich lang, und vielleicht – nein, kein Vielleicht. Bestimmt. Also, es ist bestimmt das Vernünftigste, einfach zu Bett zu gehen und …«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Sal und stellte das Metallstück wieder hinter sich auf den Schreibtisch.
»Schlafen zu gehen?«, fragte Fassin und fuchtelte wild mit den Armen. »Nun ja …«
»Nein, du Kretin! Boogeytown!«
»Was? Wie? Ich hab’ kein Wort von Boogeytown gesagt!«
»Oh doch!«, erwiderte Sal lachend.
»Wirklich? Verdammt!«
Sal hatte einen Flieger. Er enthielt so viel Automatik, dass er nach den KI-Gesetzen fast schon verboten war, und war voll gestopft mit Reparatursystemen, die haarscharf vor der Grenze zur Nanotechnik Halt machten. Ganz und gar zivil, aber mit allen Privilegien einer Militärmaschine. Wenn ein Großadmiral der verdammten Generalflotte in dieses Baby stiege und seine Autorität rauskehren wollte, würde der Flieger dem Arschloch kurzerhand den uneingeschränkten Zugang zu allen Bereichen sperren, und er bliebe unten auf dem Hangardeck. Hier entlang bitte, ha, ha.
Sie ließen auf einem Teil des Fluges die Kanzel offen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war sehr, sehr kalt.
Sie landeten irgendwo. Die Rotoren des Fliegers wirbelten Abfälle auf. Fassin hatte gedacht, so etwas wie Abfälle gäbe es gar nicht mehr.
Boogeytown war noch fast so, wie er es in Erinnerung hatte. Sie stürzten sich in seine Abgründe, um Höhepunkte zu erleben. Sie zogen durch Nachtbars und Drogenkneipen, warfen die Netze aus und holten sie randvoll mit Stoff und Mädchen wieder ein. Fassin bemühte sich, Sal in Richtung einer bestimmten Bar abzudrängen. Sal – der sich vage erinnerte, dass er sich auf diesem Ausflug nicht nur amüsieren, sondern seinen alten Kumpel Fass locker machen wollte, damit der mit weiteren potenziell verwertbaren und gewinnbringenden Details darüber herausrückte, was ›zum Teufel‹ eigentlich vorging – versuchte immer wieder, die Gespräche mit seinem alten/ neuen besten Freund in Richtung auf bestimmte Informationen zu lenken. Der Erfolg war nicht groß, außerdem ließ seine Motivation zunehmend nach und wurde von einem wachsenden Gefühl von Scheiße-wen-interessiert-das-schon? überlagert.
Auch Fassin gab allmählich die Hoffnung auf. Er strebte immer noch einen weiteren Lokalwechsel in ein bestimmtes Gässchen mit einer ganz bestimmten Bar an, aber sie waren in einem Laden mit Diamantwänden gelandet, der sich Narkoteria nannte und bei aller Schäbigkeit so kalt und protzig war, dass es fast wehtat. Sal war von vielen Leuten umlagert, die ihn schon soo lange nicht mehr gesehen hatten, er musste einfach hier bleiben, untersteh dich, wegzugehen, du böser, böser Junge! Und das ist dein Freund? Wo hast du den denn so lange versteckt? Ich kann mich doch hier hinsetzen? Ich auch, ich auch! Irgendwann torkelte Fassin hinaus, erledigte in einer öffentlichen Telefonzelle einen privaten Anruf und suchte dann die Toilette auf, wo er in einem dünnen, brennenden Strahl (über dem Loch, damit es authentisch aussah und sich auch so anhörte) den ganzen Alkohol wieder von sich gab, den er seit dem letzten Austreten getrunken hatte. Danach wusch er sich das Gesicht und mischte sich wieder unter die betrunkenen, bekifften, atemberaubenden Schönheiten, um auf das Mädchen zu warten, für das er das ganze Theater von vornherein inszeniert hatte: die Bitte um eine Einladung bei Sal, das Gelage, bei dem er seinen alten Freund betrunken machte und selbst den Betrunkenen spielte (es war nicht nur Schauspielerei, er war tatsächlich nicht mehr ganz nüchtern) und endlich die ständigen Hinweise auf Boogeytown, nur um rauszukommen, hierher zu kommen und ein bestimmtes Mädchen zu treffen …
… Das erst nach fast einer Stunde auftauchte. Er glaubte schon nicht mehr daran, doch plötzlich war sie da. Sie war wie immer, obwohl sie ihr Äußeres wieder einmal völlig verändert hatte: ihre stille Schönheit war durch nichts zu verderben. Weißblondes Haar, das ihr so schwer um das nahezu dreieckige Gesicht hing, als sei es tatsächlich aus reinem Gold, ein Kinn, das sich wie von selbst in seine Hand schmiegte, ein erdbeerroter Kussmund, eine winzige Nase, zum Knutschen wie gemacht, Wangen, die man streicheln, Augen, in denen man versinken wollte (diese unergründlichen Tiefen!), Brauen und eine Stirn, die förmlich darum baten, dass man – oh! oh! oh! – nach einem leidenschaftlichen Liebesakt den Schweiß von ihnen ableckte!
Aun Liss.
Die einzige wahre Liebe seines Lebens, die Frau, von der er besessen war.
Sie sah älter aus, aber nicht so alt, wie sie sein müsste. anderes Aussehen, anderes Leben, anderes Temperament, anderer Name. Jetzt nannte sie sich Ko (nur das) und nicht mehr Aun Liss, aber für ihn würde sie immer Aun Liss bleiben. Er sprach ihren wirklichen Namen nicht aus. Zwischen ihnen blieb so vieles unausgesprochen. Sie kleidete sich wie eine Angestellte. Unauffällig, weder freizügig noch aufreizend.
Trotzdem.
Sie streckte die Hand aus.
Sogar Sal, der in so viel menschlicher, hyperstimulierender, superästhetischer weiblicher Schönheit zu ertrinken drohte, schien beeindruckt.
»Fass, du Hund!«
Aun Liss streckte ihm immer noch die Hand entgegen.
Zurück in Sals Flieger. Sal saß vorne und wimmerte unter den Aufmerksamkeiten der berüchtigten Segrette-Zwillinge.
Fassin und Aun hielten die Rückbank besetzt und gebärdeten sich wie das Urbild eines Liebespaars. Erst küssten sie sich lange, dann sah Aun sich um, registrierte achselzuckend die Kapriolen auf dem Vordersitz (der Flieger war nirgendwohin unterwegs, sondern kreiste in einer Warte-oder, eine Neuprägung von Aun, einer Knutschschleife), stand auf und setzte sich rittlings auf Fass. Er schob die Hände unter ihr leichtes Kleid, knetete mit den Fingern weiter ihren Rücken … und hörte auch nicht damit auf, als man sie endlich in das blödsinnige Kehar-Haus zurückbrachte, das, wie Aun feststellte, genauso über seiner Wassersäule hing wie sie selbst über Fassins Säule. (Das sagte sie laut, für etwaige Lauscher, und dann lachten sie beide. Hoffentlich nicht zu laut, dachte Fassin.) Sie zog das Kleid noch immer nicht aus, auch in der heißesten Phase nicht, und seine Finger glitten über ihr durchgedrücktes Rückgrat, drückten und kneteten und entlockten ihr kleine, keuchende Schreie, fast als hätte sie Schmerzen. Erst später, als sie unter einem dünnen Laken nur noch beieinander lagen, streifte sie das Kleid ab, und er nahm sie einfach in die Arme.
Und so verlief im Laufe dieser Stunden ihr Gespräch, das zeichneten und tippten sie sich mit den Fingern auf die Haut, in jenem geheimen, im Grunde abhörsicheren Code, den sie benützten, seit sie vor Hunderten von Jahren sein Führer, seine Kontaktperson geworden war.
BST DU NCH MN KNTKT?
Der erste Kuss im Separee des Narkoteria. Sie schob ihre Hände zwischen sein Jackett und sein Hemd, und ihre Knöchel sagten: J. WS HST DU FR MCH?
1. BN NRDNGS MJR D OCULA. ABKMMNDRT.
DU?
HB B DM BRHMTN TRP TWS GFNDN. S GT M D DWLLR-LSTE. HST DU DVN GHRT?
NR ANDTNGN.
2. SCHFF THRIE, morste er. GHMS ’LCH NTZWRK.
LNGSM, morste sie zurück. WURMLOCH NTZWRK?
J. GHMSTFE 1. Ja.
Auf dem Weg zum Flieger hatte jeder die Hände unter der Jacke des anderen:
KMMT DRF AN, WS I FND. E-5-SPRT INVSN IN 6 BS 12 MNT. NGBLCH BYNDR IM BND. RCHTG?
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DSHLB NTSTND.
DU HST VRDMMTN NTSTND AUSGLST?
J. LDR. GNRLFLTTE UNTRWGS. GRSSR TRPP FLGT T-SCHFF VRSS. NKNFT IN TW 2 JR. KI VN GNRLFLTTE HAT UNS NFRMRT.
KI?
J.
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Später, im Flieger:
WS MCHST DU JTZT?
BLD NCHSTR TRP. MT OBRSTR SHR GNRSCRL, OERL-OBRST JSTTIARITT & PGGS YRNVC. SUCHN RST VN DM WS I DMLS GFNDN HBE.
Auch wenn sie mit gespreizten Beinen auf ihm ritt, konnten sie das Gespräch fortsetzen.
»Wie findest du das?«, flüsterte sie.
»Oh, sehr gut. Und du?«
»Siehe oben.«
WS HST DU DN GFNDN?
WSS NCHT GNAU. DMLS NCHT KPRT. KM VL SPTR B JLTCK ANLYSE RS. TWS MT 2. SCHFF & TRANSFORMATION, MT DM RST DWLLR-LSTE SNN RGBT. JELTCK SCHCKN FLTT. FNDN NCHTS. FLTT ZRSTRT
Er versteifte sich. Sie spürte es und sendete: WS?
ANGBLCH AUCH GRND WRMM BYNDR PORTL ZRSTRT. RCHTG?
WSS NCHT. BN NR BT. Sie stockte. DS HSST DU HST NCHT NR DSN NTSTND AUSGLST SNDRN AUCH LTZTN UND ZRSTRNG PRTL?
J. ZH UNFLL N.
VRDMMTR MST.
»Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen.«
»Ganz meinerseits.«
»Wir sollten uns öfter treffen.«
»Sollten wir wirklich. aber jetzt sei still.«
ABR WNN DS STMMT & BKNNT ST, WRM WRDE I NCHT FRHR AUF 2 TRP GSCHCKT UM MR INFO FR D GTN ZU BSCHFFN?
KNE AHNG.
ALLS UNSNN, TRTZDM SLL I NCHSHN.
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WAS HSST MNCH BYNDR FR E-5 SPRT MNCH NCHT?
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FRKTN? DU KMMST MR MT VRDMMTEN FRKTN? KN BSSR RKLRNG?
BLB LDNSCHFTLCH. DNK N TRNG.
Er machte heftige Bewegungen und stieß Schreie der Verzückung aus.
In seinem Bett, seine Hände auf ihrem Rücken.
I FLGE N 3 TGN ZM THRD FRY MND.
… OH.
OH?
NR GRCHT. DRF NCHTS DVN WSSN. VLLCHT NGRFF AUF NSQURN MNDE.
NSQURN MNDE? DCH NCHT ’GLNTN?
NEIN. KLNE MNDE.
KNNST DU WTRGBN: KN NGRFF AUF THRD FRY MND? KN NGRFF AUF SHR
KNN VRSUCHN.
GB DR MHE.
VRSPRCHN.
OK. WNN I AUF NSQURN TWS FNDE KMM IZ DR NCHT Z MRKTRIA.
OK GT. WIE?
STATNRT MIKROSAT AUF HLBM WG ZWSCHN NSRN SAT EQ4&EQ5. I SCHCK SGNL DRTHN. LTR CDE & FREQ NCH GLTG?
DNKE SCHN. BRCHE ZT ZM NRCHTN.
SUCHE DRT 1 MNT. WHRSCHNLCH SWS NCHTS DA. MIKROSAT AUCH AUF MPFNG VN NTN EINRCHTN FLLS I IN NASQ.
GBE WTR.
Etwas später:
LBE DCH.
DU BST VRRCKT.
STMMT.
MR LDNSCHFT.
Er zog das Laken höher über seine Beyonder-Geliebte. TRNG SCHN WDR N GFHR?
NEIN, NR MR LDNSCHFT …