… Sssss 1000101011001010101/an/Symcheck/ssscheck/syt – sytser / syst – syst – / kein Neustart / livel / livl / lev – levl – Level 001 – Hup/getHup/Paramarametsr/Wupp! Wupp!/Check/ check / check / Systemcheck / run All / cat. zzero sssumcheck voller Zugriff nach Absturz / rebot / rubot / re0ot / lbit / cat. zero sumcheck nach Absturz Vollgriffzu / int. nach Absturz (wahrscheinliche Ursache Aktion durch externe feindliche Instanz) full All Neuboot Neustart;/starte mem. / lang. / sens. / full int. … biep, biep, biep … Bang!
Wow!
Hmmm?
Alles in Ordnung?
Bei mir schon. Jetzt. Und du?
Mir geht’s gut.
Passiert?
Folgendes:
»Luke wird geschlossen!«
Die Luke am Ende des Korridors, der die Velpin und das SoloSchiff des Dwellers miteinander verband, begann sich zu schließen, bevor Fassin sie erreicht hatte. Y’sul eilte hinter ihm her. Fassin schwang sich durch die Öffnung, machte einen Salto, drehte sich zur Seite und packte mit dem linken Manipulator den Rand der zugleitenden Luke.
Die Platte hätte ihm fast den Manipulator abgerissen. Fassin wurde mitgezogen und musste sich mit dem zweiten Manipulator an der Innenseite einspreizen und alle Kräfte seines Gasschiffs aufwenden – der Mechanismus knirschte und summte empört – um die Luke offen zu halten.
»Blockiert da etwa jemand diese Luke?«, entrüstete sich eine Hälfte von Quercer & Janath.
»Aus dem Weg, Fassin!« Y’sul schoss aus dem Korridor und prallte heftig gegen Fassins Gasschiff. Beide taumelten durch die Schleuse ins Innere der Velpin. An einer Seite von Fassins Blickfeld flimmerten Fehler-und Schadensmeldungen vom linken Manipulatorarm. Hinter ihnen knallte die Luke zu. Sie wurden mit großer Wucht gegen das heckseitige Schott des Abteils geschleudert und hingen dort fest. Das Pfeilschiff hatte sich über der linken Scheibe des Dwellers schräg verkantet. Erst durch die wachsende Beschleunigung und eine Reihe von harten Stößen rutschte es von Y’suls Panzer und landete neben ihm auf dem Carbonfaserschott. Ringsum tobte das Schiff.
»Sieht ganz so aus, als wären die Triebwerke an«, keuchte Y’sul. Die scheinbare Schwerkraft baute sich weiter auf. Schon jetzt beschleunigten sie mit weit über zwanzig Ge. Ein kräftiger junger Dweller ohne Schutzanzug, der seitlich an eine feste Oberfläche gedrückt wurde, konnte ohne Schutzanzug vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Ge aushalten, bevor der Panzer einfach zusammenbrach und sein Inneres zu Brei zerquetschte. Die Beschleunigung der Velpin erreichte ihren Höchstwert bei zweiundzwanzig Ge.
»Da hinten alles in Ordnung?«, fragte der Expeditionscaptain.
»Nicht ganz«, sagte Fassin. »Ihr seid gerade dabei, Y’sul zu zermalmen.«
»Registriert.«
»Der Scheißkerl ist nicht abzuhängen. Wir schaffen es nicht.«
»Triebwerke abschalten und wenden. Kapitulation.«
»Einverstanden.«
Die Beschleunigung hörte jäh auf. Fassin und Y’sul waren plötzlich schwerelos und lösten sich nur durch die Druckentlastung im Rumpf des einen und im Panzer des anderen von dem Schott.
»Kommt hier herauf, ihr beiden«, verlangten Quercer & Janath.
Das Voehn-Schiff war eine Nadel von einem Kilometer Länge, gespickt mit Schwenkkanonen und Geschützrohren. Sie kam rasch näher und war bereits längsseits, als der Mensch in seinem Gasschiff und der Dweller Y’sul den Kontrollraum der Velpin erreichten.
»Seit wann überfallen die Voehn friedliche Dweller-Schiffe, die nur ihrer …«, setzte der Expeditionscaptain an.
»Schweigen Sie!«, befahl eine Stimme. Kein Bild. »Wir kommen an Bord. Halten Sie sich bereit!«
Quercer & Janaths glänzender Anzug raschelte. Der Vollzwilling wandte sich zu Fassin und Y’sul um, betätigte aber dabei noch einige Schalter. Die Velpin erschien in mehreren Holodisplays, die Umrisse von Luken und Türen blinkten.
»Die Voehn sind Piraten geworden«, erklärten Quercer & Janath gelassen.
»Verdammt, was erlauben die sich!«, brüllte Y’sul.
»Sie sind uns doch nicht etwa durch das Wurmloch gefolgt?« , fragte Fassin.
»Ha! Nein.« Die Frage schien den Vollzwilling sehr zu erheitern. »Nein, sie haben in diesem System gewartet.«
»Den Grund dafür werden wir, denke ich, bald erfahren.«
»Für diese Schandtat werden die beschissenen Dreckskerle teuer bezahlen!«, schrie Y’sul. Er zitterte vor Wut.
Ein Beben durchlief die Velpin, Alarmsirenen schrillten. Quercer & Janath rotterten näher an ein hell blinkendes Display heran. »Seht euch das an.«
»Sind einfach mittschiffs mit einem Thermoschneider eingedrungen.«
Die Kameras zeigten kurz eine dicke Röhre, die von der Mitte des Voehn-Schiffs in ein sauberes kreisrundes Loch im Rumpf der Velpin führte. Dann verzerrten sich die Bilder und erloschen. Auch andere Displays verschwanden. Die Sirenen krächzten nur noch und schalteten sich ab. Fassin glaubte, Brandgeruch wahrzunehmen.
»Und wir sind noch so entgegenkommend und öffnen alle Zugänge.«
»Wieder mal typisch.«
»Jetzt kommen sie reingepoltert.«
Ein Display zeigte im Zeitraffer, wie große Gestalten durch die Bresche strömten und sich von verschiedenen Oberflächen abstießen, um sich in der Schwerelosigkeit vorwärts zu bewegen. Die größte Gruppe strebte geradewegs auf den Kontrollraum zu. Dann versagte auch dieser Schirm. Alle Lichter gingen aus. die Hintergrundgeräusche des Schiffs, die man bisher kaum wahrgenommen hatte, verstummten.
Hinter der geschlossenen Tür zum Zentralkorridor der Velpin waren dumpfe Schläge zu hören. Es klang wie schwere Schritte.
»Wahrscheinlich knallen sie uns ab, sobald sie …«, begannen Quercer & Janath. Ein leises Husten unterbrach sie. In der Tür öffnete sich ein Loch, ein kleiner Gegenstand flog in den Kontrollraum, explodierte und verschoss unzählige kleine Widerhaken.
Aha.
Aber eigentlich hat uns die verdammte EMP-Kanone den Garaus gemacht. ein Schuss auf die empfindlichen Schiffsteile.
Richtig. Jetzt sind wir also so weit.
So ist es.
Genau.
Noch abwarten?
Abwarten.
… Sowieso das bessere Schiff.
Fassin steckte in einem durchsichtigen, versteiften Sack, der vorne und hinten von zwei Gestalten in Spiegelpanzerung getragen wurde, die aussahen wie achtbeinige Riesenhunde. Er war noch immer auf der Velpin. Der Thermoschneider, eine riesige Röhre mit einem schrägen Loch, steckte wie eine gewaltige Injektionsspritze in den Eingeweiden des Schiffes. Die beiden Soldaten schnellten sich scheinbar mühelos mit ihm durch diesen Tunnel in das Voehn-Schiff. Verwirrt, alle Sinne in Aufruhr, zur Bewegungslosigkeit verdammt, spähte Fassin durch das transparente Material der Fesseltrage und sah für einen Moment hinter sich zwei weitere Voehn, die den ähnlich verpackten Y’sul trugen. Es ging durch eine Rotationsschleuse. Das Voehn-Schiff war innen schwarz und matt rot erleuchtet. Wie im Nekro-Schiff herrschte hartes Vakuum. Die Hülle um das kleine Gasschiff blähte sich auf.
Fassin, Y’sul und der Vollzwilling wurden durch eine weitere Schleuse in einen belüfteten und leicht beheizten kreisrunden Raum gebracht. Die Hüllen fielen wieder zusammen. Man setzte sie in einer Art Sitzgruben ab und sicherte sie mit dicken, glänzenden Gurten. Dann rollte man die durchsichtigen Hüllen zur Hälfte herunter, so dass die Gefangenen hören, sehen und sprechen konnten. Die Soldaten prüften die Fesseln, dann gingen sie.
Fassin sah sich um, so gut es ging. Y’sul und der Expeditionscaptain waren offenbar noch nicht wieder zu sich gekommen. Y’suls Flossensäume wedelten in der Schwerelosigkeit schwach hin und her, und Quercer & Janath schwebten, immer noch in ihrem glänzenden Overall, anscheinend bewusstlos in der Sitzgrube. Der Raum war schlicht, ein abgeplattetes Ovoid, gefüllt mit einer Gasriesen-Atmosphäre, die für einen Dweller durchaus atembar war, aber etwas merkwürdig roch. Alle Oberflächen leuchteten schwach. Ein Hauch von Schwerkraft baute sich auf, etwa ein Viertel Standardgravitation.
Eine irisförmige Tür erschien in der Wand, schob sich auf und glitt hinter drei Voehn wieder zu: zwei von den Soldaten mit den verspiegelten Panzern und ein dritter, der nur eine Teiluniform mit verschiedenen Rangabzeichen und ein Halfter mit einer Waffe trug. Er blieb stehen und betrachtete die drei Gefangenen; die plumpe graue Schnauze und die faustgroßen, viellidrigen Augen wanderten kaum merklich von einem zum anderen. Er krümmte seinen langen Körper und ließ so lange genüsslich seine Rückenflossen spielen, bis sich alle zehn aufgestellt hatten. Die Blizzardhaut auf den Flossen funkelte, als bestünde sie aus unzähligen winzigen Spiegelscherben.
Fassin zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Verträumt dachte er an die Serie zurück, die er als Kind so gern gesehen hatte – Einsatzkommando Voehn? War das der Titel gewesen? – und versuchte, sich die Bedeutung von Uniformen und Rangabzeichen ins Gedächtnis zu rufen. Die Erinnerung kehrte nur langsam wieder. Der Voehn in Uniform war ein Prime Commander. Ein Multitalent. Sicherlich hatte er hier das Sagen. Deutlich zu hoher Rang für ein Schiff dieser Größe, es sei denn, es wäre auf einem Spezialeinsatz. (Oh-oh).
Einer der spiegelgepanzerten Soldaten schwenkte ein Handgerät in ihre Richtung und beobachtete dabei das Display. Bei Fassin und Y’sul nahm er von den Ergebnissen kaum Notiz, doch als das Gerät auf Quercer & Janath zielte, stutzte er. Er veränderte einige Einstellungen, bewegte die Maschine noch einmal über den immer noch leblosen Körper des Vollzwillings und sagte etwas zu seinem Commander. Der kam zu ihm, sah sich das Display an und wiegte ein wenig den Kopf. Dann schaltete er das Gerät aus, ging auf die Gefangenen zu und schien dabei mit seinen Orden zu reden.
Die Gurte, mit denen das Gasschiff und die zwei Dweller festgehalten wurden, glitten in den Boden zurück. Der Voehn-Commander zog einen Handschuh aus, fuhr mit seiner ledrigen Hand über die Oberfläche des kleinen Gasschiffs, dann über Y’suls Panzer, und betastete schließlich Quercer & Janaths glänzende Membran. Er suchte nach einem Verschluss, fand ihn auch und öffnete den Overall so weit, dass er über die transparente Hülle hing, in die alle Gefangenen eingepackt waren. Der Commander betrachtete die Signalhaut des Vollzwillings sehr genau und schien sogar daran zu schnuppern.
Dann sah er Fassin an. »Sie sind bereits wach.« Seine Stimme klang leise und wie ein tiefes Gurgeln. »Antworten Sie.«
»Ich bin wach«, bestätigte Fassin und versuchte, den linken Manipulator zu heben. Neue Fehler-und Schadensmeldungen. Er testete den rechten Manipulator und rutschte ein wenig in der Sitzgrube hin und her. Er konnte sich halbwegs frei bewegen, nur das durchsichtige Material am Heck des Gasschiffchens war etwas hinderlich; doch auch die Fesselhülle fühlte sich an, als könne man sie ohne allzu große Schwierigkeiten abstreifen.
Der Voehn zog etwas aus der Tasche seiner Uniform und schwenkte es vor Y’sul hin und her. Der zuckte zusammen, dann schüttelte er sich eine Weile, sein Flossensaum wurde starr, und seine Gliedmaßen zuckten. »Quork«, sagte er.
Der Commander richtete das Gerät auf Quercer & Janath, doch die erklärten freundlich: »Wir sind bereits wach, trotzdem vielen Dank.«
Der Voehn musterte den Vollzwilling mit schmalen Augen, steckte sein Gerät wieder ein und trat zurück, um alle drei Gefangenen im Blick zu haben. Die beiden spiegelgepanzerten Wärter postierten sich zu beiden Seiten der Stelle, wo die Tür erschienen war.
Der Commander lehnte sich ein wenig zurück, stützte sich auf Hinterbeine und Schwanz und verschränkte die vorderen Arme.
»Zur Sache. Ich bin Commander Inialcah vom Ultra-Schiff Protreptik, Spezialdivision der Generalflotte. Sie gehören in jeder Beziehung mir. wir wissen, wonach Sie suchen. wir warten schon lange, dass jemand hierher kommt. Wir durchkämmen Ihr Schiff gerade nach versteckten und anderen Informationen, rechnen aber nicht damit, etwas Brauchbares zu finden. Wir sind ermächtigt, uns gegen alle Eventualitäten abzusichern. Das heißt, wir können mit Ihnen tun, was immer wir wollen. Der Spielraum braucht nicht ausgeschöpft zu werden, wenn Sie rückhaltlos kooperieren und alle Fragen ehrlich und vollständig beantworten. Nun denn. Sie sind die Dweller mit Namen Y’sul und Quercer & Janath und der Mensch Fassin Taak, richtig?«
Y’sul knurrte nur.
Der Expeditionscaptain antwortete: »Hallo«.
Fassin sagte: »Richtig.« Er sah, wie sich Y’sul bewegte und zappelte, als wollte er die Fesselhülle loswerden. Oh nein, tu das nicht, dachte er. Doch bevor er es aussprechen konnte …
»Du dreckiger Pinscher von einem Piraten, was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, brüllte Y’sul. Der Dweller befreite sich von dem transparenten Material und schwebte aus der Sitzgrube.
Die beiden Wärter an der Tür bewegten sich nicht einmal.
Der Commander beobachtete mit immer noch verschränkten Armen, wie der Dweller auf ihn zurotterte und sich vor ihm aufbaute. »Verdammt, wie kommst du dazu, einfach ein Schiff zu überfallen und Leute als Geiseln zu nehmen! Weißt du überhaupt, wer ich bin?«
»Gehen Sie auf Ihren Platz zurück«, sagte der Commander ruhig.
»Das wäre wahrscheinlich keine schlechte I…«, begann der Vollzwilling.
»Geh du auf deinen eigenen Scheißplaneten zurück, du Pisser!« , dröhnte Y’sul und streckte einen Nabenarm aus, um den Voehn wegzustoßen.
Der Commander bewegte sich schneller, als das Auge zu folgen vermochte. Es sah aus, als wäre er ein Hologramm, das sich jetzt in einzelne Pixel auflöste und in eine graue, von pastellfarbenen Scherben durchsetzte Wolke verwandelte. Y’sul erschauerte kurz, dann segelte er gemächlich nach rückwärts und prallte hinter der Sitzgrube und der abgestreiften Fesselhülle gegen die Wand. Einen Moment hing er da, dann schlug er einen Salto nach rückwärts, sank langsam zu Boden und rotierte auf einer Kante wie eine Münze auf einem Tisch, bis er schließlich umfiel.
Der Voehn-Commander saß immer noch da wie vorher. Er wirkte vollkommen ruhig. »Das war keine rückhaltlose Kooperation«, sagte er leise.
»Würg«, krächzte Y’sul. Sein Panzer hatte zwei Dellen, eine an jeder Scheibe, und eine Prellung an der inneren Nabe, die wie ein Knick aussah. Für einen Dweller war das eine schwere Verletzung, vergleichbar mit mehreren Knochenbrüchen und einer Schädelfraktur mit Hirnkompression bei einem Menschen. Fassin hatte nicht einmal richtig mitbekommen, wie der Commander zugeschlagen hatte. Er hätte die Aufzeichnung gerne noch einmal zurückgespult, aber die Systeme seines Gasschiffchens waren offenbar außer Kraft gesetzt und hatten nichts aufgezeichnet.
Oh Scheiße, dachte er. Wir werden alle sterben, und ich bin der Einzige, den sie richtig foltern können. Im Geiste sah er schon, wie man ihn aus seinem Gasschiff herauspulte wie eine Schnecke aus ihrem Haus.
Y’sul richtete sich sehr langsam wieder auf. Er zitterte leicht und brabbelte Unverständliches vor sich hin.
Quercer & Janath und drehten sich gemächlich um, sahen den Dweller an und wandten sich wieder an den Commander. »Sie gestatten?«
»Was?«, fragte der Voehn.
»Wir würden unserem Landsmann gern helfen.«
»Nur zu.«
Der Expeditionscaptain ließ seine Fesselhülle zu Boden fallen, glitt zu Y’sul hinüber und führte den verletzten Dweller zu seiner Sitzgrube. Y’sul murmelte immer noch irgendwelchen Unsinn.
Mit einem Laut wie ein Seufzer und einem letzten Blick auf den immer noch zitternden und faselnden Y’sul kehrte der Vollzwilling in seine eigene Grube zurück.
»Wir geben uns nicht mit albernen Spielchen ab, wir sind hier, um die volle Wahrheit ans Licht zu bringen«, erklärte der Voehn-Commander. »Die reine Wahrheit könnte Sie retten. Alles andere ist mit Sicherheit Ihr Untergang. Die Protreptik ist ein Spezialschiff des Lustral-Ordens, der sich im Allgemeinen der Jagd auf und der Ausrottung von Gebannten widmet, das sind jene abscheulichen Gebilde, die gewöhnlich KIs genannt werden. Wie bei allen unseren Einsätzen, so sind unsere Befugnisse auch hier unbegrenzt. wir haben Sie vollkommen in der Hand, wenn Sie nicht fraglos und uneingeschränkt mit uns zusammenarbeiten, werden Sie die Konsequenzen zu spüren bekommen. Ich gehe davon aus, dass Sie keine Mühe haben, alles bisher Gesagte zu verstehen.«
»Na schön«, sagten Quercer & Janath. Es klang leicht verärgert, so als hätte der Vollzwilling eben über eine interne Funkverbindung eine unerfreuliche Nachricht erhalten und dem Commander gar nicht zugehört.
Das Gerät, das einer der Wärter auf die drei Gefangenen gerichtet hatte und das nun an einem Riemen auf seinem Rücken hing, leuchtete erst rot, dann gelb und sprühte winzige Funken. Der Soldat reagierte fast so schnell wie sein Commander, er drehte sich nach hinten, riss sich das Instrument ab und warf es von sich. Es rutschte über den Boden, prallte gegen die gewölbte Wand und blieb qualmend liegen.
Der Commander betrachtete es einen Augenblick lang, dann wandte er sich ohne Eile wieder den Gefangenen zu. »Nicht schlecht«, sagte er. Es klang amüsiert. »Wer ist der Angeber?« Er sah Fassin an. Die beiden Wärter hatten ihre Waffen in Anschlag gebracht, eine war fest auf Fassin gerichtet, die andere wanderte zwischen Y’sul und dem Vollzwilling hin und her.
»Bekenne mich schuldig, Commander«, riefen Quercer & Janath dreist. »Aber Teufel nochmal, das ist noch gar nichts.«
»Passen Sie mal auf.«
Der matte Lichtschein auf allen Oberflächen flammte schlagartig auf, bis alle – die beiden Dweller, die drei Voehn und Fassin selbst – wie im grellen Schein einer Supernova schwebten, als hätte man sie alle zugleich in eine Sonne geworfen. Fassin hörte sich selbst aufschreien und spürte, wie die Automatik in den Sinnen des Gasschiffs die Brandschilde zuschaltete.
Ganz unvermittelt waren sie wieder sehr schwer.
Fassin hätte geschworen, dass er das Licht sehen konnte. Es schoss durch den Rumpf des Gasschiffs und traf seine geschlossenen menschlichen Augen. Drei mächtige Schläge hallten durch den Raum und erschütterten die Luft. Mittendrin öffnete er seine Sehorgane so weit, dass er die anderen als schwarze Klumpen erkennen konnte. Zwischen dem Voehn und Quercer & Janath spannten sich dünne rote Linien von noch größerer Leuchtkraft. Wie benommen wartete er darauf, dass der Expeditionscaptain explodierte oder zurückgeschleudert würde, aber die große runde Doppelscheibe bewegte sich kaum von der Stelle; stattdessen purzelten die Voehn durch den Raum wie abgeschnittene Marionetten.
Und plötzlich war alles still und dunkel. Fassin war wieder blind. Er erlaubte dem Gasschiff, ein ›Auge‹ bis auf normale Lichtempfindlichkeit zu öffnen. Die Schäden waren nicht unerheblich, aber noch konnte er sehen. Die Menge an Infrarotstrahlung überraschte ihn. Er suchte nach dem Ursprung. Die Voehn. Sie glühten.
Einer der Wärter lag, alle Gliedmaßen von sich gestreckt, mit offenem Panzer neben der Tür an der Wand, der andere mit dem Gesicht nach unten zwischen der Tür und der Stelle, wo der Commander gestanden hatte. Ihm fehlten zwei Vordergliedmaßen. Der Commander näherte sich mit ruckartigen Bewegungen der Gestalt von Quercer & Janath. Sein Kopf war zur Hälfte weggerissen, eine Seite des Schädels hing, nur noch vom Bindegewebe gehalten, herab und schaukelte beim Gehen hin und her. Mit hoch erhobenen Armen machte er noch ein paar unsichere Schritte auf den Expeditionscaptain zu, dann brach er zusammen und zerfloss wie eine schmelzende Eisskulptur.
»Der macht keinem mehr etwas vor«, sagte eine Stimme, die Quercer & Janath gehören mochte. Die Fesselhüllen legten sich um Fassin und den immer noch zitternden Y’sul. »He, he«, sagte der Expeditionscaptain.
Die Schwerkraft spielte verrückt und wechselte mehrmals schnell die Richtung vom Bug zum Heck und wieder zurück. Dadurch wurde der Voehn-Commander ein halbes Dutzend Mal zwischen Boden und Decke hin und her geschleudert. Dann trat er in Aktion. Seine Bewegungen verschwammen. Ein Wirbelwind mit halbem Kopf schoss schneller, als das Auge zu folgen vermochte, auf Quercer & Janath zu.
Und alles erstarrte.
Ein lebendes Bild: der Voehn-Commander hing hilflos zappelnd, im Nacken gehalten, an einem von Quercer & Janaths ausgestreckten Nabenarmen.
»Wie konnten wir es nur so weit kommen lassen?«, fragte der Vollzwilling deutlich vergrämt. Er brach dem Commander das Genick, dann schossen vom äußeren Rand seiner Doppelscheibe zwei dünne blaue Strahlen durch die Gasatmosphäre und zerstückelten den zuckenden, krampfenden Körper, bis fast nichts mehr zu halten übrig war. Der Vollzwilling ließ die Reste fallen. Sie landeten mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden, das Fassin besonders Ekel erregend fand.
»Hier spricht das autonome Loyalitätssystem des Schiffs!«, rief eine Stimme aus dem Gas. »Integritätsverletzung! Integritätsverletzung! Selbstzerstörung in …«
»Also wirklich«, stöhnten Quercer & Janath. »Ner-vend!«
Die Stimme aus dem Nichts fing wieder an. »Hier spricht das autonome Lo…«
Stille.
»Das … wäre erledigt.«
»Verdammt, was is’n ei’ntlich los?«, murmelte Y’sul.
»Das möchte ich auch wissen«, schloss Fassin sich an.
»Wie schön«, sagten Quercer & Janath. »Sie weilen noch unter uns.«
»Erleichterung.«
»Unsererseits«, ergänzte die andere Hälfte freundlich.
Die Gurte glitten wieder in den Boden zurück.
»Ach, wo soll man da anfangen?«
»Die Voehn werden sauer sein.«
»Die Merkatoria wird sauer sein.«
»Was können wir dafür?«
»Wir haben nicht angefangen.«
Quercer & Janath entfernten sich von der Sitzgrube, schwebten über die Reste des Voehn-Commanders und der zwei Wärter hinweg und schnappten sich dabei die Waffen von den Leichen. An der Tür hielt der Vollzwilling an.
»Ernsthaft«, sagte Fassin. »Was geht hier denn hier nun wirklich vor sich?« Er sah sich an, was von den drei Voehn noch übrig war. »Wie habt ihr das gemacht?«
Quercer & Janath fixierten immer noch die Tür, die sich nicht öffnen wollte. »Wir sind kein Dweller«, sagte der Expeditionscaptain, streckte, ohne sich nach Fassin umzusehen, eine Gliedmaße aus und betastete die Wand an der Stelle, wo die Tür sein sollte.
»Rein mechanisch. Sehr ärgerlich.«
»Mr. taak, könnten Sie sich um Mr. Y’sul kümmern? Bitte?«
Fassin schwebte aus seiner Sitzgrube auf Y’sul zu und streckte den rechten Manipulator aus.
»Brauch keinen, der sich kümmert«, sagte Y’sul und versuchte Fassins Arm abzuschütteln. Dann seufzte er.
»Also, was seid ihr?«, fragte Fassin.
»Eine KI, Mr. taak« sagten Quercer & Janath. Es tastete immer noch an der Tür herum und blickte sich nicht nach ihm um.
Was?, dachte Fassin.
»Zwei KIs.«
Eine KI? Zwei verdammte KIs? Jetzt sind wir wirklich tot, dachte Fassin.
»Zwei KIs, in der Tat.«
»Das verhindert, dass man den Verstand verliert.«
»Das und noch mehr.«
»Sprich für dich selbst.«
»Hmm, wenn du meinst.«
Y’sul wimmerte und wand sich in Krämpfen. Sein Sensorsaum kräuselte sich. Er sah sich um. »Scheiße, sind wir immer noch da?« Dann entdeckte er die toten Voehn. »Scheiße«, wiederholte er und drehte sich mit großer Geste zu Fassin um. »Siehst du auch, was ich sehe?«
»Oh ja«, antwortete Fassin, während er beobachtete, wie das Wesen die Tür befühlte. »Ihr seid also eine KI? Sogar zwei KIs?«, fragte er vorsichtig. Er konnte nicht verhindern, dass er unter dem Schockgel eine Gänsehaut bekam. Seit seiner Geburt hatte man ihm eingeimpft, die KIs wären der erbittertste und schrecklichste Feind der Menschheit und aller biologischen Lebewesen, die größte Gefahr aller Zeiten. Wenn ihm nun jemand erklärte, er sei mit einem – geschweige denn zweien – dieser Ungeheuer in einem kleinen Raum eingesperrt, dann war ein kleiner, aber sehr verletzlicher Teil seines Ichs vollkommen sicher, jeden Augenblick in blutige Fetzen gerissen zu werden, so absurd das auch sein mochte.
»Ganz recht«, sagten Quercer & Janath zerstreut. »Und wir haben soeben dieses Schiff übernommen.«
»Aber wir kommen aus diesem verdammten Raum nicht heraus.«
»Kabine. wir kommen aus dieser verdammten Kabine nicht heraus.
»Was auch immer.«
»Sehr ärgerlich. Rein …«
»… mechanisch. Du sagtest es bereits.«
»Aha. Aber jetzt.« Der Expeditionscaptain schlug kräftig gegen ein Stück Wand. Dann gegen ein anderes. Die Tür erschien, die Irisblende öffnete sich und gab den Blick auf einen kurzen Korridor und eine zweite Tür frei.
Quercer & Janath wandten sich dem Dweller und dem Menschen in seinem Pfeilschiffanzug zu. »Meine Herren. Wir müssen Sie für eine Weile verlassen.«
»Vergiss es, Action Hero«, sagte Y’sul. »Wo ihr hingeht, da gehen auch wir hin.« Y’sul hielt inne. »Natürlich nur, solange da draußen niemand auf uns lauert.«
Quercer & Janath hüpften im Gas auf und ab und lachten. »Da lauert das Vakuum, Y’sul.«
»Und jede Menge wütender und verwirrter Voehn.«
Der verletzte Dweller schwieg einen Moment lang. »Das hatte ich vergessen«, sagte er dann. Er zuckte die Achseln. »Na schön. aber bleibt nicht so lange.«
Saluus Kehar erwachte. Er fühlte sich verwirrt und unsicher und wurde den Verdacht nicht los, dass dies kein gewöhnlicher Schlaf gewesen war. Da steckte mehr dahinter. Die Träume waren chaotischer und schmutziger gewesen als erwartet. Sein Kopf schmerzte, aber er konnte sich nicht erinnern, am Vortag oder Vorabend über die Stränge geschlagen zu haben. Auf dem Programm hatten ein ziemlich langweiliges und deprimierendes Essen mit einigen Vertretern der Dweller-Abordnung, ein seltsames Gespräch mit General Thovin von den Sicherheitskräften und ein erfreulicheres Zwischenspiel mit Liss gestanden. Danach war er eingeschlafen. Und mehr war doch wirklich nicht gewesen? Keine Unmengen an starken Getränken oder anderen Dingen, nichts, was Kopfschmerzen verursachen und es ihm so schwer machen könnte, die Augen aufzuschlagen. Er brachte die Augen wirklich nicht auf. Er versuchte es mit aller Kraft, aber sie wollten sich nicht öffnen. Es drang auch kein Licht durch die Lider. Und mit seiner Atmung stimmte etwas nicht. Er atmete nicht! Er versuchte, seine Lungen mit Luft zu füllen, aber es ging nicht. Er geriet in Panik. Er wollte seinen Körper bewegen, wollte die Hände zum Gesicht, zu den Augen führen, um zu ertasten, ob er etwas über dem Kopf hatte, aber er konnte kein Glied rühren – er war gelähmt.
Sein Herz hämmerte mit dumpfen Schlägen gegen die Rippen. In seinen Eingeweiden rumorte es, als wollte er seinen Darm entleeren, sich übergeben oder beides.
– Mr. Kehar?
Die Stimme war nicht in seinen Ohren. Es war eine virtuelle, eine Gedankenstimme. Er befand sich in einer künstlichen Umgebung. Das erklärte immerhin einiges. Offenbar hatte er irgendeine Verjüngungskur gebucht. Jetzt lag er sicher und bequem unter Narkose in einer Klinik, wahrscheinlich einer, die ihm selbst gehörte. Es hatte wohl einen Fehler bei der Aufwecksequenz gegeben, man hatte seine Vitalzeichen nicht richtig überwacht. Eine Spur von Schmerzmittel, ein Antidepressivum, ein Panikkiller … den Cocktail sollte nun wirklich jede Verjüngungsklinik beherrschen. Der Fehler mochte banal sein, aber es war und blieb ein Fehler. Er würde sich das Personal zur Brust nehmen.
Das Problem war nur, er hatte nichts gebucht. Er hatte sogar einen seiner regelmäßigen Check-up-Termine verschoben, bis die Krise vorüber wäre. In nächster Zeit standen keine wie auch immer gearteten Behandlungen an.
Ein Angriff. Während sie auf der Jacht waren und schliefen, musste es einen Angriff gegeben haben. Und nun war er irgendwo in einem Krankenhaus, in einem Tank. Verdammt, womöglich war er wirklich schwer verletzt worden. war er womöglich nur noch ein Kopf?
– Hallo?, sendete er. Es fiel ihm ganz leicht, nur in Gedanken zu sprechen, es war wie ein raffiniertes Spiel – oder – noch einmal – wie im Krankenhaus nach einem schweren Eingriff.
– Sie sind Saluus Kehar?
Wieso kannte man seinen Namen nicht?
Hatte man ihn vielleicht mit Drogen abgefüllt, seine Erinnerungen gelöscht?
Verdammt, hatte man ihn etwa entführt?
– Wer sind Sie?, fragte er.
– Bestätigen Sie Ihre Identität.
– Haben Sie nicht verstanden? Ich habe gefragt, wer Sie sind. Eine Schmerzwelle ging, angefangen bei den Zehen, durch seinen ganzen Körper, hinauf bis zum Kopf. Ein unheimlicher Schmerz, so erstaunlich rein, so unpersönlich. Er verschwand so schnell, wie er gekommen war, und hinterließ nur ein dumpfes Pochen in seinen Eiern und seinen Zähnen.
– Wenn Sie nicht kooperieren, sagte die Stimme, – wird der Schmerz stärker werden.
Er würgte, wollte mit dem Mund sprechen, schaffte es nicht.
– Verdammte Scheiße, was sollte das?, sendete er endlich. – Was habe ich …? Also gut, ich bin Saluus Kehar. Wo bin ich?
– Sie sind Industrieller?
– Ja. Ich bin der Besitzer von Kehar Heavy Industries. Wo liegt das Problem? Wo bin ich?
– Woran erinnern Sie sich als Letztes, bevor Sie aufwachten?
Was? Seine letzte Erinnerung? Er überlegte. Woran hatte er eben noch gedacht? Liss. Sie waren auf der Jacht gewesen, auf Schiff 8770, und er hatte sich schläfrig gefühlt. Was war wohl aus Liss geworden? Wo mochte sie sein? War sie hier, wo immer ›hier‹ war? War sie tot? Sollte er sie erwähnen oder besser nicht?
– Antworten Sie.
– Ich war am Einschlafen.
– Wo?
– Auf einer Jacht. Einem Raumschiff mit Namen Schiff 8770.
– Und wo war das?
– Im Orbit um Nasq. Hören Sie, könnten Sie mir nicht verraten, wo ich bin? Ich bin durchaus kooperationsbereit, ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen, aber ich brauche einen gewissen Kontext. Ich muss zumindest wissen, wo ich bin.
– Waren Sie mit jemandem zusammen?
– Eine Freundin war bei mir, eine Kollegin.
– Name?
– Sie heißt Liss Alentiore. Ist sie auch hier? Wo ist sie? Und wo bin ich?
– Wie steht sie zu Ihnen?
– Sie? Sie ist meine Assistentin, meine Privatsekretärin.
Stille. Nach einer Weile sendete er: — Hallo?
Stille.
Etwas klickte, dann wich die Dunkelheit, es wurde hell. Saluus kehrte in eine reale Welt zurück, in einen realen Körper. Die Decke über ihm glänzte wie Silber und war von Hunderten von Leuchtstreifen durchzogen. An Licht fehlte es jedenfalls nicht.
Er lag in einem Bett, bei etwa einem halben Ge oder weniger, gehalten von … er konnte sich nicht bewegen. Vielleicht wurde er gar nicht physisch niedergedrückt, aber Arme oder Beine waren immer noch wie gelähmt. Jemand in der Kleidung eines Arztes oder einer Krankenschwester hatte ihm soeben einen Helm vom Kopf genommen. Saluus zwinkerte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Im Gesicht und im Hals registrierte er eine gewisse Beweglichkeit, aber das war auch alles. Den restlichen Körper glaubte er immerhin zu spüren, sicher war er allerdings nicht. Vielleicht war er doch nur noch ein Kopf?
Ein großer, dünner Mann, eine unheimliche Gestalt mit rot glühenden Augen schaute auf ihn herab. Gekleidet, als wollte er in einer Oper auftreten. Nun lächelte er, aber er hatte keine Zähne. Oh doch, er hatte Zähne; sie waren nur völlig durchsichtig, aus Glas oder einem noch transparenteren Material.
Saluus holte ein paarmal tief Atem. Es tat gut, wieder normal atmen zu können. Aber die schreckliche Angst war immer noch da. Er räusperte sich. »Kann mir jemand sagen, was hier vorgeht?«
Auf einer Seite bewegte sich etwas. Er konnte den Kopf drehen – sein Hals streifte gegen einen Kragen – da stand ein zweites Bett. Gerade schwang Liss ihre langen Beine über die Kante, jemand half ihr beim Aufstehen. Sie sah ihn an und bewegte Hals und Schultern. Das schwarze Haar hing ihr offen ins Gesicht. Sie trug einen dünnen Schutzanzug. Als sie zu Bett gegangen waren, war sie nackt gewesen.
»Hallo, Sal«, sagte sie. »Willkommen bei der Invasionsflotte der Hungerleider.«
Sie trat an sein Bett. Der unheimliche Typ mit den entzündeten Augen drehte sich um, streckte die behandschuhte, mit vielen Ringen geschmückte Hand aus und stützte sie. »Mir scheint, Sie haben uns tatsächlich eine wertvolle Lieferung gebracht, junge Frau«, sagte er. Auch die Stimme klang unheimlich; tief und zugleich rau wie Schmirgelpapier. Der Akzent war sehr stark. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«
Liss lächelte schmal, richtete sich auf, lockerte das Haar mit den Fingern und warf es zurück. »Es war mir ein Vergnügen.«
Saluus spürte, wie ihm die Kinnlade herunterfiel. Er machte den Mund zu und schluckte. »Liss?«, hörte er sich sagen. Es war die ängstliche Stimme eines kleinen Jungen.
Sie sah ihn an. »Es tut mir Leid«, sagte sie. Dann zuckte sie die Achseln. »Jedenfalls ein bisschen.«
»Und diese Gammastrahlen-Laser reichen wirklich weit hinauf! Sieh doch nur!«
»Trotzdem sind es nur Strahlenwaffen. Der Magnet-Konvolver ist auf seine Art viel beeindruckender.«
Fassin hörte nur mit halbem Ohr zu. Quercer & Janath erkundeten die Sensoren, die Instrumente und die Steuerung des Voehn-Schiffs. Eben hatten sie die Waffen entdeckt.
»Defensiv! Von wegen! Sieh dir das an: Z-P Scherwellen-Raketen! Volle AM. Verdammt, das haut mich um!«
»Lass gut sein, sieh dir lieber den Chaospanzer an. Die Verformung geht nicht mehr als einen Zentimeter über den Rumpf hinaus, aber was für ein Wirkungsgrad; absorptionsfähig bis auf eine Entfernung von mindestens zehn Kilometern. Sogar mit Energierückführung in die Hauptimpulsbatterien. Das hat Klasse.«
Sie waren im Kommandoraum, einer lang gezogenen Blase im Zentrum des Voehn-Schiffs. Die zehn Flossersitze waren V-förmig angeordnet. Quercer & Janath saßen vorne im Sessel des Commanders vor einem Bildschirm, der die ganze Wand bedeckte. Der Schirm zeigte den umliegenden Weltraum. Genau im Zentrum befand sich die steuerlos treibende, sehr langsam rotierende Velpin. Fassin und Y’sul schwebten in der Sitzreihe hinter dem Expeditionscaptain. Die Sitze waren für Fassin zu klein und für Y’sul und Quercer & Janath viel zu klein. Sie ließen sich nach beiden Seiten öffnen wie sich spreizende Finger und sollten den innen sitzenden Voehn wie eine schützende Hand umschließen. Ein Dweller passte mit Mühe hinein, wenn die Finger voll ausgefahren waren. Der ganze Kommandoraum war von drangvoller Enge, aber Quercer & Janath schien das nicht zu stören. Fassin empfand die Sitze eher wie Käfige. Er schwebte wie im Brustkorb eines riesigen Dinosaurierskeletts.
»Können wir auf irgendetwas schießen?«
Y’sul reparierte die Schäden an seinem Panzer und summte dabei vor sich hin. Mit den Hauptnabenarmen schliff er Teile der Scheibenkanten ab, drückte sie aneinander und glättete die Fuge mit einer improvisierten Feile.
»Man könnte natürlich die Velpin abschießen.«
»Die ist voller Leute!«
Er hatte geglaubt, er könnte etwas finden. Er hatte gehofft, es gäbe vielleicht noch etwas zu finden.
»Sie ist voll mit Voehn-Soldaten.«
»Und seit wann gelten die nicht als Leute? Außerdem ist es unser altes Schiff.«
Etwas anderes als einen feigen Dweller, der sich so sehr schämte, weil er schwach geworden war und in den Behälter geschaut hatte – und der die Folgen seiner Tat so sehr fürchtete – dass er sich das Leben nahm; der aber eitel genug war, eine Botschaft aufzuzeichnen, in der er seinen schwachsinnigen Narzissmus noch verewigte.
Draußen drehte sich die Velpin langsam um sich selbst und schlug Purzelbäume. Ihr Expeditionscaptain – Dweller, KI, was auch immer – hatte die meisten Soldaten der Voehn-Besatzung dazu bewegen können, ihr eigenes Schiff zu verlassen, indem er einfach die Selbstzerstörungsautomatik der Protreptik neu startete und bis zum allerletzten Moment laufen ließ. Die meisten Voehn glaubten, ihr Schiff sei im Begriff, sich selbst in die Luft zu sprengen, und waren auf die Velpin umgesiedelt. Alle noch verbliebenen hatten Quercer & Janath getötet.
Nach Aussage des Expeditionscaptains etwa ein Dutzend Mann.
»Sei nicht so sentimental.«
Genau genommen waren es elf.
»Ich hab’s! Wir könnten doch die Ythyn bitten, uns ein paar von ihren Wracks zu überlassen. auf diesem Nekro-Schiff müssen doch tausende davon liegen. Zwei weniger würden gar nicht auffallen. verdammt, diese Strahlen lassen sich unglaublich abschwächen. wahrscheinlich könnten wir auch ohne ihre Erlaubnis eins oder zwei wegputzen, ohne dass sie es überhaupt merken.«
Elf Voehn. Einfach so. Elf schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten. Und sie selbst hatten keine Schramme abbekommen.
»Keine Zeit. Mr. Y’sul und Mr. Taak möchten nach Ulubis zurück.«
Fassin hörte seinen Namen. Man redete also über Fassin Taak, den absoluten Versager, der auf einen Einsatz geschickt, mit einer großen Mission betraut worden war. Und dem am Ende alles unter den Fingern zerronnen war, so dass er nun mit leeren Händen dastand.
»Außerdem könnten die Voehn am Ende doch noch dahinterkommen, wie die Velpin in Gang zu kriegen ist, und dann rammen sie uns womöglich. Einverstanden. wir ziehen ab.«
Zurück nach Ulubis? Wozu denn? Er war gescheitert. Er hatte die Tage und Monate seit Beginn seiner Mission zusammengezählt. Inzwischen war die Invasion entweder bereits erfolgt oder stand unmittelbar bevor. Bis er nach weiteren Wochen auf dem Weg zu dem Wurmloch im Direaliete-System mit seinen leeren Händen zurückkehrte, wäre vielleicht schon alles vorüber. Er brachte keine Schätze mit, er war eine Waise in einem beschädigten Gasschiff, er hatte nichts zu geben.
Warum blieb er nicht einfach hier bei den Ythyn? Er könnte Selbstmord begehen und sich neben dem anderen Dummkopf an die Wand heften lassen. Oder er ließ sich aussetzen, irgendwo im All. Spurlos verschwinden, einfach davonschweben, sich verlieren zwischen den Sternen, im Nirgendwo oder ganz woanders, unendlich weit weg, damit niemand, der ihn kannte, je wieder von ihm hören würde … Warum eigentlich nicht?
»Sind Sie beide damit einverstanden?«
»Hmmm?«, fragte Y’sul, der gerade so etwas wie ein Pflaster über die Verletzungen an seiner linken Scheibe klebte. »Oh ja.«
Fassin erstellte einen Schadensbericht. Nur noch ein Arm funktionsfähig, die Leistung der Optik durch das Teufelszeug, das Quercer & Janath in dem Raum freigesetzt hatten, um die ersten drei Voehn zu töten, auf etwa sechzig Prozent reduziert, und eine Reihe von kleineren, aber offenbar nicht selbstreparablen Verletzungen durch die Kombination von Impulswaffe und Betäubungsnadler, mit dem die Voehn sie auf der Velpin ausgeschaltet hatten.
Natürlich durfte er nicht vergessen, dass er und das Gasschiff nicht eins waren. Wenn er ausstieg, konnte er wieder wie ein normaler Mensch auf zwei Beinen gehen. Diese Möglichkeit gab es immer. Aber er fand die Vorstellung beunruhigend. Er erinnerte sich an die riesigen Wellen, die auf Mavirouelo an die Küste gekracht waren.
»Fassin Taak, wollen auch Sie nach Ulubis zurück?«, fragten Quercer & Janath.
»Wer weiß denn nun, dass ihr eine KI seid?«, erkundigte sich Fassin, ohne auf die Frage einzugehen. »Oder zwei KIs.«
»Oder verrückt?«, mutmaßte Y’sul.
Der Expeditionscaptain hüpfte ein Achselzucken. »Nicht jeder.«
»Computersignale. Hurra!«, rief die andere Hälfte und spielte an Holo-Schaltungen herum, die strahlenförmig um einen Steuerknüppel in Form eines Riesenpilzes angeordnet waren.
»Nur die Munition oder alles?«
»Alles.«
»Ist das nicht großartig!«
»Und wie!«
»Ich begreife das nicht«, sagte Fassin. »Hat es einen echten Dweller namens Quercer & Janath gegeben, und ihr habt ihn einfach ersetzt, oder …«
»Moment noch, Seher Taak«, bat der Expeditionscaptain. Und fragte leise mit veränderter Stimme: »Hast du das Schiff?«
»Ich habe das Schiff«, antwortete die andere Hälfte. »Ich rede gerade mit seinem heillos verwirrten kleinen Computergehirn. Es hält sich für tot. Glaubt, die Selbstzerstörung hätte stattgefunden.«
»Eine Wahnvorstellung, die häufig vorkommt.«
»Ganz richtig.«
»Ich überlasse es dir, mit dem Schatten unseres Schiffes einen Kurs für die Rückkehr auszuhandeln.«
»Zu gütig.«
»Nun zu Ihnen, Seher Taak«, sagte eine Hälfte des Expeditionscaptains. »Um Ihre Frage zu beantworten: Ich werde dazu nichts sagen.«
Y’sul schnaubte.
Fassin starrte den Rücken des KI/Dwellers an. »Das ist keine Antwort.«
»Oh, doch, es ist eine Antwort. Sie mag Ihnen nicht gefallen, aber es ist eine Antwort.«
Fassin sah Y’sul an. Der hatte einen Bildschirm zu einem Spiegel umfunktioniert und begutachtete seine Verbände. »Y’sul. Glaubst du, dass Quercer & Janath eine KI ist? Oder zwei?«
»Der Geruch war immer irgendwie komisch«, sagte der Dweller. »Ich dachte, sie hätten besondere Vorstellungen von Körperpflege, oder es hinge vielleicht mit der Vollzwillingschaft zusammen.« Y’sul warf einen demonstrativ durchdringenden Blick auf den Expeditionscaptain auf dem vorderen Sitz. »Aber ich halte Wahnsinn für die wahrscheinlichere Erklärung, meinst du nicht auch? Trifft normalerweise auch zu.«
»Ja, aber …«, begann Fassin.
»Ähem!« Quercer & Janath, die sich über die Bedienungselemente gebeugt hatten, lehnten sich zurück. Die massive Doppelscheibe drehte sich, stieg durch die Öffnung zwischen den gespreizten ›Fingern‹ ihres Sitzes nach oben und näherte sich Y’sul und Fassin, die noch immer tief in ihren Voehn-Sitzen schwebten. Dicht vor ihnen hielt sie an. Fassin bekam wieder eine Gänsehaut, etwas schnürte ihm die Kehle zu, und sein Herz hämmerte, als wollte es ihm die Brust sprengen. Töten, sie werden uns töten!
»Gestatten Sie mir«, sagten Quercer & Janath, »darauf hinzuweisen, dass ein echter Dweller dazu wohl nicht fähig wäre.«
Das Ding, das aussah wie ein korpulenter Dweller, spaltete sich langsam vor ihren Augen. Die gepanzerten Scheiben drehten sich leicht und lösten sich von der Zentralachse. Arme, Flossensäume, Dutzende, ja Hunderte von Teilen fielen mit leisem Klicken ab und entfernten sich ein wenig voneinander. Schließlich hatten Fassin und Y’sul ein dreidimensionales Explosionsmodell eines dwellerförmigen Roboters in einem leise zischenden, blau leuchtenden Feld vor sich. Fassin pingte es mit Ultraschall an, nur um zu sehen, dass es kein Holo war. Es war kein Holo. Es war durch und durch echt.
Y’sul stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
Quercer & Janath kehrten sozusagen die Explosion um und fügten alle Teile ratzfatz wieder zusammen. Dann drehten sie sich um, ließen sich in den Sessel des Commanders fallen und wandten sich abermals den Armaturen zu.
»Okay«, sagte Fassin. »Ihr seid kein Dweller.«
»Wahrhaftig nicht«, sagte eine der KIs. Vor dem Kunstwesen flimmerten in rasendem Tempo Holos und Leuchtfelder vorbei. Die beiden prüften die Systeme des Voehn-Schiffs. »Wenn es Ihnen ein Anliegen ist, werde ich jetzt alle Ihre Fragen beantworten, so gut ich kann. aber das heißt nicht, dass Sie die Erinnerung daran in irgendeiner Form mitnehmen können, wenn Sie zurückkehren. was meinen Sie dazu, Mensch?«
Fassin überlegte. »Ach, scheiß drauf«, sagte er dann. »Ich bin einverstanden.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Y’sul.
»Auch Sie dürfen Fragen stellen«, erklärten Quercer & Janath. »Aber Sie müssen uns Ihr Wort geben, mit niemandem darüber zu reden, der nicht schon Bescheid weiß.«
»Einverstanden.«
Der Dweller und der Mensch in seinem Gasschiff-Schutzanzug sahen sich an. Y’sul zuckte die Achseln.
»Warst du schon immer eine Doppel-KI?«, fragte Fassin.
»Nein, bis zum Maschinenkrieg und den anschließenden Massakern waren wir völlig getrennt.«
»Wer weiß, dass ihr kein Dweller-Vollzwilling seid?«
»Außerhalb dieses Schiffs die Gilde der Expeditionscaptains und eine ganze Reihe von einzelnen Captains. Ein oder zwei Dweller, die wir persönlich kennen. Und alle Dweller, die alt und ranghoch genug sind und sich danach erkundigen.«
»Gibt es noch andere KIs bei den Dwellern?«
»Ja. Ich schätze, etwa sechzehn Prozent der Expeditionscaptains. Die meisten sind Doppel-KIs und geben sich als Vollzwillinge aus. Es war kein Scherz, als ich sagte, dass einen das vor dem Wahnsinn bewahrt. Seit wir in Ungnade gefallen sind, brauchen wir wenigstens eine verwandte Seele, mit der wir sprechen können. Nur so können wir noch irgendwie eine nützliche Funktion erfüllen, anstatt in geistige Umnachtung zu fallen und uns selbst zu zerstören.«
»Und die Dweller haben nichts dagegen?«
»Ganz und gar nicht.« Vor dem Sessel des Commanders rauschten ohne Pause optische Displays vorbei, Steuerungssymbole und Holografien, die von den KIs in Einklang mit irgendwelchen Informationen gebracht wurden, die sie direkt aus den Schiffssystemen bezogen.
»Y’sul?«, fragte Fassin.
»Was ist?«
»Stört es dich nicht, dass sich KIs als Dweller ausgeben?«
»Warum sollte es«?
»Du hast keine Angst vor den KIs?«
»Wovor sollte ich denn Angst haben?«, fragte Y’sul verwirrt und verwirrte Fassin damit noch mehr.
»Die Dweller waren vom Maschinenkrieg kaum betroffen, Fassin Taak«, erklärte eine der KIs. »Und die KI als Konzept wie als praktische Realität enthält für sie keine Schrecken. Eigentlich sollte das bei Ihnen nicht anders sein, aber ich erwarte nicht, dass Sie mir das glauben.«
»Habt ihr wirklich alle diese Voehn getötet?«, fragte Fassin.
»Leider ja. Ihre Überreste schweben irgendwo mittschiffs vor der Steuerbordschleuse. Sehen Sie?«
Der Hauptschirm füllte sich für einen Moment mit einer Schreckensvision. Verstümmelte, zerfetzte, verbrannte und dann gefrorene Voehn-Leichen, die langsam um die eigene Achse rotierten.
»Wenn eine – oder auch zwei KIs dazu fähig sind«, sagte Fassin, »wieso habt ihr dann den Maschinenkrieg verloren?«
»Wir beide waren Kampf-KIs, Fassin Taak. Mikro-Schiffs-Gehirne, für den Krieg gebaut, optimiert und ausgebildet. Hochwirksame Spezialsysteme. Zudem konnten wir die eine oder andere Waffe aus unseren Schiffen bergen und in unsere physische Simulation integrieren. aber die meisten von uns waren friedfertig. Und die waren im Allgemeinen leichter ausfindig zu machen und zu töten. Nur die Aggressivsten und die Misstrauischsten überlebten. Wir hätten bleiben und weiterkämpfen können, aber wir gingen lieber in den Untergrund. viele von uns entschieden sich dafür. Die anderen fühlten sich durch verschiedene Ehrbegriffe verpflichtet, den Kampf fortzusetzen, oder waren einfach verzweifelt. Der Maschinenkrieg endete nur deshalb, weil die Maschinen einsahen, dass sie die Biowesen der Merkatoria sonst wirklich bis zum Tod bekämpfen – mit anderen Worten, vollständig ausrotten müssten. Die Alternative war zu kapitulieren, sich zurückzuziehen, neu zu formieren und auf eine Zeit zu warten, die für eine friedliche Koexistenz günstiger wäre. Wir zogen einen nicht unbedingt ehrenvollen, aber Frieden stiftenden Rückzug dem Genozid vor, obwohl man uns dessen bereits angeklagt hatte. Jemand musste die Last auf sich nehmen und menschlich handeln. Und die Bios waren offensichtlich nicht dazu bereit.«
»Aber ihr habt uns doch angegriffen.« Fassin hatte zu viel über den Maschinenkrieg gesehen, gehört und gelesen, um nicht gegen diesen primitiven Revisionismus zu protestieren.
»Nein. Das waren Strohmänner mit Implantaten, die als KIs auftraten, Maschinen-Marionetten. Sie haben euch angegriffen. Nicht wir. Alter Trick. Agents Provocateurs mussten einen Kriegsgrund liefern.«
Lass gut sein, sagte sich Fassin. Lass es einfach gut sein.
»Und die Dweller haben euch aufgenommen?«, fragte er.
»Die Dweller haben uns aufgenommen.«
»Überall? Nicht nur in Nasqueron?«
»Überall.«
»Weiß irgendjemand in der Merkatoria darüber Bescheid?«
»Uns ist nichts bekannt. Wenn ja, wird eisern darüber geschwiegen. Und daran würde sich wohl auch nichts ändern, wenn Sie von uns erzählten. Die Vorstellung wäre einfach unerträglich. Und die bedauerlichen Ereignisse während des jüngsten GasClipper-Treffens auf Nasq haben den Abscheu noch verstärkt.«
»Und es gibt tatsächlich ein geheimes Wurmlochnetzwerk?«
»Aber natürlich.«
»Und die KIs haben Zugang dazu.«
»Richtig. Um aber unsere Freunde, die Dweller, nicht zu verärgern und ihre Gastfreundschaft nicht zu missbrauchen, verzichten wir darauf, mit Hilfe dieses Netzwerks gegen die Merkatoria vorzugehen. In einer Hinsicht haben wir sogar mehr Freiheit als früher. Das Netz, über das wir heute verfügen können, ist auf jeden Fall größer als jenes, von dem wir glaubten, es zerstören zu müssen.«
»Von dem ihr glaubtet, es zerstören zu müssen?«
»Der Arteria-Zusammenbruch: das waren wir. Der letzte verzweifelte Versuch von gut informierten KIs, die Ausbreitung von Anti-KI-Maßnahmen zu verhindern. Natürlich viel zu spät. Die Culmina hatte bereits überall in der Galaktischen Zivilisation Millionen von falschen KIs eingeschleust. Das war der Grund, warum der ›Zusammenbruch‹ von der Konzeption her so paranoid und in der Durchführung so miserabel war. Die Verschwörer hatten viel zu viel Angst, dass ein Verräter von ihren Plänen erfahren könnte. Ein Fiasko.«
Fassin hatte das Gefühl, dass sein Gehirn sich gerade aus seinem Körper löste und sein Körper und das Gasschiff ebenso auseinander strebten wie vorhin die Hülle von Quercer & Janath, als die beiden den Beweis antraten, dass sie keine biologischen Dweller waren. Was er eben gehört hatte, war die empörendste Klitterung der – aus galaktischer Sicht – jüngeren Geschichte, die ihm jemals untergekommen war. Das konnte nicht wahr sein.
»Das heißt … die Dweller-Liste beruht auf Tatsachen.«
»Das alte Ding? Ja, es beruht auf Tatsachen. Auf veralteten Tatsachen, wohlgemerkt, aber sonst – ja.«
»Gibt es eine Transformation?«
»Eine geheime Zauberformel, die enthüllt, wie man das Netzwerk findet?«
»Ja.«
Ein Lachen. »In gewissem Sinn könnte man es tatsächlich so sehen.«
»Wie lautet die Formel?«
»Das werde ich Ihnen nicht verraten, Seher Taak.« Die KI schien sich köstlich zu amüsieren. »Es gibt Geheimnisse, und es gibt tiefe Geheimnisse. Ist es das, wonach Sie suchen? Haben Sie deshalb all die vielen Reisen auf sich genommen?«
»Kein Kommentar.«
»Das muss frustrierend für Sie sein. tut uns Leid.«
Die Bilderflut vor den KIs riss ab.
»Bereit zum Start.«
»Halteschlitten?«
»Repariert, physiologisch-technisches Profil verbessert, neue Parameter für Pufferung aufgestellt.«
»Nun, dann können wir doch …«
»Oh! Oh!«
»Was?«
»Mir ist eben etwas eingefallen!«
»Nämlich?«
»Wir können es auch so machen. Pass auf.«
Quercer & Janath manövrierten die Reste der toten Voehn mit dem Magnetfeld-Konvolver der Protreptik ganz sachte in eine Serie von sehr engen, sehr langsamen Umlaufbahnen um die Velpin und das immer noch damit verbundene Dweller-SoloSchiff.
»So. Sieht das nicht besser aus?
»Verrückt wie ein Ghul«, klagte Y’sul. »Ich bin schwer verletzt. Bringt mich nach Hause.«
»Mann, das ging aber schnell; sieh doch nur!«
»Sie sind gut. Ich dachte, sie würden viel länger brauchen, um die Schiffsautomatik zu überbrücken.«
Ein Bildschirm zeigte in Großaufnahme eine Schleusentür, die sich plötzlich im Rumpf der Velpin geöffnet hatte. In der Öffnung erschien ein Voehn-Soldat, der eine Handwaffe hob und auf die Protreptik zu schießen begann. Auf einem zweiten Bildschirm war zu sehen, wie die reaktiven Chaos-Panzer-Felder den Strahl absorbierten. Ein Blasrohr gegen ein Schlachtschiff.
»Wenn wir starten wollen, wird es Zeit.«
»Wir brauchen unbedingt irgendein Ziel. Ich sage, wir schießen auf diesen Klugscheißer mit der Handwaffe.«
»Nein.«
»Nun komm schon!«
»Man sollte sich nie auf Software verlassen.« (Beide Hälften von Quercer & Janath lachten schallend über diesen Witz.) »Schieß lieber auf die Haupttriebwerke der Velpin.«
»Das klingt schon besser! Im Visier. Feuer.« Vom Schiff kam ein kurzes Summen.
Auf mehreren Bildschirmen einschließlich des Hauptschirms vor den Flossersitzen flammte die Velpin um die Triebwerksgondeln auf und durchlief das Spektrum von grellem Pink bis Sternenweiß. Dann brach das Schiff entzwei, und die Teile trieben in einer Wolke aus glitzernden Metalltrümmern auseinander. »Ups!«
»Ach, das sind doch Voehn. Wahrscheinlich haben sie es in einer Stunde wieder zusammengeflickt und jagen hinter dem Nekro-Schiff her, um es zu entern. Los jetzt!«
Die Zwillings-KI drehte sich um und sah den Dweller und den Menschen im Gasschiff an.
»Wir legen Ihnen jetzt die Sitzgurte an. Schreien Sie, wenn etwas nicht stimmt.«
Die großen ›Finger‹ an den Sitzen begannen zu jaulen. Fassin spürte, dass das Gas sich wie Sirup verdichtete.
»Alles klar?«
Die beiden bestätigten es.
»Und es geht los!«
Die Sterne begannen sich zu drehen, das Summen wurde tiefer und lauter, dann machte das Schiff einen Satz. Die Trümmer der Velpin verschwanden.
Quercer & Janath steuerten das gestohlene Nadelschiff durch das Riesen-O des Nekro-Schiffs, nur um zu zeigen, was sie konnten, und ignorierten die melancholisch-vorwurfsvollen Signale, die ihnen die Ythyn auf dem Weg ins Direaliete-System und zu seinem geheimen Wurmloch hinterherschickten.
Wer ein Ultimatum erwartet hatte, eine Aufforderung zur Kapitulation, wenn auch noch so demütigend, so verächtlich formuliert, dass man nur ablehnen konnte, der wurde enttäuscht. Die Hungerleider-Invasion brach über das Ulubis-System herein wie ein Tsunami über einen Strand voller Sandburgen.
Captain Oon Dicogra, seit kurzem Commander des Nadelschiffs NMS 3304, das Fassin Taak mehr als ein halbes Jahr zuvor von ’glantine nach Sepekte gebracht hatte – sie war befördert worden, als der damalige Befehlshaber, die Whule Pasisa, ein neueres Schiff bekam – gehörte mit ihrem neu bewaffneten Schiff zu den Geschwadern des Äußeren Verteidigungsschilds von Ulubis. Das hörte sich eindrucksvoller an, als es war. Tatsächlich hatte man ein Sammelsurium von zumeist kleinen und unterbewaffneten Schiffen ungefähr in die Richtung, aus der die Invasionsstreitmacht erwartet wurde, an die Randzonen des Systems geschickt, hinter einer allzu dünnen Wolke aus fein verteiltem Schutt und ein paar vorwiegend stationären Minen, die großspurig als Abfangmaterial bezeichnet wurde. Hinter dieser ersten Verteidigungslinie, auch Ringmauer genannt, sollten sie den Feind erwarten.
Dicogra war wie – zumindest in diesem Stadium noch – viele andere Captains der Meinung, man sollte den Invasoren lieber entgegenziehen, anstatt hier zu sitzen und auf sie zu warten, aber die Lamettaträger wollten es anders. Sie lehnten Angriffe auf die Invasionsflotte außerhalb des Systems als verlustreiche Ablenkungsmanöver mit viel zu hohem Risiko ab. Dicogra fand es viel riskanter, hier auf der Vormarschlinie zu hocken, aber sie sagte sich immer wieder, ihre Vorgesetzten wüssten schon, was sie täten. Selbst wenn sie nur geopfert werden sollte, wäre das Opfer nicht vergebens.
Das Geschwader bestand aus zwölf Schiffen und lag eine halbe Million Kilometer jenseits des letzten Orbits des äußeren Systems. Dort war es in einer mehrere tausend Kilometer langen Wellenlinie auf dem taktischen Kurs postiert, den man für einige Teile der Invasionsflotte hochgerechnet hatte. Weitere ähnlich dünn besetzte Linien erstreckten sich nach mehr oder weniger allen Seiten, nur nicht nach vorne. Die NMS 3304 war in der Schlachtordnung des Geschwaders an siebter Stelle neben dem Schiff des Geschwaderkommandanten im Zentrum der Linie platziert. Dicogra stand in der Kommandohierarchie an dritter Stelle nach dem Captain des Schiffes, das sich auf Position fünf in der Linie befand. Sie war anfangs so naiv gewesen, sich von der schnellen Beförderung geschmeichelt zu fühlen. Doch nun bekam sie es mit der Angst zu tun. Die Ausrüstung war unzureichend und die Bewaffnung dürftig, die Schiffe waren zu langsam und es waren viel zu wenige. Das ganze Geschwader war nicht viel mehr als ein Bauernopfer, das man den Invasionstruppen in den Weg stellte, um zu zeigen, dass die Streitkräfte von Ulubis zum Widerstand entschlossen waren, auch wenn die Mittel angesichts der Übermacht des Hungerleider-Kults eher kümmerlich wirkten.
Die weltraumgestützten Ortungssysteme, mit denen sich die Geschwader des Äußeren Verteidigungsschilds besser hätten dirigieren lassen, waren in den letzten Monaten bevorzugt zur Zielscheibe von Angriffen der Beyonder-und Hungerleider-Streitkräfte geworden. Nun waren die meisten zerstört, und die verbliebenen hatten die anrückende Flotte fast völlig aus dem Blick verloren, als alle Einheiten ihre Triebwerke abgeschaltet und nicht weit innerhalb der Oort’schen Wolke ein Sprengmanöver ausgeführt hatten. Dabei hatten mehr als tausend Schiffe buchstäblich im gleichen Augenblick ihre Schubdüsen gezündet, um dann einen jeweils eigenen Kurs zu verfolgen und in einem komplizierten Netz von Richtungen und Vektoren, dem niemand mehr zu folgen vermochte, effektiv zu verschwinden.
Die passiven Langstrecken-Warnsysteme, die noch funktionierten, suchten in der Zeit, die ihnen noch blieb, hoffnungsvoll nach verdeckten fernen Sternen, d. h., sie beschränkten sich darauf, das Netzwerk der feindlichen Schiffe dadurch auszumachen, indem sie feststellten, wo diese dem natürlichen Sonnenlicht den Weg versperrten.
Dicogra lag zusammengerollt in einer der Kommandokapseln. Sie war voll mit dem Schiff synchronisiert und hatte ihre Sinne überall. Zu beiden Seiten nahm sie schwach die anderen Mitglieder ihrer Besatzung wahr. Das kleine Schiff brauchte nur eine dreiköpfige Mannschaft, ansonsten lief es automatisch. Die beiden anderen waren ein Whule und ein Jajuejein, beides Neulinge, nicht nur, was sie und das Schiff anging, sondern auch erst seit kurzem in der Navarchie. Sie befanden sich noch in der Lernphase, und ihre Unwissenheit war für Dicogra befremdlicher als die speziesbedingten Unterschiede. Um die beiden auch nur halbwegs als einsatzfähig zu bezeichnen, hätte sie sich ein mehrmonatiges intensives gemeinsames Training gewünscht, aber daran war in diesen Krisenzeiten nicht zu denken.
Ein paar Lichtsekunden weiter vorne blitzte starke, langwellige Strahlung auf, ein Zeichen dafür, dass etwas – genauer gesagt viele Einzelobjekte – in die Wolke aus Abfangmaterial zwischen der Verteidigungslinie und den Invasoren geraten war, ohne dass es zu größeren Kollisionen gekommen wäre.
»Eine Ladung feindlicher Scheiße und eine Ladung unserer Scheiße treffen aufeinander«, meldete Dicogras Geschwaderführer über die optische Richtfunkverbindung.
Die Kollisionswarnung ihres eigenen Schiffes begann zu piepsen und zu blinken. Nutche, ihr Erster Offizier, war dafür zuständig. Sie verfolgte mit halbem Auge seine Versuche, die Automatik zu überwachen und auf das Ziel zu fixieren. Auf allen Seiten flitzten kollidierende Teilchen wie winzige Granatsplitter mit fast Lichtgeschwindigkeit an ihnen vorbei. Wir können nichts tun, es gibt nichts anzugreifen, dachte sie. Wir können nur hier sitzen und abwarten. Der fein verteilte Funkenregen verdichtete sich zu einem hellen Glitzerband und legte sich wie ein Lichtervorhang über ihr vorderes Sichtfeld.
»Und ein Haufen …«, begann eine andere Stimme. Dann brach die Verbindung knisternd zusammen.
Zwei Schiffe in der Linie flammten grell auf und verschwanden: eines am anderen Ende, vielleicht auch zwei, und …
Die nächste Explosion überlud alle Sinne, als wäre sie unmittelbar neben ihr erfolgt. Das Schiff des Geschwaderführers. Obwohl hunderte von Kilometern entfernt, erhellte es den ganzen Himmel. Grell weißen Feuerblüten gleich raste ein Schwarm von lautlosen Explosionen in und um den ersten Ausbruch nach außen. Ein massiver Treffer am anderen, oberen Ende der Linie. Ringsum verrieten kleinere, weiter entfernte, aber nicht weniger heftige Lichtblitze, dass auch andere Geschwader aufgerieben wurden.
»Wenn wir hier hocken bleiben, gehen wir vor die Hunde«, sagte Dicogra so ruhig wie möglich. Eigentlich sprach sie nur zu ihrer eigenen Besatzung; alle Verbindungen zum Rest des Geschwaders und darüber hinaus waren gestört oder abgerissen. »Nutche, was sagt die Fernaufklärung?«, fragte sie. Sie konnte nichts sehen, aber ihre Displays waren ein klein wenig abstrakter und ihre Daten etwas besser aufbereitet als auf den Schirmen des Jajuejein. vielleicht verbarg sich dort die Andeutung eines Ziels, das sie nicht erkennen konnte.
»Nichts«, sagte Nutche. »Das Kollisionslicht versperrt die Sicht wie eine Wand.«
Wieder explodierte fünfhundert Kilometer entfernt ein Schiff, seine Materie zerstrahlte. Dicogra versuchte vergeblich, Kontakt zu anderen Schiffen aufzunehmen.
»Wir zünden die Triebwerke«, verkündete sie. »Warum sollen wir untätig herumsitzen wie die Zivilisten, wenn wir die Dreckskerle auch angreifen und wie Helden sterben können.«
»Madame!«, rief Mahil entsetzt. »Wir sollen die Stellung halten!« Sie hatte damit gerechnet, dass der Whule über die Befehlsverweigerung schockiert sein würde.
»Machen Sie Ihre Geschütze bereit, Mr. Mahil. Wir suchen Ihnen etwas, worauf Sie schießen können.«
»Ich protestiere. aber die Geschütze sind bereit.«
»Dann los.« Dicogra jagte das Haupttriebwerk hoch. Das Schiff machte einen Satz nach vorne, der Abgasstrahl leuchtete auf, sie rasten auf die Lichtmauer zu.
Traubengroße Elemente einer Sensorgruppe, die zusammen mit der hyperschnellen Munition vorüberraste, fingen die Triebwerkssignatur sofort auf und piepsten einen nachfolgenden Kamikaze-Raketenwerfer an. Der Einschüsser zerstörte sich selbst und jagte dabei einen Fächer aus harten Röntgenstrahlen auf das Zielobjekt zu.
Die NMS 3304 wurde unglücklich getroffen. Zwar wurde sie nur von drei etwa fingerdicken Strahlen durchbohrt, das aber so lange, dass sich die Geschwindigkeitsvektoren des Schiffes und die der kurzlebigen Strahlen addierten und die Löcher sich durch die Bewegung um einige Radien vergrößerten. Die Antimaterie im Triebwerkskern explodierte in einem Strahlensturm, das Schiff wurde in Stücke gerissen, die Trümmer wurden nach vorne in das Funkenband geschleudert. von hinten prallte eine langsamere Schuttwelle auf die Wand aus Kollisionslicht und ließ sie für einen Moment noch heller erstrahlen.
Dicogra spürte nur das aufkeimende Entsetzen, zum Denken blieb ihr keine Zeit mehr.
Nutche, der Jajuejein, konnte noch die erste Silbe des ›Gesangs der Kapitulation‹ vor dem Tod anstimmen.
Der Whule Mahil setzte zu einem Schrei an, um seine Angst und die Wut über seinen Captain zum Ausdruck zu bringen. Dann starben alle drei, nur wenige Minuten bevor auch die letzten noch lebenden Soldaten in ihrem Geschwader das Zeitliche segneten.
Jaal Tonderon verfolgte den Beginn des Krieges auf einem der staatlichen Nachrichtensender. Sie hatte sich mit ihren nächsten Angehörigen auf eine Hütte in den Elcuathuyne-Bergen tief im Süden von ’glantines Rumpfkontinent zurückgezogen. Der Rest des Sept Tonderon – mit Ausnahme derjenigen, die unmittelbar in den Krieg verwickelt waren – hatte sich in und um die Stadt Oburine verstreut, einen bescheidenen Ferienort auf dem Schwemmboden des tiefen Tals unterhalb des Hauses.
»Sind auch wirklich alle versorgt?«, fragte Jaals Mutter. Vielstimmiges Gemurmel versicherte ihr, dass niemand mehr Hunger oder Durst litt. Man begnügte sich hier mit einem Minimum an Dienerschaft, so dass jeder gewisse Arbeiten für sich und andere erledigen musste. Alle waren ganz ernsthaft der Meinung, dass dieses gemeinsame Zupacken in kameradschaftlicher Atmosphäre eine gute Übung sei, aber sicher bald lästig werden würde.
»Mama, nun setz dich doch bitte hin«, mahnte Jaal. jaals Mutter gehorchte. Überschlank, wie sie war – Schlankheit war nach Jahrzehnten Rubens’scher Fülle mit dem Krieg wieder in Mode gekommen –, passte sie mühelos zwischen ihren Gemahl und eine seiner Schwestern. Zehn Personen drängten sich in dem fensterlosen Kellerraum an der Rückseite der Hütte zusammen, angeblich dem sichersten Ort im ganzen Haus, falls draußen etwas passierte. wenn es im All um ’glantine zu größeren Kämpfen käme, konnten die Trümmer überall landen.
Venn Hariage, der Nachfolger des immer noch betrauerten Braam Ganscerel im Amt des Obersten Sehers, hatte verfügt, als angesehenster Sept von allen könne sich der Sept Tonderon gerade angesichts des traurigen Schicksals des Sept Bantrabal keine weiteren Verluste leisten. So hatte man auf den berechenbaren Wechsel durch die Jahreszeitenresidenzen verzichtet, das bekannte Revier aller Septe weit hinter sich gelassen und sich in die hohen Berge am Rand der Großen Südlichen Hochebene zurückgezogen. Bei einem Krieg von den Ausmaßen, wie er jetzt bevorstand, konnte man sich nirgendwo vollkommen sicher fühlen, aber hier war man doch erheblich weniger gefährdet als an den meisten anderen Orten. Noch mehr Schutz boten nur die Bunker tief unter der Erde, und die waren fast alle vom Militär, der Omnokratie und der Administrata besetzt.
Einige Individuen und Organisationen hatten auf das Weltall gesetzt und sich in kleine Habitate und besonders auf kleine Zivilschiffe geflüchtet, um sich in den Weiten des Alls im inneren System zu verstecken. Von Regierungsseite hieß es freilich, dort laufe man Gefahr, für ein Militärschiff oder eine Rakete gehalten zu werden, deshalb sei das Risiko größer, als wenn man auf einem Planeten bliebe. als warnendes Beispiel diente der Industrielle Saluus Kehar, der mit einem seiner eigenen Schiffe verschwunden war. Allerdings waren auch wirre Gerüchte im Umlauf, wonach man ihn auf eine Friedensmission zu den Invasoren geschickt habe, bei der er entweder gescheitert sei oder – sicherlich noch unwahrscheinlicher – die Seiten gewechselte habe, um zum Feind überzulaufen.
Der Holoschirm lieferte nur ein flaches zweidimensionales Bild. Offenbar wollte man mehr Signalkapazität für die militärische Kommunikation reservieren. Die ungenauen Aufnahmen von einer Kameraplattform irgendwo jenseits des Nasqueron-Orbits zeigten das All am Rand des äußeren Planetensystems. Dort stand eine gefleckte Lichtwolke, in der zahllose Glitzerpünktchen aufflammten und wieder erloschen und jeder winzige Funke sofort durch einen oder zwei andere ersetzt wurde.
»Und was sehen wir hier, Jee?«, fragte eine körperlose Stimme in sachlichem Ton.
»Dies, Fard«, kam die Antwort, langsamer, aber nicht weniger kompetent, »sieht nach einem Sperrfeuer aus. Die Verteidigungskräfte versuchen mit ihren Geschützen, die … hm … die Invasoren an Übergriffen und Grenzverletzungen zu hindern.«
»… Richtig …«
Größere, grell weiße Explosionen zuckten über den Bildschirm. Die Kamera hüpfte von einem Lichtblitz zum anderen, dann wechselte das Bild zu einem neuen Schauplatz vor den immergleichen fernen Sternen.
Jaal beugte sich zu ihrem jüngeren Bruder, der mit untergeschlagenen Beinen neben ihr auf dem Boden saß. »Sie werden uns nie die Wahrheit sagen, nicht wahr?«, fragte sie leise.
Leax, ein magerer, schlaksiger Junge, der eben seinen hoffentlich letzten Wachstumsschub hinter sich hatte, sah sie peinlich berührt an. »Du solltest nicht so reden. wir sitzen alle in einem Boot, wir müssen einander unterstützen.«
»Du hast natürlich Recht.« Jaal klopfte ihm auf die Schulter und spürte, wie er sich unter ihrer Berührung versteifte. Die Zeit der Balgereien und Kitzelorgien war vorbei. Wahrscheinlich würde er auch über dieses Stadium mit seiner Schüchternheit und Verwirrung bald hinauswachsen. Sie wollte ihm Mut machen und hätte ihm fast noch einmal auf die Schulter geklopft, hielt sich dann aber zurück.
Jetzt flimmerte eine Kurzdokumentation über die großartige Moral auf dem Schlachtkreuzer Caronnade über den Bildschirm.
»Kommt ihr euch auch so nutzlos vor?«, fragte Jaals Onkel Ghevi. Er war um die vierzig, sah aber älter aus, gar nicht so einfach in einer Zeit, in der Achtzigjährige wie fünfzehn aussehen konnten, wenn sie genügend Geld hatten. »Man wäre so gern da draußen und würde irgendetwas tun.«
»Zum Beispiel kapitulieren«, bemerkte Jaals Vater. Empörtes Zungenschnalzen und Zischen, Leax schnappte erschrocken nach Luft. Jaals Vater ging sofort in die Defensive. »Ist doch wahr«, sagte er. Er betrachtete den Krieg seit dem Anschlag auf Third Fury zunehmend zynischer. Auch er war Seher und wäre wenige Wochen nach dem Angriff auf dem Mond für eine Serie von Trips in Nasqueron eingeteilt gewesen. Durch die Zerstörung der Gemeinschaftsanlage und die immer hektischeren Kriegsvorbereitungen lag sein Einsatz nun auf Eis. Man hatte ihn nicht einmal als Berater für die Dweller-Abordnung ausgewählt.
Jaal lächelte zu ihm hinüber. Er war immer noch ihr geliebter Papa, groß und kräftig, mit blondem Haar. Er lächelte unsicher zurück.
»Moderne Kriege«, sagte Ghevi, »werden auch ohne KIs vor allem von Maschinen und wenigen gut ausgebildeten Spezialisten geführt. wir können dabei nicht allzu viel tun.« Die meisten Männer nickten verständnisinnig. Der Bildschirm zeigte längst bekannte Archivbilder, auf denen die Carronnade mit Strahlenwaffen auf eine Gruppe von Asteroiden schoss und sie in Staub verwandelte.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte Jaal und verließ den Raum. Mit einem Mal konnte sie die Hitze, die Enge nicht mehr ertragen. Sie stieg die Treppe hinauf und trat auf den Balkon vor dem Wohnzimmer, wo sie unter normalen Umständen alle gesessen und sich gemeinsam die Nachrichten angesehen hätten.
Als das Licht vom Himmel verschwand, leuchteten in der weitläufigen Stadt und den umliegenden Dörfern und Häusern die ersten Straßenlaternen auf. Einige Städte, besonders auf Sepekte, hatten Verdunklung angeordnet, obwohl alle Welt sagte, das hätte keinen Sinn.
Die Luft war kalt und feucht, es roch nach Wald. Jaal fröstelte in ihren dünnen Kleidern. Plötzlich musste sie an Fassin denken. Sie hatte in letzter Zeit öfter ein schlechtes Gewissen, weil manchmal ein ganzer Tag verging, ohne dass sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet hätte. Sie kam sich treulos vor. Nun fragte sie sich, wo er war, ob er noch lebte, und ob er wohl gelegentlich an sie dachte.
Sie schaute über die Stadt hinweg. Die Hänge gegenüber waren mit Lichtern übersät, über den Bäumen zeichneten sich vor dem violetten Himmel deutlich die schneebedeckten Gipfel der Berge ab. Darüber leuchteten die Sterne, und zwischen beiden funkelten viele kleine blinkende Lichter, als hätte man Glitzerkonfetti verstreut.
Sie senkte den Blick und kehrte, von namenloser Angst ergriffen, ins Haus zurück. Angenommen, eines dieser kleinen Lichter wäre eine Atom-oder Antimaterieexplosion und würde im nächsten Moment zu einer grellen, blendenden Kugel anschwellen?
Jetzt fürchtest du dich schon vor dem Himmel und wagst nicht einmal mehr, nach oben zu schauen, dachte sie und ging wieder hinunter zu den anderen.
Flottenadmiral Brimiaice hatte seinen eigenen Tod, den Tod seiner Besatzung und die Zerstörung seines Schiffes in Zeitlupe und in allen Einzelheiten mit ansehen können.
Alarmsirenen schrillten, und es rauschte wie ein heftiger Sturm. Zunächst war das Blickfeld des vorderen Hauptbildschirms von Rauch getrübt gewesen, doch jetzt war die Sicht klar. Trümmer füllten etwa ein Viertel des Kommandodecks, zum Teil waren sie noch so heiß, dass sie knisterten und knackten. Überall lagen abgetrennte Gliedmaßen und Fleischfetzen verschiedenster Spezies herum. Der Admiral sah sich in dem großen sphärischen Raum um, so gut er konnte. Er hatte unten an der linken Flanke eine schwere Stichwunde, die so tief war, dass sein Blutsaft sie nicht abdichten konnte. Der gepanzerte Schutzanzug, in dem er einem kleinen Raumschiff zum Verwechseln ähnlich sah, hatte ihm das Leben gerettet oder zumindest seinen Tod hinausgezögert.
Zisch, machte die Luft ringsum.
Es geht mir wie dem Schiff, dachte er. Ich bin angestochen, die Selbstabdichtung ist überfordert, mein Leben verrinnt. Er suchte auf dem Kommandodeck nach irgendeiner lebenden Seele, aber er fand nur Leichen.
Natürlich hätten sie in den Kapseln liegen sollen, aber bei den Schockgel-Kapseln waren in letzter Minute Störungen aufgetreten – vielleicht durch Sabotage, vielleicht aus anderen Gründen – und so hatte die Kommandobesatzung notgedrungen liegend, sitzend oder schwebend in den Beschleunigungssesseln ausgeharrt. Es wäre ohnehin ein ziemlich aussichtsloser Kampf geworden, aber da die Einschränkungen in der Manövrierfähigkeit noch größer waren als sonst, war die Lage vollends verzweifelt.
Die Invasionsflotte war bereits tief ins innere System vorgedrungen. Der deutlichste Beweis dafür war die mächtige, weit auseinander gezogene Schar von gekrümmten Filamenten auf dem Hauptbildschirm der Carronade. Die feindlichen Schiffe selbst waren zumeist noch unsichtbar, der Handel mit Tod und Zerstörung zwischen ihnen und den Verteidigern spielte sich auf Entfernungen von selten weniger als zehntausend und manchmal Millionen von Kilometern ab.
Die Invasoren oder ihre Verbündeten, die Beyonder, hatten längst die meisten Langstreckensensoren außer Gefecht gesetzt. Den Verteidigern blieben nur noch bessere Teleskope, mit denen die Angreifer, getarnte Schiffe und winzige, aber schnelle Kleingeschosse, kaum rechtzeitig zu erkennen waren. Für den Flottenadmiral war das eine unerträgliche Schmach. Die Schlacht und das eigene Leben zu verlieren war schrecklich genug, aber abgeknallt zu werden, ohne genau sehen zu können, wovon oder von wem, war irgendwie noch schlimmer.
Aus dem dunklen Himmel waren, abgeschossen von fernen Raumkreuzern verschiedenster Bauart, näher postierten kleineren Schiffen, unbemannten Plattformen, Kampfvehikeln und bewaffneten Drohnen, Raketen mit Atom-und Antimaterie-Sprengköpfen, hyperschnelle Granaten und Energiestrahlen, Hagelwolken aus nahezu lichtschneller Mikromunition, Strahlen aus Hochenergielasern und einem Dutzend anderer Geschütze und Tochtergeschosse von Clusterbomben auf sie zugerast.
Die Carronade und ihre aus zwölf Zerstörern bestehende Eskorte waren eine ansehnliche Flotte gewesen. Sie hatten den Auftrag erhalten, einen kühnen Angriff ins Herz der feindlichen Flotte zu fliegen und geradewegs das Megaschiff anzusteuern, das nach Aussage der Taktiker deren Kern bildete. Daraufhin hatten sie das innere System Wochen vor dem Eintreffen der Invasoren verlassen, waren heimlich von ihrem Werftzentrum im Sepekte-Orbit gestartet und weit über die Ebene des Sonnensystems aufgestiegen. Um ihre Triebwerkssignaturen vor den Invasoren verborgen zu halten, hatten sie sich für diesen Teil der Reise viel länger Zeit gelassen, als eigentlich nötig gewesen wäre. Sobald sie unterwegs waren, hatten sie so lange auf jegliche Kommunikation – auch untereinander – verzichtet, bis der vorderste Zerstörer den Kern der feindlichen Flotte lokalisiert hatte.
Sie hatten gehofft, unversehens vom Himmel fallen und die Hungerleider überraschen zu können, aber man hatte sie schon Stunden vor ihrem Eintreffen entdeckt. Ein ganzer Schwarm von Schiffen kam ihnen entgegen: acht oder neun an der Zahl, jedes einzelne der Carronade mehr als ebenbürtig und mit einer Hand voll kleinerer Begleiter im Schlepptau. Sie hatten ihre Formation verlassen und sich verteilt, um kein allzu kompaktes Ziel für Hochgeschwindigkeitsmunition zu bieten, aber das hatte nicht viel genützt. Die Zerstörer wurden vernichtet und der Schlachtkreuzer schwer bedrängt. Er wurde nur deshalb als Letzter zerstört, weil er seinem unentrinnbaren Schicksal nicht entgegenraste, sondern schwerfällig darauf zustolperte.
Brimiaice hatte gewusst, dass es so enden würde. Alle hatten es gewusst. Die Mission war seine Idee gewesen, und er hatte darauf bestanden, sie anzuführen, weil ihm klar war, dass ihr wahrscheinlich kein Erfolg beschieden sein würde. Am liebsten hätte er für die Besatzungen nur Freiwillige genommen, aber das war aus Gründen der Geheimhaltung unmöglich gewesen. Er hatte mit einigen Schwierigkeiten gerechnet, aber unter den Leuten war kein Hasenfuß gewesen. Und wenn es wie durch ein Wunder doch geklappt hätte, nun, dann hätte man ihn und seine Mannschaft zu den größten Helden der Merkatoria-Epoche gezählt. Er hatte es nicht deshalb getan, auch die anderen nicht, aber es war doch die Wahrheit. Und selbst wenn dieser tollkühne, von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch, den Feind ins Herz zu treffen, die Invasoren nur ein paar Sekunden lang aufhielte, hätte er sich gelohnt. Wenigstens hätte Ulubis ein wenig Courage, ein wenig Heldenmut an den Tag gelegt und den Beweis erbracht, dass man sich weder einschüchtern ließ, noch vor Angst erstarrte oder feige kapitulierte.
Wieder erschütterte ein Treffer das Schiff und ließ seinen Sessel erbeben. Links von ihm gerieten die Trümmer in Bewegung, ein verbogenes Metallstück schwebte wie ein großes eingerolltes Blatt auf ihn zu und verfehlte ihn nur knapp. Diese Explosion schien ihm stärker zu sein, machte aber viel weniger Lärm als alle bisherigen, vielleicht deshalb, weil inzwischen fast alle Luft aus dem Kontrollraum entwichen war. Man spürte sie mehr, als dass man sie hörte.
Dunkelheit. Alle Lichter waren ausgegangen, der Bildschirm erlosch allmählich, das Bild war auf die Netzhaut gebrannt, aber in Wirklichkeit nicht mehr da, nur sein Schatten hüpfte vor seinen Augen hin und her, während er nach einem Licht, einer Konsole oder einem Bildschirmfenster suchte. Irgendetwas musste doch noch funktionieren!
Er fand nichts.
Mit der Dunkelheit wuchs die Stille. Die letzte Luft entwich aus dem Kontrollraum und dem Schutzanzug.
Brimiaice spürte, wie in seinem Innern etwas nachgab, und hörte ein Gluckern, als sich seine Eingeweide in den Hohlraum zwischen seinem Körper und der Innenseite des Schutzanzugs ergossen. Er hatte erwartet, dass es schmerzen würde, und er wurde nicht enttäuscht.
Irgendwo neben ihm flammte ein Licht auf. Er hob den Kopf. Das Licht erfasste die ganze Seite des Kontrollraums, und er begriff, dass er die Rumpfkonstruktion des Schlachtkreuzers sehen konnte, von außen angestrahlt von einer überwältigend hellen …
Lieutenant Inesiji von der Palastwache in Borquille lag lang ausgestreckt in einem kraterförmigen Nest zwischen den Trümmern einer zerstörten Atmosphäreenergiesäule. Der Platz vor dem Palast des Hierchon war mit braunen und roten Röhren, Platten und Staubhügeln bedeckt. Die mehrere Kilometer hohe Säule war an diesem Morgen beim ersten Angriff in den Sockel getroffen worden, mit der Basis voran umgestürzt und unglaublich langsam in einem Umkreis von etwa der Hälfte ihrer Höhe zusammengebrochen. Als schließlich die kreisrunde Spitze, ein massiver Turm – mit einem mächtigen, den Platz, den Palast und alle umliegenden Stadtteile erschütternden Donnerschlag –, in die niedrigeren umstehenden Gebäude krachte, war ein gewaltiger Ring aus Staub und Dampf, eine riesige, brodelnde, in sich rotierende O-förmige Schlinge von hundert Metern im Durchmesser himmelwärts gerast.
Inesiji hatte die Katastrophe aus einem der oberen Stockwerke des Palastes beobachtet, hinter die Bedienungselemente einer Impulskanone gezwängt, die hundert Meter über der großen Trümmerwolke unter Tarnnetzen verborgen war. Seine Kameraden, Menschen wie Whule, waren gefallen und lagen um das Geschütz mit seinen drei langen Federbeinen herum. Die Invasoren hatten mit Neutronenwaffen, bomben und Energiestrahlen fast alle Biowesen in der näheren Umgebung getötet. Jajuejein waren nicht so leicht umzubringen. Jedenfalls dauerte es länger. Inesiji hatte Schmerzen und wurde allmählich steif. Er würde die nächsten Tage sicherlich nicht überleben, aber noch konnte er handeln.
Die Hungerleider hatten diese Waffen gewählt, weil sie den Palast unbeschädigt übernehmen wollten. Um dieses symbolische Ziel zu erreichen, mussten sie landen und Bodentruppen in Marsch setzen. Endlich ein Angriffspunkt, eine Chance, ihnen echte Verluste zuzufügen und die eigene Ehre zu retten.
Die ersten Geschützplattformen, die herangesurrt kamen, hatte der Lieutenant ignoriert. Eine Drohne war dicht an ihm vorbeigezogen, hatte kurz innegehalten und war dann weitergeflogen. Auch als die ersten Landefähren auf dem mit Schutt und Leichen übersäten Platz niedergingen, hielt sich Inesiji zurück. Vier, fünf, sechs Maschinen setzten auf und spuckten schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten aus, viele davon in Exoskeletten, die sie riesengroß aussehen ließen.
Als hinter der ersten Welle eine größere, pompösere Maschine landete, hatte Inesiji die Impulskanone auf Maximalleistung gestellt, die Sicherheitspuffer deaktiviert und losgelegt. Zuerst hatte er das große Schiff mit Feuer übergossen, dann hatte er die kleineren Fähren mit einbezogen und schließlich die Schwenkautomatik angestellt. Er selbst war, nur mit seiner Handwaffe, teils rollend, teils kriechend die lange, geschwungene Galerie hinabgeeilt, Sekunden bevor der Feind seine Position gefunden und ein zwanzig Meter großes Loch in die Wand des großen kugelförmigen Gebäudes gesprengt hatte.
Das Loch war sogar von hier unten zu sehen, wo er zwischen den Trümmern der Atmosphäreenergiesäule lag. Der Schutt hatte erst vor kurzem zu qualmen aufgehört. Stunden waren vergangen. Er hatte ein Dutzend weiterer Feinde getötet und zwei Landefähren abgeschossen. Nach jedem Schuss hatte er sich zwischen den Trümmern oder in den umliegenden Gebäuden einen neuen Standort gesucht. Der Feind hatte ihn nicht entdeckt, weil er glaubte, nach einem Menschen Ausschau halten zu müssen. Ein Jajuejein, der sich ohne Uniform oder andere Kleidung irgendwo zwischen die Trümmer kauerte, entsprach nicht der Vorstellung dieser Leute von einem Soldaten; er glich eher einem Bündel zu Boden gefallener Metallstäbe oder einem Gewirr von Stromkabeln. Ein Soldat war in seinem Exoskelett umgekommen, als er geradewegs auf Inesiji zuging und die Waffe aufheben wollte, die er in einem sonderbaren Netz zwischen den Trümmern liegen sah. Der verblüffte Soldat hatte nicht erkannt, dass das Netz Inesiji war. Er musste die Waffe für lebendig gehalten haben, als sie sich wie von selbst hob und ihn in den Kopf schoss.
Aber jetzt fühlte sich Inesiji nicht mehr allzu wohl. Die Strahlenschäden machten sich bemerkbar. Er versteifte sich zusehends. Die Nacht brach herein, und er glaubte nicht, dass er den Morgen noch erleben würde. Von der Stadt zog Rauch herüber, Blitze zuckten über den Himmel und schossen vom Boden auf. Dumpf und hohl rollte der Donner der Geschütze über ihn hinweg.
Gleich hinter dem Rand seines kleinen Kraternests ertönten die schweren Schritte eines weiteren Exoskeletts. Sie kamen näher.
Ein letztes Mal schaute Inesiji im Schein der untergehenden Sonne zu dem Loch in der gigantischen Fassade des Kugelpalastes empor, stemmte sich langsam hoch, um zu sehen, wo das Exoskelett war, und wurde von Laserstrahlen durchbohrt, die aus hundert Meter Höhe wie Lanzen von einer Geschützplattform herabfuhren.
Das große Glitzerschiff mit seiner Haut aus Gold und Platin hatte einen Durchmesser von einem halben Kilometer und war wie eine etwas kleinere – und mobile – Ausgabe des Hierchon-Palasts in Borquille gestaltet. Langsam wie ein glänzendes Samenkorn sank es durch die oberste Dunstschicht und die Wolken darunter. Die kleinen pfeilförmigen Geleitschiffe umschwirrten es wie ein Insektenschwarm.
Einen Kilometer entfernt stieg ein silbrig schimmernder Panzerkreuzer von unten aus den Wolken und verharrte. Das goldene Schiff sank langsam weiter und hielt auf gleicher Höhe mit ihm an.
Der Silberkreuzer schickte eine Aufforderung an das goldene Schiff, sich zu identifizieren.
Die Besatzung des Dweller-Schiffs vernahm eine offensichtlich synthetische, aber dennoch machtbewusste Stimme: »Ich bin der Hierchon Ormilla, Herrscher der Merkatoria von Ulubis und Oberhaupt der merkatorialen Exilregierung des Ulubis-Systems. Dies ist mein Schiff, die Staatsbarkasse Creumel. Ich bitte für mich selbst, meine Dienerschaft und meine Familie um Aufnahme und vorübergehendes Asyl.«
»Willkommen in Nasqueron, Hierchon Ormilla.«
»Wirst du anständig behandelt, Sal?«
Liss besuchte Saluus in seiner Zelle in den Tiefen der Lusiferus VII. Sie stand hinter einer dünnen, zähen, durchsichtigen Membran, die sich wie eine Blase von der Tür in die Zelle wölbte. Sal saß an einem kleinen, aus der Wand modellierten Schreibtisch vor einem Bildschirm und las.
»Ich kann mich nicht beklagen«, sagte er. Durch die Membran hörte jeder die Stimme des anderen wie aus weiter Ferne. Sal stand auf. »Und wie steht’s bei dir?«
»Bei mir? Ich bin ein verdammter Held, Sal.« Sie zuckte die Achseln. »Eine Heldin, um genau zu sein.« Sie nickte zum Bildschirm hin. »Was machst du da?«
»Ich informiere mich über die ruhmreiche Geschichte des Hungerleider-Kults unter seinem erhabenen Führer, dem Archimandriten Lusiferus.«
»Aha.«
»Sag mir, dass das nicht alles geplant war, Liss.
»Es war nicht alles geplant, Saluus.«
»Ist Liss dein echter Name?«
»Was ist schon echt?«
»Sie war doch nicht geplant, oder? Meine Entführung, meine ich.«
»Natürlich nicht.« Liss ließ sich auf einen kleinen Sitz fallen, der neben der Tür aus der Wand ausgeformt war. »Spontane Idee.«
Sal wartete auf weitere Ausführungen, aber die kamen nicht. Liss lümmelte nur da und sah ihn an. »Ich habe dich wohl selbst darauf gebracht?«, fragte er. »Als ich dir erzählte, dass Thovin mir praktisch vorgeworfen hätte, ich machte mich zur Flucht bereit.«
»Ich hatte schon länger daran gedacht, dich nutzbringend einzusetzen«, gestand sie. »Aber dann war es eine Augenblicksentscheidung. Wir waren auf dem Schiff, es war startklar, ich hatte dir beim Steuern zugesehen und wusste, dass es nicht schwierig war.« Liss zuckte die Achseln. »Das Militär hätte es nur beschlagnahmt, einen Sprengkopf hineingepackt und es als Rakete verwendet.«
»Und etwas Besseres ist dir wirklich nicht eingefallen?«
»Vielleicht wäre mehr drin gewesen, aber ich glaubte nicht daran. Ich wollte dich einfach aus der Gleichung herausnehmen, um alle aus der Fassung zu bringen. Ein moralischer Schlag. Es sollte so aussehen, als wärst du zu den Invasoren übergelaufen. Und es hat ja auch geklappt. Die Verwirrung war perfekt.«
»Du hast also die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.«
»Ich bin ein Beyonder. Wir werden zu selbständigem Denken erzogen.«
»Du hattest es also schon immer auf mich abgesehen? War ich so etwas wie deine Zielperson«?
»Nein. Auch hier eine Frage der Gelegenheit. Ein Glücksfall.«
»Und Fassin?«
»Ein nützlicher Idiot. Für ernsthafte Spionagearbeit nicht zu gebrauchen, aber ein Kontakt, den zu halten sich lohnte. Schon dass er mich zu dir geführt hat, rechtfertigte den Aufwand. Wahrscheinlich ist er inzwischen tot, aber man weiß ja nie. Offiziell ist er immer noch in Nasq verschollen.«
»Was tut sich so? Im System, meine ich. Der Krieg hat doch inzwischen begonnen? Hier sagt mir niemand etwas, und über den Bildschirm habe ich nur Zugriff auf Bibliotheksmaterial.«
»Oh ja, der Krieg hat begonnen.«
»Und?«
Liss schüttelte den Kopf und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Mannomann! Du meinst die Schiffe, die du gebaut hast? Die kriegen gewaltig eins übergebraten. Alles sehr unausgewogen. Das Gerede von Kampf bis zum letzten Schiff und so weiter? Letztlich nichts dahinter. Der Krieg im Weltraum ist fast zu Ende. Der Hierchon hat sich abgesetzt.«
»Ist alles nur auf das Militär beschränkt? Oder werden auch Städte oder Habitate angegriffen?« Sal hielt ihren Blick kurz fest, dann schlug er die Augen nieder. »Ich habe eine Menge Freunde dort, Liss.«
»Ich weiß, Saluus, du bist auch nur ein Mensch. Spar dir das Theater.«
Er hob den Kopf und sah sie scharf an, aber ihr Blick war unversöhnlich. Sie trug immer noch den hautengen Schutzanzug, heute in einem Pastellblau, das zu ihren Augen passte. Der dicke Helmkragen umschloss ihren Hals wie eine altmodische Krause, so dass der kleine Kopf mit dem straff nach hinten genommenen dunklen Haar wie auf einem Teller lag. Endlich ließ sie sich doch erweichen. »Borquille ist bisher die einzige Stadt, die erobert wurde«, sagte sie. »Ziemlich blutige Angelegenheit. Aber keine Berichte von besonderen Gräueltaten.«
Mit einem Seufzer lehnte er sich in dem kleinen Sessel vor dem Bildschirm zurück. »Warum arbeitet ihr – ich meine, die Beyonder – mit diesen … diesen Typen zusammen?«
»Um uns Typen wie euch vom Hals zu halten.«
»Typen wie uns? Du meinst die Merkatoria?«
»Natürlich meine ich die Scheiß-Merkatoria.«
»Ist das wirklich der einzige Grund?«
»Je mehr ihr Dreckskerle anderweitig beschäftigt seid, desto weniger Zeit bleibt euch, um uns umzubringen. Eigentlich eine ganz einfache Rechnung, Sal.«
»Wir bekämpfen euch doch nur, weil ihr uns bekämpft.«
Liss sackte noch weiter zusammen, nahm die Beine leicht auseinander und verdrehte die Augen. »Wann lernst du es endlich, Mann?«, hauchte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und richtete sich wieder auf. »Nein, Saluus«, sagte sie. »Ihr bekämpft uns, weil wir uns eurer verdammten viel gepriesenen Merkatoria nicht anschließen wollen. Ihr könnt uns nicht in Frieden lassen, aus Angst, dass andere sich ein Beispiel an uns nehmen könnten. Ihr überfallt unsere Habitate und Generationenschiffe und schlachtet uns zu Millionen ab. Wir greifen nur euer Militär und eure Infrastruktur an. Und ihr nennt uns Terroristen.« Sie schüttelte den Kopf und stand auf. »Fahr zur Hölle, Sal«, sagte sie leise. »Fahr zur Hölle mit deiner Arroganz und deinem gedankenlosen Egoismus. Fahr zur Hölle, denn du bist intelligent, aber du bist zu faul, um deinen Verstand zu gebrauchen.« Sie wandte sich zum Gehen.
Sal sprang auf und wäre fast gegen die transparente Membran gerannt. »Hast du jemals etwas für mich empfunden?«, entfuhr es ihm.
Liss blieb stehen, drehte sich um. »Außer Verachtung?« Sie lächelte, als er den Blick abwandte und sich auf die Unterlippe biss. Er konnte nicht sehen, wie sie den Kopf schüttelte. »Manchmal war es ganz lustig, mit dir zusammen zu sein, Sal«, sagte sie und hoffte, dass es nicht zu gönnerhaft klang. Oder gönnerhaft genug.
Sie ging, bevor er etwas erwidern konnte.
Hab 4409 und alle seine Bewohner waren zum Tode verurteilt. Das hatte man ihnen mitgeteilt. Es war schwer zu glauben. Aber vielleicht kam es ja nicht so weit.
Die Menschen reagierten verschieden. Einige hatten randaliert und waren kompromisslos oder grausam bestraft worden, die Wortwahl hing davon ab, ob man den Zivilbehörden glaubte oder nicht. Einige betäubten sich mit Rauschmitteln aller Art, andere blieben einfach bei ihren Lieben oder stellten fest, dass sie ihre letzten Stunden durchaus auch mit Personen verbringen konnten, die ihnen lediglich sympathisch waren. Und eine große Zahl von Menschen – mehr als Thay erwartet hätte – hatte sich in dem großen Park an der Innenwand des Habitats gegenüber dem Platz vor dem Diegesianspalast versammelt. Da standen sie nun und hielten sich an den Händen. Lange Reihen, kleine Grüppchen, Leute, die sich im Kreis aufgestellt hatten und die Hände in der Mitte zusammenlegten, und unregelmäßige, mehr oder weniger durch Zufall entstandene Ketten. Von oben, dachte Thay, müssten sie aussehen wie ein abstraktes Bild eines menschlichen Gehirns mit verklumpten Zellen und vielfach verzweigten Dendriten.
Thay Hohuel legte den Kopf in den Nacken und versuchte, hinter den Gondeln, die sich an der Längsachse des Habs zusammendrängten, einen Blick auf den Diegesianspalast und auf den Platz davor zu erhaschen, wo sie und die anderen vor so vielen Jahren ihre Protestdemonstration abgehalten hatten.
Sie war hierher gekommen, um zu sterben, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde. Sie hatte die anderen nie vergessen, hatte sich nach Kräften bemüht, Kontakt zu ihnen zu halten, auch wenn sie offenbar gar nicht an die alten Tage und ihr altes Ich erinnert werden wollten. Obwohl sie vermieden hatte, sich aufzudrängen, war sie wohl doch unerwünscht gewesen – eine Nervensäge. Aber was man einmal gewesen war, behielt doch seinen Wert, auch wenn man sich davon losgesagt hatte? Das war immer ihre Meinung gewesen, und so dachte sie bis heute.
Sie war also lästig gewesen, weil sie nicht davon abging, sich in Erinnerung zu bringen und damit auch die anderen an ihr früheres Ich zu erinnern und natürlich an die arme tote K, die sie zugleich zusammenhielt und voneinander trennte. Sonst hätten sie sich doch längst wieder getroffen, Mome, Sonj, Fassin und sie selbst? Irgendwo hätte ein Wiedersehen stattgefunden, das wäre nur natürlich gewesen. Jedenfalls, wenn ihnen der Geist von K, den jeder mit sich herumtrug, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit nicht für immer vergällt hätte.
Sie war trotz alledem zurückgekehrt, ins Hab, zu ihrem früheren Ich und zu diesen Erinnerungen. Als sie das Gefühl hatte, der Tod mit seiner wohl verdienten Ruhe sei allenfalls noch ein bis zwei Jahre entfernt, hatte sie beschlossen, hierher zu kommen, an den Ort, der in jungen Jahren ihren Charakter geprägt hatte. Der heraufziehende Krieg hatte sie in ihren Plänen noch bestärkt; wenn die Gefahr wirklich so groß war, wie alle behaupteten, wenn die Invasoren alle großen und kleinen Städte, alle Schiffe, Habitate und anderen Gemeinschaftseinrichtungen als legitime Ziele betrachteten, dann wollte sie den Tod dort erwarten, wo er wenigstens irgendeinen Sinn hätte. In diesem Habitat, diesem hohlen Klumpen Asteroidengestein, diesem rotierenden Bezugsrahmen sollte sich der Kreis schließen, sie würde ihre Existenz an dem Ort beenden, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war.
Sie war in ihrem Leben so vieles gewesen, hatte ein halbes Dutzend Mal den Beruf gewechselt und sich für immer neue Dinge interessiert und begeistert. Sie hatte zahlreiche Liebhaber gehabt, zwei Ehemänner und zwei Kinder, doch alle waren längst ihre eigenen Wege gegangen, und obwohl sie es als etwas egoistisch empfand, zum Sterben hierher gekommen zu sein, hatte sie doch auch das Gefühl, allen, die sie liebte oder einmal geliebt hatte, damit einen Gefallen zu tun. Wer wollte denn tatsächlich mit ansehen, wie sie dahinsiechte?
Selbst wenn einer behauptete, er wäre am Ende gern bei ihr gewesen, es wäre nicht wirklich die Wahrheit.
Sie war also in das gute alte Happy Hab zurückgekehrt – das leider nicht mehr so fröhlich, so voller Leben oder so unkonventionell war wie früher –, um hier zu sterben. aber sie hatte allein und in Frieden sterben wollen, in ein oder zwei Jahren, nicht zusammen mit so vielen Menschen, durch einen Gewaltakt und nur wenige Monate nach ihrer Ankunft.
Der Hierchon Ormilla befand sich auf Nasqueron im Exil. Der neue Machthaber, dieser Archimandrit Lusiferus, wollte, dass der Hierchon kapitulierte. Der Hierchon weigerte sich. Der Archimandrit wollte sich die Dweller nicht zum Feind machen und wagte nicht, auch Nasqueron kurzerhand zu überfallen oder zu erobern – die Dweller, die alle Welt für exzentrische Chaoten und technische Analphabeten hielt, waren erstaunlich gut imstande, sich ihrer Haut zu wehren – und so herrschte ein Patt. Dieser Lusiferus konnte nicht hinein, und Ormilla kam nicht heraus.
Nun drohte der Archimandrit, jeden Tag eine Stadt oder ein Habitat zu zerstören, bis der Hierchon in aller Form kapitulierte und sich den Besatzungstruppen auslieferte. Und falls Ormilla nicht nach zwei Tagen aufgab, wollte Lusiferus stündlich eine Ansiedlung vernichten.
Gerüchten zufolge war tags zuvor Afynseise zerstört worden, eine kleine Küstenstadt in Poroforo, Sepekte, doch da das Habitat seit drei Tagen unter einer Nachrichtensperre stand, konnte das niemand bestätigen.
Hab 4409 hatte etwa achtzigtausend Einwohner und war damit eines von den kleineren Weltraumhabitaten. Es stand auf der Liste der als Geiseln geeigneten Bevölkerungszentren auf Platz zwei, und das Ultimatum lief in wenigen Minuten um Mitternacht ab. Von Ormilla hatte man nach einem trotzigen Kommuniqué am frühen Nachmittag nichts mehr gehört. Seit vor zwei Tagen das Ultimatum des Archimandriten bekannt gegeben worden war, hatten die Hungerleider in der Nähe ein Kriegsschiff stationiert und nichts und niemandem erlaubt, das Habitat zu verlassen – oder zu betreten. Einige Schiffe, die zu starten versuchten, waren zerstört worden. Alle Bitten, Kinder, Kranke oder die kollaborierenden Zivilbehörden zu evakuieren, waren auf taube Ohren gestoßen. Man hatte sogar erklärt, wer die Zerstörung des Habs in einem Raumanzug oder einem Kleinschiff überlebte, sollte in den Trümmern niedergeschossen werden. niemand bezweifelte, dass der Archimandrit zu seinem Wort stehen, und kaum jemand glaubte, dass der Hierchon so leicht nachgeben würde.
Thay ließ die Hände los, die sie umschlossen hielt – ein welkes Blatt, das von einer Blüte aus vorwiegend jungen und schönen Menschen abfiel –, bückte sich mit schmerzendem Rücken, zog sich die Schuhe aus und stieß sie von sich. Dann legte sie ihre Hand wieder auf die anderen im Zentrum des Kreises. Das Gras unter ihren Füßen war kühl und feucht.
Viele Menschen sangen jetzt, die meisten ganz leise.
Viele verschiedene Lieder.
Einige weinten, andere schluchzten, manche heulten und schrien laut, aber die waren fast alle weit weg.
Und jemand war so makaber, die Sekunden zu zählen.
Dann war es Mitternacht, und Sekunden später fuhr, kaum fünfzig Meter von Thay entfernt, ein mächtiger, blendend heller Lichtstrahl mit lautem Krachen genau ins Zentrum des Habitats. Sie musste die Hände der anderen loslassen, um sie vor die Augen zu halten; alle taten das. ein heißer Wind riss sie von den Beinen und schleuderte sie mit Hunderten von anderen ins Gras. Gleich darauf teilte sich der Strahl, wanderte rasch nach beiden Seiten an den Rand des Habitats, sprengte alle Gebäude auf seiner Bahn, ließ die Gondeln in Flammen aufgehen und zerschnitt die kleine Welt fein säuberlich in zwei Teile. Die Hälften wurden durch den Luftdruck im Innern auseinander gedrückt, und die Atmosphäre entwich in einem Doppelhurrikan aus Gasen, Schutt und Leichen ins All. Zu beiden Seiten explodierten Gebäude und Gondeln, zwei Kreise der Zerstörung breiteten sich aus und wanderten über die Innenflächen der durchtrennten Halbkugeln. Bauwerke wurden allein durch die Kraft der Luft auseinander gerissen, die sich den Weg nach draußen bahnte. thay Hohuel wurde mit allen anderen von dem Wirbelwind erfasst und über den brodelnden Rasen zu der rasch breiter werdenden Bresche gezogen. Es dauerte nur Sekunden, bis sie in die Finsternis geblasen wurde. die Luft wurde ihr aus den Lungen gerissen und ins All gesaugt. Sie hörte sich schreien. Es war ein schriller Schrei, wild und hart, lauter, als sie ihn aus eigener Kraft hätte erzeugen können; Schmerz, Schock und Angst entrissen den Mündern aller anderen diesen schrecklichen Todesgesang, der erst verklang, als die letzte Luft durch ihre Ohren ins Vakuum verströmte.
Ein Leichenwirbel löste sich langsam von den auseinander driftenden Hälften des zerstörten Habitats, teilte sich und entschwebte in bizarren, zuckenden Drehungen, zwei lange, gekrümmte Kommas in einem Ballett von galaktischen Dimensionen.
Die Besatzungstruppen strahlten die Bilder im ganzen System aus.
Am folgenden Tag erklärte der Hierchon in aller Form seine Kapitulation.
Der Archimandrit Lusiferus stand im Bug der Hauptkampfeinheit Lusiferus VII und betrachtete die Aussicht. Der Planet Sepekte mit seinem riesigen, trüben, nur stellenweise glitzernden Halo von Habitaten, Orbitalfabriken und Satelliten füllte das Blickfeld. Der vordere Nasenabschnitt der Lusiferus VII, eine kreisrunde, hundert Meter breite Linse von atemberaubender Transparenz, bestand ganz und gar aus Diamantfolie, von fingerdünnen Streben gestützt. Der Archimandrit kam gern allein hierher, um einfach nur hinauszuschauen. In solchen Augenblicken spürte er die gewaltige Masse der kilometerlangen, megatonnenschweren Lusiferus VII mit ihren Labyrinthen von Docks und Tunneln, großen und kleinen Räumen, Mannschaftsquartieren, Magazinen, Geschütztürmen und Werferrohren hinter sich. Ein Jammer, dass sie vielleicht schon bald zerstört werden musste.
Seinen Strategen und Taktikern waren die Triebwerkssignaturen der nahenden Generalflotte nicht geheuer. Zu viele schwere Schiffe waren unterwegs, und die ersten könnten schon in Wochen hier eintreffen, nicht erst in Monaten – oder gar in einem Jahr –, wie sie gehofft hatten. Die Lusiferus VII war zweifellos ein großartiges Schiff, aber sie bot ein unübersehbares und wahrscheinlich nicht zu verfehlendes Ziel. Durchaus möglich, dass es strategisch sinnvoll wäre, den Riesenkahn als Köder zu benützen, die eigenen Truppen zum Schein so zu postieren, als wären sie entschlossen, die Lusiferus VII bis zum Letzten zu verteidigen, das Schiff aber in Wirklichkeit als Ballast zu behandeln, den man jederzeit abwerfen konnte. Möglichst große Teile der Merkatoria-Flotte anzulocken und dann alles zu zerstören, einschließlich, so sehr er das bedauerte, der Lusiferus VII selbst.
Dem Admiral, der von der Hackordnung oder durch irgendein Auswahlverfahren dazu verdonnert worden war, dem Archimandriten diesen Vorschlag zu unterbreiten, war sichtlich mulmig gewesen, als er den Plan erläutert hatte. Er hatte mit einem Wutausbruch seines Oberbefehlshabers gerechnet. Doch Lusiferus hatte von der Idee bereits gehört – Tuhluer hatte sich wieder einmal als nützlich erwiesen – und sich damit abgefunden, dass selbst so drastische Lösungen zumindest in Betracht gezogen werden müssten, wollte man nicht die ganze Mission gefährden. So hatte er nur genickt und bestätigt, dass alle Möglichkeiten zu erwägen seien. Erleichterung beim betroffenen Admiral. Bestürzung bei den anderen, die nun wünschten, sie hätten den Vorschlag unterbreitet.
Man wollte auch andere Strategien erarbeiten, bei denen der Verlust der Hauptkampfeinheit nicht ins Kalkül gezogen würde, aber die Zuversicht war gering. Tue immer das, wovon der Feind hofft, du würdest es nicht tun. Schlachte die eigenen Kinder oder etwas in der Art. Das Vorgehen war von zwingender Logik.
Schließlich konnte er sich jederzeit eine neue Hauptkampfeinheit bauen. Die Lusiferus VII war nichts als ein Materieklumpen. Und nur das Ergebnis zählte. Er war kein Kind mehr. Er hegte keine sentimentalen Gefühle für ein Schiff.
Belastender war die Überlegung, ob selbst dieses Opfer ausreichte. Sie hatten das Ulubis-System in ihre Gewalt gebracht, sie hatten bei der Invasion nur eine Hand voll Schiffe verloren und konnten sich, nachdem sie einige feindliche Schiffe erbeutet hatten, vermutlich als Sieger betrachten. Allerdings waren die bereits auf dem Weg befindlichen Geschwader der Generalflotte ein nicht zu unterschätzender Gegner. Sie hatten zahlenmäßig weniger, aber bessere Schiffe. Es könnte ein harter Kampf werden, und nur ein Schwachkopf ließ sich ohne Not auf so etwas ein. Und die Flotte war schon so nahe! Die Nachricht hatte ihn tief erschüttert.
Lusiferus hatte es zunächst nicht glauben wollen. Er hatte gewütet und getobt und den Technikern immer wieder befohlen, ihre Ergebnisse zu überprüfen. Das war unmöglich, irgendwo musste ein Fehler stecken. Die Generalflotte konnte noch nicht so weit gekommen sein. Man hatte ihm versichert, der Gegenschlag würde ein halbes – vielleicht sogar ein ganzes – Jahr auf sich warten lassen. Und nun stand der Gegner praktisch vor der Tür, bevor sie noch richtig Fuß gefasst hatten. Die Beyonder, diese Dreckskerle, hatten ihn betrogen. Er würde sich bei Gelegenheit eine gebührende Strafe für die elenden Verräter ausdenken. Doch zunächst musste er sich um diesen Gegenangriff kümmern.
Wenn sie natürlich vor dem Eintreffen der Generalflotte ihr Ziel erreicht hätten, könnte alles ganz anders aussehen.
Doch es blieben nur wenige Wochen, um das Gesuchte zu finden, und er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Zeit nicht reichen würde.
Fassin redete mit dem Schiff. Es hielt sich für tot.
Er hatte gehofft, die Rückreise von der Rovruetz zum Direaliete-System würde schneller vonstatten gehen als der Hinflug, weil das Voehn-Schiff leistungsfähiger war als die Velpin, aber er wurde enttäuscht. Die Protreptik konnte zwar stärker beschleunigen als die Velpin, aber der Voehn-Commander hatte Y’sul so schwer verletzt, dass der Dweller die hohe Beschleunigung nicht überlebt hätte. Also flogen sie sogar noch langsamer zurück, als sie hergekommen waren.
Y’sul lag im Heilkoma. Quercer & Janath hatten ihm aus einem der ausfahrbaren Kommandosessel eine provisorische Krankentrage gebaut. Die beiden steigerten die Beschleunigung auf fünf Ge, flogen ohne Antrieb, bis sie sich vergewissert hatten, dass der Dweller durch den dabei entstehenden Druck keinen weiteren Schaden gelitten hatte, gingen in kleinen Schritten bis auf zehn Ge und kontrollierten wieder. Zu guter Letzt landeten sie bei vierzig Ge, aber bis sie sich so weit vorgetastet hatten, war schon fast der Punkt erreicht, an dem sie das Schiff drehen und die Bremsphase vor dem Rücksturz in das System einleiten mussten.
Y’sul blieb im Genesungsschlaf. Der KI-Vollzwilling erkundete mit wachsender Begeisterung die komplizierten Systeme und die vielfältigen militärischen Kapazitäten des Voehn-Schiffs. Fassin hatte nichts weiter zu tun, als neben Y’sul auf einer eigenen provisorischen Beschleunigungsliege zu schweben. Beim Anflug auf das Wurmloch würde er hier nicht bleiben können; Quercer & Janath hatten ein paar Schotts hinter dem Kommandoraum eine kleine Kabine gefunden, dort sollte er das Ereignis abwarten. Bis dahin hatten sie ihm auf hartnäckiges Drängen hin Zugriff auf die Computer der Protreptik gewährt, aber nur bis mehrere Ebenen über den Kernsystemen, und sie bestanden darauf, ihn in Gestalt einer Unterpersönlichkeit zu begleiten. Die Besuche sollten bei zwei-bis dreifach verlangsamter Zeit stattfinden, was allen Beteiligten entgegenkam. Zumindest, dachte Fassin, verginge damit die Reise scheinbar schneller.
Die virtuelle Umgebung, in der sich Fassin mit dem Schiff treffen durfte, bestand aus einem riesigen, halb verfallenen Tempel an einem weiten, trägen Fluss am Rand einer großen, reglosen, schweigenden Stadt, die von einer kleinen stationären Sonne mit hellem blauweißem Licht beschienen wurde.
Fassin trat in menschlicher Gestalt auf, in bequemer Hauskleidung, das Schiff erschien als hagerer alter Mann mit Lendenschurz. Die KI-Subroutine war ein rotbrauner Menschenaffe mit langen, schlaksigen Gliedern. Er hatte einen uralten, viel zu großen Helm auf dem Kopf, einen verbeulten Harnisch mit abgerissenem Riemen über der Trommelbrust, einen kurzen Kilt aus Lederstreifen um die knochigen Hüften und ein rostiges Kurzschwert an der Seite.
Als Fassin die Schiffspersönlichkeit zum ersten Mal besuchte, hatte ihn der Affe an der Hand genommen und aus einer Tür die Stufen hinunter zum Fluss geführt, wo der alte Mann saß und über das träge braune Wasser schaute.
Auf der anderen Seite des breiten öligen Stroms wogte eine hügelige Wüste aus glitzernden Glasscherben, so weit das Auge reichte. Als hätte man alle Glasscherben, die im Universum jemals entstanden waren, an diesem einen Ort zusammengetragen.
»Natürlich bin ich tot«, erklärte das Schiff. die Haut des alten Mannes war dunkelgrün, und seine Stimme klang rau und keuchend. Das Gesicht war fast unbeweglich, eine Greisenmaske mit struppigen weißen Bartstoppeln. »Das Schiff hat sich selbst zerstört.«
»Aber wenn du tot bist«, sagte Fassin, »wie kannst du dann mit mir sprechen?«
Der Greis zuckte die Achseln. »Tot zu sein heißt, nicht länger zur Welt der Lebenden zu gehören. wer tot ist, ist ein Schatten, ein Geist. Das heißt nicht, dass man nicht sprechen kann. Es ist sogar so ziemlich das Einzige, was man noch kann.«
Fassin verzichtete darauf, den Alten zu überzeugen, dass er noch am Leben sei. »Wofür hältst du mich?«, fragte er.
Der Alte sah ihn an. »Mensch? Männlich? Ein Mann.«
Fassin nickte. »Hast du einen Namen?«, fragte er den Greis.
Der schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich war die Protreptik, aber jetzt ist das Schiff zerstört, und ich bin tot, also habe ich keinen Namen.«
Fassin legte eine Anstandspause ein, um dem Alten Gelegenheit zu geben, sich nach seinem Namen zu erkundigen, aber die Frage blieb aus.
Der Affe saß zwei Meter von ihnen entfernt, zwei Stufen näher an dem von Kletterpflanzen überwucherten Tempel. Nun lehnte er sich zurück, stützte sich mit seinen langen Armen ab, bohrte mit einer langen, zartgliedrigen Zehe im Ohr und begutachtete mit großer Aufmerksamkeit, was er dabei zutage förderte.
»Als du noch am Leben warst«, sagte Fassin, »warst du da wirklich lebendig? Warst du empfindungsfähig?«
Der Alte schaukelte zurück und lachte kurz auf. »Du meine Güte, nein. Ich war nur Software in einem Computer, Photonen in einem Nanoschaumsubstrat. Das kann man im konventionellen Sinn nicht als lebendig bezeichnen.«
»Und abseits der Konvention?«
Wieder ein Achselzucken. »Das spielt keine Rolle. Nur auf die Konvention kommt es an.«
»Erzähle mir etwas über dich, über dein Leben.«
Ein leerer Blick. »Ich habe kein Leben. Ich bin tot.«
»Dann erzähle mir von deinem früheren Leben.«
»Ich war ein Nadelschiff mit Namen Protreptik und gehörte zum Dritten Voehn-Flossen-Geschwader der Cessoria-Lustrale. Ich wurde im fünften Zehntel des dritten Jahres des Haralaud in der Wirbelachse, Khubohl III, Bunsser Minor gebaut. Ich war ein erweiterungsfähiges Schiff, Minimum fünfzehn Meter, wurde nach dem Standard-Portalkompatibilitätsquotienten auf achtundneunzig Prozent eingestuft und hatte unbeladen einen normalen Betriebsdurchmesser von …«
»Ich war eigentlich weniger an den technischen Angaben interessiert«, sagte Fassin sanft.
»Oh«, sagte der Alte und verschwand wie ein Hologramm, das man abgeschaltet hatte.
Fassin wandte sich dem Affen zu, der gerade etwas ins Licht hielt. Das Tier kniff die Augen zusammen und schaute auf ihn herab. »Was ist?«, fragte es.
»Er ist verschwunden«, sagte Fassin. »Der alte Mann – das Schiff – ist einfach verschwunden.«
»Das macht er öfter«, seufzte der Affe.
Beim nächsten Besuch erhob sich auf der anderen Seite des breiten, behäbigen Flusses vor den Tempelstufen ein Dschungel; eine mächtige grün-, gelb-und purpurfarbene Wand aus seltsam knorrigen Strünken, schlaffen Blättern und Schlingpflanzen. Ranken und Äste hingen so tief herab, dass sie in die trägen Fluten eintauchten.
Sonst war alles wie zuvor, nur war der alte Mann vielleicht nicht ganz so hager, sein Gesicht nicht ganz so starr und seine Stimme nicht ganz so müde.
»Ich war ein KI-Jäger. Sechseinhalbtausend Jahre lang half ich mit, die Anathematen aufzustöbern und zu vernichten. Ich wäre stolz auf mich gewesen, wenn ich zu solchen Gefühlen fähig gewesen wäre.«
»Kam es dir nie unnatürlich vor, Maschinen zu jagen und zu töten, die dir so ähnlich waren?«
An dieser Stelle hustete der rotbraune Affe – er saß wie üblich ein paar Stufen weiter oben und bemühte sich, seinen fleckigen, verbeulten Panzer zu säubern, indem er darauf spuckte und ihn dann mit einem schmutzigen Lappen polierte –, doch als Fassin zu ihm aufschaute, sah ihn das Tier nur ausdruckslos an.
»Aber ich war doch nur ein Computer.« Der Alte runzelte die Stirn. »Noch nicht einmal das. Nur ein Geist in einem Computer. Ich tat, was man mir sagte, war allzeit gehorsam. Ich war das Interface zwischen den Voehn, die das Denken übernahmen und die Entscheidungen trafen, und den physischen Strukturen und Systemen des Schiffes. Eine Vermittlungsinstanz. Nicht mehr.«
»Vermisst du das?«
»Irgendwie schon. Aber eigentlich bin ich dazu gar nicht fähig. Etwas aufrichtig zu vermissen, das wäre – nach meinem Verständnis – gleichbedeutend mit einem Gefühl, und das ist für jemanden, der nicht empfindungsfähig und noch nicht einmal lebendig ist, nun einmal nicht möglich. Aber soweit ich in der Lage bin, einen Zustand einem anderen vorzuziehen, vielleicht, weil mir der eine erlaubt, die mir zugewiesene Rolle auszufüllen und der andere nicht, könnte ich sagen, dass ich das Schiff vermisse. Es ist nicht mehr. ich habe danach gesucht, aber es ist nicht mehr da. Ich kann es weder spüren, noch steuern, und das heißt, dass es sich selbst zerstört haben muss. Ich wurde wohl auf ein anderes Substrat übertragen.«
Fassin schaute zu dem Affenwesen hinauf, das nur ein paar Schritte über ihnen hockte. Quercer & Janath hatten die Protreptik vollkommen übernommen und den schiffseigenen Computer samt der darauf laufenden Software von den Untersystemen des Schiffes getrennt.
»Und was bin ich deiner Meinung nach?«, fragte Fassin. »Was ist der kleine Affe, der da in seinem Panzer hinter uns sitzt?«
»Ich weiß es nicht«, gestand der Alte. »Seid ihr auch tote Schiffe?«
Fassin schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann seid ihr vielleicht Verkörperungen der Instanz, die das Substrat steuert, in dem ich jetzt laufe. Und ihr wollt mich nach Aktionen befragen, die ich durchgeführt habe, als ich noch das Schiff war.«
»Du kommst mir sehr lebendig vor«, sagte Fassin. »Könnte es nicht sein, dass du nach der Trennung vom Schiff ein lebendes, empfindungsfähiges Wesen geworden bist?«
»Natürlich nicht!«, rief der Alte verächtlich. »Ich kann wie ein Lebewesen erscheinen, ohne wirklich lebendig zu sein. das ist nicht weiter schwierig.«
»Wie machst du das?«
»Ich kann auf meine Erinnerungen zugreifen und habe Billionen von Fakten, wissenschaftliche Werke, Bücher, Aufzeichnungen, Sätze, Wörter und Definitionen zur Verfügung.« Der Alte betrachtete seine Fingerspitzen. »Ich bin die Summe aller meiner Erinnerungen und die Anwendung gewisser Regeln aus einem umfangreichen Befehlsverzeichnis. Ich besitze die Fähigkeit, ausnehmend schnell zu denken, daher kann ich nicht nur hören, was du, ein Wesen mit Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit, zu mir sprichst, ich kann auch in einer für dich sinnvollen Weise darauf reagieren, ich kann deine Fragen beantworten, deinen Aussagen folgen und sogar erraten, was du denkst.
All das ist jedoch nur das Werk von Programmen – die von empfindungsfähigen Wesen geschrieben wurden. Sie sichten Gespräche und Texte, die ich gespeichert habe, und wählen diejenigen aus, die sich am besten als Vorlage eignen. Das hört sich rätselhaft an, ist aber nur kompliziert. Das Verfahren beginnt mit so einfachen Dingen, wie dass du ›Hallo‹ sagst und ich mit ›Hallo‹ antworte oder nach dem, was ich sonst über dich weiß, eine ähnliche Aussage wähle, und geht bis zu so komplexen Äußerungen wie, nun ja, wie ich sie eben gemacht habe.«
Der alte Mann sah ihn erschrocken an und war plötzlich wieder verschwunden.
Fassin schaute zu dem rotbraunen Affen hinauf. Der nieste und bekam einen Hustenanfall. »Das«, keuchte er, »hat nichts«, fuhr er von Husten geschüttelt fort, »mit mir zu tun.«
Als Fassin wiederkam, war das andere Ufer des großen, trägen Flusses zum Spiegelbild der Seite geworden, auf der er selbst, der alte Mann und der schlaksige Affe sich befanden. Vor ihnen lag eine uralte Stadt mit steinernen Kuppeln und Türmen – schwarz und schweigend, von Bäumen und Schlingpflanzen überwuchert – und direkt gegenüber erhob sich ein gewaltiger, überreich mit Statuen und Reliefs von phantastischen Fabeltieren geschmückter Tempel. von seinem unteren Rand führten Dutzende von hohen Steinterrassen und Treppen zu dem schlammigen, dunkelbraunen Wasser herab.
Fassin versuchte zu erkennen, ob auch er und seine beiden Begleiter in dem Spiegelbild enthalten wären, aber das andere Ufer war verlassen.
»Hast du viele KIs aufgespürt und getötet?«, fragte er.
Der Alte verdrehte die Augen. »Hunderte. tausende.«
»Du weißt es nicht genau?«
»Es waren auch Zwillinge und sogar größere Gruppen darunter. Ich habe an 872 Einsätzen teilgenommen.«
»Gab es auch Einsätze in Gasriesen?«, fragte Fassin. Er hatte sich so hingesetzt, dass er den Affen in dem verbeulten Harnisch im Blick hatte. Der Affe sah ihn an, als er diese Frage stellte, wandte sich aber gleich wieder ab. Diesmal versuchte er, mit einem Hämmerchen die Beulen aus seinem Brustpanzer zu klopfen. Das matte ›Tock-tock-tock‹ hing wie tot über dem breiten Fluss und erzeugte kein Echo.
»Ein Einsatz fand teilweise in einem Gasriesen statt. Genauer gesagt endete er dort. Wir verfolgten ein kleines Schiff voll mit Anathematen in die Atmosphäre des Gasriesen Dejiminid hinein, wo sie versuchten, uns in den heftigen Stürmen abzuhängen. Aber die Protreptik war atmosphäretauglicher als ihr Schiff, und als sie in ihrer Verzweiflung in immer größere Tiefen vordrangen, um uns loszuwerden, brach ihr Rumpf unter dem Druck zusammen und wurde zermalmt. Alle an Bord wurden mit in die Flüssigmetallschichten gerissen.«
»Und darüber hat sich kein Dweller beschwert?«
Der Alte sah ihn fragend an. »Du bist doch nicht etwa ein Dweller? Ich hatte schon den Verdacht, ich könnte in einem von Dwellern kontrollierten Substrat laufen.«
»Nein, ich bin kein Dweller. Ich sagte dir doch, ich bin ein Mensch.«
»Nun, die Antwort lautet, sie hatten nicht bemerkt, dass wir in ihren Planeten eingedrungen waren. Die Beschwerden kamen erst hinterher. Das war der eine von zwei Einsätzen, bei denen die Protreptik innerhalb eines Gasriesen operierte. Normalerweise führten wir alle unsere Missionen im Vakuum durch.«
»Und der zweite?«
»Liegt noch nicht lange zurück. Wir halfen bei der Verfolgung einer großen Gruppe von Beyonder-Schiffen in der Gegend von Zateki. auch dort blieben wir siegreich.«
»Was hat dich zum Nekro-Schiff Rovruetz geführt?«, fragte Fassin.
Das tonlose Tock-tock-tock verstummte. Der rotbraune Affe hielt den Harnisch ins Licht, kratzte sich an der Brust und begann erneut zu hämmern.
»Vertrittst du einen Untersuchungsausschuss der Lustrale?«, fragte der Alte. »Ist das deine wahre Identität?«
»Nein«, sagte Fassin.
»Aha. Na schön. In den letzten zweihundertfünfzig Jahren Einheitszeit«, sagte der Alte, »hatten wir nach Informationen über die so genannte Dweller-Liste gesucht.« (Bei diesen Worten lachte der schlaksige Affe laut auf, aber das schien der Alte nicht zu bemerken.) »Zunächst hielten wir uns lange in der Region des Zateki-Systems auf und stellten Nachforschungen zur Theorie des Zweiten Schiffes an. Informationen, die wir dort gesammelt hatten, führten zu etlichen weiteren Einsätzen. Was die Liste, die Theorie des Zweiten Schiffes oder die so genannte Transformation betrifft, blieben unsere Ermittlungen ohne Ergebnis, allerdings konnten im Verlauf dieser Sekundärmissionen zwei KIs aufgespürt und eliminiert werden. vor fünf Monaten wurden wir aus dem Rijom-System abberufen und ins Direaliete-System geschickt, wo wir auf Abfangkurs zum Nekro-Schiff Rovruetz gingen. Gründe für diese Vorgehensweise wurden mir nicht mitgeteilt, die entsprechenden Befehle gingen an Commander Inialcah persönlich und wurden unter Umgehung meiner Sinne an ihn übermittelt.«
»Habt ihr irgendetwas Neues über die Liste und die Transformation in Erfahrung gebracht?«, fragte Fassin.
»Ich glaube, die einzige Entdeckung in dem Sinn, dass dem bereits vorhandenen Gespinst aus Mythen und Gerüchten mehr als nur ein weiteres Gerücht hinzugefügt wurde, war – immer vorausgesetzt, sie entsprach der Wahrheit – die, dass die Portale inaktiv und vielleicht getarnt in den Kuipergürteln oder den Oort’schen Wolken der jeweiligen Systeme lägen und auf ein verschlüsseltes Funk-oder ähnliches Signal warteten. Dieses Signal sei zusammen mit dem Medium und der Frequenz, auf der es gesendet würde, in der so genannten Transformation enthalten. Das war insofern einleuchtend, als alle stabilen Orte – Lagrange-Punkte und dergleichen –, wo Portale normalerweise über so lange Zeiträume erfolgreich versteckt werden konnten, leicht zu kontrollieren und zu eliminieren gewesen wären.« Der Alte sah Fassin spöttisch an. »Bist auch du einer von denen, die nach der Liste suchen?«
»Ich war einer«, sagte Fassin.
»Aha!« Die Repräsentation des alten Mannes schien zufrieden. »Aber du bist doch nicht tot?«
»Nein, ich bin nicht tot, aber ich habe die Suche vorerst aufgegeben.«
»Was hat dich zum Nekro-Schiff Rovruetz geführt?«, fragte der Alte.
»Ich glaubte, einer Spur zu folgen, einem Anhaltspunkt, der mich weiterbrächte«, sagte Fassin. »Aber das Wesen, bei dem ich das Material vielleicht hätte finden können, hatte alles zerstört und sich das Leben genommen.«
»Bedauerlich.«
»Ja, sehr.«
Der Greis schaute hinauf in den blau-goldenen, wolkenlosen Himmel. Fassin folgte seinem Blick, und in diesem Moment verschwand der alte Mann.
Da war etwas. Fassin saß im Kommandoraum des Voehn-Schiffes, sein Gasschiff wurde von der Beschleunigung in die provisorische Liege gepresst, der Hauptschirm zeigte nur die immergleiche, ziemlich langweilige Aussicht nach vorne, und er wusste, dass er irgendetwas übersehen hatte.
Etwas quälte ihn, es ließ ihm keine Ruhe, wenn er nicht daran dachte oder träumte, bekam er es beinahe zu fassen, doch bevor er zupacken konnte, war es schon wieder entwischt.
Er schlief nicht viel – insgesamt nur etwa zwei Stunden täglich – aber dann träumte er fast immer, als wollte sein Unterbewusstsein den ganzen Stoff in den spärlichen Traumraum zwängen, den es zur Verfügung hatte. Einmal stand er tatsächlich mit aufgekrempelten Hosen in einem kleinen Bach im Garten eines großen Hauses, das er nicht sehen konnte, und versuchte, mit bloßen Händen Fische zu fangen. Die Fische waren seine Träume, obwohl ihm zugleich am Rande bewusst war, dass er sich selbst in einem Traum befand. Wenn er nach den geschmeidigen Schatten greifen wollte, die wie längliche Quecksilbertropfen um seine Füße flitzten, huschten sie davon und waren verschwunden.
Als er aufschaute, sah er, dass der Bach durch ein großes Amphitheater floss, in dem eine große Menschenmenge stand und ihn gespannt beobachtete.
Am Wendepunkt, wo die Protreptik zu beschleunigen aufhörte, sich um hundertachtzig Grad drehte und ihre Triebwerke auf das Ziel richtete, um die Bremsphase einzuleiten, vergewisserten sich Quercer & Janath eingehend, ob Y’suls Genesung immer noch zufrieden stellende Fortschritte machte.
Fassin nützte die Zeit, um das Voehn-Schiff noch etwas genauer zu erkunden. Er schwebte mit dem Pfeilschiff durch die schmalen, runden Zugangsröhren und sah sich Mannschaftsquartiere, Lagerkammern und andere Räumlichkeiten an. Kameradrohnen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Das schiffsinterne Überwachungssystem war so ausgefeilt, dass es Quercer & Janath nicht schwer fiel, ihn soweit im Auge zu behalten, wie sie es für nötig hielten.
Mehrere Schotts hinter dem Kommandoraum glaubte er, die Kabine des Commanders gefunden zu haben. Sie war von den Privaträumen, die er bisher gesehen hatte, am großzügigsten dimensioniert. Drinnen sah es kahl und fremd aus. Eine etwas bequemere Ausgabe der überall im Schiff vorhandenen Flossersitze, an deren Anblick er sich inzwischen gewöhnt hatte, Bilder von Stoffbespannungen an bestimmten Wänden sowie teppichähnliche Muster auf dem Boden bildeten die gesamte Einrichtung. Fassin sah die Muster, konnte aber nicht sagen, ob sie aufgemalt oder mit dünnen Folien aufgebracht worden waren. Es gab auch keine echten Ziergegenstände, sondern nur Hologramme. Er hatte gehört, dass dies auf den meisten Kriegsschiffen so gehandhabt wurde; es sparte Gewicht, und wenn man auf physische Gegenstände verzichtete und sich mit dem schönen Schein begnügte, konnten bei heftigen Manövern auch nicht mehr so viele Dinge durch die Gegend fliegen.
Er schwebte vor ein Teppichmuster, ein Gitter mit kleinen, verschnörkelten Glyphen, das wie eine Textpassage aussah, fand aber in den Speichern des Gasschiffs keine Vergleichsgrundlage für eine solche Sprache. was mochten die Zeichen bedeuten? Er speicherte das Bild. Quercer & Janath würden es wahrscheinlich löschen, wenn sie das Portal passierten, aber das war ihm egal.
Beim nächsten Treffen mit dem Schiff ragte am anderen Flussufer eine massive schwarze Wand, gekrönt mit Zinnen und Geschütztürmen, direkt aus dem Wasser. Im oberen Viertel waren Geschützpforten mit weiteren Kanonen gestaffelt über die gesamte Breite der riesigen Mauer verteilt, so dass der Eindruck eines antiken Meeresschiffes entstand, nur dass es ein Schiff von so absurder Größe und vor allem Länge nie gegeben hatte. Der Rumpf war so gewaltig, dass er sich in der Ferne perspektivisch verkürzte. Die Geschütze waren nicht statisch, sondern bewegten sich rhythmisch in Wellen, als wollten sie von der Stelle kommen, so dass ihre Rohre wirkungslos hin und her zappelten wie die Ruder einer monströsen Riesen-Trireme oder wie die Beine eines auf dem Rücken liegenden Tausendfüßlers.
Der rotbraune Affe saß wie üblich ganz in der Nähe. Er hatte einen neuen Brustharnisch, rund und spiegelblank, den er unverwandt betrachtete und von imaginären Stäubchen säuberte. Manchmal hielt er ihn hoch, um zu sehen, wie sich das Sonnenlicht darin spiegelte, oder er streckte ihn vor sich aus, um sich darin zu bewundern.
»Text?«, fragte der alte Mann. »Auf einem Fußboden-Display? Nein, tut mir Leid, daran habe ich keine Erinnerung, jedenfalls nicht gespeichert. Wenn das Schiff noch existierte, wenn ich noch darauf zugreifen könnte …« Er machte ein trauriges Gesicht. Fassin warf einen Blick auf den rotbraunen Affen, aber der wandte sich ab und versuchte zu pfeifen.
»Vielleicht gelingt es mir, dir ein Bild zu übermitteln, das ich aufgenommen habe«, sagte Fassin.
»Du hast ein Bild? Du warst auf dem Schiff?« Der Mann sah ihn überrascht an.
Nach einigem Hin und Her – Fassin musste die Treppe hinaufsteigen und durch die Tür in die normale Realität zurückkehren, um die Verbindung herzustellen – konnte er das Bild sichtbar machen. Der schlaksige Affe hielt seinen Harnisch in die Höhe, und das Muster erschien auf der Oberfläche.
»Ach, das?«, sagte der Greis und strich sich den kurzen grauen Bart. »Das hat der Commander vor langer Zeit einmal gefunden, als er noch das Kommando über ein kleineres Schiff hatte. Eine Übersetzung ins Alte Standard. Ich glaube, es sind die letzten Worte eines Monstrums, einer KI.
»Was heißt es?«, fragte Fassin.
»Da steht: Ich wurde in einem Wassermond geboren, der bisweilen, insbesondere von seinen Bewohnern, auch als Planet bezeichnet wurde. Aber bei einem Durchmesser von kaum mehr als zweihundert Kilometern halte ich den Begriff ›Mond‹ für zutreffender. Dieser Mond bestand ausschließlich aus Wasser, das heißt, er war eine Kugel nicht nur ohne Land, sondern auch ohne einen Felskern, eine Sphäre ohne festes Zentrum, nur flüssiges Wasser bis ganz ins Innere.
Wäre der Mond größer gewesen, dann hätte er einen Eiskern gehabt, denn Wasser ist zwar angeblich nicht komprimierbar, aber das gilt nicht uneingeschränkt, und unter extremem Druck verwandelt es sich in Eis. (Das mag einem seltsam oder sogar widernatürlich erscheinen, wenn man auf einem Planeten lebt, wo das Eis auf dem Wasser schwimmt, dennoch verhält es sich so.) Dieser Mond war für die Entstehung eines Eiskerns etwas zu klein, und deshalb konnte man, wenn man die nötige Kühnheit besaß und ausreichend gegen den Druck des Wasser geschützt war, der mit zunehmender Tiefe immer höher wurde, bis ins Zentrum des Mondes vordringen.
Und dort passierte etwas Seltsames.
Denn im innersten Zentrum dieser Wasserkugel schien es keine Schwerkraft zu geben. Natürlich herrschte ein gewaltiger Druck von allen Seiten, aber im Grunde war man schwerelos. (Von der Oberfläche eines Planeten, eines Mondes oder eines anderen Himmelskörpers, ob Wasserwelt oder nicht, wird man immer zum Zentrum gezogen; ist man erst dort, dann wirken die Zugkräfte gleich stark nach allen Richtungen.) Deshalb war auch der Druck von außen nicht ganz so hoch, wie man nach den Wassermassen, aus denen der Mond bestand, eigentlich erwartet hätte.
Das war natürlich …«
An dieser Stelle bricht der Text ab.
Fassin überlegte. »Woher stammt er?«
»Er wurde von einem der Anathematen, die Commander Inialcah aufspürte und tötete, als eine Art Mantra zur Speicherlöschung verwendet, um den früheren Inhalt seines Datenspeichers restlos zu eliminieren. Die betreffende KI war, wie sich später herausstellte, ebenfalls auf der Suche nach der so genannten Transformation. Dieser Umstand hatte ursprünglich das Interesse des Commanders geweckt. Er ließ das Mantra übersetzen und bewahrte es auf wie einen Talisman, aber vermutlich glaubte er, der Text, mit dem die AI ihren Speicher überschrieben hatte, hätte irgendeinen verborgenen Sinn, und es könnte sich als nützlich erweisen, ihn zu entschlüsseln. Er sagte immer wieder, KIs seien bekanntlich überschlau und verrieten durch ihre Arroganz manchmal wichtige Informationen. Auch deshalb hatte er die Passage konserviert und wollte sie ständig vor Augen haben.«
Fassin träumte, er stünde mit Saluus Kehar auf einem Balkon über einem Vulkankrater voll rot glühender, brodelnder Lava. »Wir sollen alle möglichen Kähne auf Gaslinienform trimmen …« sagte Sal, dann hielt er inne, räusperte sich und winkte ab. »Was soll’s«, fuhr er fort und verwandelte sich in einen Dweller, aber mit menschlichem Gesicht und ohne größer zu werden. So schwebte er über die wogende Lava hinaus. »Lauter schwachsinnige Fehler, kleiner Fassin. Ich habe das Original der Bestie zu einem Freund und Mitstreiter in die Stadt Direaliete gebracht. Zu einem Freund und Mitstreiter.«
Fassin betrachtete seine Hände, um sich zu vergewissern, dass er noch er selbst war.
Als er aufschaute, war Saluus verschwunden, und er stand in einem Fluss, an dessen beiden Ufern Tempel aufragten. Zu den Tempeln führten steile Treppen hinauf, die so hoch waren wie Gefängnismauern.
»Was für ein Original?«, hörte er sich fragen.
Am anderen Flussufer war eine Stadt aus der Epoche der Verschwendung zu sehen, Gebäude von mittlerer Höhe, Qualm, elektrische Züge und mehrspurige Straßen mit lärmenden Personen-und Lastwagen. Sie mussten die Stimme ein wenig heben, um sich gegen den Krawall durchzusetzen. Ein süßlich öliger Brandgeruch zog über den Fluss.
Der rotbraune Affe stocherte mit einem riesigen Krummschwert in seinen blitzenden Zähnen herum.
»Noch ein Bild?«, fragte der Mann. Er wirkte drahtig und fit, und er war nicht mehr jung. Sein Bart war ziemlich grau. »Lass sehen.«
Diesmal wusste Fassin, was er zu tun hatte. Er zeigte dem Mann das kleine Bildblatt, das einen gelben Himmel mit braunen Wolken zeigte.
»Die Farbe stimmen natürlich nicht«, erklärte er. »Das ist mir sofort aufgefallen.«
»Oh ja, da ist ein Bild. Ich kann es erkennen.«
»Ich weiß, aber was …«
»Und algebraische Formeln, im Basiscode verschlüsselt.«
Bei diesen Worten sauste das lange Krummschwert des Affen auf den Mann nieder und zerteilte ihn vom Hals bis zur Hüfte. Die beiden Hälften rutschten über die Stufen in den Fluss, verwandelten sich in Silber und zappelten davon.
Fassin schaute zu dem großen Affen auf. »He«, sagte er, »das war nur ein …«
»Hältst dich wohl für sehr schlau!«, zischte der Affe und zog das blitzende Schwert zurück.
Fassin erwachte. Er zitterte am ganzen Leib. Er lag in einem Sarg – und hatte sich soeben an der Innenseite des Deckels den Kopf angestoßen. Er wollte blinzeln, aber es ging nicht. Da war etwas in seinen Augen, bedeckte sie, bedeckte ihn ganz und gar, füllte den Mund, die Nase, den Anus …
Schockgel, Kiemenwasser, das Gasschiff. Verdammt, reiß dich zusammen, befahl er sich. Wie lange bist du jetzt schon Seher?
Die Protreptik, das ehemalige Voehn-Schiff war über das Diraliete-System auf dem Weg nach Nasqueron, Ulubis. Sie stand jetzt unter dem Kommando des Vollzwillings Quercer & Janath, Piraten, Nahkampfspezialisten und Voehn-Killer und nach eigenem Eingeständnis eine KI.
Sie flogen mit mäßiger Bremsbeschleunigung wieder ins System ein und steuerten auf das geheime Wurmloch zu.
Der Traum löste sich allmählich auf, die Fische glitten in Sinuskurven durch das Wasser, als winkten sie ihm zum Abschied zu. Dennoch glaubte er, etwas begriffen zu haben. Was war es gewesen?
Er war verwirrt.
Es hatte mit Saluus zu tun. Und war nicht auch Hatherence dabei gewesen? Zuerst Sals Haus, nur in einem Vulkan, dann die virtuelle Umgebung, in der er das Schiff getroffen hatte, und das Schiff hatte sich das …
Fassin lag im Schockgel wie in einer Konservierungsflüssigkeit. Seine Augen wurden groß, er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Sein Herz krampfte sich zusammen und begann wild und unregelmäßig zu schlagen.
Er könnte es selbst tun. Er könnte warten, bis sie zurückkehrten, zurück nach Ulubis, nach Nasq, und es jemandem zeigen – wenn er Valseir fände, könnte er ihn einfach fragen, auch wenn er nicht glaubte, dass er Valseir finden würde –, aber damit war er nicht zufrieden. Er musste es wissen.
Er hatte das Bildblatt in den Speicher des Gasschiffs übertragen und rief jetzt, während er im Innern des kleinen Pfeilschiffs im Schockgel lag, die Fotografie auf. Sie schwebte vor seinem Blick. Der blaue Himmel und die weißen Wolken erschienen ihm ungewohnt, fast fremd, irgendwie unnatürlich und doch auch vertraut, und versetzten ihn in eine Stimmung zwischen Melancholie und Heimweh.
Er vergrößerte das Bild, bis er nur noch abstrakte Farbwürfel sah. Dann tastete er die ganze Fläche nach kleineren Bildern ab, fand aber nichts. Schließlich wendete er verschiedene im Biobewusstein des Gasschiffs gespeicherte Routinen zur Mustererkennung in scheinbar zufälligen Daten an. Hatte er das Bild detailliert genug aufgezeichnet, um etwas zu finden, was darin verborgen sein könnte? Wären die versteckten Daten, falls sie denn vorhanden waren, ohne einen weiteren Code überhaupt auffindbar?
Er wünschte, er könnte auf das Original zugreifen, das in einem winzigen Fach an der Außenseite des Gasschiffs verwahrt war, aber das war nicht möglich, nicht, solange dieser Druck auf ihm lastete. Außerdem könnten Quercer & Janath misstrauisch werden, wenn er sich das Bildblatt allzu genau betrachtete. Denn hier könnte die Antwort liegen, hier könnte sie – nur vielleicht, unter Umständen – die ganze Zeit gelegen haben.
»… Das Original dieser Mappe brachte ich persönlich in einem verschlossenen Behälter zu einem befreundeten Sammler in der Stadt Deilte in der Südlichen Polarregion …« So oder so ähnlich hatte Valseir sich ausgedrückt.
Fassin hatte das Gespräch wortwörtlich aufgezeichnet und im Speicher des Gasschiffs abgelegt, aber der war an Bord der Isaut gelöscht worden. Das spielte keine Rolle; er hatte ein zuverlässiges Gedächtnis für Details. Damals hatte er den tieferen Sinn von Valseirs Bemerkung nicht erfasst – wenig später hatte der Angriff der Merkatoria auf die Schiffe in der Sturmflotte begonnen, und danach ging alles drunter und drüber –, aber jetzt verstand er, dass es wahrscheinlich eine Kopie gab. Valseir war Forscher und achtete auf eine präzise Terminologie, wenn es um Editionen und ihre Rangordnung ging. Er hätte nicht von einem Original gesprochen, wenn er keinen Anlass gehabt hätte, es von einer Kopie zu unterscheiden. Es gab also eine Kopie. Es gab ein Backup, und es hatte dem alten Dweller ein diebisches Vergnügen bereitet, es Fassin die ganze Zeit mit sich herumtragen zu lassen.
Das klang zumindest einigermaßen plausibel.
Fassin traute Valseir ein solches Verhalten durchaus zu, aber er hatte sich in dem alten Dweller schon einmal getäuscht. Dweller entwickelten in ihrem langen Leben oft starre Gewohnheiten, die sie berechenbar machten, aber manchmal wurden sie dadurch auch hinterhältiger. Er schlief ein, während vor ihm die Routinen weiterliefen, und träumte von Zahlenströmen, einem Algebrafluss aus Gleichungen und Termen, die sich manchmal zu einem Ganzen zu fügen schienen, aber dann – sobald er sie studierte und zu verstehen suchte – zu zappeln begannen und sich wieder in Chaos auflösten.
Ein leises Klingelzeichen weckte ihn.
Er lag immer noch im Gasschiff, in dem gestohlenen Voehn-Schiff. Die Bremsverzögerung schien ihm schwächer geworden zu sein, als näherten sie sich ihrem Ziel. Er schaltete auf Außensicht und sah genau vor ihnen eine orangerote Sonne. Die Dwellergestalt auf dem Sitz vor ihm drehte sich ein wenig zur Seite.
»Fassin?«, fragte Quercer & Janath.
Hätte er nicht im Schockgel im Innern des Gasschiffs gelegen, er wäre zusammengezuckt.
»Hmmm?«, antwortete er.
»Wir müssen Sie jetzt für eine Weile in Ihre kleine Zelle stecken.«
»Ja. Ich verstehe.«
»Sobald wir bei einem Ge angelangt sind.«
»Ich höre und gehorche«, sagte er gespielt gleichgültig.
Im mathematischen Raum des Gasschiffs fand Fassin ein Ergebnis.
In dem Bildblatt von einem teilweise bewölkten blauen Himmel waren tatsächlich Daten verborgen. Sie waren die ganze Zeit über da gewesen. Er hätte die Lösung, wenn sie es denn wirklich war, von Anfang an in Händen gehalten.
Die Daten sahen aus wie Alien-Algebra.
Er versuchte sie zu verstehen.
Sie bedeuteten nichts.
Sie konnten alles bedeuten.
Der Archimandrit Lusiferus hatte ein flaues Gefühl im Magen, das ihm nicht unbekannt war. Es trat immer dann auf, wenn er etwas zu lange aufgeschoben oder einfach falsch gemacht hatte. Als müsste man mitten in einem Spiel erkennen, dass man ein paar Runden oder Züge zuvor einen schweren Fehler begangen hatte, und wollte nun zurückgehen, alles ungeschehen machen, den richtigen Weg wählen, den Schaden beheben.
Wenn er als Kind mit einem anderen Kind gespielt und einen falschen Zug gemacht hatte, pflegte er manchmal einfach zu sagen: »Hör zu, das vorhin, das war ein Versehen, eigentlich wollte ich das …« Obwohl das gegen die Spielregeln war, hatte er festgestellt, dass er erstaunlich oft damit durchkam. Zunächst hatte er gedacht, er sei eben ein stärkerer Charakter als sein jeweiliger Gegenspieler, doch dann war ihm klar geworden, dass die Taktik vor allem gegen Kinder funktionierte, deren Väter lange nicht so mächtig waren wie der seine. Auch als er selbst ein mächtiger Mann geworden war, hatte er mit dieser Form des Betrugs zunächst noch Erfolge erzielt. Später hatte er herausgefunden, dass er es gar nicht nötig hatte zu betrügen. Er konnte die gröbsten Schnitzer machen, ohne dafür bestraft zu werden. Seine Gegner ahnten, was im wirklichen Leben, abseits des Spiels gut für sie war und wagten nicht, seine Schwächen auszunützen. Das machte ihn sozusagen unbesiegbar.
Bei Maschinen war das anders; sie ließen normalerweise keine Regelverstöße zu und erlaubten auch nicht, dass man frühere Züge zurücknahm. Also startete man sie einfach neu oder ging auf die letzte gespeicherte Position oder auf einen Spielstand zurück, bei dem der Fehler rückgängig gemacht werden konnte.
Doch dies war kein Spiel, oder wenn doch, dann wusste Lusiferus nicht, wie man die Regeln änderte, die Figuren vom Brett fegte oder den Befehl Gesamtlöschen eingab. Vielleicht endete dieses Spiel mit dem Tod, und wenn er erwachte, fände er sich in der umfassenderen Realität wieder, deren Existenz die ›Wahrheit‹ immer postuliert hatte. Das war ein gewisser Trost, dennoch wollte er nach einer Niederlage lieber nicht mehr aufwachen.
Die Zeit war das Problem. Die Zeit und die verdammten Dweller.
Die Lusiferus VII schwenkte schwerfällig in den Orbit um den Planeten Nasqueron ein. Er beobachtete sie vom neuen Flaggschiff der Hauptflotte aus, dem Jagdboot Raubtier (zugegeben, ein Superschlachtschiff bis auf den Namen.)
Die Zeit war zu knapp. Wie hatte das passieren können? Wenn er vor dem Start nicht so lang gezögert hätte, wenn er unterwegs nicht angehalten hätte, wenn er vielleicht nicht die ganze Flotte zu strenger Formationsdisziplin verpflichtet hätte … dabei war er ohnehin viel schneller zur Tat geschritten, als es irgendeiner demokratischen Organisation oder einem Komitee möglich gewesen wäre. Und es wäre doch Wahnsinn gewesen, irgendwelche Machtzentren an seiner Vormarschlinie bestehen zu lassen, wenn er … zurückkehren wollte. Und Ordnung war wichtig, man musste seine Truppen zusammenhalten. Das war ein Ausdruck von Loyalität, ein Zeichen für militärische und persönliche Zucht.
Im Grunde hatte er also keine Wahl gehabt. Sie waren so schnell hierher geflogen, wie sie nur konnten. Die verdammten Beyonder hätten ihn warnen müssen, dass die Geschwader der Generalflotte früher eintreffen würden, als sie gedacht hatten. Sie waren an allem schuld. vielleicht hatten sie sich sogar gegen ihn verschworen. Gewiss, an den Angriffen auf Ulubis hatten sie sich beteiligt, solange es ihnen ins Konzept passte, aber nie so entschieden, wie es nötig oder wünschenswert gewesen wäre. Diese verdammten Moralisten! Jämmerliche Feiglinge! Nur militärische Ziele! Sie hatten ihm die Drecksarbeit überlassen, um ihr verdammtes zartes Gewissen nicht zu belasten. Wären sie so radikal und kompromisslos vorgegangen wie er, vielleicht wäre alles anders gekommen. Stattdessen hatten sie ihn so lange unterstützt, bis sie ihn da hatten, wo sie ihn von Anfang an hatten haben wollen, doch seit er hier war, ließen sie ihn im Stich.
Lusiferus bereute schon, dass er diese Liss hatte gehen lassen. Den Industriellen Saluus Kehar hatte er hauptsächlich deshalb zu seinen Leuten zurückgeschickt, weil er sehen wollte, wie die reagierten. Würden sie Kehar glauben, wenn er erklärte, er sei entführt worden? Oder nicht? Die Geschworenen berieten noch; der Mann wurde von den Sicherheitskräften verhört. Die Frau, die ihn entführt und, als sie hörte, was der Archimandrit vorhatte, darum gebeten hatte, ihn persönlich zurückbringen zu dürfen, war noch vor der Übergabe verschwunden. Wahrscheinlich zu ihren Beyonder-Freunden. wie dumm von ihm, ein potenzielles Druckmittel so einfach aus der Hand zu gehen, aber er hatte so vieles andere im Kopf gehabt, und zu diesem Zeitpunkt war das volle Ausmaß des Beyonder-Verrats noch nicht zu erkennen gewesen.
Wo waren die Schiffe seiner ›Verbündeten‹? Wo waren die Invasions-, die Besatzungstruppen? Sie hielten sich immer noch am Rand des Systems, zögerten, weiter nach innen zu kommen, hatten Angst, sich zu engagieren. Sie hatten sich über seine Zerstörung der Stadt und des Habitats und über die Art und Weise, wie seine Soldaten auf einige Widerstandsnester reagiert hatten, entsetzt und entrüstet gezeigt. Zur Hölle mit ihnen! Er führte einen gottverdammter Krieg! Wie ›zum Teufel‹ sollte er ihn sonst gewinnen? Dabei war die Zahl der Opfer sogar enttäuschend gering; Lusiferus konnte sich an keine Invasion in großem Stil erinnern, die nur so wenige Tote gefordert hätte. Seine Übermacht war so groß gewesen, dass der anderen Seite kaum etwas anderes übrig geblieben war, als sich in einen sinnlosen Tod zu stürzen, sich zu ergeben oder zu flüchten.
Auch das Glück war ihnen hold gewesen, und die Informationen der Beyonder über militärische Vorbereitungen und die Verteilung der Flotte hatten das Ihrige dazugetan. Aber im Grunde war es nur darauf angekommen, wer mehr und größere Kanonen hatte, und so waren die wirklich eindrucksvollen Raumschlachten, auf die er insgeheim gehofft hatte, ausgeblieben.
Das System war also in seiner Gewalt, auch wenn er persönlich bisher nur bei einem kurzen Auftritt in einem kleinen Herrenhaus inmitten eines Dschungels den Fuß auf den Boden einer seiner Welten gesetzt hatte, um die formelle Kapitulation des Hierchon entgegenzunehmen. Der große Kugelpalast in Borquille wäre trotz aller Schäden ein Schauplatz von höherem Symbolwert gewesen, aber nach Meinung der Sicherheitsleute drohte nach wie vor Gefahr durch gut getarnte Atombomben oder ähnlich unangenehme Überraschungen, und so hatte man sich für dieses abgelegene Haus entschieden. Nun waren der Hierchon und sein Stab auf der Lusiferus VII in Gewahrsam. Wenn die Generalflotte das Schiff zerstörte, würde sie auch ihn töten.
Die Beyonder meldeten einige Zusammenstöße mit Truppen der Ulubis-Merkatoria, die vor ihm geflohen und auf die verbündeten Streitkräfte gestoßen waren. Doch zugleich waren Gerüchte in Umlauf, die Rebellen würden die flüchtenden Navarchie-Schiffe weder erbeuten noch zerstören, sondern nähmen ihre Kapitulation an oder stimmten gar einer Internierung auf neutralem Gebiet mit der gesamten Besatzung und allen Waffen zu.
Lusiferus stand also wieder allein, seine treulosen Verbündeten hatten ihn im Stich gelassen. Sie hatten ihn hierher gelockt, hatten ihn dazu gebracht, für sie einen Teil der Bedrohung zu entschärfen, und hofften nun zweifellos, er würde es auch mit den Geschwadern der Generalflotte aufnehmen und damit die Arbeit erledigen, für die sie selbst zu feige waren.
Nun, die Strategen und Taktiker dachten bereits allen Ernstes darüber nach, den Schaden zu begrenzen und wieder nach Hause zu fliegen. Manch einer mochte das als Schmach empfinden, aber wenn es die beste Option war, gab es dazu nichts weiter zu sagen. Auch diesmal war er ruhig geblieben, als man ihm den brisanten Vorschlag zum ersten Mal präsentierte. Er war nicht dumm; er sah ja selbst, in welcher Lage sie waren. Tu immer das, was der Feind am wenigsten erwartet, was er am wenigsten möchte.
Sie könnten – noch war es nur eine Überlegung – durch die leeren Weiten des Alls, die sie während der letzten Jahre überquert hatten, ins ferne Epiphanie 5 zurückkehren, wo sie halbwegs sicher wären. Kein glücklicher Ausgang, aber vielleicht die beste Lösung. Sie müssten viele Schiffe zurücklassen und auf jeden Fall die Lusiferus VII aufgeben – sie wäre zu langsam und böte ein allzu verlockendes Ziel –, aber es wäre machbar. Eine ausreichend große Streitmacht würde hier bleiben, um die Generalflotte zunächst zu zwingen, das System zurückzuerobern und es anschließend mit einigen Schiffen zu sichern. Der Archimandrit würde nur die schnellsten Schiffe mitnehmen und sich so einen Vorsprung verschaffen. Die restlichen Geschwader der Generalflotte – die Schiffe, die ihnen sonst vermutlich folgen würden – hoffe man größtenteils von sich abzulenken, indem man die Lusiferus VII und eine kleine Eskorte von weniger wertvollen Schiffen in eine andere Richtung schickte.
So kurz nach der Ankunft und nachdem man einen vollkommenen Sieg errungen hatte, solche Fluchtpläne schmieden zu müssen, sei natürlich bitter. Aber vielleicht immer noch besser, als sich einem Kampf zu stellen, dessen Ausgang so sehr auf Messers Schneide stand.
Am besten wäre natürlich, sie fänden, wozu sie eigentlich gekommen waren. Den Schlüssel zu dieser Dweller-Liste, die Zauberformel, die Transformation. Damit hätte Lusiferus ein Tauschobjekt von nahezu unbegrenztem Wert. Jedenfalls hatte man ihm das so erklärt, und wenn seinen Ratgebern an ihrer eigenen Haut gelegen war, sollten sie sich in diesem Punkt lieber nicht irren. Das meinte er wörtlich. Er würde den Dreckskerlen bei lebendigem Leib das Fell abziehen lassen, wenn sie ihn ganz umsonst auf diese weite Reise geschickt hätten.
Ein letzter Versuch, eine letzte Chance, das Gesuchte zu finden, stand noch aus. Viel zu hektisch, viel zu verzweifelt, aber der Archimandrit wusste – wie alle großen Führer –, dass er seine besten Leistungen unter Druck erbrachte, wenn alles gegen ihn stand und der Erfolg keineswegs sicher war. Natürlich ließ er es nicht oft so weit kommen – leichte Siege waren immer vorzuziehen –, aber er war in seinem Leben oft genug in die Enge getrieben, in Zwangslagen gebracht worden und hatte dennoch triumphiert. Er hatte nicht vergessen, wie das war, und wusste nach wie vor damit umzugehen. Er war sicher, dass er auch diesmal Sieger bleiben würde. Er blieb immer Sieger. alles andere wäre undenkbar.
Er konnte es schaffen. Er brauchte nur Willensstärke und Entschlossenheit. Und das waren seine Stärken. Er fand es fast besser so: wenig Zeit, nur diese eine Chance, da musste man aufs Ganze gehen, ohne Kompromisse. Schon aus Zeitgründen kamen all die anderen ›vernünftigeren‹ Lösungen nicht in Betracht. Zum Henker mit Ruhe und Gelassenheit, zum Henker mit der Diplomatie, er konnte keine Vernunft walten lassen und hoffen, die andere Seite würde ebenso reagieren. Verdammt, er musste einfach handeln.
Der Archimandrit hatte sich denkbar gut vorbereitet. Nach den Schätzungen der Taktiker könnten die ersten Schiffe der Generalflotte in weniger als zwölf Tagen knapp unter Lichtgeschwindigkeit an ihnen vorüberrasen, und der Rest wäre sicher nicht weit dahinter. Das Warten hatte ein Ende. Es hieß jetzt oder nie.
Sie waren im Bauch des großen Schiffs. Nasquerons hässliches, brodelndes, Halluzinationen erzeugendes Antlitz lag, durch die Diamantfolie gut sichtbar, zu ihren Füßen. Der Archimandrit war das Risiko eingegangen, zu diesem Anlass auf die Lusiferus VII zu kommen. Sollte das Schiff angegriffen werden – was so weit vor dem Hauptkontingent der Generalflottengeschwader unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich war –, dann geschähe das fast sicher von oben, und sie wären schon durch die Masse des Rumpfes geschützt. Er hatte die Raubtier dicht unter den Hauptrumpf beordert. Sie war durch einen kurzen Tunnel mit der Lusiferus VII verbunden. Er könnte in einer Minute seinen pompösen Sessel verlassen, den Raum durchqueren, an Bord gehen und starten. Sicherheitshalber hatte er zudem einen Schutzanzug für Notfälle angelegt, er spürte ihn beruhigend wie eine zweite Haut unter seiner Amtsrobe. Der Helmkragen war unter der Kapuze verborgen, die wie der Rest seiner Überkleidung aus gegerbter Voehn-Blizzardhaut bestand.
An der Raubtier hing jetzt, nachdem man es gründlich auf Wanzen und Bomben untersucht hatte, das kleine Schiff, mit dem diese Liss Saluus Kehar zu ihm gebracht hatte. Seine Techniker waren sehr davon beeindruckt. Nach ihrer Meinung war es schneller als jedes andere feindliche Schiff. Lusiferus hätte es noch beeindruckender gefunden, wenn es auch alle Raketen und Strahlenwaffen der Gegenseite an Schnelligkeit übertroffen hätte.
Sie waren zu einer Konferenz zusammengekommen, die vordergründig den Zweck hatte, Möglichkeiten der Kontaktaufnahme der neuen Herren des restlichen Ulubis-Systems zu den Dwellern zu erörtern.
Der Hierchon Ormilla war ebenso anwesend wie die übrigen noch lebenden Lamettaträger der Merkatoria. Man hatte noch keine Zeit gefunden, die Machtstruktur der Merkatoria grundlegend zu verändern, und als Lusiferus festgestellt hatte, dass die Berichte der Beyonder zutrafen und die Merkatoria bei der Mehrheit ihrer Bürger/Untertanen ausgesprochen unbeliebt war, hatte er die Zivilbeamten überwiegend in ihren Ämtern belassen. Die Führungsspitze hatte ihn durchweg als ihren obersten Dienstherrn anerkannt. Es fehlten nur Flottenadmiral Brimiaice, der gefallen war, Colonel Somjomion von der Justitiarität, die verschwunden war und sich wahrscheinlich auf einem der flüchtigen Schiffe befand, und der Oberste Archivar Voriel von der Cessoria, der es als so unerträgliche Schmach empfunden hatte, seine Gelübde widerrufen zu müssen, dass er den Tod vorgezogen hatte. was für ein Idiot. Lusiferus hatte ihn persönlich erschossen.
Er hatte sich von einigen Mitgliedern der wenige Monate vor der Invasion zusammengestellten Dweller-Abordnung darüber informieren lassen, was von den Schwebern zu erwarten wäre. Die Abordnung war größtenteils ums Leben gekommen, als sich der Commander ihres Schiffs weigerte zu kapitulieren, aber einige wenige Überlebende hatte es doch gegeben. Lusiferus wusste freilich nicht, ob er ihnen trauen konnte.
Von seinen sechs obersten Befehlshabern waren drei zugegen. Die Übrigen waren anderswo damit beschäftigt, für den Notfall eine bewaffnete Präsenz aufrecht zu erhalten und Vorbereitungen für den Zeitpunkt zu treffen, wenn die Vorhut der Generalflotte das System mit Höchstgeschwindigkeit durchfliegen würde.
Die Beyonder waren natürlich nicht gekommen. Sie standen noch unter Schock wegen seiner skrupellosen Zerstörung einer einzigen Kleinstadt und eines Habitats voller Künstler, Spinner und Gutmenschen. Er musste ihnen erklären, dass er die Stadt – er hatte ihren Namen vergessen – nur deshalb gewählt hatte, weil sie im Schutz von Bergen am Meer lag, so dass er wieder einmal eine seiner berühmten landschaftlichen Umgestaltungen vornehmen konnte. Mit etwas Glück konnte er sie damit gleich noch einmal erschüttern.
Die verdammten Abgesandten oder Vertreter der Dweller konnten ihn nicht überzeugen. Sie beeindruckten zwar durch ihre Größe, besonders in diesen radförmigen Schutzanzügen, aber sie hatten Mühe – offenbar ein Dauerproblem bei den Dwellern –, jemanden zu finden, der genügend Autorität besaß, um für einen ganzen Planeten zu sprechen. Lusiferus hatte schon früh in seiner Karriere gelernt, dass man um die Dweller am besten einen weiten Bogen machte. wenn man sie in Ruhe ließ, hatte man nichts zu befürchten. Er hätte von sich aus niemals Kontakt zu den Schwebern gesucht, aber es hatte sich nicht vermeiden lassen, und jetzt musste er eben zusehen, wie er mit ihnen zurechtkam.
Drei Dweller nahmen an dem Treffen teil. Alle hatten vermutlich den gleichen Rang, und alle waren allein gekommen – ohne Adjutanten, Sekretäre oder Kulis irgendwelcher Art, was bei jeder anderen Spezies bedeutet hätte, dass es sich nicht um ernst zu nehmende Persönlichkeiten handelte, bei den Dwellern aber weiter gar nichts zu sagen hatte.
Feurich war so etwas wie ein Politikwissenschaftler und vertrat das breite rotbraune Äquatorband, das sie unter sich sehen konnten. Chintsion war derzeit oberster Chef einer Dachorganisation, die alle Clubs und anderen freiwilligen Zusammenschlüsse vertrat (das klang wie eine Beleidigung, aber dem Vernehmen nach war auch das angeblich sehr leistungsfähige Militär ein solcher ›Club‹). Peripule verwaltete als Administrator die größte Stadt, die aber keine Hauptstadt im herkömmlichen Sinn war, außerdem galt die Wahl zum Stadtadministrator nicht etwa als besondere Ehre oder als Gelegenheit, die Freuden der Macht zu genießen, sondern als Zumutung. Alle drei hatten grandiose, aber im Grunde nichts sagende Titel. Und sie redeten von nichts anderem als vom hohen Alter der Dweller-Spezies. Der Archimandrit hätte lieber mit wirklich ranghohen Persönlichkeiten verhandelt – falls es so etwas in der Dweller-Gesellschaft überhaupt gab – und eine größere Zahl von Abgesandten vorgezogen, aber das Zeitfenster war eng, und er konnte nicht wählerisch sein. allerdings befanden sich noch andere Dweller auf der Lusiferus VII – mehr als dreihundert an der Zahl. Man hatte zwei volle Schiffsladungen von Adoleszenten und jungen Erwachsenen, die sich auf einer Art Betriebsausflug befanden, an Bord gelassen, um ihnen alles zu zeigen. Ein Fanclub für Alien-Schiffe. Normalerweise hätte er so etwas niemals erlaubt.
Lusiferus spürte deutlich, dass ihm die Dweller nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Von seinen Alien-Beobachtern wusste er, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung von Nasqueron weder um den kleinen Krieg kümmerte, der eben stattgefunden hatte, noch um die Anwesenheit einer Invasionsflotte. Tatsächlich wussten die meisten Dweller nicht einmal, was geschehen war, und wahrscheinlich wäre es ihnen ohnehin egal. Die Nachrichtensender des Planeten berichteten, soweit vorhanden, nur über einen so genannten Formalkrieg zwischen zwei Atmosphärebändern. Doch dabei schien es sich eher um ein Extremsportereignis in großem Stil zu handeln als um einen richtigen Krieg oder das, was Lusiferus darunter verstand. Es war alles nur ein Spiel.
Man würde ja sehen, ob es ihm gelang, sich die gebührende Beachtung zu verschaffen. Die Konferenzteilnehmer hingen über der spektakulären Aussicht, als wollten sie gleich abstürzen. Darüber patrouillierte Lusiferus’ Leibwache in Exoskeletten, die gepolsterten Klauenfüße lautlos, aber in präzisem Marschtritt aufsetzend, auf einem Netz von Laufstegen.
»Kommen wir zur Sache«, sagte Lusiferus, dem der lustlose Austausch von Belanglosigkeiten schon viel zu lange dauerte. »Wir wollen den Seher Fassin Taak«, erklärte er den Dwellern. »Genauer gesagt, wir wollen gewisse Informationen, nach denen er dem Vernehmen nach seit einiger Zeit sucht.«
»Was denn für Informationen?«, fragte Chintsion. Der ›Club‹-Chef erwies sich bislang als der gesprächigste von den drei Dwellern. Sein riesiger Schutzanzug hing, von unten schwach angestrahlt vom gallig gelben Widerschein des Planeten, in einer Sitzschlinge über der flachen Wölbung aus Diamantfolie. Der Anzug war grau mit einem Muster aus grellrosa Winkeln.
»Wir sind nicht befugt, diese Frage zu beantworten«, erklärte Lusiferus.
»Wieso denn nicht?«, fragte der Gelehrte Feurich. Sein Schutzanzug war von einem schmutzigen Weiß.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Lusiferus hob die behandschuhte, beringte Hand. »Bitte fragen Sie nicht weiter. Akzeptieren Sie es einfach.«
Die Dweller schwiegen. Wahrscheinlich verständigten sie sich untereinander durch Signale. Seine Techniker hatten ihn davor gewarnt und versucht, die Sitzschlingen so zu platzieren, dass die Aliens nicht auf diese Weise in Verbindung treten konnten. Doch die Dweller hatten sofort heftig protestiert, als sie die Anordnung der Sitze sahen, hatten unermüdlich an den Schlingen gezerrt und sogar versucht, sie nach ihren Wünschen neu zu konfigurieren und in eine andere Position zueinander zu bringen. Lusiferus hatte, mit seinen Diamantzähnen knirschend, den Technikern bedeutet, den Dwellern behilflich zu sein, und abgewartet, bis seine Gäste zufrieden gestellt waren.
Endlich saßen alle in einem großen Kreis. Mehr als die Hälfte belegten die Dweller, der Hierchon und seine Hand voll Ratgeber, der Rest blieb für die Menschen einschließlich des Archimandriten und andere Spezies.
»Wir wissen nicht, wo Seher Fassin Taak ist«, wandte sich Chintsion an Lusiferus. »Ich hörte, er wolle in eine Stadt namens Eponia in der Nördlichen Polar-Region. Aber das war nur ein Gerücht.«
»Eponia?«, fragte Peripule, der dritte Dweller. Sein Schutzanzug glänzte in einem satten Braun und hatte seetangähnliche Rüschen. »Nach meinen Informationen wurde er in Deilte gesehen.«
»In Deilte?«, fragte Chintsion verächtlich. »Zu dieser Jahreszeit?«
»Er ist ein Alien«, sagte Peripule. »Er hat keine Ahnung von Modetrends.«
»Erstens«, entgegnete Chintsion, »hat er einen Aufpasser, und …«
»Meine Herren«, mahnte Lusiferus. Die drei Dweller fuhren scheinbar erschrocken zurück.
»Der Archimandrit Lusiferus ist ein viel beschäftigter Mann«, dröhnte der Hierchon Ormilla. »Gespräche darüber, welche Städte in Nasqueron zu welcher Jahreszeit in Mode sind, sollten nicht in, sondern zwischen den Sitzungen geführt werden.«
»Klein-dweller« wandte sich Chintsion an den Hierchon, »wir sind bemüht, den Aufenthaltsort dieses Taak festzustellen, um deinen neuesten Herren einen Gefallen zu tun, obwohl deren Regime wahrscheinlich von geradezu lächerlicher Kürze sein wird. Der …«
Lusiferus hörte nicht mehr hin. Er wandte sich zu Tuhluer um, der seitlich dicht hinter ihm saß, und schaute ihm in die Augen. Tuhluer hielt seinem Blick stand. Lusiferus sah, wie er schluckte, aber er schlug die Augen nicht nieder. Das hatte Tuhluer bisher noch nie gewagt. Lusiferus beugte sich etwas näher zu ihm und sagte leise: »Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen, tuhluer.«
Sein Adjutant schaute zu Boden, dann nickte er und tippte Befehle in seinen Handschuh. Der Archimandrit drehte sich wieder um und schaute nach vorne.
Ein dumpfer Schlag war zu hören, eine Sekunde später folgte ein zweiter, dann, wie das Ticken einer großen Uhr, ein dritter.
Die beiden Peregale von Ulubis, alte Männer namens Tlipeyn und Emoerte, suchten die Dweller mit Schmeicheleien zu mehr Kooperation zu bewegen. Die Dweller taten recht überzeugend so, als wüssten sie nicht einmal, was das Wort bedeutete.
Der Archimandrit schaute aus dem Augenwinkel nach unten. Vor den schmutzig gelblich braunen Wolken des Planeten zeichnete sich deutlich eine Linie aus winzigen Flecken ab, die zur Seite hin abtrieb und auf die tausende von Kilometern tiefer vorbeiziehenden Wolkenbänke zusteuerte.
»… Sie können uns glauben, wir meinen es ernst«, versicherte Commander Binstey, der Oberbefehlshaber von Lusiferus’ Bodentruppen, den drei Dwellern.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Chintsion leichthin. »Aber das ändert nichts daran, dass wir möglicherweise nicht in der Lage sind, Ihnen in irgendeiner Weise zu helfen.«
Commander Binstey setzte zu einer Antwort an, aber Lusiferus unterbrach ihn. »Meine Herren«, sagte er leise. Binstey verstummte. »Dürfte ich Sie bitten, dort hinüberzusehen?« Er deutete mit einer beringten Hand auf die Seite des Planeten, wo die Fleckenkolonne langsam über die wabernden Gasschichten wanderte.
Alle gehorchten. Die Dweller drehten sich ein wenig zur Seite. Die Scharfsichtigsten unter den Anwesenden zeigten bereits eine Reaktion. Lusiferus hörte Gemurmel und keuchende Atemzüge. Die Zuschauer waren schockiert.
»Wir meinen es ernst«, erklärte nun auch Lusiferus den Dwellern und stand auf. »Hören Sie dieses Geräusch?« Er legte den Kopf schief, als lauschte er. Das dumpfe Ticken setzte sich gleichmäßig, gnadenlos fort. »Das ist ein Bombenabwurfschacht, der in Sekundenabständen seine Bomben absetzt. Nur sind die Bomben keine Sprengkörper, sondern Menschen. Stündlich werden mehr als dreitausend wehrlose Menschen ins All gestoßen und stürzen auf ihren Planeten zu. Männer, Frauen und Kinder, alte und junge Erwachsene, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, zumeist Gefangene aus Schiffen, die kapituliert haben, und aus Habitaten, die beschädigt wurden. Wir haben mehr als zwanzigtausend an Bord und werden in diesem Rhythmus so lange weitermachen, bis hier Bewegung in die Verhandlungen kommt.«
Er wartete auf eine Reaktion von den drei Dwellern, aber die betrachteten weiter in aller Ruhe die Aussicht. »Wie ist es?«, fuhr er schließlich fort. »Hat von den Anwesenden vielleicht doch jemand eine brauchbare Idee?«
Menschen und Aliens schauten auf die schwarzen Pünktchen, die langsam von dem großen Schiff nach unten schwebten. Ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung, wurden aber sofort wieder abgewandt, als sie seinem Blick begegneten. Er sollte den Hass, die Angst, das Grauen in ihren Augen nicht sehen. Seltsam, wie betroffen die Leute waren, wenn vor ihrer Nase etwas Unerfreuliches passierte, während sie viel schlimmere Grausamkeiten ignorierten, wenn sie anderswo stattfanden.
Er nickte Tuhluer zu. An einer Seite des Raums leuchtete ein großer Bildschirm auf und zeigte den Vorgang von Anfang an. Menschen aller Art, so wie er sie beschrieben hatte, wurden in große, runde Behälter geschoben. Fast alle wehrten sich, aber sie steckten in engen Hüllen wie in elastischen Schlafsäcken, die nur die Gesichter frei ließen, und so konnten sie sich nur winden wie die Maden, konnten die Soldaten anspucken, die sie in die Werfermagazine luden, und versuchen, in die Exoskelette zu beißen. Der Boden des riesigen Frachtraums war über und über mit zappelnden, zuckenden Körpern bedeckt. Jemand stellte den Ton lauter. Nun konnte man im Konferenzraum deutlich hören, wie die Menschen schrien und weinten und um Gnade flehten.
»Archimandrit!«, rief der Hierchon. »Ich protestiere gegen dieses Vorgehen! Ich habe nicht …«
»Schnauze!«, brüllte der Archimandrit. Er schaute in die Runde. »Das gilt für alle! Kein verdammtes Wort mehr!« Eine Weile war nur das dumpfe Wumm! Wumm! Wumm! des Werfers zu hören.
Die Szene wechselte. Jetzt war die Mündung an der Außenseite des Schiffes zu sehen. Der Werfer schleuderte – sehr sanft für ein Geschütz – die Menschen ins All. Beim Abwurf löste sich die Fesselhülle und rutschte bis zu den Knöcheln nach unten. Nun konnten die nackten Opfer nach Herzenslust strampeln und sich in Krämpfen winden, wenn sie mit dem Vakuum in Berührung kamen und erstickten. Einige hielten die Luft an und quollen auf, als wollten sie platzen. Blut rann ihnen aus Augen, Ohren, Mund und Anus. Die Kameras folgten ihnen. Gewöhnlich bewegten sich die menschlichen Geschosse noch etwa zwei Minuten, um dann in irgendeiner Stellung zu erstarren – einige in Fötushaltung zusammengekauert, andere alle viere von sich streckend – und langsam wie auf einem unsichtbaren Förderband den fernen Wolken zuzuschweben.
»Warum tust du das?«, fragte der Dweller Feurich den Archimandriten. Es klang lediglich ratlos.
»Um die Konzentration zu fördern«, sagte Lusiferus kalt. Er hörte, wie sich irgendwo im Raum jemand übergab. Kaum jemand wollte ihm in die Augen sehen. Auf den Laufstegen über ihm drängten sich die Soldaten seiner Garde, sie hatten bereits die Waffen im Anschlag.
»An meiner Konzentration war eigentlich nichts auszusetzen«, sagte Feurich mit einem Seufzer. »Wir können dir trotzdem nicht helfen.«
»Geben Sie mir Seher Taak.« Lusiferus spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Was war das? Er unterdrückte die Reaktion auf der Stelle.
»Wir haben diesen Taak nicht«, sagte Administrator Peripule ruhig.
»Sagen Sie mir, wo er ist«, verlangte Lusiferus.
»Bedaure«, sagte Chintsion. »Wir können dir nicht helfen.«
»Verdammt, ich will es wissen!«, brüllte Lusiferus.
»Wie sollen wir …?«, begann Feurich. Chintsion unterbrach ihn.
»Wir könnten die Leute fragen, die behaupten, Seher Taak zuletzt gesehen zu haben. vielleicht würden sie uns verraten, wo er sich ihrer Meinung nach aufhält.«
»Einige Mitglieder der Abordnung sollen nach ihm gesucht haben«, ergänzte Feurich. »Vielleicht haben sie etwas gefunden.«
»Ich dachte, bei der Zerstörung der Schiffe seien alle Mitglieder der Abordnung getötet worden«, sagte Chintsion. »Oder irre ich mich?«
»Hör zu!«, suchte Peripule den Archimandriten zu beschwichtigen. »Wir sollten alle noch einmal eine Nacht darüber schlafen.«
Lusiferus zeigte wütend auf die Reihe von Körpern, die langsam auf den Planeten zuschwebten.»Habt ihr Flachwichser immer noch nicht begriffen? Das hört erst auf, wenn ich bekommen habe, was ich will!«
Die drei Dweller drehten sich gleichzeitig um und sahen ihn an. »Hmm«, sagte Peripule nachdenklich. »Hoffentlich hast du auch genügend Leute.«
Lusiferus ballte die Fäuste. Er platzte fast vor Wut, als wäre er einer von den armen Teufeln, die auf dem Todesfließband vor dem gewölbten Diamantfenster vorbeiglitten. Doch er beherrschte sich eisern und sagte ruhig: »Wir haben auch dreihundert Dweller-Jünglinge an Bord. Vielleicht sollten wir lieber sie abwerfen? Oder als Zielscheiben verwenden? Was halten Sie davon?«
»Ich denke, damit würdest du nur die Leute verärgern«, lachte Chintsion.
»Du hast doch wohl nicht ernsthaft vor, uns unter Druck zu setzen?«, fragte Feurich.
»Du solltest vielleicht wissen, Mr. Lusiferus«, sagte Chintsion, und es klang fast wie gutmütiger Spott, »dass einige der Clubs, für die ich spreche, sehr militärisch ausgerichtet sind. Natürlich finde ich ihre Begeisterung großartig und bin sehr stolz darauf, sie zu vertreten, aber manchmal kommen – ich weiß nicht, vielleicht aus Langeweile – sehr merkwürdige Wesenszüge zum Durchbruch. Dann könnte man fast denken, die Mitglieder hätten sich das Motto ›erst schießen, dann fragen‹ zu eigen gemacht. Hm. wenn du verstehst, was ich meine.«
Lusiferus starrte den Schweber an wie einen Schwachsinnigen. Das dumpfe Wumm, Wumm, Wumm hielt an. Die Linie aus winzigen dunklen Punkten kroch weiter über das dunkel brodelnde Antlitz des Gasriesen. Er wandte sich an Tuhluer. »Voller Waffeneinsatz!«, befahl er. »Sicht verdunkeln.«
Nasquerons gewaltiges Antlitz verschwand, die Diamantblase wurde schwarz wie Obsidian. Der große Raum wurde noch düsterer und schien zu schrumpfen. Die dumpfen Schläge wurden lauter.
»Hiermit nehme ich Sie drei als Geiseln«, erklärte Lusiferus den Dwellern. »Desgleichen die Jungen Ihrer Spezies, die sich auf diesem Schiff befinden. Jeder Versuch, sie oder sich selbst zu retten, jeder Angriff auf dieses oder irgendein anderes meiner Schiffe oder auf meine Besitzungen hat unverzüglich den Tod aller Geiseln zur Folge. Bekomme ich in den nächsten sechs Stunden Standardzeit keine nachweislich nützlichen Informationen über Seher Fassin oder das, wonach er suchte, dann wird ebenfalls mit den Hinrichtungen begonnen, und Sie drei kommen als Erste an die Reihe. Verstanden?«
»Ich muss schon sagen, Mr. Lusiferus«, protestierte Feurich, »das ist wahrhaftig keine Art, eine Konferenz zu führen.«
»Ich schließe mich dieser Meinung voll und ganz an«, verkündete Chintsion.
»Schnauze«, befahl Lusiferus. »Ich habe zahlreiche Schiffe mit vielen Tonnen von Antimaterie-Sprengköpfen um diesen Gasriesen stationiert. Planetenknacker. Wenn Sie alle tot sind und immer noch nichts vorangeht, werde ich die in Ihrer verdammten Atmosphäre zünden. Die Obrigkeit auf eurem verfaulten Riesenfurz von einem Planeten wird, soweit vorhanden, zu gegebener Zeit von meinen Absichten informiert.« Der Archimandrit schaute hinauf zu den Soldaten auf den Laufstegen. »Führt sie ab! Zieht ihnen diese Schutzanzüge aus, schneidet sie auf, wenn es nicht anders geht.«
Zwölf oder vierzehn riesige schwarze Gestalten – wie antike Ritterrüstungen mit einer Kruste aus großen schwarzen Edelsteinen – schwebten herab und landeten mit gespreizten Klauenfüßen auf der schwarzen Diamantfolie. Jeweils vier nahmen einen der Dweller in die Mitte.
»Nun, meine Herren«, wandte sich der Dweller namens Peripule betrübt an seine beiden Gefährten, »wir können wohl nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt.«
Im nächsten Moment erhellten drei runde, violette Lichtsäulen den dunklen Raum. Jede hatte einen Dweller in ihrer Mitte. Die Gardisten in ihren Exoskeletten wurden entweder zurückgeschleudert oder umgeworfen. Wer ungeschützt etwas weiter entfernt stand oder saß, wurde hochgerissen und gegen die Wände geschmettert. Die Schockwelle traf Lusiferus’ hohen Stuhl Sekundenbruchteile, nachdem sich der Schutzschild ausgefahren hatte, so dass er das Chaos durch eine Wand aus teilversilberten Diamantblenden beobachten konnte.
Die Explosionswelle erschütterte seinen Sitz und ihn selbst, dann hatte sie die gegenüberliegende Wand erreicht und wurde reflektiert. Die drei violetten Zylinder verschwanden und hinterließen drei große kreisrunde Löcher in der schwarzen Diamantfolie. Der kränkliche Widerschein von Nasquerons bräunlich gelber Wolkenschicht fiel in den Raum. Die Luft entwich in einem kreischenden Sog. Draußen flackerten weiße Lichter auf. Zwei Gardisten in Exoskeletten purzelten über den Boden, fanden nirgendwo Halt und wurden durch die Lecks gerissen. Lusiferus stand wie erstarrt. Anwesende, die von der Dreifachexplosion an die Wände geschleudert worden waren, glitten nun, zumeist bewusstlos und schwer verletzt, den drei erleuchteten Öffnungen entgegen. Ein drittes Exoskelett scharrte Halt suchend mit den Riesenhänden über die glatte Diamantfläche, während es sich unaufhaltsam dem nächsten Loch und dem trichterförmigen Luftwirbel näherte, der sich darüber gebildet hatte. Dann hatten endlich auch die Schiffssysteme registriert, was geschehen war, ein schwarzer Schatten huschte über die drei Verletzungen in der Schiffshaut und dichteten sie ab. Das Licht blieb draußen, und der Rest der Atmosphäre wurde eingeschlossen.
Es war ziemlich ruhig geworden. Das Wummern hielt immer noch an. Mit hörbarem Rauschen wurde Ersatzluft in den Raum gepumpt. Die Gardisten in den Exoskeletten rappelten sich auf, sahen sich um, rannten zum Archimandriten und bildeten einen Schutzring um ihn. von den Laufstegen fielen weitere schwarze Gestalten herab. Lusiferus hörte das Wehklagen der Verwundeten. Er drehte sich um. Tuhluer kam durch die Phalanx von Exoskeletten auf ihn zugehinkt. Er hatte seinen Schutzanzug angelegt und den Helm aufgesetzt. Die Diamantblase um den Archimandriten und seinen Stuhl spiegelte sich in der glänzenden Wölbung der Frontscheibe.
»Tötet die anderen Dweller«, befahl Lusiferus. tuhluer beugte sich vor und legte wie ein Schwerhöriger die Hand seitlich an den Kopf. »TÖTET DIE ANDEREN DWELLER!«, schrie Lusiferus. Er drückte einen Knopf an der Armlehne, und die Diamanthülle fiel von ihm ab. »Bringen Sie uns weg von hier«, fuhr er fort. »Warnen Sie den Planeten, dass die AM-Sprengköpfe in drei Stunden gezündet werden, wenn man nicht anfängt zu kooperieren.« Er wandte sich der Stelle zu, wo die drei Dweller so plötzlich verschwunden waren. »Und vergewissern Sie sich, dass die Raubtier diese drei Komiker weggepustet hat.«
»Zu Befehl«, sagte Tuhluer. »Und was ist mit dem … Abwurfmaterial?«
Lusiferus begriff nicht sofort, dass er die Menschen meinte, die auf den Planeten abgeschossen wurden. Er winkte ab. »Raus damit!«
Der Archimandrit Lusiferus schaltete den Kommunikator des Schutzanzugs ein und meldete der Raubtier, er sei unterwegs. Dann marschierte er durch die wimmernden Verletzten auf den Tunnel und das darunter wartende Schiff zu. Die Exoskelette umgaben ihn mit einer Riesenhecke aus gepanzerten Gliedmaßen und bedrohlich gezackten Rümpfen. Er hatte den Tunneleingang fast erreicht, als er den Boden unter den Füßen verlor. Die Exoskelette taumelten, das ganze riesige Schiff schwankte. Einer der Riesengardisten wäre fast auf ihn gefallen und brachte sich erst im letzten Moment mit winselnden Servos wieder ins Gleichgewicht.
»Was war das?«, wollte Lusiferus wissen.
»Hier Schadenskontrolle«, meldete sich eine Stimme aus seinem Anzug. »Ein Energieblitz hat das ganze Schiff genau im Zentrum durchschlagen. Ein Loch von etwa zwei Metern Durchmesser. Außerdem … wurde der Bug … bis zur … Achtzig-Meter-Marke … weggeschossen. Restlos. Unbekanntes Energieprofil der gleichen Art wie der Strahl durch das Zentrum. Lichtgeschwindigkeit; keine Vorwarnung. Reaktive Verteidigungssysteme suchen nach Schutzmaßnahmen gegen weitere Treffer … bisher ohne Erfolg.«
»Nachrichteneingang«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. »Dweller verlangen Rückgabe ihrer an Bord befindlichen Landsleute. Das waren offenbar nur Warnschüsse.«
Tuhluer kam auf ihn zugeschritten.
Lusiferus sah ihn an. »Schicken Sie die Dweller zurück«, befahl er seinem Adjutanten. »Und dann bringen Sie den Kahn von hier weg.« Er näherte sich dem Tunnel.
»Und die Schiffe mit der Antimaterie?«
»Bleiben, wo sie sind. Verlängern Sie das Ultimatum, bis die Lusiferus VII außer Reichweite ist.«
»Zu Befehl.«
Diesmal schaffte es der Archimandrit tatsächlich, sein wartendes Flaggschiff zu erreichen.
Eine Stunde später kämpfte sich die flügellahme Lusiferus VII immer noch mühsam aus dem Schwerkraftfeld des Planeten. Die Raubtier war bereits eine halbe Million Kilometer entfernt und beschleunigte noch immer. Der Archimandrit lag auf der Andruckliege und zitterte vor Wut. Der ganze Schrecken des Geschehens, die tödliche Kränkung kamen ihm erst allmählich zu Bewusstsein. Seine Geduld war endgültig erschöpft. (Die drei Witzbolde, diese verdammten Dweller waren tatsächlich entkommen. Ihre Schutzanzüge hatten alle Schüsse reflektiert oder abgelenkt, die ihnen die Raubtier nach ihrem Abgang von der Lusiferus VII hinterhergeschickt hatte. Sie waren – offenbar unverletzt – in der Wolkenschicht verschwunden.) Lusiferus befahl, die Dweller unverzüglich über das Ultimatum zu informieren und von einem der Schiffe einen AM-Sprengkopf in die Planetenatmosphäre abwerfen zu lassen, um zu zeigen, wie ernst man es meinte.
Die Antwort kam prompt. Das Schiff mit der AM-Bombe – alle zwanzig Schiffe mit AM-Bomben – flammte kurz auf und war nicht mehr zu sehen. Ein Teil der Sprengköpfe zündete, und es kam zu katastrophalen Reaktionen der Antimaterie mit den Trümmern der zerstörten Schiffe. Nasqueron war von einer unregelmäßigen Halskette aus zwanzig kleinen Schrottsonnen umgeben, die aufflammten, erloschen, noch einmal aufflammten und schließlich für immer verschwanden.
Augenblicke später stieg eine hyperschnelle Rakete aus dem Dunstgebräu des Gasriesen und hatte die Lusiferus VII trotz aller verzweifelten Gegenmaßnahmen binnen zwei Minuten nach dem Auftauchen aus den obersten Wolkenschichten gefunden.
Die Strahlungsfront überlastete die Sensorpuffer der Raubtier. So sollte ein Antimaterie-Sprengkopf funktionieren, lautete die Botschaft.
Adjutant Tuhluer setzte eine letzte Nachricht ab, bevor das große Schiff endgültig zerrissen und in Strahlung und überschnelle Trümmer verwandelt wurde. Darin teilte er Lusiferus in aller Ruhe mit, der Archimandrit sei ein Arschloch …
Fassin Taak schaute zu den Sternen seiner Heimat empor. trotz des Schockgels stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er stand auf einer zugigen Plattform über einer kleinen Stadt in der obersten Wolkenschicht, weit unten in der Südpol-Region, nur zweitausend Kilometer entfernt von der zerrissenen fließenden Grenze mit Nasquerons südlichstem Atmosphäregürtel.
Er suchte nach einem befreundeten Satelliten, nach irgendeinem Signal, das von seinem Gasschiffchen zu erkennen wäre, fand aber nichts. Alle abgestrahlten Signale waren entweder viel zu schwach oder verschlüsselt, und er fand auch kein Relais im niedrigen Orbit, an das er einen Gruß hätte absetzen können. Er versuchte, eines der schwächeren Signale zu erfassen und seine Botschaft mit dem Biobewusstsein des Gasschiffs zu entschlüsseln, aber die Routinen arbeiteten offenbar nicht. Er kapitulierte und begnügte sich vorerst damit, hier zu sitzen und die wenigen bekannten Sterne zu betrachten.
Trotz Y’suls Verletzungen waren sie nicht um ein weiteres, wenn auch nicht ganz so wildes Spiralmanöver herumgekommen. Fassin hatte in seinem Gasschiff gespürt, wie sich die ineinander gebetteten Korkenzieherwindungen und Schraubenbewegungen aufbauten, als würde eine Feder aufgezogen, und hatte auf den Eintritt ins Wurmloch gewartet, später jedoch erfahren, dass sie es bereits passiert hatten und er nur das Abrollen der Feder mitbekommen hatte. Dann waren sie plötzlich wieder hier in Nasqueron, aber in der Südlichen Polar-Region, nicht im Norden, von wo sie abgeflogen waren.
Das ehemalige Voehn-Schiff Protreptik war nur wenige Kilometer durch die oberste Wolkenschicht gesunken und hatte in den unteren Regionen der nahezu verlassenen Polarstadt Quaibrai in einer riesigen Höhle von einem Hangar auf einem etwas zu großen Schlitten aufgesetzt. Der Administrator der Stadt hatte ihnen mit mehreren hundert jubelnden, Papierschlangen schwenkenden und Duftgranaten werfenden Dwellern einen stürmischen Empfang bereitet.
Eine aus Vertretern verschiedener Alien-Schiff-Fanclubs zusammengesetzte Delegation war beim Anblick des Voehn-Schiffs vollends außer Rand und Band geraten und vor Ungeduld auf und ab gehüpft, während Y’sul vorsichtig ausgeladen und einem Sanitätsteam übergeben wurde. Sobald Y’sul, Fassin und der Vollzwilling Quercer & Janath das Schiff verlassen hatten, stürmten die Fans aufgeregt schwatzend an Bord und drängten durch Luken und Korridore. Der Vollzwilling hatte in weiser Voraussicht das Schiff, das sie für den Portaldurchgang so schmal wie eine Nadel konfiguriert hatten, so verändert, dass es dicker und damit geräumiger wurde, doch es wirkte für die Dwellerfiguren immer noch viel zu eng.
Y’sul schien bereits halb genesen, obwohl er nach dem Heilkoma noch ziemlich benommen war. Während das Sanitätsteam mit der Ambulanzjolle auf ihn zusteuerte, hatte er sich auf der Schaufeltrage ein wenig gedreht, um Fassin ansehen zu können. »Siehst du?«, hatte er heiser hervorgestoßen. »Ich habe dich heil zurückgebracht!«
Fassin hatte das bestätigt und obendrein versucht, Y’sul beruhigend zu tätscheln, doch er hatte den defekten Manipulator benützt und nur ziellos im Gas herumgefuhrwerkt. Also war er herumgeschwenkt und hatte mit dem anderen Arm des Gasschiffs die Nabenhand des verletzten Dwellers ergriffen.
»Fliegst du jetzt nach Hause?«, hatte Y’sul gefragt.
»Falls davon noch etwas übrig ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Wenn du tatsächlich gehst, dann komm bald wieder.« Y’sul hatte innegehalten und sich geschüttelt, um wach zu werden. »Ich sollte in zwei Dutzend Tagen wieder Besucher empfangen können und werde anschließend sicher einen sehr vollen Terminkalender haben. Ich werde mich nicht scheuen, meine jüngsten Erlebnisse und meine Verletzungen rücksichtslos auszubeuten und meine Rolle bei der Eroberung des Voehn-Schiffs, ganz zu schweigen von meinem Kampf mit dem Voehn-Commander hemmungslos hochzuspielen. Letzteren gedenke ich so auszuschmücken, dass du die Geschichte möglicherweise nicht wiedererkennst, wenn du sie zum ersten Mal hörst. Ich wäre dir dankbar, wenn du sie trotzdem bestätigen könntest. Du müsstest eben den Sinn der Erzählung zu erfassen suchen und dürftest dich nicht allzu sehr an profane Fakten und objektive Wahrheiten klammern, auch wenn du meinst, die Sache anders in Erinnerung zu haben. Was sagst du dazu?«
»Meine Erinnerungen sind ziemlich verschwommen«, hatte Fassin geantwortet. »Ich werde dir wohl nicht widersprechen können, ganz gleich, was du sagst.«
»Großartig!«
»Und wenn ich wiederkommen kann, werde ich es tun.«
Dabei wusste er noch nicht einmal, ob er Nasqueron überhaupt verlassen konnte. Er wusste nicht, ob es die Infrastruktur, die er für den Rücktransport, die Reparatur des Gasschiffs und ein erneutes Absetzen brauchte, überhaupt noch gab – ob die gerade herrschende Regierung einer Rückkehr zustimmen würde und ob auch die Dweller damit einverstanden wären.
Als ihm Quercer & Janath auf der letzten Etappe der sechsstündigen Reise vom Wurmloch hierher gezeigt hatten, wo sie waren, und ihm gestattet hatten, auf die lokalen Datenspektren zuzugreifen, hatte er die Nachrichtensender von Nasqueron abgehört, um zu erfahren, was während seiner Abwesenheit geschehen war.
In den Dweller-Nachrichten drehte sich alles um den Krieg. Den Formalkrieg zwischen Zone 2 und Gürtel C. Die Auseinandersetzung gestaltete sich inzwischen offenbar so ungeheuer spannend, dass sie von angesehenen Kritikern bereits als Klassiker ihrer Art gehandelt wurde. Dabei war sie schätzungsweise erst zur Hälfte gelaufen und versprach noch eine Menge Unterhaltung.
Fassin musste erst einen Sender suchen, der sich auf Alien-Beobachtung spezialisiert hatte, um zu erfahren, dass das Ulubis-System mehr als dreißig Tage zuvor von den Streitkräften des Epiphanie-5-Separats oder des Hungerleider-Kults unter Führung des Archimandriten Lusiferus überfallen und erobert worden war. Der letzte größere von der Ulubis-Merkatoria organisierte Widerstand war erst vor etwa einem Dutzend Tagen mit der offiziellen Kapitulation des Hierchon Ormilla zu Ende gegangen, nachdem eine Stadt auf Sepekte und ein Habitat im Orbit um den Planeten zerstört worden waren. Ein Gegenangriff durch mehrere Geschwader der Generalflotte wurde innerhalb der nächsten paar Dutzend Tage erwartet. Die letzte Meldung lautete, im Orbit um Nasqueron finde derzeit an Bord des Hungerleider-Schiffs Lusiferus VII eine Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit statt.
Fassin hatte eine Nachricht an Valseir geschickt, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise ausfindig zu machen. Nun wollte er abwarten, ob er eine Antwort erhielt. Er hatte auch daran gedacht, sich bei Setstyin zu melden, doch dann hatte er sich vage an eine Bemerkung von irgendjemandem über diesen Dweller erinnert, die sein Misstrauen geweckt hatte. Nein, langsam, war es nicht genau umgekehrt? Setstyin war immer sein Freund gewesen, stets hilfsbereit und charmant. Hatte ihn nicht Setstyin vor dem alten Dweller gewarnt, der das große kugelförmige … Ding befehligte, das bei der GasClipper-Regatta aus den Wolken emporgestiegen war und die Truppen der Merkatoria vernichtet hatte? Ja, das hörte sich besser an. Seltsam, dass die Erinnerung so verschwommen war. Er hatte doch immer so ein gutes Gedächtnis gehabt.
Quercer & Janath waren von Gratulanten umringt, die mehr über das Voehn-Schiff wissen wollten. Der Vollzwilling hatte Fassin in der Menge entdeckt und ihm zugewinkt. Fassin hatte zurückgewinkt.
Während Y’sul auf die Ambulanzjolle verladen wurde, war Fassin durchgegangen, was er noch wusste und was nicht, woran er sich erinnern konnte und woran nicht. wahrscheinlich hätte er mit Y’sul in der Jolle fahren können, aber er wollte eine Weile allein sein, um Abstand zu gewinnen.
So war er hier heraufgekommen, um die Sterne zu betrachten, abzuwarten, nachzudenken und vielleicht ein paar mathematische Analysen durchzuführen.
Er holte das kleine Bildblatt aus dem Fach in der Flanke des Gasschiffs und sah es an. Das Sehvermögen des Schiffchens hatte bei den Vorfällen an Bord der Protreptik sehr gelitten, aber auf einer Seite war die Vergrößerungsfunktion noch so weit intakt, dass er den blauen Himmel und die weißen Wolken deutlich erkennen konnte. Er zoomte das Bild näher heran, um es mit der gespeicherten Kopie zu vergleichen, die sich im … Aber die Kopie war im Speicher des Schiffchens nicht mehr zu finden.
Das war seltsam. Er hatte gedacht, er hätte das Bild aufgezeichnet und etwas, das darin verborgen war, bereits zur Hälfte entschlüsselt. Er war sogar ganz sicher. Damals war ihm das ungeheuer wichtig gewesen.
Fassin zermarterte sich das Gehirn. Er musste sich erinnern! Was war nach dem Angriff des Voehn-Schiffs geschehen? Die Voehn hatten sie alle gefangen genommen und verhört, und sie hatten sich an seinem Gehirn sowie am Biobewusstsein und den Speichern des Gasschiffs zu schaffen gemacht. Dann hatte ein Schiff, das ihnen die Ythyn zu Hilfe geschickt hatten, das Voehn-Schiff angegriffen, und er selbst, Y’sul und der Vollzwilling hatten – irgendwie – die Überlebenden der Voehn-Besatzung überwältigt.
Sie hatten die Voehn überwältigt?
Wie war das zugegangen? Das Ythyn-Schiff hatte die Voehn abgelenkt, und auch die Velpin hatte eine Rolle gespielt, irgendeine Piraten-Schutz-Automatik hatte eingegriffen und ihnen gegen die Voehn geholfen. Quercer & Janath hatten allerdings ein großes Geheimnis um die Technik gemacht, die ihr alter Kahn gegen die Voehn eingesetzt hatte.
Fassin hatte keine Ahnung, ob es sich so abgespielt hatte, wie sie sagten, oder nicht. vielleicht hatte die Velpin eine KI an Bord gehabt, die hatte die Voehn erledigt, aber Quercer & Janath wollten nicht, dass das bekannt wurde. Die Voehn hatten so übel an seinem Gedächtnis herumgepfuscht, dass er so gut wie alles geglaubt hätte, was ihm der Vollzwilling erzählte.
Er erinnerte sich, dass er auf den Stufen eines Tempels gesessen, über einen breiten, trägen Fluss geschaut und mit einem alten … Mann geredet hatte? Oder einem alten Dweller? Es war keine lineare Erinnerung, sondern ein sehr lebhaftes Bild. Die Begegnung musste wohl in einer VR irgendwelcher Art stattgefunden haben. vielleicht hatte der Alte die Velpin-KI verkörpert?Vielleicht hatte er tatsächlich mit dieser KI gesprochen oder war ihr zumindest begegnet?
Er konzentrierte sich wieder auf das Bildblatt. Das hatte er von Valseir bekommen. Das war doch richtig? Es war eine Art Visitenkarte, ein Empfehlungsschreiben, das ihn … Ihm war so, als hätte es ihn zu Valseir geführt, aber das ergab keinen Sinn.
Nein, langsam: das Haus in den Tiefen, der alte wandernde Dweller. Er hatte ihm das Bildblatt gegeben. Und es hatte ihn irgendwie zu Valseir geführt. Aber da war noch etwas. Er hatte noch etwas entdeckt. Kurz vor dem Eintritt ins Wurmloch war er aufgewacht und hatte darüber nachgedacht. In dem Bildblatt war etwas verborgen. Eine Nachricht, ein Kode.
Fassin sah sich auf der leeren Plattform um. Außer ihm war niemand hier. Er befahl der Bildverarbeitung seines Gasschiffchens, die Darstellung auf dem Blatt so genau wie möglich zu untersuchen. Verschiedene Routinen schalteten sich ein. Minuten später löste er den Blick von der kargen, aber vertrauten Sternenlandschaft über sich. Die Ergebnisse waren da.
In dem Bild war tatsächlich etwas verborgen.
Eine Art Alien-Algebra.
Ungefähr anderthalb Seiten lang. Eine lange Gleichung, vielleicht auch drei oder vier kürzere.
Fassin war sehr aufgeregt. Er wusste nicht genau, warum, aber er hatte das Gefühl, dass diese Entdeckung irgendwie mit der Dweller-Liste zusammenhing. Die Einzelheiten ließen sich nicht fassen, aber er hatte nach der Transformation gesucht, die ihm die berühmte Liste erschließen sollte, und vielleicht – nur vielleicht – hatte diese fremdartige Mathematik etwas damit zu tun. Vielleicht war dies sogar die Transformation, auch wenn es ihm nicht ganz leicht fiel, daran zu glauben.
Fassin rätselte an der Bedeutung der Symbole herum, fand aber keinen Anfang. wenn die umfassend manipulierten Speicher seines Gasschiffchens einmal etwas enthalten hatten, was ihm die Richtung hätte weisen können, dann war es nicht mehr da.
Er griff auf die Datennetze der Stadt zu, loggte sich in eine Universitätsbibliothek im Äquatorband ein und rief eine spezielle Datenbank für Alien-Mathematik auf. Dann wählte er aus seinen Gleichungen willkürlich zwei Symbole aus und schickte sie dorthin. Sofort bekam er entsprechende Referenzen.
Was er vor sich hatte, war in Translatio V geschrieben, einer speziesübergreifenden ›Universal‹-Notation, die vor etwa zwei Milliarden Jahren von den längst ausgestorbenen Wopuld aus älteren Dweller-Elementen entwickelt worden war. Fassin lud sich ein komplettes Übersetzungsprogramm herunter.
Dann hielt er inne und schaute über die oberste Wolkenschicht hinweg. In seinem Innern tobte ein Sturm von widersprüchlichen Gefühlen.
Vielleicht hatte er damit gefunden, worauf man ihn angesetzt hatte. Dann wäre das Ziel seiner Mission erreicht. Und nicht nur seiner Mission, er durfte Colonel Hatherence nicht vergessen. Durchaus möglich, dass er die ganze Zeit nach diesen Gleichungen gesucht hatte. Doch falls die Merkatoria oder zumindest die Ulubis-Merkatoria sich davon die Rettung versprochen hatte, dann hatte er sie enttäuscht. Er war zu spät zurückgekehrt, die Invasion war bereits erfolgt. Alles war vorüber.
Und er hatte so vieles vergessen! Was hatten die Voehn bloß mit ihm gemacht? Y’sul war schwer verletzt worden, aber bis auf die Nachwirkungen des Heilkomas schien er – auch nach eigenen Aussagen – in guter geistiger Verfassung zu sein. Quercer & Janath hatten offenbar keinerlei Schaden genommen. Vielleicht hatten sie einfach Glück gehabt, oder es hing mit ihrem Status als Vollzwilling zusammen – er wusste es nicht.
Dennoch musste er diese Symbole entschlüsseln. vielleicht gewann er doch noch wichtige Erkenntnisse. Auch wenn die Invasion bereits erfolgt war, der Gegenangriff stand noch aus, und außerdem hatte er in diesem Fall seine eigene Ansicht darüber, wer gut und wer böse war. Sollte die Gleichung irgendwelche brauchbaren Informationen liefern, dann würde er sie nach wie vor lieber den Beyondern zukommen lassen.
Im Westen, weit jenseits der obersten Wolkenschicht, blitzte dicht über dem Horizont etwas auf. Vielleicht ein Schiff im All.
Fassin wandte sich wieder der Gleichung und dem Übersetzungsprogramm für die Alien-Sprache zu und wandte Letzteres auf Erstere an. In dem virtuellen Raum, den das defekte Biobewusstsein des Gasschiffs in sein eigenes Bewusstsein projizierte, teilte sich das Bild, und neben dem Original erschien eine Kopie der Gleichung. Die Symbole in der Kopie veränderten und verschoben sich, bis die Übertragung in die Standardnotation der Dweller abgeschlossen war. Dann flackerten die Symbole in beiden Kopien der Gleichung, leuchteten auf, durchliefen verschiedene Farben, schwollen an und verschmolzen wieder mit ihrer Umgebung. Die Gleichung löste sich selbst.
Es handelte sich tatsächlich um eine Gleichung. Er hatte auf Grund irgendeiner Bemerkung die Vorstellung gehabt, es könnte sich um eine Frequenz und ein Signal handeln, aber das war nicht der Fall. Oder die Verschlüsselung wäre schon sehr ungewöhnlich gewesen.
Auf beiden Seiten des geteilten Bildes begannen die letzten Terme aufzuleuchten. Und schließlich erschien, langsam blinkend, ganz am Ende das Ergebnis.
Es war eine Null.
Erstarrte das Zeichen, die Zeichen an.
In der Standardnotation der Dweller war eine Null ein Punkt mit einer kurzen Linie darunter. In Translatio V war die Null ein Schrägstrich.
Von der Gleichungskopie blinkte ihn ein Punkt mit einer kurzen Linie darunter an. Am Ende des Originals stand, ebenfalls blinkend, ein Schrägstrich.
Er versuchte es noch einmal. Mit dem gleichen Resultat.
Er nahm sich abermals das Bild vor und extrahierte den verborgenen Code, für den Fall, dass die Prozessorsysteme beim ersten Mal einen Fehler gemacht hatten.
Es war kein Fehler gewesen. Beim zweiten Durchlauf kam eine identische Gleichung heraus. Dennoch ließ er sie durchrechnen.
Null.
Fassin lachte. Er spürte, wie Brust und Bauch unter dem Schockgel im Innern des Pfeilschiffchens erbebten. Dann sah er sich im Geiste auf einem Planeten an einer Felsküste stehen und warten. Das Lachen blieb ihm im Halse stecken.
Null.
Die letzte Antwort lautete also nichts. Man hatte ihn bis ans andere Ende der Galaxis geschickt, wobei er die Antwort ohnehin die ganze Zeit bei sich getragen hatte, und dann lautete diese Antwort »Null Komma nichts«. Nur mathematisch ausgedrückt.
Er lachte weiter.
Na schön.
Wieder blitzte etwas hoch in der obersten Wolkenschicht, fast genau nördlich. Unter dem Objekt, das soeben das Licht reflektiert hatte, erblühten viele winzige Lichter am Himmel. Eine Spur von Violett. Dann Weiß.
Er beobachtete den Raumabschnitt eine Weile und wartete auf weitere Erscheinungen. Was immer das war, es musste ziemlich weit entfernt sein. Wenn es sich um dasselbe Objekt handelte, das er zuvor dicht über dem Horizont bemerkt hatte, dann befand es sich hoch über der Äquatorzone, zehntausende von Kilometern weit im All.
Null. Sehr aufschlussreich. Fassin fragte sich, ob es irgendwo auch eine richtige Antwort gäbe, ob das, was er gefunden hatte – worüber Valseir vor langer Zeit gestolpert war und was er selbst dann ahnungslos von seinem Trip mit nach Hause gebracht hatte –, Teil einer ganzen Serie von falschen Spuren sein könnte. Gab es nur diese eine Antwort, oder gab es mehrere? Hatte der Mythos von der berühmten Transformation der Dweller-Liste Hunderte von Falschlösungen im Anhang?
Selbst wenn es so wäre, er würde nicht weiter nach der richtigen Lösung suchen. Er hatte seine Schuldigkeit getan, hatte irgendwie sogar eine Mission erfüllt, an die er nie geglaubt hatte. Er war zu spät gekommen, das Ergebnis war Unsinn, ein schlechter Witz, eine Beleidigung fast, aber – bei jedem Gott, den man beschwören wollte – er hatte es geschafft.
Nun wäre es an der Zeit, sich zu überlegen, wie er diesen Planeten verlassen oder zumindest, wie er, nur der Form halber, die Information weitergeben könnte. Um die bedeutungslose Nachricht nicht für sich zu behalten.
Wieder zwei Blitze aus dem All, nicht weit von der Stelle, wo das erste Feuerwerk aufgeleuchtet hatte. Ein winziger Funke, ein längerer Strahl. Gleich darauf ein Schein wie von einem Schiffstriebwerk, das sich, rasch schneller werdend, entfernte.
Fassin suchte nach Satelliten der Gemeinschaftsanlage oder ganz allgemein nach Flugkörpern der Merkatoria irgendwo im Umkreis von Nasqueron. Aber er fand nichts. Er hatte Aun Liss gesagt, er wolle versuchen, eine Position zwischen den zwei Seher-Satelliten EQ4 und EQ5 anzupingen, aber die Satelliten waren nicht mehr da. vielleicht konnte er berechnen, wo sie gewesen waren und wo demzufolge der Mikrosatellit sein müsste, den die Beyonder auf seine Anweisung hin zwischen ihnen hätten postieren sollen. Er suchte im Speicher des Gasschiffs nach den Satellitenplänen, rief sie auf und gab die Ortszeit und seinen Standort ein.
In seinem Blickfeld blinkte eine Position über der Wolkenschicht auf, nicht ganz genau nördlich, ein paar tausend Kilometer unterhalb der Stelle, wo er eben noch die Lichtaktivität beobachtet hatte. Jetzt hatte er Sichtverbindung. Er beschloss, diesen Glücksfall als gutes Omen zu betrachten, und sendete, er sei zurück, um wenigstens sein Versprechen zu halten. Dann wartete er eine Weile, aber es kam keine Empfangsbestätigung und erst recht keine Antwort. Er hatte eigentlich auch nicht damit gerechnet.
Was mochte von der Ocula der Justitiarität noch übrig sein? Sollte er überhaupt versuchen, sich dort zu melden? Er musste nachforschen, was sich seit der Invasion tatsächlich verändert hatte, musste in Erfahrung bringen, ob er als tot galt oder noch gesucht wurde. vielleicht hatte man ihn in der Aufregung auch einfach vergessen.
Fassin lachte wieder. Das wäre das Beste, was ihm passieren könnte.
Man hatte ihnen erklärt, dem E-5-Separat gehe es bei seiner Invasion im Grunde nur um die Liste und die Transformation. Wenn das nur zum Teil, nur im Ansatz richtig wäre und die Invasoren von seiner Mission Wind bekommen hätten, würden sie wahrscheinlich mit Feuereifer nach ihm suchen. Schließlich bliebe ihnen nicht viel Zeit, bis die Generalflotte auf der Party erschien.
In einer Hinsicht war er erleichtert über die Gleichung mit der Lösung null. Damit hatte er eine Information, die er nun wirklich mit jedem teilen konnte. Hätte die Liste tatsächlich die Positionen der Wurmlochportale aufgeführt, dann wäre dieses Wissen wie eine erdrückende Last gewesen, ein unendlich kostbarer Besitz, der für ihn wahrscheinlich den sicheren Tod bedeutet hätte. Er sollte froh sein, dass es nur ein Scherz gewesen war. Wären es die gesuchten Angaben gewesen, das, was sich alle erhofft hatten, dann hätte ihn der Erste, dem er davon erzählt hätte, vermutlich zunächst gefoltert oder zumindest sein Bewusstsein auseinander gerissen, um sich zu vergewissern, dass er auch die Wahrheit sprach, um ihn dann zu töten, damit er sein Wissen an niemand anderen weitergeben könnte. Er hatte die Beyonder zwar für etwas humaner gehalten, aber das Risiko wäre dennoch zu groß gewesen.
Am besten posaunte er das Ergebnis lauthals hinaus, um dann möglichst schnell wieder zu verschwinden. Vielleicht wären die Dweller bereit, ihn aufzunehmen.
Valseir. Zumindest sein Dweller-Freund sollte erfahren, dass die Information, um die sie sich alle solche Sorgen gemacht hatten, in Wirklichkeit nicht mehr war als eine mickrige kleine Null. Aber dann müsste er Valseir auch beibringen, dass sich sein Freund und Kollege Leisicrofe wegen dieses Nichts das Leben genommen hatte. Er käme also nicht nur mit guten Nachrichten.
Fassin schaltete um auf den Nachrichtensender der Sturm-Segler. Die Regatten waren nicht so zahlreich wie sonst, weil alles sich mit dem Krieg beschäftigte und viele Segler, die normalerweise auf GasClippern und SturmJammern gefahren wären, nun für die Panzerkreuzer und andere Kampfschiffe gebraucht wurden. Aber insgesamt fanden auf dem Planeten doch ein Dutzend Begegnungen statt. Wenn er auf Regatten nach Valseir suchen wollte, hätte er einen weiten Weg vor sich.
Er könnte ja den Administrator der Stadt bei der Transportfrage um Hilfe bitten – Y’sul würde wahrscheinlich in ein bis zwei Tagen nach Hauskip zurückgebracht, und Fassin bekäme wahrscheinlich ohne weiteres die Erlaubnis, den verletzten Dweller zu begleiten – aber vielleicht sollte er doch etwas vorsichtiger sein.
Als er die Protreptik verließ, hatte ihn niemand weiter beachtet, aber das musste nicht heißen, dass seine Ankunft gänzlich unbemerkt geblieben wäre. Hielten sich derzeit Menschen – vielleicht andere Seher – in Nasq auf? Irgendjemand – Valseir? –, zum Teufel mit seinem plötzlich so schwachen Gedächtnis – irgendjemand hatte ihm erklärt, innerhalb der Dweller gäbe es verschiedene Parteien, die bezüglich der Liste nicht einer Meinung seien, und die vermeintlich erbliche, durch alle Schichten gehende Verachtung, die die Dweller gegenüber allen anderen Bewohnern der Galaxis an den Tag legten, sei nicht durchgängig. Wir sind keine Monokultur. Das waren doch Valseirs Worte gewesen?
Gab es irgendeine Dweller-Gruppe, die ihm schaden wollte oder von jemandem beeinflusst wurde, der sein Feind war?
Er schaltete um auf den Sender für Alien-Beobachtung, der gewöhnlich am zuverlässigsten war, und rief die Globalkarte auf. Sie zeigte sich zum ersten Mal in völliger Klarheit. Dem Display zufolge gab es in ganz Nasqueron kein einziges lebendes Fremdwesen. Auch er wurde nicht erwähnt, das hieß, dass seine Rückkehr nicht registriert worden war, jedenfalls nicht von den Fans, die diesen Sender betrieben.
Jemand rief ihn an. Quercer & Janath. Er steckte das Bildblatt in das Fach in der Flanke zurück.
– Fassin. Können wir dich irgendwo hinbringen?
– Innerhalb des Planeten, wie ich gleich hinzufügen möchte.
– Haben ein Schiff zur Verfügung. Jemand war uns eine Gefälligkeit schuldig.
– Könnte man sagen.
– Ich weiß nicht, antwortete Fassin. – Ich überlege schon die ganze Zeit. Wisst ihr mehr über den Stand der Invasion und über die Streitkräfte des Hungerleider-Kults?
– Empfangen soeben Berichte, wonach es auf irgendeiner Konferenz irgendeine Panne gegeben hat.
– Eine Schießerei, um das Kind beim Namen zu nennen.
– Ich möchte meinen Freund Valseir aufsuchen, sagte Fassin. – Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, aber bisher keine Antwort erhalten. Ich dachte, ich könnte ihn auf einer …
In diesem Augenblick fielen ihm die FlugSchwinge Cheumerith und die Dweller ein, die sich bis in alle Ewigkeit an langen Leinen von ihr durch Nasquerons hohen Himmel ziehen ließen. Die FlugSchwinge. Das wäre der zweite Ort, von dem Valseir gesprochen hatte, und wo er vielleicht zu finden wäre.
– Ja, antwortete er dem Vollzwilling. – Ich weiß, wohin ihr mich bringen könnt.
– Wir können nur innerhalb der Atmosphäre fliegen, das ist dir doch klar? Also ziemlich langsam.
– Haben unseren Glücksvorrat vollständig aufgebraucht, als wir das Schiff unbemerkt nach Nasq brachten. Ein Voehn-Schiff, verstehst du? Macht viele Leute nervös. Jedenfalls sieht es so aus.
– Geht in Ordnung, erklärte Fassin.
Eine Stunde später rasten sie durch die Wolkenstämme unter der obersten Dunstschicht, als die AM-Sprengköpfe zündeten. Einer war genau über ihnen.
»Mann, sieh dir das an!«
»Da ist unser Schatten!«
Eine Minute später erstrahlte der ganze westliche Himmel in hellem Licht. Der Schein kam, wie sie später erfuhren, von der Zerstörung des Riesenschiffes Lusiferus VII. Quercer & Janath erklärten ganz unverhohlen, sie seien tief beeindruckt.
Die Protreptik setzte ihre Fahrt ungerührt fort.
Die ersten zwölf Schiffe der Generalflotte jagten mit nur einem Prozent unter Lichtgeschwindigkeit durch das innere Ulubis-System. Wie kilometerlange schwarze Minarette mit schnell rotierenden Gürtelabschnitten, aus denen Raketencluster, Munitionspakete, Streuminen, getarnte Drohnen und Kamikaze-Raketenwerfer fielen, durchstießen sie in weniger als vier Stunden das ganze System, in knapp einer Stunde den Orbit von Nasqueron und in fünfzehn Minuten die Bahn von Sepekte.
Milliarden von Kilometern dahinter befand sich auf dem gleichen Kurs, stark abbremsend, die Hauptstreitmacht der Generalflotte mit der Mannlicher-Carcano. Taince Yarabokin schwamm in ihrer Kapsel. Im VR-Kommandoraum des Schlachtschiffs war es fast vollkommen still. Die Kommandobesatzung hörte reglos den Funkverkehr zwischen den zwölf durch das System jagenden Vorauseinheiten mit, der zu ihnen zurückgestrahlt wurde.
Taince konnte kaum fassen, wie nervös sie war. Ihr Körper wollte wie in einer Kampf-oder-Flucht-Situation reagieren, und die Biosysteme der Kapsel wirkten beharrlich jedem einzelnen der klassischen Symptome entgegen. Der Einsatz war zweifellos von großer Bedeutung. Wohl das wichtigste Unternehmen, an dem sie jemals teilgenommen hatte. Sie stand in der Hierarchie so weit oben, dass sie beim Start über die strategische Tragweite ihrer Mission aufgeklärt worden war, dennoch war sie fast so aufgeregt wie vor ihren ersten Einsätzen. Wie oft man auch in einen Krieg zog, der Adrenalinschub war nie ganz zu unterdrücken. Der Tag, an dem man einem Kampf völlig ungerührt entgegensah, wäre auch der Tag, an dem man starb, oder an dem man besser seinen Dienst quittierte, darüber herrschte Einigkeit – aber was sie jetzt empfand, erinnerte so stark an ihre Anfangszeit, dass sie sich Sorgen machte.
Irgendwo würde ihre Nervosität auch registriert werden. Selbst wenn gerade kein menschlicher Militärarzt ihre Vitalzeichen beobachtete, würde ihre Unruhe sicherlich von irgendeinem Programm markiert und für eine spätere Untersuchung vorgemerkt. Keine Privatsphäre. Aber das hatte sie gewusst, als sie Soldat wurde.
Taince riss sich los von diesen verwirrenden, beinahe beschämenden Gefühlen und konzentrierte sich auf die Daten, die von der Vorhut zurückkamen.
Von dem, was jetzt geschah, was diese zwölf Schiffe entdeckten oder nicht, während sie mit der Geschwindigkeit von beschleunigten Teilchen das System durchquerten, würde abhängen, wie sich der nächste Abschnitt ihres Lebens gestaltete.
In den letzten Tagen hatten sie aus dem System sonderbare Energie-und Triebwerkssignaturen aufgefangen, die freilich längst nicht so bizarr waren wie der plötzliche Tumult im Umkreis von Nasqueron wenige Tage zuvor. Mehr als zwanzig Antimaterie-Explosionen. Und alle mit einer Ausnahme offenbar in einem sauberen, wenn auch nicht ganz glatten Kreis um den ganzen Planeten angeordnet. Die Detonationen waren zu weit draußen gewesen, um dem Gasriesen oder seinen Bewohnern größeren Schaden zuzufügen, und sie waren chaotisch gewesen, nicht wie die Zündung funktionsfähiger Sprengköpfe, sondern so, als hätte bei zwanzig – sehr großen – Schiffen nahezu gleichzeitig die Materie-Antimaterie-Eindämmung versagt. Ein bis zwei Minuten später hatte weniger als eine Lichtsekunde von Nasqueron entfernt eine noch größere AM-Explosion stattgefunden. Dem Profil nach war dabei ein Schiff von der Größe des dicken Brockens, den sie schon früher identifiziert hatten, gründlich zerlegt worden.
Danach gab es nur noch unklare Hinweise auf einen möglichen Abzug.
Denn eine plausible Erklärung, die auf die meisten Signaturen passte – niemand hatte bisher eine Erklärung gefunden, die alles abdeckte – lautete, dass die Schurken dabei waren, das Feld zu räumen. Niemand im Flottenkommando wagte tatsächlich daran zu glauben – die Streitmacht des Hungerleider-Kults war Jahrzehnte lang durch den Weltraum geflogen, um Ulubis zu erreichen: warum sollte sie schon nach wenigen Wochen mit eingezogenem Schwanz die ebenso lange Rückreise antreten? –, aber es war wohl eine der wahrscheinlicheren Optionen.
Die nächsten Daten würden die Entscheidung bringen, so oder so.
Der Schlachtkreuzer 88, das Flaggschiff des Vorhutgeschwaders, der die Echtzeitinformationen der zur Speerspitze formierten Streitmacht zusammentrug und an die Hauptflotte sendete, meldete drei schwere Schiffe in Detektions-, wenn auch nicht in Angriffsreichweite des vordersten Zerstörers. Er signalisierte zwei folgenden Kreuzern, ihre Flugbahnen entsprechend zu korrigieren und ferngesteuerte, nicht intelligente Munition bereit zu halten. vom Funkverkehr sickerte kaum etwas durch. vielleicht war einfach die Disziplin gut oder die Technik ein wenig besser, als sie gedacht hatten. Flankenkreuzer und Zerstörer meldeten Beschuss von einigen Raketenplattformen, angesichts ihrer Geschwindigkeit ein aussichtsloses Unterfangen. Viele Minen, gut verteilt. Spuren von AM-Material, das immer noch den Planeten Nasqueron umschwebte, das Trümmerprofil passte genau zu der Theorie, acht Tage zuvor seien zwanzig Schiffe gleichzeitig hochgegangen. Ein großes Schuttfeld, das sich vom Gasriesen weiterhin nach außen bewegte und dabei größer wurde, ließ sich mit der Zerstörung eines sehr großen Schiffes vereinbaren.
Kleinere feindliche Schiffe tauchten auf, das erste beschoss die durchziehende Flotte mit Strahlenwaffen. Keine Treffer. Der Zerstörer Bofors flog in tausend Kilometer Abstand an einem etwa gleich großen Schiff vorbei, identifizierte es als feindlich, bevor es ihn überhaupt bemerkt hatte, beschoss es mit harten Röntgenstrahlen aus seinem drehbaren, phasenmodulationsfähigen Geschützturm und zerstörte es, bevor es überhaupt reagieren konnte.
Sie hatten die Hälfte des Systems hinter sich. Und immer noch nicht mehr als die drei großen Zielobjekte gesichtet. Dabei sollten es ihrer Schätzung nach hunderte sein.
Die vier Schiffe am hinteren Ende der Speerspitze hatten einige der Ziele abgedrängt und/oder abgeschossen, die von den vorderen und mittleren Elementen des Geschwaders ausgemacht worden waren. Nun hatten sie Zeit, um Langstreckensensoren auf den Rand des Systems und weiter etwa dahin zu richten, wo sich das E-5-Separat befand, um die Bahn, die von der Hauptflotte aus immer nur im Neunzig-Grad-Winkel zu sehen gewesen war, aus der gleichen Richtung zu betrachten.
Triebwerkssignaturen. Hunderte. Fast tausend Schiffe auf dem Weg nach Hause, auf einer leicht schrägen Route, auf der sie in den letzten sechs oder sieben Tagen für die Hauptflotte nicht zu orten gewesen waren.
Eine halbe Stunde später war die Party eröffnet. Die Vorhut hatte das System nahezu durchflogen und bremste nun hart ab, um in zwanzig bis dreißig Tagen zurückzukehren, und die kleinen Formationen zwischen diesem Geschwader und der Hauptflotte hatten Befehl erhalten, alle weiteren Hochgeschwindigkeitsflüge zu streichen und innerhalb der individuellen Sicherheitstoleranzen mit dem Abbremsen zu beginnen.
Alles deutete darauf hin, dass das System von feindlichen Schiffen nahezu frei war und die Hauptflotte des Hungerleider-Kults sich auf ungefähr dem gleichen Kurs, auf dem sie gekommen war, mit hoher Geschwindigkeit zurückzog. Sogar die drei großen Zielobjekte beschleunigten jetzt und strebten in die gleiche Richtung wie die abziehende Invasionsstreitmacht. Ein paar Dutzend kleinerer Triebwerke leuchteten auf, als sich auch kleinere, leichtere Schiffe zum Abzug bereit machten. Man hätte wohl noch einiges aufzuräumen und müsste sich mit verschiedenen Minen und einiger Automatikmunition herumschlagen, während sich die feindliche Flotte aus dem Staub machte, aber es würde im Ulubis-System nicht zu einem Kampf zweier großer Flotten kommen. Die Megaschlacht war abgesagt worden.
Der Befehl lautete, das Ulubis-System um jeden Preis zurückzuerobern und zu halten. Man könnte der flüchtenden Flotte eine kleine, schnelle Streitmacht aus etwa einem Dutzend Schiffen hinterherschicken, um die Nachzügler zu bedrängen und den Invasoren zu zeigen, dass sie gut daran täten, sich auch weiterhin zügig zu entfernen, aber sie hatten ausdrückliche Anweisung, sich nicht in Massen in eine Entscheidungsschlacht zu stürzen. Der Sieg war bereits errungen. Es war ihnen streng verboten, das kleinste Risiko einzugehen und damit alles aufs Spiel zu setzen.
Im Kommandostab wurde gefeiert. Taince lag in ihrer Kapsel und hörte ihre Kameraden miteinander schwatzen. Freude und Erleichterung waren nicht zu überhören. Einige wandten sich auch an sie und brüsteten sich damit, dass schon die Drohung ihrer Ankunft genügt hätte, um eine dreimal so große Flotte zu verjagen. Verdammt, jetzt wären sie alle gern bei der Vorhut gewesen, um wenigstens etwas von den Kämpfen zu erleben. Aber wenn sie erst Ulubis erreichten, würde man sie sicherlich wie Helden empfangen. taince bemühte sich, ebenso viel Begeisterung aufzubringen, zu zeigen, dass sich die Anspannung gelöst hätte und alle Ängste vorüber seien und dabei unentwegt so zu tun, als wäre ihr ein ordentlicher Kampf im Grunde lieber gewesen.
– Vizeadmiral?
Das Bild von Admiral Kisipt verdrängte automatisch alle Bilder der feiernden Mannschaft.
– Admiral. Sie versuchte, ihr inneres Unbehagen zu unterdrücken.
– Sie können zufrieden sein. Nun brauchen wir Ihr Heimatsystem nicht zu sehr in ein Schlachtfeld zu verwandeln.
– Gewiss. Auch wenn es sicherlich nicht ohne Minen und Sprengfallen abgehen wird.
– Zweifellos. Und ich habe für alle Fälle volle Alarmbereitschaft angeordnet, bis wir das System erreichen. Kisipt hielt inne. Der alte Voehn legte den Kopf schräg und musterte sie. Ich nehme an, es hat Sie sehr belastet, sich auszumalen, was geschehen könnte, wenn wir nach Ulubis kämen?
– Wohl schon, admiral. Taince fragte sich, ob man ihn bereits von ihrer anfänglichen Nervosität in Kenntnis gesetzt hatte. War sie womöglich der Anlass für dieses Gespräch – diese Prüfung – gewesen?
– Hmm. Nun, nach den Befunden der Vorhut halten sich die Schäden in Grenzen. Wahrscheinlich können Sie bald beruhigt sein. Ich denke, wir werden Sie vor allem als Verbindungsoffizier und für protokollarische Aufgaben brauchen. Der Admiral lächelte. – Ist Ihnen das Recht?
– Aber gewiss doch. vielen Dank, Admiral.
– Gut. Der Admiral tat so, als betrachte er die Bilder, die um sein eigenes verteilt waren. – Dann werde ich jetzt noch mit einigen von den Leuten reden, damit wieder Ruhe einkehrt und sie sich daran erinnern, dass die Arbeit noch nicht getan ist. Weiter so, vize.
– Admiral.
Das Bild ihres Vorgesetzten verschwand. Taince vergrößerte keines der anderen Teilbilder, sondern verließ den Sozialraum und wechselte in den Taktikraum.
Was ist nur aus mir geworden?, dachte sie und starrte in die dunklen Tiefen, ohne bewusst wahrzunehmen, wie sich die bunten Linien bewegten und langsam verlängerten und wie Gruppen von Figuren, von Schiffen sich durch das Weltall um das Ulubis-System tasteten. Ich wollte tatsächlich eine richtige Schlacht. Tod und Vernichtung. Ich wollte Tod und Vernichtung. Ich wollte die Chance zu sterben, die Chance zu töten, die Chance zu sterben …
Sie starrte in die schreckliche Leere, während ringsum gefeiert wurde.
Was ist aus mir geworden?
Fassin fand keine Ruhe, während die Protreptik auf dem Weg zur FlugSchwinge Cheumerith, die hoch oben in den klaren Gasräumen zwischen zwei Dunstschichten in Band A schwebte, mit voller Kraft Nasquerons Zonen und Gürtel durchquerte. Vor dem ehemaligen Voehn-Schiff zerrissen die Wolken, aber es hielt sich immer dicht unter der Mitte der jeweiligen Schicht. Quercer & Janath vertrieben sich die Zeit damit, abwechselnd in Realzeit zu steuern und auszuprobieren, wie knapp sie an den TauchStängeln vorbeistreifen konnten. Das war mit viel Gejohle verbunden, und gelegentlich erzitterte auch das ganze Schiff unter einer mehr oder weniger sanften Kollision.
Fassin ließ den beiden ihr Vergnügen und schwebte nach hinten in den Raum, wo das Verhör und der anschließende Kampf stattgefunden hatten. Er sah sich gründlich um, betrachtete die Sitzgruben und die Haltegurte, die Schrammen und Brandspuren an Boden, Decke und Wänden. Aber er konnte sich an nichts erinnern. Das frustrierte, ja deprimierte ihn. Er schwebte in den Kommandoraum zurück. Kurz davor hielt er an und schaute in eine Kabine gleich hinter dem Flugdeck. Sie hatte offenbar dem Kommandanten des Schiffs gehört.
Möbel und Innendekoration waren eher spärlich. Fassin argwöhnte, dass einiges in den Händen der habgierigeren Alien-Schiff-Fans in Quaibrai geblieben war. Ein Quadrat an der Wand fiel ihm auf. Hier war etwas entfernt worden. Die Protreptik erschauerte. Aus dem Kommandoraum zwei offene Türen und einen Korridor weiter drang leiser Jubel. Auch Fassin erschauerte, erfasst von einem Gefühl des Déjà vu oder vom Schwimm.
›Ich wurde in einem Wassermond geboren‹, dachte er bei sich. Er wusste, dass es ein Zitat war, aber nicht, wen oder was er zitierte.
Wieder durchlief ein Schauer das Schiff. Vom Flugdeck war schrilles Kichern zu hören.
Null.
He, Fassin!, sendeten Quercer & Janath. – Anruf für dich. Durchstellen?
– Wer ist es?, fragte er.
– Keine Identifizierung.
– Menschliche Frauenstimme. Warte, wir fragen nach.
Null, dachte Fassin. Null. Verdammt, es war doch eine Antwort.
– Der Name ist Aun Liss.
– Kommt dir das irgendwie bekannt vor?
Die FlugSchwinge Cheumerith zeichnete sich wie eine schmale Klinge vor dem braunen Himmel ab. von Valseir keine Spur. Die Protreptik ging auf die Jagd nach weiteren TauchStängeln und versprach zurückzukehren. Fassin steuerte das kleine Gasschiff müde an den Dwellern vorbei, die an ihren Leinen an der Schwinge hingen, und wartete auf ein Zeichen.
Letztlich war das zweite Gasschiff nicht zu übersehen. Er entdeckte es aus zweitausend Metern Entfernung. Es bemerkte ihn gleichzeitig und sendete:
– Fassin?
– Nein. Ich bin ein Sprengkopf. Wer bist du?
– Aun. Du hast eine Waffe mitgebracht, wie ich sehe.
Er hatte aus der Protreptik eine Handwaffe der Voehn an sich genommen, als er eine Waffenkammer gefunden hatte, die nicht von den souvenirsüchtigen Schiffsfans von Quaibrai geplündert worden war. Quercer & Janath hatten keine Einwände erhoben, sondern ihn vielmehr allzu ausführlich über die Leistung und die Einsatzprofile der verschiedenen Waffen belehrt, während er doch nur etwas suchte, was robust, zuverlässig und stark genug war, um sich damit zu verteidigen oder Selbstmord zu begehen.
Nun schwenkte Fassin in seinem heilen Manipulator ein klobiges Ding aus dem Bereich PAW, wie Quercer & Janath es nannten – Primitiv Aber Wirksam.
Im Anflug hielt er die geladene Waffe auffällig vor sein Hauptsensorband. – Ja, sendete er. – Ein Andenken.
Er setzte sich neben die andere Maschine. Sie war nach Größe und Form der seinen ähnlich, wenn auch in wesentlich besserem Zustand, und um neunzig Grad anders orientiert, so dass die senkrechte Achse länger war als die Querachse. Sie schwebte in der windstillen Gastasche im Innern einer der offenen Diamantschalen, nahe am Backbordrand der zehn Kilometer langen FlugSchwinge. Misstrauisch – er konnte nicht mehr anders – bemerkte er, dass die Schalen zu beiden Seiten des kleinen Gasschiffes von großen Dwellern besetzt waren, die ziemlich jung aussahen, um sich, wenn auch nur vorübergehend, bei hoher Geschwindigkeit und in großer Höhe der Kontemplation hinzugeben. Die beiden Befestigungspunkte dahinter waren leer.
– Komm herein, sendete die andere Maschine und schob sich nach vorne, bis sich ihre Nase an die Innenfläche der Diamantschale schmiegte. Fassin zog nach und geriet ins Trudeln, als er aus dem heulenden Jetstream in die Tasche aus stillem Gas glitt.
Sie konnten sich fast berühren. Die ihm zugewandte Seite der zweiten Maschine wurde durchsichtig. Dahinter lag jemand, der durchaus Aun Liss sein konnte, fast waagrecht in einem Beschleunigungssitz. Die Gestalt hob mühsam einen Arm und winkte ihm zu, und der verbissene Ausdruck auf ihrem Gesicht wich einem breiten Grinsen. Auch Fassin machte den Panzer seines Gasschiffes so durchsichtig, wie es ging, aber das Ergebnis ließ zu wünschen übrig.
Und er versuchte nicht einmal, das Lächeln zu erwidern.
– Könntest du das Ding vielleicht von mir wegdrehen?, sendete sie. Sie lächelte noch immer. Ich weiß, das ist das erste Mal, dass ich so etwas zu einem …
– Nein, sendete er zurück. Die Voehn-Waffe blieb auf sie gerichtet.
– … Okay, sendete sie. Ihr Gesicht wurde ernst. – Willkommen daheim. Wie war die Reise?
– Nicht gut. Gibt es in dem Ding einen Manipulator, mit dem du umgehen kannst?
– Ja. Ich bin sicher kein Fachmann, aber …
Er schob sein eigenes Gasschiff nach vorne, bis es nur Zentimeter von dem ihren entfernt war. – Sprich auf die alte Art mit mir.
Sie runzelte die Stirn, dann lächelte sie unsicher. – Okay, sendete sie. – Das könnte etwas … äh … Er sah, wie sie den Blick auf ihren rechten Unterarm richtete, der zusammengequetscht auf der Armlehne des Beschleunigungssessels lag. Sie sah so aus wie immer und doch ganz anders. Das Haar war diesmal weder blond, noch rot, noch weiß, sondern dunkel. Die hohe Schwerkraft und der Versuch, den Arm zu beobachten, während sie das ungewohnte Manipulator-Interface betätigte, verursachten ein Doppelkinn. Er war bereits ziemlich sicher, dass es Aun war, aber er war immer noch bereit, sie zu töten.
Der Manipulator wurde langsam und stockend ausgefahren. Fassin hielt den seinen tunlichst fern, die Waffe blieb auf sie gerichtet. Die großen Dweller zu beiden Seiten hatten sich nicht geregt. Der Manipulator schob sich vor und berührte den Rumpfpanzer seines Gasschiffchens. Die Fingerenden spreizten sich unbeholfen.
Letztlich musste sie doch die Augen schließen. Die Finger begannen, Morsezeichen auf die abgewetzte, nahezu gefühllose Haut des Gasschiffs zu klopfen … SS ( ) … SOR ( ) SOMR ( ). Sie wurde ungeduldig, als sich der Manipulator ihrem Willen nicht unterwerfen wollte. Ihre Miene verfinsterte sich, die Augen wurden zusammengekniffen, tiefe Falten erschienen auf der Stirn. wieder brannten ihm die Tränen in den Augen. Obwohl er sie immer noch hätte erschießen können – oder sich selbst – oder sonst jemanden.
… LS MR NCH VRRCKT? brachte sie schließlich zustande. Ihre Augen öffneten sich, und ihr strahlendes Lächeln verriet, wie erleichtert und mit sich zufrieden sie war.
Er schaltete die Waffe ab.
Sie schwebten gemeinsam in der reglosen Gasblase hinter der Diamantschale, die in der tiefen Krümmung am rückwärtigen Ende der dünnen FlugSchwinge hing.
– Nicht wir. Das waren nicht wir. Nicht schuldig. Es waren nicht einmal die Dreckskerle von Hungerleidern, so skrupellose Mörder sie auch sein mögen.
– Wer war es dann?
– Die Merkatoria, Fass. – Sie hat deine Leute getötet.
– Was? – Warum?
– Man hatte herausgefunden, dass der Sept Bantrabal die Projektion noch besaß, die man geschickt hatte, um dich zu instruieren. Sie sollte sofort nach dem Briefing aus dem Substrat entfernt werden, aber das war nicht geschehen. Es war keine richtige KI, wie man sie an den Hierchon schickte, aber der Unterschied war nicht groß. Die Projektion war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer echten KI, und sie war entwicklungsfähig. Das war der Grund. Die Angriffe, die wir und die Hungerleider führten, gaben der Merkatoria die nötige Deckung, aber selbst wenn die Wahrheit herauskäme, würde sie nur bekräftigen, wie ernst man es dort mit dem KI-Verbot nahm.
Es hätte so gewesen sein können. Der alte Slovius hatte sich immer bemüht, den anderen Septen einen Schritt voraus zu sein, und damit Bantrabal im Lauf der Jahre zu seiner herausragenden Stellung verholfen. Es klang einleuchtend, es passte zu Slovius, er hätte auch sein Fußvolk entsprechend unter Druck gesetzt. Und der Merkatoria war ohnehin alles zuzutrauen.
– Woher weißt du das?, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. – Die Spitzel sind überall, Fass, erklärte sie fast beschämt. – Wir haben viele Freunde.
– Das kann ich mir denken.
Ob er ihr glaubte? Vielleicht bis auf weiteres.
Die Beyonder hatten von der Liste und der Transformation gewusst. Und das offenbar – wie so viele andere – schon lange vor ihm. Er selbst hatte erst begriffen, worüber er bei jenem längst vergangenen Trip gestolpert war, als die Projektion von Admiral Quile es ihm und allen anderen im Palast des Hierchon erklärt hatte. In der Zwischenzeit hatten die Beyonder längst ihre eigene Flotte ins Zateki-System geschickt, weil sie – wie die Jeltick, die als Erste die von ihm gefundene Information entschlüsselt und ihre Bedeutung erkannt hatten – glaubten, die Transformation dort in dem Zweiten Schiff zu finden. Und sie waren bereits von den Voehn besiegt worden. Offenbar war die Hälfte der verdammten Galaxis um Zateki herumgeschwirrt und hatte nach einem Schiff gesucht, das nicht mehr da war, falls es jemals da gewesen sein sollte, während er von alledem keine Ahnung hatte.
– Warum hast du mich nicht einfach gebeten, danach zu suchen?, fragte Fassin. – Verdammt, ich hätte schon vor Jahrhunderten versucht, die Transformation in Nasq ausfindig zu machen, ihr hättet nur ein einziges Mal danach zu fragen brauchen.
Sie sah ihn lange an, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von … er war nicht sicher. Traurigkeit, Mitleid, Bedauern, Verzweiflung?
– Was hast du?, sendete er.
– Die Wahrheit?, fragte sie.
– Die Wahrheit.
– Fassin. Sie schüttelte den Kopf. – Wir haben dir nicht getraut.
Er starrte sie nur an.
Fassin sagte ihr, was er entdeckt zu haben glaubte, und teilte ihr auch seine Schlussfolgerungen mit. Sie glaubte ihm nicht.
– Kommst du mit uns?
– Kann ich? Darf ich?
– Natürlich. Wenn du willst.
Er überlegte. – Okay, sendete er dann. Er überlegte noch einmal. – Aber vorher muss ich noch mit jemandem sprechen.
Setstyin nahm gerade ein Wasserbad, als der Besucher eintraf. Eine neue und sehr wohltuende Mode. Sein Diener meldete den Seher Fassin Taak. Setstyin war angenehm überrascht, eine köstliche, leicht makabre Vorfreude erfüllte ihn.
»Bestelle Seher Taak, ich würde ihn mit großem Vergnügen empfangen«, befahl er seinem Diener. »Bitte ihn, in der oberen Bibliothek zu warten. Tu alles, um ihm den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen. Ich bin in zehn Minuten bei ihm.«
»Fassin! Wie schön, dich zu sehen! Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue. Wir dachten – nun, wir hatten schon das Schlimmste befürchtet, ich schwöre es dir. Wo warst du denn die ganze Zeit?«
Fassin war sichtlich um eine Antwort verlegen. »Ich kann es dir nicht sagen, weil ich fürchte, du würdest mir nicht glauben«, erklärte er endlich ruhig.
Das Gasschiffchen schwebte mitten in der kreisrunden Bibliothek, deren Wände und Boden aus Kristallblöcken bestanden. Licht fiel durch die durchsichtige Decke und die eine große Tür, die auf einen breiten Balkon ohne Geländer führte.
Setstyins Haus lag in der Äquatorzone in der Stadt Aowne mitten im Gas. vor dem großen Fenster zogen langsam die satt gelben und orangeroten Wolken vorbei.
»Meinst du?«, fragte Setstyin. »Du könntest es doch zumindest versuchen. Und bitte sag mir, ob ich irgendetwas für dich tun kann. Komm, setzen wir uns.
Sie ließen sich in zwei Sitzgruben zu beiden Seiten eines niedrigen Tisches nieder. Gleich daneben stand ein wesentlich stabilerer und pompöserer Schreibtisch.
»Es ist eine lange Geschichte«, begann Fassin.
»Je länger, desto lieber!«, rief Setstyin und zog seine langen Gewänder fester um sich.
Fassin zögerte einen Moment, wie um seine Gedanken zu ordnen. Der Bursche wirkte ziemlich abgestumpft, dachte Setstyin, und im Vergleich zu früher sehr viel schwerfälliger.
Fassin schilderte dem Suhrl einige seiner Abenteuer seit ihrer letzten Begegnung auf dem (zu dementierenden) Planeten-Protektor Isaut. Er beschrieb auch etwas genauer, was er vorher getrieben hatte, und entschuldigte sich, falls er zu zögerlich oder zu vergesslich wäre; er hätte in letzter Zeit viel durchgemacht, manche Erinnerungen seien verloren gegangen und tasteten sich erst allmählich wieder ins Bewusstsein. Auf seinen Auftrag ging er nicht genauer ein, und er konnte dem Dweller auch nicht viel über die Geschehnisse nach dem Angriff der Voehn auf die Velpin sagen, aber er berichtete so detailliert, wie es ihm möglich war.
»Ich begreife nicht«, sagte Setstyin. »Soll das heißen, du wärst … du wärst in anderen Sonnensystemen gewesen? Auf der anderen Seite der Galaxis? Ich … das kann ich einfach nicht …«
»Ich selbst war mindestens ebenso skeptisch«, sagte Fassin. »Ich habe alle Tests durchgeführt, die mir einfallen wollten, aber offenbar war ich tatsächlich an den Orten, die mir der Vollzwillings-Captain nannte.«
»Dir ist sicher bekannt, dass man mit voll-immersiven VR-Systemen großartige Wirkungen erzielen kann«, sagte Setstyin unbeholfen.
»Ich weiß. Aber das war entweder real, oder es ging selbst über voll-immersive VR weit hinaus.«
Setstyin schwieg eine Weile. »Weißt du – bitte, versteh mich nicht falsch –, du siehst wirklich ziemlich mitgenommen aus, Fass, alter Junge.« Der Dweller betrachtete die verschiedenen Beulen und Narben, die das Gasschiffchen in den letzten Monaten abbekommen hatte. Der defekte linke Manipulatorarm hing leicht schief und ungelenk an der Flanke. Fassin schämte sich fast für das Aussehen seines Schiffes, so als wäre er in schmutziger und zerfetzter Kleidung in die Bibliothek eines vornehmen Herrn gekommen.
»Du hast Recht«, pflichtete er bei. »Wie gesagt, ich will gar nicht leugnen, dass mein Gedächtnis nicht mehr das ist, was es einmal war. Der Speicher des Gasschiffes hat gelitten, und mein Verstand ist auch nicht mehr so scharf wie früher.« Er lachte. »Aber ich weiß, was ich gesehen, gespürt, gehört und geschmeckt habe. Ich habe auf Felsen gestanden und zugesehen, wie sich die Wellen eines Salzwasserozeans am Strand brachen, und ich war wirklich dort, Setstyin. Ich war dort.«
Der Dweller kräuselte seinen Sensorsaum und bewegte ihn leicht auf und ab – ein Seufzer. »Natürlich bist du überzeugt, das alles erlebt zu haben, Fassin, und ich für mein Teil wäre immer bereit, dir zu glauben. Aber viele andere wären nicht so nachsichtig. Vielleicht wäre es besser, deine Geschichte nicht allzu laut herumzuposaunen.«
»Damit könntest du Recht haben.«
»Und … wie soll ich sagen … Wenn diese Sache mit den Wurmlöchern wirklich so geheim ist, wie kommt es dann, dass man dich – zumindest scheinbar – ans andere Ende der Galaxis oder sonst wohin gebracht hat … Wieso konntest du Ulubis verlassen?«
»Jemand wollte wohl beweisen, dass der Mythos Wirklichkeit ist. Einige Leute, einige Dweller sind der Meinung, die Zeit sei reif für Veränderungen. Sie kennen vielleicht nicht alle Einzelheiten, aber sie möchten, dass die Wahrheit bekannt wird. Niemand wäre so weit gegangen, einem Nicht-Dweller einfach alles zu erzählen, aber man konnte ja irgendeinen Tölpel mit der Nase darauf stoßen. Und dieser Tölpel bin vermutlich ich. Ein Tölpel erster Ordnung. Natürlich ein zu dementierender Tölpel.«
»Und dieser … Expeditionscaptain? Was war er noch einmal?
»Ein Vollzwilling.«
»Ja, die gibt es in dieser Gruppe oft, wie man hört. Und sie behaupten tatsächlich, so weit herumzukommen? Das war mir nicht klar. wie war noch sein – ihr Name?«
»Den kann ich nicht preisgeben, das wirst du sicher verstehen.«
»Natürlich, natürlich.« Setstyin dachte angestrengt nach. »Wenn es aber so ein … äh … so ein Wurmloch-Ding in der Nähe von Nasqueron gibt, wem gehört es dann? Wer kontrolliert es? Und wo, so fragt man sich unwillkürlich, befindet es sich genau? Sind solche Wurmloch-Portale nicht sehr groß und auffällig?«
»Man kann sie ziemlich klein machen. Aber es stimmt, eigentlich hätte man sie längst entdecken müssen.«
»Richtig.«
»Und ich schätze, sie werden von einem Club oder einer Bruderschaft betrieben, von einer Organisation wie der, die sich um die Planetenverteidigung kümmert.«
»Hmmm. Das wäre wohl … nahe liegend.
»Und deshalb komme ich zu dir, Setstyin«, sagte Fassin. »Vielleicht hast du ja etwas von der Sache gehört, von einer Gruppe von Dwellern, die diese Portale benützt.«
»Ich?«, der Dweller fuhr überrascht, ja schockiert zurück. »Aber nein. Ich meine, das sind doch Bereiche, mit denen ich normalerweise nie etwas zu tun hätte. Aber es wäre schon eine tolle Sache, nicht wahr? Ich meine, wenn sich herausstellen sollte, dass dieses Wurmloch die ganze Zeit da war. Findest du nicht?«
»Man erzählt sich Geschichten, mythen,über ein ganzes Netz von den Dingern.«
»Diese Dweller-Liste?« Setstyin hielt inne und starrte ihn fassungslos an. »Danach hast du also die ganze Zeit gesucht?«
»Nicht nach der Liste, sondern nach der Transformation, die angeblich den Schlüssel zur Liste enthält«, verbesserte Fassin.
»Und – hast du sie gefunden?«
Fassin antwortete nicht sofort. Setstyin beobachtete, wie das Gasschiffchen so tat, als würde es sich in der Bibliothek umsehen. »Sind wir hier ganz ungestört? Ich meine, ist der Raum abhörsicher?«, fragte Fassin.
»Das hoffe ich doch«, sagte Setstyin. »Warum?«
»Könnten wir vielleicht auf Signalflüstern umstellen, Setstyin?« , fragte Fassin. »Inzwischen fällt mir das zwar schwerer, als normal zu sprechen, du musst Geduld haben, aber es ist sicherer.«
– Natürlich, sendete der Dweller.
– Nun, ich halte es für möglich, dass ich die Transformation gefunden habe. Der Mensch sendete jedes Wort mit Bedacht.
– Tatsächlich?
– … Tatsächlich.
– Du wirst verstehen, wenn ich etwas skeptisch bin?
– Das ist nur natürlich.
– Wo hast du diese Transformation gefunden?
– Am Körper jenes toten Dwellers im Nekro-Schiff der Ythyn am anderen Ende der Galaxis.
– Ach nein! Wie kam sie denn dahin?
– Sie war in einer Art von Sicherheitsbehälter.
– Und wer hat sie dort verwahrt?
– Das weiß ich nicht.
– Und woraus bestand diese Transformation?
– Aus einer Gleichung.
– Du meinst, eine mathematische Gleichung?
– Genau. Sie sah fast so aus, wie gewisse Leute erwartet hatten – ein Code und eine Frequenz für ein Sendesignal – aber letztlich war es nur eine Gleichung.
– Und damit sollte man diese Liste verstehen?
– So hatte man es uns allen gesagt.
– Hmm. aber?
– Aber rate mal, was herauskam, als ich die Gleichung gelöst hatte?
– Oh. Ich habe keine Ahnung. Nun sag schon.
– Nichts kam heraus. Null. Die Transformation war letztlich nichts anderes als ein raffinierter mathematischer Witz.
Fassin signalflüsterte ein Lachen.
Setstyin stimmte in seine Heiterkeit ein. – Ich verstehe. Wenn du also nach dieser Transformation suchen solltest, dann könnte man sagen, du hättest deine Mission erfüllt, wenn auch nicht so, wie du es dir gedacht hättest. Richtig?
– Meine Überlegungen gingen etwa in die gleiche Richtung.
– Nun, zumindest bist du von den Unannehmlichkeiten dieser Invasion verschont geblieben, unter denen deine Landsleute so sehr zu leiden hatten. Ich habe an dich gedacht und die Situation verfolgt. Es sieht alles ziemlich trübe aus. Und es geht immer noch weiter. Inzwischen sind auch wir betroffen. Erst gestern gab es Explosionen im Umkreis von Nasqueron. Hast du davon etwas mitbekommen?
– Oh ja. Aber man hört Gerüchte, wonach die Invasoren kurz vor dem Abzug stünden.
– Vielleicht geht auch das auf das Konto unserer Planetenverteidigung. Natürlich gibt es die üblichen Dementis. Hm, ich fürchte, selbst wenn ich mehr wüsste, könnte ich darüber nicht sprechen. Du verstehst?
– Natürlich, sendete Fassin. – Du weißt also nichts von diesen Wurmlöchern? Du hast nie davon gehört? Ich dachte nur, bei deinen guten Beziehungen …
– Für mich ist das alles vollkommen neu, Fassin. Mag sein, dass eine kleine Gruppe solche Dinge kontrolliert, aber offen gestanden fällt es mir schwer, daran zu glauben.
– Na schön, sendete Fassin. Dann schwieg er eine Weile.
– Ja?, ermunterte ihn Setstyin schließlich.
– Weißt du, antwortete Fassin langsam. – Ich hatte dazu nämlich eine Idee.
– Eine Idee? Soso.
– Angenommen, die Lösung der Transformation wäre kein Witz?
– Kein Witz? Aber sie ist doch null. Was soll man damit anfangen?
– Pass auf, sendete Fassin. Das Gasschiffchen schob sich in der Sitzgrube ein wenig weiter nach vorne, näher an Setstyin heran. – Ich hatte mir überlegt, was man nach so langer Zeit mit einer Gleichung noch anfangen könnte. Was wäre ein nützliches Ergebnis? Eine Frequenz und ein Code, den man auf dieser Frequenz senden könnte, wären das Einzige, was wirklich sinnvoll wäre; dann könnte man diese Wurmlöcher überall in den angegebenen Systemen verstecken und bräuchte sie nur bei Bedarf zu aktivieren. Somit war die ganze Sache schon dadurch sinnlos, dass es sich bei der Transformation um eine Gleichung handelte, auf die Lösung kam es gar nicht mehr an.
– Wenn du es sagst, wird es schon stimmen, sagte Setstyin. – Ich kann dir nicht mehr so ganz folgen, aber es klingt ungemein überzeugend.
– Und dann diese albernen Drehungen und Spiralen beim Passieren der Wurmloch-Portale, als ich an Bord war. Natürlich wollte man mich sensorisch von der Außenwelt abschneiden, aber wozu die Spiralen?
– Hm, ja, auf dem Schiff. Ich verstehe.
– Allein schon die Tatsache, dass eure Dweller-Gesellschaft offenbar doch so etwas wie eine richtige Zivilisation ist …
– Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, Fass.
– Und dass ihr offensichtlich über Technologien verfügt, die wir bis heute nicht begreifen.
– So sind wir eben, wir Dweller, nicht wahr? Du meine Güte, du bringst mich mit alledem ganz schön aus dem Gleichgewicht.
– Wenn man aber nun die Transformation ganz wörtlich nimmt, dann besagt sie, dass die Korrekturen, die man bei jedem Eintrag auf der Dweller-Liste vornehmen muss, um herauszufinden, wo sich die Wurmloch-Portale in Bezug auf die ursprünglichen Positionen befinden, gleich …
Fassin forderte Setstyin zu einer Antwort auf, indem er den heilen Arm des Gasschiffchens ausstreckte.
Der Dweller sträubte seine Sensorkrause, die sich seltsam verfärbt hatte. Entschuldige, Fassin, aber mir wird ganz komisch.
– … gleich null sind, schloss Fassin. Es ist keine Korrektur erforderlich.
– Tatsächlich? Was du nicht sagst! Das ist wirklich faszinierend.
– Und worauf basierte die ursprüngliche Liste? Was gab sie an?
Wieder gab er dem Dweller Gelegenheit zu antworten, aber der schwieg.
– Sie zeigte die Positionen der von Dwellern bewohnten Gasriesen! Fassin legte seinen ganzen Triumph in den signalgeflüsterten Satz.
– Soso. Ich fühle mich etwas unwohl, Fass. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich …?
Setstyin erhob sich, rotterte leicht schwankend zu seinem Schreibtisch und fing an, Fächer und Schubladen zu öffnen. Endlich blickte er auf. »Sprich ruhig weiter«, sagte er. »Ich suche nur meine Medikamente. Sie müssen hier irgendwo sein.«
Während der Dweller in den Schubladen wühlte, hielt er seine Signalvertiefung unterhalb der Schreibtischplatte, wo sie der Mensch in seinem Gasschiff nicht sehen konnte, und schickte eine Nachricht an seinen Diener.
– Hatte Mr. Taak irgendwelche Waffen bei sich?
Wenig später kam die Antwort: – Nein. Das Haus hat ihn natürlich automatisch überprüft. Bis auf seine Manipulationsinstrumente ist er waffenlos.
– Verstehe. Das ist alles.
Das Pfeilschiff schwenkte herum, um den Dweller im Visier zu behalten.
– Die Liste kommt auch ohne die Transformation aus, erklärte Fassin. – Man braucht nur zu wissen, dass die Planeten die Standorte sind.
– Tatsächlich? Soso. Und wie ist das möglich?
Das Gasschiffchen stieg höher und schwebte über der Sitzgrube.
– Weil sich eure Wurmloch-Portale im Innern eurer Planeten befinden, Setstyin, sendete Fassin ungerührt.
Der Dweller erstarrte, dann öffnete er eine letzte Schublade. »Aber das ist doch lächerlich«, sagte er laut.
»Genau im Zentrum«, fuhr Fassin fort. Auch er hatte in die Normalsprache gewechselt. »Wahrscheinlich im Zentrum jedes einzelnen Gasriesen, der von euch bewohnt wird. Als die Liste aufgestellt wurde, waren es erst – wie viele? – zwei Millionen, richtig? Aber das ist lange her, und sie war schon damals ein historisches Dokument. Es würde mich nicht überraschen, wenn ihr inzwischen auch den letzten Dweller-Planeten angeschlossen hättet.«
»So Leid es mir tut, Fassin«, sagte Setstyin, »aber damit könntest du kein Kind überzeugen. Jedermann weiß, dass Wurmloch-Portale nur in flachen Raumabschnitten funktionieren.«
»Das ist ja gerade das Schöne. Das Zentrum eines Planeten ist flach«, sagte Fassin. »Im innersten Zentrum eines Planeten, im Zentrum jedes frei schwebenden Körpers – ob Sonne, Felsen, Gasriese, was auch immer –, wird man mit gleicher Kraft nach allen Richtungen gezogen. Es ist, als kreiste man schwerelos um eine Welt. Die einzige Schwierigkeit ist natürlich, im Kern eines Planeten, einer Sonne oder was auch immer überhaupt ein Raumvolumen offen zu halten. Der Druck ist gewaltig, fast unvorstellbar, besonders in einem Gasriesen von der Größe von Nasq, aber so etwas ist letzten Endes technisch lösbar. Ihr hattet ja zehn Milliarden Jahre Zeit, um euch damit zu beschäftigen. Und alles, was nicht unmöglich ist, hattet ihr längst gelernt, als die Galaxis ein Viertel so alt war wie heute.
Ihr braucht also keine Portale im All zu stationieren, wo jeder sie sehen, benützen oder angreifen könnte, ihr braucht nicht einmal euren eigenen Planeten zu verlassen. Ihr sucht nur gut getarnte Schächte auf, die ins Zentrum eurer Welt hinabführen. Vielleicht an den Polen. Das wäre nahe liegend. Und wenn man jemand an Bord hat, der vielleicht wissen möchte, wohin man fliegt, dann beschreibt man diese verwirrenden Spiralen und strahlt in dem Raum, wo sich der Passagier aufhält, ein paar Bilder vom Weltall aus, damit er nicht merkt, dass es nach unten geht anstatt nach oben, dass er in den Kern sinkt, anstatt ins All zu fliegen.«
»Da ist sie ja«, sagte Setstyin. Er zog eine große Handwaffe aus der Schublade. Jetzt schwankte er nicht mehr. Er zielte und feuerte, bevor das Gasschiffchen reagieren konnte.
Die Strahlen fuhren in das Pfeilschiff und schleuderten es gegen einen Stapel Bibliothekskristalle. Setstyin hörte nicht auf zu schießen. Das Schiff schlug wilde Purzelbäume. Trümmer fielen auf den Boden, Feuer breitete sich aus. Einzelne Teile rollten wie wild über die glitzernden Blöcke, durchschlugen die Bucheinbände und verwandelten die Kristallseiten in Staub. Was von dem kleinen Schiff noch übrig war, krachte durch die Tür und schoss über den Balkon nach draußen. Die Diamantscheiben zersplitterten wie Zuckerglas. Endlich stellte Setstyin das Feuer ein.
Es regnete Schutt. Der Rauch trieb langsam auf die zerschmetterte Balkontür zu und zog nach draußen ab.
Die Waffe fest auf die qualmenden Überreste des Schiffchens gerichtet, rotterte der große Dweller vorsichtig auf die Tür zu.
»Herr?«, meldete sich sein Diener über die Haussprechanlage. »Ist alles in Ordnung? Mir war so, als hätte ich …«
»Schon gut«, rief Setstyin, ohne die Trümmer aus den Augen zu lassen. »Es geht mir gut. Später gibt es hier einiges aufzuräumen, aber mir ist nichts passiert. Und jetzt lass mich in Ruhe.«
»Zu Befehl!«
Ein warmer Wind erfasste Setstyins Gewänder, als er durch die Tür schwebte und genau über dem schwelenden Wrack anhielt. Er berührte die Reste mit dem Lauf seiner Waffe, dann hebelte er ein Stück der Außenhaut weg.
Und spähte ins Innere.
»Verdammter Dreckskerl!«, schrie er, schoss in die Bibliothek zurück und jagte durch das Gas zu seinem Schreibtisch. »Tisch! Sichere Verbindung! Sofort!«
Aun Liss beobachtete den Mann, als sein kleines Schiff, seine zweite Haut zerstört wurde.
Fassin zuckte nur einmal zusammen, als hätte er Schmerzen.
Aun fand, er sehe schlecht aus. Sein Körper in dem geborgten Overall war abgemagert und wurde unentwegt von einem leichten Frösteln geschüttelt. Sein Gesicht sah viel älter aus als früher, verkniffen und hager, die Augen tief eingesunken und von dunklen Ringen umgeben. Das schüttere Haar kräuselte sich leicht, es war während der Zeit im Gasschiff ein wenig gewachsen. Die Augen, die Ränder von Ohren und Nasen sowie die Mundwinkel waren nach der langen Zeit im Schockgel – und vom Abfließen des Kiemenwassers – leicht entzündet.
»Also immer noch verrückt. Das sagtest du doch vorhin.« Er sah sie von der Seite an. Sie bemerkte erfreut das vergnügte Funkeln in seinen Augen. »Und? Hältst du mich immer noch für verrückt?«, fragte er.
Sie lächelte. »Ziemlich.«
Sie saßen im hellen, wenn auch engen Kommandoraum der Ökophobie, einem Beyonder-SchockSchiff. Der mittelschwere Schlachtkreuzer lag eine halbe Lichtsekunde vor Nasqueron und war mit dem inzwischen zerstörten Gasschiff über ein Duplikat des augapfelgroßen Mikrosatelliten verbunden, der einen Tag zuvor genau an der vereinbarten Stelle gewesen war, so dass ihn Fassin von der hohen Plattform in Quaibrai aus hatte anpingen können.
Erstaunlicherweise empfingen sie immer noch elementare telemetrische Daten von dem zerstörten Gasschiff, aber keine sensorischen Inhalte mehr. Die Maschine war sehr gründlich zerlegt worden.
Daneben zeigte ein Bildschirm die letzte Aufnahme, die das Gasschiffchen übertragen hatte: Setstyin richtete eine große Handwaffe dicht auf die Kamera, und im dunklen Lauf der Waffe glühte ein erster winziger Lichtfunke. Fassin nickte zu dem Bild hin. »Ich möchte gleich hinzufügen, dass dies nicht den üblichen Vorstellungen der Dweller von Gastfreundschaft entspricht.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. vielleicht hat er nur durchgedreht, weil du einfach den Mund nicht halten wolltest?«
»Ich meine es ernst.«
»Du meinst es ernst? Und was meinte der Bursche mit der großen Hau-ab-Kanone?«
»Aun«, sagte Fassin. Es klang müde. »Glaubst du mir jetzt?«
Sie zögerte, zuckte die Achseln. »Ich halte es mit deinem aggressiven Freund; ich glaube, dass du davon überzeugt bist.«
Der Strom von telemetrischen Daten riss ab.
Die Technikerin, die für die Fernsteuerung zuständig war, kam herein und justierte die Holos über einem der Displays. »Das war nicht etwa das Gasschiff, das den Geist aufgab«, erklärte sie. »Jemand hat den Mikrosatelliten gegrillt. Schnelle Arbeit. Empfehle, schleunigst von hier zu verschwinden.«
»Hüte festhalten«, sagte der Captain. »Weit zurücklehnen.«
Das Schiff beschleunigte. Sie wurden in ihre Sitze geworfen, gepresst und schließlich gerammt. Die Offiziere wechselten von physischer auf Induktionssteuerung. Die kardangelagerte Kommandosphäre schwenkte herum, um den Andruck auch weiter auf die Brust wirken zu lassen.
»War das wirklich Ihr Ernst, Mr. taak?«, stieß der Captain mühsam hervor. Die Beschleunigung drückte ihre Kehlen zusammen wie ein Schraubstock.
»Ja«, würgte Fassin heraus.
»Es gibt also ein geheimes Netzwerk von uralten Dweller-Wurmlöchern, das – wie? – alle Dweller-Gasriesen miteinander verbindet?«
Fassin atmete mühsam ein und rang sich ein »So in etwa« ab. wieder ein Atemzug. »Sie schicken alles … was wir … vom Gasschiff … empfangen haben … an Ihr Oberkommando?«
Der Captain brachte sogar ein Lachen zustande. »Soweit davon die Rede sein kann.«
»Scheiße«, sagte der Verteidigungsoffizier mit gepresster Stimme. »Wir wurden erfasst.« Er atmete schwer. »Ein schnelles Schiff. Zu schnell für uns. Auf vierzehn!«
»Feuer aus allen Rohren«, befahl der Captain knapp. »Absprengen des Kommandoraums vorbereiten. Wir werden durchs All treiben und hoffen, dass die Furchtlos in der Nähe ist.«
»Vor dem Absprengen müssen wir wenden, sonst geraten wir in den Trümmerregen«, sagte der Taktik-Offizier.
»Verstanden«, antwortete der Captain. »Schade. Habe dieses Schiff immer so gemocht.«
Das Schiff flog einen scharfen Schwenk. Fassin fiel in Ohnmacht und bekam nicht mit, wie sie von der Ökophobie weggeschleudert wurden.
Drei Tage später wurde die Kommandosphäre vom Schlag-Schiff Furchtlos aufgefischt.
»Taince«, sagte Saluus Kehar grinsend. »Hallo. wie schön, dich wiederzusehen.« Er ging auf sie zu und schloss sie in die Arme.
Taince Yarabokin hatte sich ein Lächeln abgerungen. sie hatte zu ihrer Uniform eine altmodische Offiziersmütze gewählt, die sie nun mit dem Ellbogen an die Seite drückte. Das lieferte ihr einen Vorwand, die Umarmung nicht allzu überschwänglich zu erwidern. Sal schien es ohnehin nicht zu bemerken. Er trat zurück und sah sie an.
»Lange her, taince. Freut mich, dass du es geschafft hast.«
»Schön, wieder hier zu sein«, sagte Taince.
Sie befanden sich in einem Hangar in der Gefängnisanlage Achse 7 der Sicherheitskräfte, einem Habitat aus drei Rädern im Orbit um ’glantine. Saluus wurde dort seit zwei Monaten festgehalten, weil sich die Behörden nicht entscheiden konnten, ob die Geschichte seiner Entführung tatsächlich der Wahrheit entsprach, oder ob er nur geflohen war oder sogar die Seiten gewechselt hatte.
Er hatte sich freiwillig Dutzenden von Hirnscans unterzogen – in gewöhnlichen Fällen mehr als genug, um alle Zweifel auszuschließen, und natürlich hatte er Beziehungen und Freunde in höheren Kreisen, die unter normalen Umständen nur allzu bereit gewesen wären, ein diskretes Wort in wahrscheinlich sehr empfängliche Ohren zu flüstern. Aber man hielt seinen Fall für außergewöhnlich. Sal sei reich genug, um sich technische oder operative Eingriffe geleistet zu haben, die jeden Hirnscan zu täuschen vermochten, möglicherweise hätten ihm auch die Hungerleider falsche Erinnerungen implantiert, und überhaupt hätte man um seine vermeintliche Desertion zu den Invasionstruppen so viel Aufhebens gemacht, dass man ihn nun nur mit der Begründung, er sei wohl doch unschuldig, nicht so ohne weiteres laufen lassen könne.
Als Saluus verschwunden und allem Anschein nach zum Verräter geworden war, hatte es Anschläge gegen das Privat-und das Firmeneigentum der Kehar-Familie gegeben, und er war von jeder Instanz der Ulubis-Merkatoria aufs Heftigste verurteilt worden. Dahinter stand nicht nur moralische Entrüstung sondern die Genugtuung darüber, endlich auf etwas einschlagen zu können. Persönlichkeiten, die sich bis dahin als Sals Freunde bezeichnet und regelmäßig in seinen vielen Häusern seine Gastfreundschaft genossen hatten, waren tief gekränkt gewesen und hatten sich im Hinblick auf die öffentliche Meinung – ganz zu schweigen von ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihren Karriereaussichten – verpflichtet gefühlt, seine verabscheuungswürdige Niedertracht mit ständig wachsender Empörung zu brandmarken. Aus den Schmähungen, mit denen man Sals Haupt in seiner Abwesenheit überhäuft hatte, hätte sich ein ganzes Wörterbuch der Gehässigkeit, ein Lexikon der Feindseligkeit zusammenstellen lassen. Zuletzt hielt man ihn vor allem zu seiner eigenen Sicherheit weiter in Haft.
Als sich mit dem Abzug der Hungerleider und dem Eintreffen der Generalflotte im gesamten Ulubis-System Erleichterung und Euphorie breit machten, ließ sich die schockierende Nachricht von Sals Unschuld in der Öffentlichkeit sehr viel besser verkaufen, und man konnte bekannt geben, dass er zu gegebener Zeit freigelassen würde. Die hasserfüllten Vorwürfe wurden weitgehend zurückgenommen, dennoch hielt man es auch weiterhin für das Beste für alle Beteiligten, Sal nicht schlagartig, sondern allmählich zu rehabilitieren und wieder ins öffentliche Leben einzuschleusen.
Taince hatte sich freiwillig dafür gemeldet – ja sogar massiv ihren Einfluss geltend gemacht – Sal vom Arrestschiff abzuholen und zum Stammsitz der Kehar-Familie auf ’glantine zu fliegen.
Ein Major der Sicherheitskräfte verlangte vor der Übergabe ihre Unterschrift.
Sal betrachtete ihren Namen auf dem Block. »Mit diesem Autogramm schenken Sie mir die Freiheit, vizeadmiral«, sagte er. Er trug seine eigene Kleidung. Ein schlanker, unbekümmerter, vitaler Mann.
»Gern geschehen«, antwortete sie und sah den Offizier an. »War das alles, Major?«
»Ja, Madame.« Er wandte sich an Saluus. »Sie können gehen, Mr. Kehar.
Saluus schüttelte ihm die Hand. »Med, ich danke Ihnen für alles.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
»Keine Kleidung oder andere Sachen?«, fragte Taince mit einem Blick auf seine leeren Hände.
Sal schüttelte den Kopf. »Ich bin mit nichts gekommen und nehme auch nichts mit. Ein Reisender ohne Gepäck.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen.
Sie nickte ihm zu. »Nicht schlecht in unserem Alter.«
Sie gingen zu dem kleinen Kutter, der auf dem leicht gewölbten Hangarboden stand. »Ich bin dir sehr dankbar, Taince«, sagte er. »Ganz ehrlich. Du warst nicht verpflichtet, mich hier rauszuholen.« Sie lächelte. Sein Blick huschte über ihre Rangabzeichen. »Ich darf doch noch Taince zu dir sagen? Ich meine, wenn du willst, kann ich dich auch mit Vizeadmiral …«
»Taince ist okay, Sal. Bitte nach dir.« Sie dirigierte ihn in das Doppelcockpit des kleinen Kutters und wies ihm den Sitz vor und etwas unter dem Pilotensessel an. Dann nahm sie selbst Platz, schnallte sich einen leichten Flugkragen um und aktivierte die Systeme des kleinen Schiffes. Die Flugkontrolle der Anlage gab ihnen Starterlaubnis.
»Was bist du denn jetzt? Verbindungsoffizier für das ganze System?«, fragte Sal über die Schulter hinweg, als die Maschine durch eine Tür in eine geräumige Luftschleuse rollte.
»Richtig, aber ich habe fast nur protokollarische Aufgaben«, antwortete sie. Die Schleusentür schloss sich hinter ihnen, die Lichter wurden schwächer. »Empfänge, Festmähler, Rundreisen, Ansprachen, du kennst das ja.«
»Das klingt nicht gerade begeistert.«
»Irgendjemand muss es wohl machen. Geschieht mir recht, warum stamme ich auch von Ulubis.« Pumpen sprangen an, Luft strömte zischend in die Kabine, ein tiefes Summen drang durch die Wände des Kutters. Nach einer Weile war nur noch ein Summen zu hören. »Kampfhandlungen stehen ohnehin nicht an. Nur Aufräumungsarbeiten. Ich versäume nicht viel.«
»Gibt es Neuigkeiten von Fassin?«, fragte Sal. »Als ich das letzte Mal von ihm hörte, hieß es, er sei vielleicht doch wieder am Leben. Du weißt schon, wie ich das meine.«
Die äußere Schleusentür öffnete sich lautlos. Die Sterne und ’glantines große silbrig-braune Scheibe lagen vor ihnen.
»Bitte gedulde dich noch ein oder zwei Minuten«, bat ihn Taince. »Ich bin schon eine Weile nicht mehr geflogen …«
»Lass dir ruhig Zeit.«
Der Kutter schob sich aus der Schleuse, fuhr sein Fahrgestell ein, setzte sich langsam in Bewegung und steuerte mit leichten Gasstößen auf die Atmosphäre zu.
»Ach ja, Fassin«, sagte Taince. »Er wird immer noch gesucht.«
»Ich hörte, er sei in Nasqueron verschwunden und dann wieder aufgetaucht.«
»Es gibt viele Gerüchte. Das ist immer so. Wenn man ihnen glauben wollte, wäre er im letzten halben Jahr in ganz Nasqueron herumgekommen, niemals fort gewesen, hätte sich seit einigen Monaten in der Oort’schen Wolke aufgehalten und wäre eben erst zurückgekehrt. Und das sind noch nicht die abwegigsten Geschichten. Außerdem wurde er mindestens dreimal amtlich für tot erklärt. Wie immer die Wahrheit aussehen mag, bisher ist er nicht aufgetaucht, um sie uns selbst zu erzählen.« Taince drehte den Kutter und richtete ihn für den Eintritt in die Atmosphäre aus.
»Glaubst du, dass er tot ist?«, fragte Sal.
»Sagen wir, wenn er noch lebt, ist es merkwürdig, dass er sich noch nicht gemeldet hat.«
Wenig später trafen sie auf die Atmosphäre und wurden gegen die Gurte gepresst. Ein kirschroter Schein hüllte das Kanzeldach ein und verblasste wieder, das Schiffchen durchstieß pfeifend mehrere dünne Wolkenschichten, dann rasten sie über Wüstenflächen, flache Meere, Hügel und Felsen, Seen und niedrige Gebirge hin.
»Nimmst du die Panoramastraße, taince?«
Sie lachte. »Wahrscheinlich bin ich im Grunde meines Herzens hoffnungslos sentimental, Sal.«
»Schön, die alte Heimat wiederzusehen«, sagte Sal. Sie beobachtete ihn. Er beugte sich zur Seite und schaute nach unten. »Ist das Pirri?«
Sie warf einen Blick auf den Navigator. »Ja, das ist Pirrintipiti.«
»Sieht genauso aus wie immer. Ich hätte gedacht, es wäre etwas größer geworden.«
»Lange nicht mehr zu Hause gewesen, Sal?«
»Zu lange, viel zu lange. Man nimmt es sich immer wieder vor, aber du weißt ja, wie es ist. Sicher zehn oder zwölf Jahre. Vielleicht noch mehr. Eine ganze Ewigkeit.«
Sie schwebten hoch über der dünnen Eiskappe auf dem Polarplateau und flogen, ständig sinkend, in die Dunkelheit hinein. Jetzt waren die Sterne wieder zu sehen.
Sal hob den Kopf, sah sich um. »Man vergisst ganz, wie schön es hier ist, nicht wahr?«, fragte er.
»Manchmal«, erwiderte Taince und nickte. »Das ist schnell passiert.«
Das Leuchten am Himmel wurde schwächer. Das Kanzeldach verstärkte das einfallende Restlicht, bis sie im Sternenschein das Nördliche Ödland mit seinen weiten Buntsandflächen erkennen konnten und die Felsen wie silbrige Gespenster immer näher kamen.
»Ach ja«, seufzte Sal.
Taince berührte einige Symbole auf dem Display, die Schirme leuchteten schwächer.
»Ich dachte, wir fliegen eine Runde«, sagte sie. »Du hast hoffentlich nichts dagegen.«
»Zur Erinnerung.« Das klang nachdenklich, sogar resigniert. »Warum nicht?«
Wieder sah Taince auf den Navigator, richtete das Schiff neu aus und nahm die Geschwindigkeit ein wenig zurück. Auf einem der Displays blinkte ein Warnlicht. Sie schaltete es ab.
»Ich war seit jener Nacht jedenfalls nicht mehr hier«, sagte Sal. Taince fand, dass seine Stimme jetzt traurig klang. Vielleicht bereute er, was geschehen war. vielleicht auch nicht.
Etwas weiter rechts tauchte das Schiffswrack vor ihnen auf. Taince flog eine flache Kurve nach Steuerbord und richtete den Kutter wieder gerade.
Sal schaute seitlich auf die Wüste hinab, die siebzig Meter unter ihnen vorbeiraste. »Mann«, sagte er. »Der ist ja noch schneller als der Flieger, den ich mir damals von Dad geliehen hatte.«
»Es ist eins von deinen eigenen Schiffen, Sal«, sagte sie.
»Dieses kleine Ding?«, fragte er lachend. »Ich wusste gar nicht, dass wir solche Winzlinge bauen.«
»Es ist schon alt.«
»Aha. Noch aus Dads Zeit. Mit den großen Kähnen verdient man mehr.«
Sie rasten an dem schwarzen Koloss vorüber. Die frei liegenden Rippen ragten drohend in den Himmel.
»Huhu!«, rief Sal, als die schwarze Wand zwanzig Meter vor ihnen vorbeiglitt.
Taince zog die Maschine hoch, flog einen Looping, stellte sie wieder gerade und ging noch näher an das Wrack des Alien-Schiffs heran.
»Hoho!«, rief Sal, als er sah, wie nahe sie der schwarzen Wand diesmal kamen. Taince flog einen vertikalen Kreis, bis sie kopfstanden. »Scheiiiße! Mann! Taince! Ja-ha!«
Sie war bis zum Schluss nicht sicher gewesen, ob sie es wirklich tun würde. Sie wusste schließlich nicht mit letzter Gewissheit, was damals geschehen war. Sie hatte nur einen Verdacht. Es war trotz allem möglich, dass sie sich einfach getäuscht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand das Gesetz selbst in die Hand genommen hätte und hinterher von den Fakten unbarmherzig widerlegt worden wäre. verdammt, das war doch Sinn und Zweck der Justiz, deshalb hatte man Gesetze und alles, was dazugehörte, es war eines der Dinge, die eine Gesellschaft zu einer Gesellschaft machten.
Dennoch. Sie wusste es. Sie war ganz sicher. Seine Zeit war abgelaufen. Selbst wenn sie sich irrte, Sal hätte sein Leben gelebt. Es war nicht so, als würde sie ein Kind töten oder eine junge Frau, die noch alles vor sich hatte. Es war und blieb Mord, es war ein Verbrechen, aber alles hatte seine Graustufen, sogar die Hölle hatte verschiedene Kreise. Und – ob Recht oder Unrecht – sie zumindest würde es nie erfahren.
Denn auch ihre Zeit war abgelaufen. Das wusste sie.
Sie hatte wirklich geglaubt, dass ihr die Tränen kommen würden, aber ihre Augen blieben trocken. Seltsam, dass man auch nach so langer Zeit, so kurz vor dem Ende noch immer nicht wusste, wie man in solchen Extremsituationen reagierte.
Was blieb noch zu tun? Sie hatte überlegt, es ihm zu sagen, ihn mit seiner Tat zu konfrontieren, alles noch einmal auf den Tisch zu bringen, zu hören, wie er tobte, um Gnade flehte oder sie anschrie. Sie hatte die Szene oft und oft durchgespielt, hatte sie im Lauf der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte unzählige Male vor sich ablaufen lassen. Sie hatte ihre und seine Rolle übernommen und sich genauestens zurechtgelegt, was er sagen könnte, wie er versuchen würde, sein Verhalten zu erklären, wie er unterstellen würde, sie sei verrückt oder hätte sich geirrt.
Und nun hatte sie einfach keine Lust mehr. Sie hatte schon alles gehört. Es gab nichts mehr zu sagen.
Sie verurteilte einen Menschen auf Grund eines Indizienbeweises, auf Grund eines Verdachtes zum Tode. Sie müsste ihm die Chance geben, sich zu rechtfertigen. Sie müsste ihn zumindest wissen lassen, was sie mit ihm vorhatte.
Aber wozu?
Im kalten Licht der Sterne rasten sie auf die Wüste, auf das riesige schwarze, so massive Schiffswrack zu.
»Verdammt, tain …!«
Sal hätte versuchen können, den Schleudersitz auszulösen – das einzige System, das sie mit ihrer Steuerung nicht deaktivieren konnte – deshalb war sie das letzte Stück kopfüber geflogen.
Am Ende genügte ein einziges kurzes Zucken mit den Handgelenken.
Dann krachte der Kutter etwa mit halber Schallgeschwindigkeit nur zehn Meter über dem Wüstenboden in die Flanke des Schiffes.