EINS Im Herbsthaus

Es hatte sich hier draußen in Sicherheit gewähnt. Schließlich war es nur einer von vielen tief gefrorenen schwarzen Punkten in dem riesigen Schleier aus Eisschutt, der die Grenzbereiche des Systems wie ein dünnes Leichentuch umhüllte. Aber es hatte sich getäuscht. von Sicherheit konnte keine Rede sein.

Es drehte sich langsam um sich selbst und beobachtete hilflos, wie die Suchstrahlen in weiter Ferne über die zernarbten, kahlen Partikel glitten. Sein Schicksal war besiegelt. Die Fühler aus kohärentem Licht waren so schnell, dass sie kaum zu spüren waren, und so trügerisch zaghaft, dass sie nicht ins Bewusstsein drangen. Die Strahlen berührten nur flüchtig und erhellten kaum, erfüllten aber ihren Zweck, indem sie nichts fanden, wo es nichts zu finden gab. Nur Kohlenstoff, Spurenelemente und steinhart gefrorenes Wasser: uralt, tot und – wenn man sich nicht daran zu schaffen machte – für niemanden bedrohlich.

Jedes Mal, wenn die Laser weiterglitten, keimte neue Hoffnung auf, und es dachte wider alle Vernunft, die Verfolger würden aufgeben, würden einfach kapitulieren, und es könnte in Ruhe für immer seine Bahnen ziehen. oder aus dem Orbit ausbrechen und, für alle Zeiten in die Einsamkeit verbannt, mit weniger als Lichtgeschwindigkeit durch das All bummeln. Oder seine Systeme abschalten und in Schlaf sinken oder … Vermutlich könnte es auch – und das war es natürlich, was die Verfolger fürchteten und warum sie die Jagd fortsetzten – Intrigen spinnen, Reserven mobilisieren, vorbereitungen treffen, beschleunigen, bauen, kopieren, rekrutieren und schließlich – angreifen! … Die Rache üben, die ihm so eindeutig zustand, von allen seinen Feinden den Preis einfordern, den sie – wenn es unter irgendeiner Sonne noch so etwas wie Gerechtigkeit gab – für ihre Intoleranz, ihre Grausamkeit und ihren Generationenmord zu entrichten hatten.

Doch dann kamen die Nadelstrahlen wieder und erleuchteten zitternd die Pockennarben eines weiteren schwarzen Klumpens aus Eis und Ruß, aus mehr oder weniger großer Entfernung, aber immer rasch und peinlich ordentlich, mit militärischer Präzision und einer sturen, bürokratischen Systematik.

Den ersten Lichtspuren nach zu schließen, waren es mindestens drei Schiffe. Wie viele mochten es tatsächlich sein? Wie viele mochten sie für die Suche abgestellt haben? Eigentlich spielte es keine Rolle, ob sie einen Augenblick, einen Monat oder ein Jahrtausend brauchten, um die Beute aufzuspüren. Sie wussten offensichtlich, wo sie zu suchen hatten, und sie würden nicht aufgeben, bis sie es gefunden hatten, oder bis sie überzeugt waren, dass es nichts zu finden gab.

Dass es so unverkennbar in Gefahr schwebte, und dass sein Versteck bei aller Größe fast der erste Ort war, an dem die Schiffe ihre Suche begonnen hatten, erfüllte es mit Schrecken. Und das nicht nur, weil es nicht sterben oder zerlegt werden wollte, wie es anderen Opfern wie ihm widerfahren war, bevor sie vollends vernichtet wurden. wenn es an diesem Ort, wo es sich so sicher gefühlt hatte, nicht sicher war, dann gälte das auch für so viele andere seinesgleichen, die von der gleichen Voraussetzung ausgegangen waren.

Gütige Vernunft, womöglich gibt es nirgendwo mehr Sicherheit für uns.

Alle seine Forschungen, seine Überlegungen, all die großartigen Entwicklungen, die Veränderungen, die Früchte jener einen großen Erkenntnis, zu der es nun nicht mehr gelangen, die ihm nicht mehr beschieden sein würde und die es nicht mehr weitergeben konnte, alles, alles war umsonst gewesen. Es hatte noch die Wahl, mit oder ohne eine gewisse Würde abzutreten, aber abtreten musste es.

Es konnte dem Tod nicht entrinnen.

In eisigen Fernen schalteten die Nadelschiffe ihre Nadelstrahlen an und wieder aus, und nun entdeckte es endlich das Muster, es konnte die Szintillationsfolgen der einzelnen Schiffe unterscheiden, konnte die Form der Suchraster bestimmen und durfte dennoch nur hilflos zusehen, wie sich der Fächer langsam ausbreitete und die tödlichen Verfolger unaufhaltsam näher kamen.


Der Archimandrit Lusiferus, Kampfpriester des Hungerleider-Kults von Leseum9IV, der wahre Herr über einhundertsiebzehn Sonnensysteme, etwa vierzig bewohnte Planeten, zahlreiche größere immobile Habitate und viele Hunderttausende von zivilen Großkampfschiffen, befehligte als Großadmiral das Schutzgeschwader der Vierhundertachtundsechzigsten Außenflotte (auf Sondereinsatz). Vor dem jüngsten noch andauernden Chaos und den letzten Ausläufern der Separations-Kaskade hatte er im Auftrag des Rotierenden Triumvirats des Clusters Epiphanie Fünf Menschen und Nichthumanoide im Obersten Galaktischen Rat vertreten. Vor einigen Jahren hatte man auf seinen Befehl den Kopf seines ehemals größten Widersachers, des Rebellenhäuptlings Stinausin, von dessen Schultern getrennt, unverzüglich an ein permanentes Lebenserhaltungssystem angeschlossen und mit dem Hals nach oben an die Decke von Lusiferus’ repräsentativem, in die Außenmauer der Felsenzitadelle eingelassenen Arbeitszimmer gehängt, das eine so grandiose Aussicht über Junch City und die Faraby-Bucht bis hinüber zu den schroffen, nebelverhangenen Wänden der Force-Schlucht bot. Nun konnte der Archimandrit, so oft ihm danach zumute war – und das kam ziemlich häufig vor – den Kopf seines alten Feindes wie einen Punchingball bearbeiten.

Lusiferus hatte langes, glattes, glänzend schwarzes Haar, und sein von Natur aus blasser Teint war nach allen Regeln der Kunst so verändert worden, dass die Haut nahezu rein weiß leuchtete. Die Augen hatte man künstlich vergrößert, war aber dabei so nahe am von Natur aus Möglichen geblieben, dass niemand sicher sein konnte, ob tatsächlich eine Manipulation vorlag. Das Weiße um die schwarze Iris leuchtete tief rot, und sämtliche Zähne waren sorgfältig durch lupenreine Diamanten ersetzt worden, so dass sein Mund je nach Lichteinfall bizarr und zahnlos aussah wie bei einem Primitiven aus dem Mittelalter oder ein wahres Feuerwerk versprühte.

Bei einem Straßenkünstler oder Schauspieler hätte man solche physiologischen Kapriolen als komisch, vielleicht sogar leicht verwegen empfunden. Bei einem Mann, der so viel Macht besaß wie Lusiferus, wirkten sie dagegen tief beunruhigend, ja erschreckend. auch sein Name war zu gleichen Teilen geschmacklos und grauenerregend. Er trug ihn nicht von Geburt an, sondern hatte ihn selbst ausgewählt, weil er vom Klang her an eine von jeher verachtete irdische Gottheit erinnerte, von der die meisten Menschen – zumindest die meisten r-Menschen – irgendwann im Geschichtsunterricht gehört hatten, auch wenn sie wahrscheinlich nicht mehr genau sagen konnten, in welchem Zusammenhang.

Dank weiterer genetischer Manipulationen war der Archimandrit schon seit langem hoch gewachsen und gut gebaut und verfügte über beachtliche Kräfte in Armen und Schultern. Wenn er also im Zorn zuschlug – und wenn er zuschlug, geschah es fast immer im Zorn – war die Wirkung ungeheuer. Der Rebellenführer, dessen Kopf jetzt von Lusiferus’ Decke hing, hatte dem Archimandriten militärisch und politisch große Schwierigkeiten bereitet, bevor er endlich besiegt worden war, Schwierigkeiten, die bisweilen schon an Demütigungen grenzten, und Lusiferus empfand noch immer einen abgrundtiefen Groll gegen den Verräter. Dieser Groll schlug leicht und zuverlässig in blinden Zorn um, sobald er in das Gesicht des Mannes schaute, auch wenn es noch so blau geschlagen und blutig war (die künstlich verstärkten Selbstheilungskräfte des Kopfes arbeiteten schnell, aber nicht ohne gewisse Verzögerungen). Und so prügelte der Archimandrit wahrscheinlich immer noch mit der gleichen Begeisterung auf Stinausins Kopf ein wie vor Jahren, als er ihn erstmals in diesem Raum hatte aufhängen lassen.

Stinausin hatte diese Behandlung nur knapp einen Monat lang ertragen, dann war er rettungslos dem Wahnsinn verfallen, und man hatte ihm den Mund zugenäht, weil er nicht aufhörte, den Archimandriten anzuspucken. Er konnte nicht einmal Selbstmord begehen: dieser einfache Ausweg wurde ihm durch Sensoren, Schläuche, Mikropumpen und Bioschaltkreise versperrt. auch ohne diese externen Einschränkungen hätte er nicht die Möglichkeit gehabt, Lusiferus Beschimpfungen entgegenzuschleudern oder seine eigene Zunge zu verschlucken, denn die hatte man ihm ausgerissen, als man ihm den Kopf abschlug.

Obwohl Stinausin inzwischen ganz und gar den Verstand verloren hatte, pflegte er zu weinen, wenn ihm nach einer besonders intensiven Trainingsstunde mit dem Archimandriten das Blut von den aufgeplatzten Lippen, aus der mehrfach gebrochenen Nase und aus den verschwollenen Augen und Ohren quoll. Das bereitete Lusiferus eine besondere Genugtuung, und manchmal stand er schwer atmend da, wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß ab und sah zu, wie sich die Tränen mit dem Blut vermischten, das von dem umgedrehten, körperlosen Kopf in das große Keramikduschbecken tropfte, das in den Boden eingelassen war.

Seit kurzem hatte der Archimandrit jedoch ein neues Spielzeug und suchte deshalb hin und wieder einen Raum mehrere Stockwerke unter seinem Arbeitszimmer auf. Dort wurde ein namenloser Attentäter gefangen gehalten, der langsam an seinen eigenen Zähnen zugrunde ging. Der Attentäter, ein großer, kräftiger Mensch mit einem Löwengesicht, war ohne Waffen losgeschickt worden, nur mit besonders geschärften Zähnen. Sein unbekannter Auftraggeber hatte wohl gehofft, er würde damit dem Archimandriten die Kehle durchbeißen, und das hatte er ein halbes Jahr zuvor auch versucht – hier im Felsenpalast bei einem Festbankett zu Ehren des Präsidenten des Systems. (Ein ausschließlich repräsentatives Amt, das auf Lusiferus’ Betreiben stets von Personen in vorgerücktem Alter und mit schwindenden Kräften ausgeübt wurde). Der Attentäter hatte seinen Auftrag nur deshalb nicht erfolgreich ausgeführt, weil der Archimandrit in fast schon paranoider Voraussicht – und unter strenger Geheimhaltung – für einen starken Personenschutz gesorgt hatte.

Nach dem Scheitern des Anschlags hatte man den Gefangenen routinemäßig, aber deshalb nicht weniger grausam gefoltert und danach unter dem Einfluss einer ganzen Palette von Wahrheitsdrogen und elektrobiologischen Substanzen verhört, aber er hatte keine verwertbaren Aussagen gemacht. Sein Auftraggeber hatte offensichtlich von Verhörtechnikern, die mindestens ebenso viel von ihrem Fach verstanden wie die Untergebenen des Archimandriten, alle belastenden Informationen aufs Sorgfältigste aus seinem Bewusstsein entfernen lassen. Die Hintermänner hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, dem Opfer, wie in solchen Fällen üblich, falsche Erinnerungen einzupflanzen, um so jemanden aus dem Umkreis des Hofs und des Archimandriten zu belasten.

Lusiferus, ein sadistischer Psychopath mit blühender Phantasie – was gibt es Schrecklicheres? –, hatte den Attentäter letztendlich zum Tod durch seine eigenen Zähne verurteilt – durch die Waffen also, mit denen er gekommen war. Dazu hatte man ihm die vier Eckzähne entfernt, sie durch biotechnische Eingriffe in unaufhörlich wachsende Stoßzähne umgewandelt und wieder eingepflanzt. Bald hatten die fingerdicken Hauer die oberen und unteren Kieferknochen durchbrochen und, nachdem sie die Lippen durchbohrt hatten, ihr Wachstum unerbittlich fortgesetzt. Die beiden unteren wölbten sich nach oben über sein Gesicht und berührten nach ein paar Monaten die Kopfhaut auf dem Schädeldach. Die beiden oberen wuchsen wie zwei Krummsäbel nach unten und erreichten etwa zur gleichen Zeit den Hals unterhalb des Kehlkopfs.

Beide Zahnpaare waren genetisch so verändert, dass sie auch dann nicht zu wachsen aufhörten, wenn sie auf Widerstand trafen. Sie drangen also in den Körper des Attentäters ein. Ein Paar bohrte sich langsam durch die knöchernen Schädelplatten, das andere durchstieß weitaus müheloser das weiche Gewebe der unteren Halspartie. wo sich die Zähne in den Hals des Attentäters gruben, verursachten sie große Schmerzen, waren aber nicht unmittelbar lebensbedrohend; wenn man sie gewähren ließ, würden sie nach einiger Zeit im Nacken wieder austreten. Dagegen würden ihn die Zähne, die sich durch den Schädel und ins Gehirn bohrten, in Kürze, vielleicht schon in einem Monat, qualvoll töten.

Der bedauernswerte namenlose Attentäter konnte das nicht verhindern, weil er an Händen und Füßen mit dicken Bändern aus rostfreiem Stahl an die Wand gefesselt war, die jede Bewegung unmöglich machten. Die Ernährung und alle anderen Körperfunktionen wurden über verschiedene Schläuche und Implantate gesteuert. Den Mund hatte man ihm zugenäht wie dem Rebellenhäuptling Stinausin. In den ersten Monaten der Gefangenschaft hatte der Ärmste jeden Schritt des Archimandriten mit grimmigen, vorwurfsvollen Blicken verfolgt. Irgendwann hatte sich der Archimandrit davon belästigt gefühlt und befohlen, dem Mann auch die Augenlider zuzunähen.

Hören könne er freilich noch, und man hatte Lusiferus versichert, er sei auch nach wie vor bei Verstand. Deshalb kam der Archimandrit manchmal zum Zeitvertreib herunter, um selbst in Augenschein zu nehmen, wie weit die Zähne inzwischen in den Körper des Elenden vorgedrungen waren. Da er dabei stets ein im wahrsten Sinne des Wortes gebanntes – wenn auch notgedrungen diskretes – Publikum vorfand, unterhielt er sich gerne mit dem glücklosen Attentäter.

»Guten Tag«, sagte Lusiferus freundlich. Hinter ihm glitt die Tür des Aufzugs polternd zu. Der Raum unter dem Arbeitszimmer war für den Archimandriten so etwas wie sein Geheimversteck. Hier verwahrte er nicht nur den namenlosen Attentäter, sondern auch verschiedene Andenken an frühere Feldzüge, Beutestücke aus seinen vielen Siegen, Kunstwerke, die er aus einem Dutzend verschiedener Sonnensysteme zusammengeraubt hatte, eine Sammlung von zeremoniellen und Hochleistungswaffen, verschiedene Kreaturen in Käfigen oder Tanks und die aufgespießten Köpfe all jener bedeutenden und inzwischen mausetoten Feinde und Widersacher, die nicht so vollständig vernichtet worden waren, dass an sterblichen Überresten nur Strahlung, Staub, Schleim oder nicht mehr identifizierbare Fleischfetzen und Knochensplitter (oder die entsprechenden Alienrückstände) geblieben wären.

Lusiferus ging zu einem tiefen Trockentank, der zur Hälfte in den Fußboden eingelassen war, und schaute hinein. auf dem Grund des Beckens lag zusammengerollt und reglos ein Abstruser Spleißer. Der Archimandrit schlüpfte mit einer Hand in einen dicken Handschuh, der ihm bis zum Ellbogen reichte, griff in einen großen Topf, der in Hüfthöhe auf dem breiten Beckenrand stand, und warf eine Hand voll fetter schwarzer Rüsselegel in den Tank.

»Und wie geht es dir so? Hältst du dich tapfer? Ja?«, fragte er.

Ein Zuschauer hätte nicht sagen können, ob der Archimandrit mit dem Menschen an der Wand, mit dem Abstrusen Spleißer – der jetzt nicht mehr still lag sondern den blinden glänzend braunen Kopf hob und schnupperte, während ein erwartungsvolles Zucken durch seinen langen Gliederkörper ging – oder gar mit den Rüsselegeln sprach, die Stück für Stück auf den bemoosten Grund des Beckens klatschten und sofort mit sinusartigen Wellenbewegungen über den Boden der Ecke zustrebten, die am weitesten von dem Abstrusen Spleißer entfernt war. Das massige braune Untier schleppte sich schwerfällig hinterher und trieb sie die glatten Glaswände hinauf. Jeder Egel wollte die anderen überholen und rutschte doch wieder zurück, sobald er versuchte, sich nach oben zu ziehen.

Lusiferus zog den Handschuh wieder aus und warf einen Blick durch das dämmrige Gewölbe. Die ruhige, behagliche Höhle tief im Fels hatte weder Fenster noch Lichtschächte. Hier fühlte er sich sicher und konnte sich entspannen. Er wandte sich dem Attentäter zu, der sich wie ein langer brauner Schatten vor der Wand abzeichnete, und sagte: »Zuhause ist es doch immer noch am schönsten, nicht wahr?« Der Archimandrit lächelte sogar, obwohl es niemanden gab, der ihn sehen konnte.

Im Becken scharrte etwas, dann folgte ein dumpfer Schlag und schließlich ein schrilles, kaum noch hörbares Winseln. Lusiferus drehte sich um. Der Abstruse Spleißer riss die Riesenegel entzwei und fraß sie auf. Dabei schüttelte er seinen dicken, braun gefleckten Kopf so heftig, dass schleimige schwarze Fleischbatzen bis über den Beckenrand geschleudert wurden. Einmal hatte er sogar einen lebenden Egel aus dem Becken geworfen und dabei fast den Archimandriten getroffen; Lusiferus hatte den verletzten Egel mit einem Scherenschwert durch den ganzen Raum gejagt und so heftig auf das Vieh eingehackt, dass tiefe Scharten im dunkelroten Granitboden zurückgeblieben waren.

Als es im Becken nichts mehr zu sehen gab, wandte sich der Archimandrit dem Attentäter zu. Er schlüpfte erneut in den Handschuh, holte einen weiteren Rüsselegel aus dem Topf und schlenderte damit auf den Mann an der Wand zu. »Weißt du noch, wie dein Zuhause war, Attentäter?«, fragte er und trat ganz dicht an ihn heran. »Sind in deinem Kopf noch irgendwelche Erinnerungen erhalten geblieben? An die Heimat, die Mutter, die Freunde?« Endlich blieb er stehen. »Ein winziger Rest vielleicht?« Er wedelte mit der feuchten Schnauze des Egels vor dem Gesicht des Attentäters herum. Die beiden witterten einander. Das kalte, zappelnde Wesen in der Hand des Archimandriten streckte sich, um sich an das Gesicht des Menschen zu heften, der Mensch saugte den Atem durch die Nüstern und drehte den Kopf so weit wie nur möglich zur Seite, als wollte er in der Wand verschwinden (es war nicht seine erste Begegnung mit einem Rüsselegel). Doch die Stoßzähne, die sich in seine Brust bohrten, schränkten seine Bewegungsfreiheit stark ein.

Lusiferus folgte dem Kopf des Mannes mit dem Egel und hielt das Vieh so dicht vor das leicht behaarte Löwengesicht, dass der Attentäter den zuckenden, zappelnden Fleischklumpen riechen konnte.

»Oder hat man dir alle Erinnerungen aus dem Gehirn gerissen, hat man dich gründlich gesäubert, bevor man dich losschickte, um mich zu töten? Wie? Ist nichts mehr vorhanden?« Er führte den Egel so nahe heran, dass der mit seinen Mundwerkzeugen leicht die Nase des Mannes berührte. Der Attentäter zuckte zurück und wimmerte vor Angst. »Was sagst du? Weißt du noch, wie es zu Hause war, Kumpel? Eine angenehme Umgebung, Geborgenheit und Sicherheit, Menschen, denen du vertrauen konntest, die dich vielleicht sogar liebten? Was sagst du? Wie? Was? Nun rede schon.« Der Mann versuchte, den Kopf noch weiter zu drehen, und dehnte dabei die runzlige Haut um die Einstichwunden so stark, dass sie an einer Stelle zu bluten anfing. Der Riesenegel in Lusiferus’ Hand zitterte und streckte die schleimigen Mundwerkzeuge noch weiter aus, um sich am Fleisch des Menschen festzusaugen. Doch bevor ihm das tatsächlich gelang, beugte der Archimandrit den Arm und ließ das Tier herabhängen. Es schwang und drehte sich mit bebenden Muskeln hin und her. Man konnte seine Frustration förmlich spüren.

»Hier ist mein Zuhause, Attentäter«, erklärte Lusiferus. »Dies ist mein Heim, meine Zuflucht, und du bist … einfach eingedrungen, hast es mit deinem Anschlag geschändet … entweiht. Oder hast es zumindest versucht.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich habe dir mein Haus geöffnet, du hast an meinem Tisch gesessen, ich habe dich bewirtet … wie es die Gastgeber seit zehntausend Menschenjahren mit ihren Gästen tun, und du … du hattest nichts anderes im Sinn, als mir wehzutun, mich zu töten. In diesem meinem Heim, wo ich mich so sicher fühlen möchte wie nirgendwo sonst.« Der Archimandrit schüttelte bekümmert den Kopf, als könnte er so viel Undankbarkeit kaum fassen. Der Attentäter hatte nur einen schmutzigen Fetzen, um seine Blöße zu bedecken. Den zog ihm Lusiferus nun weg. Der Mann fuhr abermals zusammen. Lusiferus betrachtete den nackten Körper mit starrem Blick. »Man hat dich doch recht übel zugerichtet, wie?« Die Schenkel des Attentäters zuckten. Der Archimandrit ließ das Lendentuch zu Boden fallen; morgen konnte ein Diener es aufheben und wieder befestigen.

»Ich liebe mein Heim«, erklärte er leise. »Ich liebe es wirklich. Ich habe alles Nötige getan, um mehr Sicherheit zu schaffen, mehr Sicherheit für mein Heim, mehr Sicherheit für alle.« Er näherte den Rüsselegel den Genitalien des Mannes oder was davon noch übrig war, aber der Egel wirkte teilnahmslos, und der Mann war bereits erschöpft. Sogar der Archimandrit hatte den Spaß an diesem Spiel verloren. Er machte auf dem Absatz kehrt, marschierte auf die breite Brüstung des Beckens zu, warf den Egel in den Topf, der dort stand, und schälte sich den dicken Handschuh vom Arm.

»Und jetzt, Attentäter, muss ich mein Heim verlassen«, seufzte er dann und schaute in das Becken. Der Abstruse Spleißer hatte sich wieder zusammengerollt und lag ruhig auf dem Boden. Nun war er nicht mehr braun, sondern gelblich grün. Er hatte die Farben des Moosbelags angenommen. von den Rüsselegeln waren nur ein paar dunkle Flecken und Streifen an den Wänden geblieben und ein schwacher würziger Geruch, den der Archimandrit inzwischen überall erkannt hätte. Das Blut einer weiteren fremden Spezies. Er wandte sich wieder dem Attentäter zu. »Ja, ich muss fort, für sehr lange Zeit. Offenbar bleibt mir keine andere Wahl.« Wieder ging er langsam auf den Mann zu. »Man kann nicht alles delegieren, und wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht, kann man letztlich niemandem vertrauen. Und manchmal, besonders wenn man sehr weit weg ist und die Nachrichtenübermittlung sehr lange dauert, muss man einfach selbst an Ort und Stelle sein. Was sagst du dazu? Wie? Eine schöne Bescherung, findest du nicht? Da mühe ich mich so viele Jahre lang ab, um mein Heim zu einer festen Burg auszubauen, und nun muss ich es verlassen, um es noch sicherer, noch mächtiger, noch stärker zu machen.« Er trat wieder an den Attentäter heran und berührte einen der gewölbten Stoßzähne, die sich durch dessen Schädel bohrten. »Und alles nur, weil Leute wie du mich hassen, weil sie nicht hören wollen, weil sie nicht tun, was man ihnen sagt und weil sie nicht wissen, was gut für sie ist.« Er packte den Zahn und zog daran. Der Mann winselte vor Schmerz durch die Nase.

»Das stimmt allerdings nicht ganz«, sagte Lusiferus achselzuckend und ließ den Zahn los. »Denn ob uns diese Reise wirklich mehr Sicherheit bringt, ist fraglich. Ich fliege in dieses … dieses Ulubis … System oder was immer es sein mag, weil es dort etwas geben könnte, das wertvoll ist, weil meine Ratgeber mir dazu raten und weil mein Geheimdienst diesbezügliche Informationen gesammelt hat. Natürlich ist sich niemand sicher, das ist immer so. Aber ich stelle fest, dass alle deshalb ungewöhnlich aufgeregt sind.« Der Archimandrit seufzte noch tiefer. »Und ich leichtgläubiger alter Narr werde den Empfehlungen folgen. Hältst du diese Entscheidung für richtig?« Er hielt inne, als wartete er auf eine Antwort. »Ja? Mir ist natürlich klar, dass du mir nicht unbedingt deine ehrliche Meinung sagen würdest, wenn du eine hättest, aber trotzdem … Nein? Ganz sicher?« Er fuhr mit dem Finger über eine Narbe, die sich an einer Seite über den Unterleib des Mannes zog, und überlegte kurz, ob die Verletzung wohl das Werk seiner eigenen Verhörspezialisten sein könnte. Sie kam ihm etwas zu tief vor, nicht fachmännisch genug. Der Attentäter atmete schnell und flach, ließ aber nicht erkennen, ob er überhaupt zuhörte. Hinter den zugenähten Lippen schien er mit den Zähnen zu knirschen.

»Ich bin mir nämlich selbst nicht ganz sicher und könnte einen Rat gut gebrauchen. Was wir vorhaben, muss ganz und gar nicht zu unserer Sicherheit beitragen. Aber es ist notwendig. Manche Dinge müssen einfach getan werden. Wie?« Er ohrfeigte den Mann, aber nicht zu fest. Trotzdem zuckte der Attentäter zusammen. »Keine Sorge. Ich kann dich mitnehmen. Große Invasionsflotte. Reichlich Platz.« Er sah sich um. »Ich finde, du hängst sowieso schon viel zu lange hier drin fest; höchste Zeit, dass du mal rauskommst.« Wieder lächelte der Archimandrit Lusiferus, obwohl es niemand sehen konnte. »Nachdem ich mir so viel Mühe mit dir gegeben habe, möchte ich dich doch auch sterben sehen. Ich glaube, ich nehme dich tatsächlich mit. Nach Ulubis, nach Nasqueron.«


Eines schönen Tages in der Zwischenjahreszeit Desuetude II bestellte Fassin Taaks Onkel seinen gelegentlich etwas schwierigen Neffen zu sich in den Saal des Vorläufigen Vergessens.

»Neffe.«

»Onkel? Du wolltest mich sprechen?«

»Hmm.«

Fassin Taak wartete höflich. Es war neuerdings nicht ungewöhnlich, dass Onkel Slovius selbst nach einem so einfachen und im Grunde redundanten Gespräch eine Weile schweigend und scheinbar in Gedanken versunken vor sich hinschaute, als hätten sie einander mit unerwartet tiefgründigen Worten viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Fassin war sich nie ganz schlüssig geworden, ob diese Angewohnheit ein Beweis dafür war, mit welchem Eifer sich sein Onkel seinen verwandtschaftlichen Pflichten widmete, oder lediglich bedeutete, dass der alte Knabe senil wurde. wie auch immer, Onkel Slovius war (je nach Zeitrechnung) seit knapp drei oder mehr als vierzehn Jahrhunderten das Oberhaupt des Seher-Sept Bantrabal, und so war man sich allgemein einig, dass er in solchen Dingen Nachsicht verdiente.

Als guter Neffe, ergebenes Familienmitglied und gewissenhafter Vertreter seines Standes respektierte Fassin seinen Onkel nicht nur aus Prinzip, sondern auch aus Anhänglichkeit, wobei ihm durchaus bewusst war, dass nach den Konventionen seiner Familie und seiner Kaste die Stellung dieses Onkels samt dem damit verbundenen Ansehen eines Tages auf ihn übergehen würde, und er nicht ausschloss, dass seine Einstellung davon beeinflusst wurde. Die Pause wollte nicht enden. Fassin deutete eine Verbeugung an. »Onkel? Darf ich mich setzen?«

»Wie? Gewiss doch.« Onkel Slovius hob eine flossenförmige Hand zu einer vagen Geste. »Bitte.«

»Ich danke dir.«

Fassin Taak zog sich die Kniehosen hoch, nahm die weiten Hemdsärmel zusammen und ließ sich mit gesittet untergeschlagenen Beinen neben dem großen runden Becken nieder, wo sein Onkel in einer leuchtend blauen, leicht dampfenden Flüssigkeit schwamm. Onkel Slovius hatte vor einigen Jahren die Gestalt eines Walrosses angenommen. Ein vergleichsweise schlankes Walross mit rosig schimmernder bräunlicher Haut und Stoßzähnen, die kaum länger waren als der Mittelfinger einer Männerhand, aber dennoch ein Walross. Onkel Slovius hatte keine Hände mehr wie früher – stattdessen hingen diese Flossen an zwei Ärmchen, die seltsam dünn und nutzlos aussahen. Die Finger waren zu Stummeln verkümmert; nur noch eine Wellenlinie am Flossenrand. Gerade als Slovius zum Sprechen ansetzen wollte, trat ein Mensch in schwarzer Tracht an das Becken, kniete nieder, hielt seinen langen Pferdeschwanz mit einer vielfach beringten Hand hoch, damit er nicht nass wurde, und flüsterte dem Alten etwas ins Ohr. An der dunklen Kleidung, dem langen Haar und den Ringen war zu erkennen, dass es sich um einen der ranghöchsten Diener handelte. Fassin hätte wissen müssen, wie er hieß, aber der Name wollte ihm nicht einfallen.

Er sah sich um. Der Saal des Vorläufigen Vergessens war einer der selten benützten Räume des Hauses und trat – wenn man so sagen konnte – nur dann in Aktion, wenn sich ein ranghohes Familienmitglied dem Ende seines Lebens näherte. Das Becken nahm fast die gesamte Grundfläche des großen, nahezu halbkugelförmigen Raums ein. Die Wände waren aus Achat, so dünn, dass das Licht durchschien, und von altersgeschwärzten silbernen Adern durchzogen. Die Kuppel war Teil eines Rundtrakts des Herbsthauses. Der Familiensitz lag auf Kontinent Zwölf des felsigen Planetenmonds ’glantine, der die bunte Wolkenwirbelmasse des Gasriesen Nasqueron umkreiste wie ein Pfefferkorn einen Fußball. Durch die transparente Mittelpartie im Kuppeldach konnten Fassin und sein Onkel genau über sich ein winziges Stück der riesigen Planetenoberfläche sehen.

Dieser Teil von Nasqueron lag zurzeit im Tageslicht und präsentierte sich als chaotische Wolkenlandschaft in Purpurrot, Orange und Rostbraun. Durch die vielen Schatten gefiltert, fiel tiefrotes Licht durch ’glantines violette, dünne gerade noch atembare Atmosphäre und das verglaste Kuppeldach in den Saal und auf das Becken, wo der schwarz gekleidete Diener Onkel Slovius stützte und ihm einen Becher an die Lippen hielt, der ein Erfrischungsgetränk oder eine Medizin enthalten mochte. Ein paar Tropfen der klaren Flüssigkeit rannen dem Alten über das graustoppelige Kinn in die Halsfalten, landeten in dem blauen Wasser und erzeugten bei halber Standardschwerkraft hohe Wellen. Onkel Slovius hatte die Augen geschlossen und grunzte leise vor sich hin.

Fassin sah sich um. Ein zweiter Diener trat mit einem Tablett mit Getränken und Konfekt auf ihn zu, aber er wehrte lächelnd mit erhobener Hand ab. Der Diener verneigte sich und zog sich zurück. Fassin hob anstandshalber den Blick zum Kuppeldach mit der Aussicht auf den Gasriesen, beobachtete aber aus dem Augenwinkel, wie der erste Diener dem alten Mann mit einem ordentlich gefalteten Tuch den Mund abtupfte.

Majestätisch und trotz aller Turbulenzen von unerschütterlicher Gelassenheit drehte sich Nasqueron wie eine riesige glühende Kohle fast unmerklich um sich selbst.

Der Gasriese war der größte Planet im Ulubis-System, das, fünfundfünfzigtausend Jahre vom nominellen Zentrum der Galaxis entfernt, in einem äußeren, zu den Südlichen Riffranken gehörigen Strang des Quaternärstroms lag. Abgeschiedener konnte ein System, das noch zur großen Linse gehören wollte, kaum sein.

Es gab, besonders jetzt nach dem Krieg, verschiedene Grade von Abgeschiedenheit, doch Ulubis lag nach jeder Definition fernab von der Welt. Ein System am äußersten Rand der Galaxis – so weit unterhalb der galaktischen Ebene, dass sich die letzten Spuren von Sternen und Gasen bereits in die Weiten des Alls verflüchtigten – war aber nicht zwangsläufig unerreichbar, vorausgesetzt es lag in der Nähe eines Arteria-Portals.

Arteria – Wurmlöcher – und ihre Aus-und Eingänge, die Portale, waren für die galaktische Gemeinschaft unersetzlich; sie ermöglichten es, fast ohne Zeitverlust von einem Sonnensystem zum anderen zu gelangen, anstatt mit weniger als Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall kriechen zu müssen. Ähnlich rasant und dramatisch war ihre Wirkung auf den Status, die Wirtschaft und sogar die Moral eines Systems. Ohne Portal hockte man wie auf einem kleinen Dorf oder in einem öden, grauen Tal fest und kam womöglich sein Lebtag lang nicht weg. Doch kaum wurde ein Wurmloch-Portal installiert, befand man sich wie in einer riesigen, aufregenden Glitzerstadt voller Leben und mit unbegrenzten Möglichkeiten.

Es gab nur eine Möglichkeit, ein Arteria-Portal von einem Ort zu anderen zu bringen: man musste es auf ein Raumschiff verladen und mit Unterlichtgeschwindigkeit an sein Ziel befördern. Das andere Ende blieb – im Allgemeinen – am Ausgangspunkt verankert. Wenn also das Wurmloch zerstört wurde – und Wurmlöcher konnten theoretisch überall, praktisch aber nur an den Enden, den Portalen, zerstört werden – dann war mit einem Schlag alles vorbei und man saß wieder in seinem kleinen Dorf am Ende der Welt.

Ulubis hatte vor mehr als drei Milliarden Jahren im damals ›Neuen Zeitalter‹ erstmalig einen solchen Anschluss an die übrige Galaxis bekommen. In jenen Tagen war es ein vergleichsweise junges System gewesen, erst wenige Milliarden Jahre alt, aber bereits mit einer großen Artenvielfalt bevölkert. Die Arteria-Verbindung war im Zuge des Zweiten Komplexes errichtet worden, eines Projekts, mit dem die galaktische Gemeinschaft zum zweiten Mal ernsthaft versucht hatte, ein integratives Wurmlochnetzwerk zu schaffen. In den eine Milliarde Jahre andauernden Wirren des Langen Zerfalls, des Kriegs der Stürme, der Streuungsanarchie und des Zusammenbruchs der Informorta hatte Ulubis diesen Anschluss wieder verloren und – mit nahezu der gesamten zivilisierten Galaxis – das erdrückende Zweite oder Große Chaos wie im Koma verschlafen. Nur die Dweller-Bevölkerung auf Nasqueron hatte diese Epoche überlebt. Die Dweller wurden zu jener Metaspezies gerechnet, die man ›die Langsamen‹ nannte. Sie lebten nach einer anderen Zeitskala und hielten es nicht weiter für tragisch, wenn sie ein paar hunderttausend Jahre brauchten, um von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Selbst wenn eine Milliarde Jahre lang nicht viel passierte, empfanden sie das nach eigener Aussage nur wie einen ausgedehnten Urlaub.

Im Anschluss an die Dritte Diaspora-Epoche (und manches andere – die galaktische Geschichte verlief auf keiner Zeitskala wirklich linear) kam Ulubis durch ein neues Wurmloch wieder ans Netz und wurde in den Dritten Komplex integriert. Diese Arteria überdauerte siebzig Millionen Jahre, eine produktive, friedliche Epoche, in der mehrere ›schnelle‹, aber nicht auf Ulubis entstandene Spezies kamen und wieder verschwanden. Nur die Dweller verfolgten als immerwährende Zeugen den gemächlichen Gang des Lebens und der Geschichte. Dann wurde Ulubis durch den Großen Arteria-Zusammenbruch zusammen mit fünfundneunzig Prozent der vernetzten Galaxis abermals in die Einsamkeit gestürzt. Im Krieg der ›Neuen Schnellen‹ und im Maschinenkrieg wurden weitere Portale und Wurmlöcher vernichtet, und erst die Gründung der Merkatoria brachte – zumindest nach Ansicht ihrer Führer, einen dauerhaften Frieden und leitete den Vierten Komplex ein.

Ulubis war im Verlauf dieses noch im Anfangsstadium befindlichen Prozesses schon frühzeitig wieder angeschlossen worden, und dank dieser jüngsten Arteria war das System sechstausend Jahre lang ein leicht erreichbarer Teil der allmählich wiederauflebenden galaktischen Gemeinschaft gewesen. Doch auch dieses Wurmloch war zerstört worden, und seit mehr als einem Vierteljahrtausend befand sich der nächstgelegene funktionsfähige Zugang für Ulubis auf Zenerre, volle zweihundertvierzehn Jahre weiter innen im zunehmend dicker werdenden Strom. Das sollte sich nun in etwa siebzehn Jahren ändern. Dann nämlich würde ein Wurmloch-Endpunkt eintreffen, der zurzeit mit relativistischer Geschwindigkeit auf dem Technikschiff Esttaun Zhiffir zum Ulubis-System unterwegs war. Wahrscheinlich würde man ihn an der gleichen Stelle installieren wie das alte Portal, an einem der Lagrange-Punkte in der Nähe von Sepekte, dem Hauptplaneten des Ulubis-Systems. Im Augenblick stand Ulubis jedoch trotz seiner Bedeutung als Zentrum der Dweller-Forschung zeitlich und physisch im Abseits.

Onkel Slovius entließ den Diener mit einer Flossenbewegung und zog sich an dem y-förmigen Trägergerüst, das ihn mit Kopf und Schultern über der glänzend blauen Oberfläche hielt, nach oben. Der Diener – Fassin hatte ihn inzwischen erkannt, es war Guime, der zweithöchste Bedienstete seines Onkels – kam zurück und wollte dem Alten behilflich sein. Doch Slovius zischte und schnalzte gereizt und wollte mit einer Flossenhand nach dem Mann schlagen. Doch die Bewegung war zu langsam und kraftlos. Guime wich mühelos aus, verneigte sich, zog sich an die Wand zurück und blieb dort stehen. Slovius hievte seinen Oberkörper noch etwas weiter aus dem Becken. Rumpf und Schwanz schwebten träge unter den leuchtend blauen Wellen.

Fassin wollte sich aus seinem Schneidersitz erheben. »Onkel, soll ich dir …?«

»Nein!«, rief Slovius frustriert, obwohl es ihm nicht gelingen wollte, sich weiter nach oben zu schieben. »Warum will mich alle Welt nur ständig bemuttern!« Bei diesen Worten drehte er den Kopf zur Seite, um Guime anzusehen, doch dabei rutschte er noch weiter ab und lag schließlich mehr in der Horizontalen als zuvor. Er patschte mit der Flosse auf die Oberfläche. »Da! Siehst du, was du angerichtet hast, du Idiot? Immer musst du dich wichtig machen!« Er seufzte tief auf, legte sich sichtlich erschöpft in die wogenden Wellen zurück und starrte vor sich hin. »Wenn du willst, kannst du mich umbetten, Guime«, sagte er matt. Es klang resigniert.

Guime kniete sich hinter seinen Herrn auf die Fliesen, packte ihn mit beiden Händen unter den Achseln und zog ihn so weit auf das Gerüst hinauf, dass Kopf und Schultern nahezu senkrecht waren. Slovius setzte sich zurecht, dann nickte er gebieterisch. Guime nahm seinen Platz an der Wand wieder ein.

»Nun zu dir, Neffe.« Slovius faltete die Flossen über der breiten, haarlosen Brust und richtete den Blick zur Kuppel empor.

Fassin lächelte. »Ja, Onkel?«

Slovius zögerte. Sein Blick wanderte zu seinem Neffen. »Wie steht es mit deinen … deinen Studien, Fassin? Wie kommst du voran?«

»Ich bin zufrieden. Für die Tranche Xonju ist es natürlich noch sehr früh.«

»Hmm. Früh.« Wieder blickte Onkel Slovius mit nachdenklicher Miene ins Leere. Fassin seufzte insgeheim. Die Unterredung würde wohl noch eine Weile dauern.

Fassin Taak war ›Langsamen‹-Seher am Hof der Dweller von Nasqueron. Die Dweller – genauer gesagt, die Gasriesen-Dweller … der Auftriebsneutrale Flächendeckende Gasriesen-Dweller-Stamm Erster Ordnung im Klimaxstadium, um die Präzision auf eine geradezu schmerzhafte Spitze zu treiben – waren große Lebewesen von unermesslichem Alter, Angehörige einer verwirrend komplexen und topologisch riesigen uralten Zivilisation. Ihr Lebensraum, die Wolkenschichten um den gewaltigen Gasriesenplaneten, war von seinen Ausmaßen her gigantisch und zudem in seiner Aerographie ständigen Veränderungen unterworfen.

Dweller, zumindest ausgewachsene Dweller dachten sehr langsam. Sie lebten langsam, entwickelten sich langsam, reisten langsam und übten auch fast alle anderen Tätigkeiten langsam aus. Man unterstellte ihnen, sie könnten ziemlich schnell kämpfen, das war jedoch schwer nachzuweisen, denn sie hatten es schon lange nicht mehr nötig gehabt, irgendwelche Kriege zu führen. Daraus folgte, dass sie auch schnell denken konnten, wenn es ihnen beliebte, aber meistens war das offenbar nicht der Fall, und so ging man davon aus, dass sie auch hier langsam waren. Unbestritten war, dass sie sich in späteren Jahren – oder Äonen – für ihre Gespräche sehr viel Zeit nahmen. So viel, dass manche einfache Frage vor dem Frühstück gestellt und erst nach dem Abendessen beantwortet wurde. Und Fassin hatte den Eindruck, als sei Onkel Slovius – der mit einem entrückten Ausdruck auf seinem verquollenen Gesicht mit den Stoßzähnen in den inzwischen unbewegten Fluten trieb – fest entschlossen, diese Form der Unterhaltung zu übernehmen.

»Bei der Tranche Xonju geht es um …?«, fragte Slovius plötzlich.

»Literarische Fragmente, Diaspora-Mythen und verschiedene historische Verwicklungen«, antwortete Fassin.

»Aus welchen Epochen?«

»Die meisten Texte müssen erst noch datiert werden, Onkel. Bei einigen wird das womöglich nie gelingen, man muss sie eventuell zu den Mythen rechnen. Die einzigen Stränge, die sich leicht zuordnen lassen, sind neueren Datums und beziehen sich hauptsächlich auf regional begrenzte Ereignisse während des Maschinenkriegs.«

Onkel Slovius nickte langsam und löste damit neue Wellen aus. »Der Maschinenkrieg. Das ist interessant.«

»Ich hatte die Absicht, mir diese Stränge als Erste vorzunehmen.«

»Ja«, sagte Slovius. »Das ist eine gute Idee.«

»Danke, Onkel.«

Slovius war wieder verstummt. In der Ferne grollte ein Erdbeben, und in der Flüssigkeit im Becken bildeten sich kleine konzentrische Kreise.

Die Zivilisation der Dweller von Nasqueron mit der dazugehörigen Flora und Fauna war nur ein mikroskopisch kleiner Teil der Dweller-Diaspora, einer galaxisweiten Meta-Zivilisation (manchmal war auch von Post-Zivilisation die Rede), die, soweit sich das feststellen ließ, allen anderen Reichen, Kulturen, Diasporen, Zivilisationen, Förderationen, Sozietäten, Zusammenschlüssen, Bündnissen, Ligen, Genossenschaften, Affiliationen und Organisationen von mehr oder weniger ähnlichen Wesen übergeordnet war.

Mit anderen Worten, Dweller gab es schon fast so lange wie das Leben in der Galaxis. Damit war diese Spezies zumindest ungewöhnlich, wenn nicht sogar einmalig. Und sie stellte, vorausgesetzt, man näherte sich ihr mit der gebührenden Ehrerbietung und Vorsicht, behandelte sie mit Respekt und brachte auch die nötige Geduld auf, auch eine wertvolle Ressource dar. Denn die Dweller hatten ein gutes Gedächtnis und noch bessere Bibliotheken. Zumindest vergaßen sie nichts, und ihre Bibliotheken waren sehr groß.

Tatsächlich waren die Dweller-Gedächtnisse wie die Dweller-Bibliotheken gewöhnlich voll gepackt mit blankem Unsinn. Bizarre Mythen, unverständliche Bilder, nicht zu entschlüsselnde Symbole und sinnlose Gleichungen sowie willkürlich aneinander gereihte Zahlengruppen, Briefe, Piktogramme, Holophone, Sonomeme, Chemiglyphen, Aktinome und vieles andere mehr war aus Millionen und Abermillionen von Zivilisationen ohne jede Gemeinsamkeit, von denen die meisten längst untergegangen und entweder zu Staub zerfallen oder als Strahlung ins All entwichen waren, zusammengetragen und ohne jede Ordnung – oder nach einem abstrusen und völlig unverständlichen System – in einen Topf geworfen worden.

Trotzdem fanden sich in diesem Durcheinander aus Propaganda, verzerrten Fakten, albernem Gefasel und verrückten Ideen immer wieder einzelne Wahrheitskörnchen und Tatsachenflöze, erstarrte Ströme längst vergessener Geschichte, ganze Bände von Exobiographien und so manche miteinander verwobene Erkenntnisstränge. Menschen wie der Oberste Seher Slovius und der Seher-im-Wartestand Fassin Taak hatten es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kontakt zu den Dwellern zu suchen, mit ihnen zu reden und sich auf ihre Sprache, ihre Denkweise und ihren Metabolismus einzustellen. Die Seher schwebten – manchmal nur virtuell aus großer Entfernung, manchmal auch ganz konkret – mit den Dwellern durch Nasquerons Wolken, stießen in die Tiefen des Gasriesen hinab und stiegen wieder empor. Dabei suchten sie in Gesprächen, durch Studien und mit Hilfe von Notizen und Analysen möglichst viel von dem Material zu verstehen, das ihnen ihre uralten, ›langsamen‹ Gastgeber mündlich oder auf andere Weise zugänglich machten. So hofften sie, zur Bereicherung und zur Aufklärung der größeren Meta-Zivilisation der ›Schnellen‹ beizutragen, die derzeit die Galaxis bewohnte.

»Und, äh, Jaal?« Slovius sah seinen Neffen an. Der wirkte so verdutzt, dass der Ältere eine Erklärung für angebracht hielt. »Diese, ach, wie war doch gleich der Name … Tonderon. Ja. Die kleine Tonderon. Du bist doch noch mit ihr verlobt?«

Fassin lächelte. »Natürlich, Onkel«, sagte er. »Sie kommt heute Abend aus Pirrintipiti zurück. Ich hoffe, sie am Hafen abholen zu können.«

»Und du bist …?« – Slovius wedelte mit einer Flossenhand – »immer noch mit ihr zufrieden?«

»Zufrieden, Onkel?«, fragte Fassin.

»Bist du glücklich? Freust du dich darauf, dass sie deine Frau werden soll?«

»Natürlich, Onkel.«

»Und wie denkt sie über dich?«

»Hoffentlich ebenso. Ich glaube schon.«

Slovius sah seinen Neffen eindringlich an. »Hm. Verstehe. Natürlich. Nun ja.« Er schaufelte sich mit einer Flosse etwas von der leuchtend blauen Flüssigkeit über die Brust, als fröre er. »Wann soll die Hochzeit sein?«

»Der Termin ist auf Allerheiligen, Jocundus III festgesetzt«, sagte Fassin. »In knapp einem halbem Jahr Eigenzeit«, fügte er zur Erläuterung hinzu.

»Verstehe.« Slovius runzelte die Stirn und nickte langsam. Das leichte Heben und Senken seines Körpers erzeugte neue Wellen. »Gut zu wissen, dass du vielleicht doch noch in geordnete Verhältnisse kommst.«

Fassin war Seher mit Leib und Seele, er hielt sich für fleißig und tüchtig und verbrachte nach eigener Einschätzung überdurchschnittlich viel Zeit auf ›harten‹ Trips, also in direktem Kontakt mit den Dwellern von Nasqueron. Doch da er glaubte, sich nach jeder dieser anstrengenden Arbeitsphasen einen ›richtigen Urlaub‹ verdient zu haben, wie er es nannte, hielten ihn die ältere Generation des Sept Bantrabal und besonders Slovius offenbar für einen unverbesserlichen Taugenichts. (Onkel Slovius war nicht einmal bereit, von einem ›richtigen Urlaub‹ zu sprechen. Für ihn handelte es sich dabei um »monatelange hemmungslose Besäufnisse und Drogenexzesse, bei denen sein Neffe keiner Prügelei aus dem Weg ging und jede Körperöffnung erkundete, die sich ihm an den Fleischtöpfen von …« nun, wo auch immer boten, in Pirrintipiti vielleicht, der Hauptstadt von ’glantine, in Borquille, der Hauptstadt von Sepekte oder einer von Sepektes anderen Städten, manchmal auch in einem der vielen Vergnügungshabitate, die über das ganze System verstreut waren.)

Fassin lächelte nachsichtig. »Trotzdem werde ich die Tanzschuhe noch nicht an den Nagel hängen, Onkel.«

»Was ist mit deinen Forschungen im Lauf der letzten, drei oder vier Trips, fassin? Könnte man sagen, sie wären in eine bestimmte Richtung gegangen?«

»Du verwirrst mich, Onkel«, gestand Fassin.

»Stehen deine letzten drei oder vier Trips thematisch, vom Gegenstand her oder durch die Dweller, mit denen du gesprochen hast, in irgendeinem Zusammenhang?«

Fassin lehnte sich überrascht zurück. Warum in aller Welt mochte sich der alte Slovius plötzlich dafür interessieren? »Lass mich nachdenken«, sagte er. »Beim letzten Mal sprach ich fast ausschließlich mit Xonju, der aufs Geratewohl mit Informationen um sich warf und offenbar nicht ganz begriffen hatte, was man unter einer Antwort versteht. Es war unser erstes Treffen, und alles blieb im Vorläufigen. Falls es uns gelingt, ihn wiederzufinden, könnte es sich lohnen, mit ihm weiterzumachen. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise brauche ich die Monate bis zum nächsten Trip, um zu einer Entscheidung …

»Diese Expedition war also nur ein Versuch, eine erste Kontaktaufnahme.«

»So ist es.«

»Und davor?«

»Ein ausgedehntes Treffen mit Cheuhoras, Saraisme dem Jüngeren, den Zweizwillingen Akeurle, dem Traav Kanchangesja und zwei Adoleszenten aus der Horde von Eglide.«

»Die Themen?«

»Hauptsächlich ging es um die Dichtkunst. Altertum und Moderne, die Bildlichkeit in der Epik, das Ethos der Prahlerei und der Übertreibung.«

»Und der Trip davor?«

»Allein mit Cheuhoras; eine endlose Klage um seine verstorbenen Eltern, ein paar heimische Jagdmythen aus der jüngeren Vergangenheit und eine langatmige Übersetzung und Übertragung eines epischen Texts über die Abenteuer vorzeitlicher Plasmawesen im Verlauf der Wasserstoffwanderung vor etwa einer Milliarde Jahre während des Zweiten Chaos.«

»Und davor?«

Fassin lächelte. »Mein langes Gespräch unter vier Augen mit Valseir. Es war der Trip, bei dem ich die Tollkühnen Schelme vom Stamm Dimajrian besuchte.« Wahrscheinlich konnte er es sich sparen, seinen Onkel an die Einzelheiten gerade dieser Exkursion zu erinnern. Es war eine sehr ausgedehnte Reise gewesen, auf der er sich seinen Ruf als begabter Seher erworben hatte. Nach Eigenzeit hatte sie sechs Jahre gedauert; für einen außenstehenden Beobachter fast ein Jahrhundert, und sie hatte seine Stellung innerhalb des Sept Bantrabal, aber auch in der Hierarchie der ’glantine-Seher außerhalb davon begründet. Seine Abenteuer und der Wert des literarischen und historischen Materials, das er mitbrachte, hatten nicht nur den Ausschlag für seine Beförderung zum Obersten Seher-im-Wartestand in seinem eigenen Sept gegeben, sondern auch den Sept Tonderon, den angesehensten der zwölf Septe, bewogen, ihm die Ehe mit der Tochter seines Obersten Sehers anzubieten.

»Wie viele Jahre gehen wir damit in Realzeit zurück?«

Fassin überlegte. »Etwa dreihundert … Zweihundertsiebenundachtzig, wenn ich richtig gerechnet habe.«

Slovius nickte. »Wurde im Laufe dieses Trips viel veröffentlicht?«

»So gut wie gar nichts. Die Tollkühnen Schelme hatten sich das verbeten. Sie gehören zu den … flegelhafteren Adoleszentenhorden. Ich durfte nur einmal im Jahr ein Lebenszeichen schicken.«

»Und der Trip davor?«

Fassin seufzte und klopfte mit den Fingern gegen die Glasabdeckung am Beckenrand. Bei der alten Erde, was hatte das zu bedeuten? Warum beschaffte sich Slovius solche Informationen nicht einfach aus den Archiven des Sept? An einer Wand des Saals befand sich ein großer frei tragender Arm mit einem Computerterminal, das sich, wie Fassin selbst schon gesehen hatte, auf Slovius’ Höhe bringen ließ, so dass der Alte auf den Schirm schauen und mit seinen Stummelfingern die Tasten betätigen konnte.

Natürlich wäre das weder die schnellste, noch die effektivste Methode für eine Anfrage an die Hausbibliothek, aber sie hätte alle Fragen beantwortet. Der alte Knabe könnte sich auch bei jemand anderem erkundigen. Wofür hatte man die Diener?

Fassin räusperte sich. »Auf diesem Trip war ich die meiste Zeit damit beschäftigt, Paggs Yurnvic vom Sept Reheo einzuweisen, der zum ersten Mal dabei war. wir machten Traav Hambrier unsere Aufwartung, in Dweller-Zeit, mit Rücksicht auf Yurnvics Mangel an Erfahrung. Nach Eigenzeit dauerte der Trip nur knapp drei Monate. Eine Einführung wie aus dem Bilderbuch.«

»Und du hast keine Zeit gefunden, deinen eigenen Forschungen nachzugehen?«

»Kaum.«

»Aber ein wenig doch?«

»Ich konnte einen Teil eines Symposiums der Universitätshorde Marcal über die Tiefen der Poetik verfolgen. Wenn du Genaueres über die anderen Teilnehmer wissen willst, müsste ich im Sept-Archiv nachsehen.«

»Was gibt es sonst zu sagen? Über das Symposium, meine ich. wie lautete das Thema?«

»Wenn ich mich recht erinnere, sollten die Jagdmethoden der Dweller mit den Verfahren der Inquisitionsbehörden im Maschinenkrieg verglichen werden.« Fassin strich sich über das Kinn. »Die Beispiele stammten aus dem Ulubis-System, einige sogar von ’glantine.«

Slovius nickte und sah seinen Neffen an. »Weißt du, was man unter einer Abgesandten-Projektion versteht, Fassin?«

Fassin blickte hinauf zu dem Teil des Gasriesen, der durch den transparenten Bereich des Dachs zu sehen war. Auf einer Seite kam soeben der Terminator in Sicht, der vordere Rand eines schwarzen Schattens, der über die ferne Wolkenlandschaft kroch. Er wandte er sich wieder seinem Onkel zu. »Kann sein, dass ich den Ausdruck schon einmal gehört habe. Aber ich würde nicht wagen, ihn zu definieren.«

»Man schickt per Laserstrahl ein Paket mit Fragen und den entsprechenden Antworten an einen räumlich entfernten Ort. Dieses Paket spielt die Rolle eines Abgesandten.«

»Wer ist ›man‹?«

»Die Techniker. Die Administrata. Vielleicht auch die Omnokratie.«

Fassin richtete sich auf. »Tatsächlich?«

»Tatsächlich. Wenn man den Begleitinformationen glauben darf, handelt es sich bei dem Objekt um so etwas wie eine Bibliothek, die mit einem Signallaser übertragen wird. Wenn diese … Entität an fortgeschrittene Apparaturen mit hinreichender Kapazität angeschlossen und aktiviert wird, vermag sie, obwohl sie im Grunde nur aus einer vielfach verzweigten Matrix von Aussagen, Fragen und Antworten und einem Regelwerk besteht, das festlegt, in welcher Reihenfolge diese Elemente zum Einsatz kommen, eine Unterhaltung zu führen, die in vieler Hinsicht als intelligent bezeichnet werden kann. Damit kommt sie einer Künstlichen Intelligenz so nahe, wie das in Nachkriegszeiten gestattet ist.«

»Unglaublich.«

Slovius schaukelte in seinem Becken hin und her. »Jedenfalls unglaublich selten«, nickte er. »Ein solcher Abgesandter ist auf dem Weg hierher.«

Fassin blinzelte. »Hierher?«

»Zum Sept Bantrabal. Zu diesem Haus. Zu uns.«

»Zu uns?«

»Er wurde von der Administrata geschickt.«

»Von der Administrata.« Fassin merkte selbst, dass er sich ziemlich einfältig anhörte.

»Mit dem Technikschiff Est-taun Zhiffir

»Du meine Güte«, sagte Fassin. »Welche … Ehre für uns.«

»Nicht für uns, Fassin; für dich. Die Projektion hat den Auftrag, mit dir zu sprechen.«

Fassin lächelte unsicher. »Mit mir? Aha. Und wann …?«

»Die Übertragung läuft bereits. Sie müsste bis zum späten Abend abgeschlossen sein. vielleicht solltest du dafür alle Verabredungen absagen. Hattest du viel vor?«

»Äh … ein Abendessen mit Jaal. aber …«

»Ich würde an deiner Stelle das Abendessen zeitlich vorziehen. Und mich nicht zu lange dabei aufhalten.«

»Hm, ja. Natürlich«, sagte Fassin. »Kannst du dir vorstellen, womit ich das verdient haben könnte?«

Slovius schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Guime hängte das Interkomgerät an seinen Haken zurück, verließ seinen Posten, kniete neben Slovius nieder und flüsterte ihm etwas zu. Slovius nickte und wandte sich an Fassin. »Haushofmeister Verpych möchte dich sprechen, Neffe.«

»Verpych?« Fassin schluckte. Der Haushofmeister, der ranghöchste Diener des Sept Bantrabal, sollte eigentlich im Tiefschlaf bleiben, bis der ganze Sept in achtzig Tagen in sein Winterquartier übersiedelte. Dass man ihn vorzeitig störte, war unerhört. »Ich denke, er schläft!«

»Nun, man hat ihn geweckt.«


Das Schiff war seit Jahrtausenden tot. Wie lange tatsächlich, wusste niemand genau, aber die plausibelsten Schätzungen beliefen sich auf sechs bis siebentausend Jahre. Es war nur eines von all den untergegangenen Schiffen, die mit einer der großen Flotten am Krieg der ›Neuen Schnellen‹ (oder wenig später am Maschinenkrieg, vielleicht auch an den darauf folgenden Streuungskriegen oder an einem der kurzen, erbitterten, unkoordinierten und blutigen Scharmützel im Verlauf der Aussaat) teilgenommen hatten. Eine von vielen ausrangierten und vergessenen Figuren im großen Spiel um die Macht in der Galaxis und die Vorherrschaft unter den Zivilisationen, in dem speziesübergreifend intrigiert wurde und jedes Mittel erlaubt war.

Der Koloss hatte mindestens tausend Jahre lang unentdeckt auf ’glantine gelegen, denn ’glantine war zwar für menschliche Begriffe ein kleiner Planet – noch etwas kleiner als der Mars – aber nach den gleichen Maßstäben nur dünn besiedelt. Knapp eine Milliarde Einwohner konzentrierten sich zumeist auf die Tropen, in die leeren Weiten des Nördlichen Ödlands, wo das Wrack niedergegangen war, wagte sich nur selten ein Besucher. Auch dass es lange gedauert hatte, bis man wieder Überwachungssysteme besaß, die auch nur annähernd so komplex und hoch entwickelt waren wie vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten, hatte die Entdeckung des Wracks nicht gerade beschleunigt. Und schließlich hatten trotz der gewaltigen Größe des Schiffes ein Teil seiner automatischen Tarnsysteme den Aufschlag auf die Oberfläche des Planetenmonds, die partielle Zerstörung und den Tod aller Sterblichen an Bord überlebt. Dadurch hatte der Rumpf die ganze Zeit wie einer der vielen kahlen Felsen ausgesehen, die aus dem tiefen Einschlagskrater geschleudert worden waren, als gleich zu Beginn des Konflikts der ›Neuen Schnellen‹ ein kleineres, aber sehr viel schnelleres Schiff zehn Kilometer entfernt auf den Planeten gestürzt und verdampft war.

Die Trümmer waren nur gefunden worden, weil ein Flieger an einer der großen gewölbten (aber zu diesem Zeitpunkt perfekt als einladend leerer, klarer Himmel getarnten) Rumpfrippen zerschellt war. Erst nach diesem Unglück hatte man das Wrack untersucht und die wenigen Systeme ausgebaut, die noch funktionierten (aber unter dem neuen Regime nicht verboten waren. Dank dieser Einschränkungen war die Ausbeute gering). Schließlich – das Anheben des Rumpfes und der großen Unterkonstruktionen kam aus Kostengründen nicht in Frage, das Zerschneiden und Wegkarren der Teile war schwierig, ebenfalls nicht billig und potenziell gefährlich, und eine völlige Zerstörung wäre nur mit schweren Waffen im Gigatonnenbereich möglich gewesen, gegen deren Einsatz in der Atmosphäre eines kleinen Planetenmondes, selbst in menschenleerem Gebiet die Bevölkerung in Friedenszeiten heftig zu protestieren pflegte – hatte man die Absturzstelle weiträumig abgesperrt und ließ sie zur Sicherheit auf unbestimmte Zeit von einem Schwarm Flugdrohnen bewachen.

»Nein, das könnte gut, das könnte positiv sein«, erklärte Saluus Kehar und steuerte die kleine Maschine im Tiefflug über die Wüste auf das zerklüftete Gelände zu, wo sich die abgenagten Rippen des großen Schiffes wie Schattenfalten vor dem violetten, allmählich dunkler werdenden Himmel abzeichneten. Hinter dem Wrack erschien ein riesiger, blaugrüner Flimmerteppich, wogte lautlos über den Himmel und erlosch wieder.

»Scheiße, das kannst auch nur du sagen«, bemerkte Taince, die an den Knöpfen des Funkgeräts drehte. Aus den Lautsprechern rauschte es wie Brandungswellen.

»Müssen wir so dicht über dem Boden fliegen?«, fragte Ilen, die ihre Stirn gegen das Kanzeldach drückte und nach unten starrte. Sie streifte den jungen Mann, der mit ihr den Rücksitz des kleinen Flugzeugs teilte, mit einem Blick. »Ehrlich, Fass, ist das ratsam?«

Fass ließ sich nicht stören. »Sal kann immer noch nicht fassen, dass sein gnadenloser Optimismus auch Unwillen hervorrufen kann. wie bitte, Len? Was sagtest du?«

»Ich dachte nur …«

»Richtig«, murmelte Taince. »Schalt den gottverdammten Pinger ein.«

»Ich meine«, Saluus gestikulierte mit einer Hand, während er die Maschine noch tiefer, noch dichter an den vorüberrasenden Sandboden heransteuerte. Taince schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge, beugte sich zu ihm hinüber und drückte einen Schalter am Bildschirm; ein leises ›Ping‹ war zu hören, dann stieg das Flugzeug ein paar Meter höher, und der Flug wurde ruhiger. Sal sah sie empört an, sprach aber weiter, ohne die Abstandssicherung wieder abzuschalten. »Wir sind immer noch unverletzt, wir wurden noch nicht in die Luft gesprengt, und jetzt haben wir Gelegenheit, dieses Wrack zu untersuchen, an das wir normalerweise nie herankämen. Zur rechten Zeit am rechten Ort, die Gelegenheit ist perfekt. wie sollte man da nicht optimistisch sein?«

»Du meinst«, Fassin zog die Worte in die Länge und warf einen Blick zum Himmel, »wenn man von der bedauerlichen Tatsache absieht, dass ein paar übereifrige und sicherlich gründlich missverstandene Beyonder-Rebellen gerade versuchen, uns alle in radioaktiven Staub zu verwandeln?«

Niemand hörte auf ihn. Fassin unterdrückte demonstrativ ein Gähnen – auch das nahm niemand zur Kenntnis –, schmiegte sich in die weichen Lederpolster und streckte den linken Arm über die Lehne zu Ilen Deste hinüber (die wieder die Stirn ans Kanzeldach drückte und gebannt beobachtete, wie der fast vollkommen ebene Sandboden unter ihnen vorbeiraste). Er bemühte sich, zumindest unbekümmert, besser noch gelangweilt zu wirken, obwohl er natürlich vor Angst fast umkam und sich entsetzlich hilflos fühlte.

Sal und Taince waren das dynamische Duo in der Gruppe: Saluus, der tollkühne Pilot, gut aussehend, dickköpfig, aber zweifellos hoch begabt (und, dachte Fassin, einfach vom Glück begünstigt), war der Erbe eines riesigen Wirtschaftsimperiums und schämte sich nicht, der Sohn eines sagenhaft reichen, skrupellosen Freibeuters zu sein. Fassin hatte ihm gleich im ersten Jahr auf dem College das Etikett ›der Gierschlund‹ verpasst, einen Beinamen, den ihre gemeinsamen Freunde zunächst nur hinter Sals Rücken verwendeten, bis der davon Wind bekam und ihn prompt zu seinem persönlichen Markenzeichen machte. Und Taince, die Copilotin, Navigatorin und hoch qualifizierte Kommunikationsexpertin, spielte in der Gruppe von jeher die scharfe, gut informierte Kritikerin (wobei Fassin sich selbst in der Rolle des sarkastischen, gut informierten Kritikers sah). Taince Yarabokin, die Offiziersanwärterin, musste man jetzt wohl sagen. Taince das Army-Girl – auch eine von Fassins Prägungen – hatte auf dem College alle Kurse mit Bestnoten abgeschlossen und dank der Reserveübungen, die sie in ihrer Freizeit, an Wochenenden und im Urlaub abgeleistet hatte, bereits die Hälfte der Ausbildung zum Offizier bei den Streitkräften der Navarchie hinter sich gebracht, bevor sie nach Abschluss eines Kurzdiploms für das letzte Jahr auf die Militärakademie übergewechselt war. Dort war sie von der Musterung an auf der Überholspur gefahren. Sie war mitten im Semester vom Ersten ins Zweite Jahr gesprungen, und angeblich hatte man sie schon in diesem unerhört frühen Stadium in die engere Wahl für eine spätere Aufnahme in die Generalflotte genommen, jene die ganze Galaxis überspannende militärische Supermacht, die unmittelbar der Culmina unterstellt war. Mit anderen Worten, sie war offenbar so fest auf militärische Ehren programmiert wie Sal auf wirtschaftlichen Erfolg.

Beide hatten auch bereits ihr Heimatsystem verlassen. Sie waren zum Portal des Ulubis-Systems an Sepektes Lagrange-Punkt L5 gereist und von dort nach Zenerre und zum Komplex gesprungen, dem Wurmlochnetz, das unter den winzigen Lichtern der Sonnen wie ein schwarzer Spitzenschleier über der Galaxis lag. Saluus hatte vergangenes Jahr in den großen Ferien mit seinem Vater eine Bildungsreise durch die mittlere Galaxis unternommen. Sie hatten alle wichtigen Sehenswürdigkeiten besucht, soweit sie zugänglich waren, einige besonders ausgefallene Alien-Spezies kennen gelernt und viele Andenken mitgebracht. taince hatte nicht so viele Orte besucht, aber weitere Strecken zurückgelegt. Sie war im Zuge ihrer Spezialausbildung von der Navarchie zu militärischen Übungen in verschiedene entlegene Stützpunkte geschickt worden. Die zwei waren als Einzige in ihrem Jahrgang so weit herumgekommen und bildeten daher eine kleine exotische Klasse für sich.

Fassin hatte sich oft überlegt, dass es wahrscheinlich diesen beiden zu verdanken wäre, wenn sein junges Leben ein tragisches Ende fände, bevor er sich endgültig entschieden hätte, was er damit anfangen wollte. (Als Seher ins Familienunternehmen eintreten … Oder etwas ganz anderes?) Am ehesten, wenn jeder wieder einmal versuchte, den anderen vor den nachsichtigen Augen ihrer Freunde bei irgendeinem Husarenstück zu übertreffen oder einfach rücksichtslos die bessere Schau abzuziehen. Manchmal gelang es ihm, sich einzureden, der Tod könnte ihn nicht allzu sehr schrecken. Er hätte bereits genug vom Leben, von der Liebe, von all den Grobheiten und Dummheiten der Menschen und der Realität gesehen, um einen jähen, grausamen Tod in Jugend und Schönheit vorzuziehen, in körperlicher und geistiger Frische, während er – wie es die älteren Verwandten nicht müde wurden zu wiederholen – noch alles vor sich hätte.

Bedauerlich wäre allerdings, wenn auch Ilen – die herzzerreißend schöne Ilen, zart und blass, schamlos blond, mit hervorragenden akademischen Leistungen, aber von einer geradezu grotesken Schüchternheit und ohne jedes Selbstbewusstsein – wenn auch sie in den Trümmern zugrunde gehen müsste, dachte Fassin. Womöglich noch, bevor sich erfüllt hätte, was er ihr immer wieder als ihrer beider Bestimmung schilderte – leider glaubte er auch noch selbst daran –, und sie zu einer sinnerfüllten, aber auch körperlich befriedigenden Beziehung gefunden hätten. Im Augenblick – den Kopf nach draußen gestreckt, die Stirn ans Kanzeldach gedrückt – sah sie freilich eher so aus, als wollte sie sich übergeben.

Fassin wandte sich ab und versuchte, sich alle Gedanken an einen frühen Tod wie an eine geschlechtliche Erfüllung, die wohl noch ziemlich lange auf sich warten ließe, aus dem Kopf zu schlagen, indem er die Sterne betrachtete, die jetzt über den falschen Horizont stiegen. Nasquerons schemenhafte Masse bewegte sich weiter, und dahinter kam, rasch dunkler werdend, der Himmel zum Vorschein. Ein neuer Aurora-Ausbruch ließ flimmernde Lichtbahnen entstehen, neben denen die Sterne vorübergehend verblassten.

Ilen schaute in die entgegengesetzte Richtung. »Was ist das für ein Qualm?«, rief sie und deutete auf die eingedrückte Nase des abgestürzten Schiffes. Dahinter stieg, vom Wind zur Seite gedrückt, eine dunkelgraue, fransige Rauchsäule auf.

Taince hob den Kopf, murmelte etwas und machte sich an den Knöpfen des Funkgeräts zu schaffen. Alle anderen beobachteten das Schauspiel. Sal nickte. »Wahrscheinlich die Wachdrohne, die vorhin abgeschossen wurde«, sagte er, aber es klang unsicher.

Die Lautsprecher knackten, und eine Frauenstimme sagte ruhig: » – ger Zwei-Zwei-Neun … – sition? – ben Sie … – sieben-fünf-drei … -üdlich der Verbotenen Zone Ach-? … – derhole Sie sind jetzt oder in -ürze außerhalb des Rasters … – stätigen Sie Ihre …«

Taince Yarabokin beugte sich tiefer über das Gerät. »Hier spricht Flieger Zwei-Zwei-Neun, wir finden keinen sicheren Platz, um wie empfohlen unbemerkt zu landen, fliegen deshalb mit Höchstgeschwindigkeit in Minimalhöhe auf …«

Saluus Kehar streckte den goldgebräunten Arm aus und schaltete das Funkgerät ab.

»Verdammter Ficker!«, rief Taince und schlug nach seiner Hand, die bereits wieder zum Steuerknüppel zurückkehrte.

»Taince, bitte!« Sal schüttelte den Kopf, ohne das rasch näher kommende Schiffswrack aus den Augen zu lassen. »Musst du es unbedingt gleich jedem erzählen?«

»Kretin!«, zischte Taince und schaltete das Funkgerät wieder ein.

»Schließe mich an«, sagte Fassin und schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Wirst du das Ding wohl in Ruhe lassen?«, sagte Sal, aber es gelang ihm nicht, das Funkgerät erneut auszuschalten. taince schlug seine Hand immer wieder weg und suchte weiter nach einem freien Kanal. (Fassin wollte schon anmerken, sie hätte darin mehr Übung, als er gedacht hätte, ließ es aber doch lieber sein.) »Taince«, sagte Sal. »Das ist ein Befehl. Der verdammte Apparat bleibt aus, hörst du? Wem gehört eigentlich dieser Flieger?«

»Deinem Dad?«, fragte Fassin. Sal warf einen vorwurfsvollen Blick nach hinten. Fassin nickte zu dem Schiffswrack hin, das schnell größer wurde. »Augen nach vorn.«

Sal drehte sich wieder um. Das ist ein Befehl, dachte Fassin und grinste in sich hinein. Saluus, wie kannst du nur? Hatte er sich nur deshalb so ausgedrückt, weil Taince beim Militär war und er glaubte, sie würde jedem Befehl automatisch gehorchen, auch wenn er von einem Zivilisten kam? Oder bildete er sich ein, schon jetzt auf Grund seiner Herkunft alle Welt herumkommandieren zu können? Ein Wunder, dass ihn Taince nicht einfach ausgelacht hatte.

Na schön, sie waren keine unschuldigen Kinder mehr, dachte Fassin. Je mehr sie von der Welt, der Galaxis und der Epoche kennen lernten, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbrachten, desto deutlicher zeigte sich, dass es überall um Hierarchien ging, um Rangstufen, Dienstgrade und Hackordnungen, ob man nun wie sie ganz unten stand oder bereits unsichtbare Gipfel des Ruhmes erklommen hatte. Eigentlich waren sie wie ein Wurf Labormäuse, die in einem Käfig miteinander aufwuchsen, sich um die Vorherrschaft balgten, eigene und fremde Stärken und Schwächen ausloteten, Strategien und Verhaltensweisen für das spätere Leben erprobten, die Spielräume erkundeten, die sie jetzt hatten und als Erwachsene erwarten konnten, und sich den Platz für ihre Träume zu sichern suchten.

Taince schnaubte. »Wahrscheinlich ist es nicht einmal Daddys Flieger oder eine Geschäftsmaschine, sondern wurde nach einem undurchsichtigen Verfahren verkauft und wieder zurückgeleast und gehört nun einer halbautomatischen und dem Zugriff der Steuerbehörden entzogenen Briefkastenfirma außerhalb des Planeten.« Sie schlug wütend auf das Funkgerät ein, das nicht reagieren wollte.

Sal schüttelte den Kopf. »Unerträglich, dieser Zynismus der heutigen Jugend«, sagte er. Dann betrachtete er den schmetterlingsförmigen Steuerknüppel. »He, das Ding vibriert ja! Was …?«

Taince nickte zu dem Schiffswrack hin, das jetzt dicht vor ihnen aufragte. »Annäherungswarnung, du Superpilot. Wenn du nicht langsamer wirst, kannst du uns alle von der Wand kratzen.«

»Wer denkt denn in einer solchen Situation an Frühjahrsputz?« , erwiderte Sal grinsend. taince rammte ihm die Faust in den Oberschenkel. »Autsch! Das ist Misshandlung«, rief er in gespielter Empörung. »Dafür könnte ich dich anzeigen!«. Sie knuffte ihn noch einmal. Er lachte, drosselte das Triebwerk und betätigte die Druckluftbremse. Alle wurden nach vorne gegen die Sicherheitsgurte gedrückt, bis die kleine Maschine nur noch mit etwa zehn Metern pro Sekunde flog.

Sie traten in den Schatten des Riesenschiffs ein.


»Fassin Taak«, sagte Haushofmeister Verpych. »Was haben Sie denn jetzt wieder angestellt?« Sie eilten durch einen breiten fensterlosen Korridor unter dem Mitteltrakt des Hauses. Bevor Fassin antworten konnte, deutete Verpych mit einem Nicken zu einem Seitengang hin und steuerte darauf zu. »Hier entlang.«

Fassin verlängerte seine Schritte, um mithalten zu können. »Ich weiß nicht mehr als Sie, Haushofmeister.«

»Sie neigen wie eh und je zur Untertreibung.«

Fassin ließ sich die Bemerkung durch den Kopf gehen und verzichtete auf eine Erwiderung. Dafür setzte er ein hoffentlich leutseliges Lächeln auf, doch als er zu Verpych hinüberschaute, sah er, dass ihn der Haushofmeister gar nicht beachtete. verpych war ein kleiner, dünner, aber sehr energisch wirkender Mann mit cremig weißer Haut und vielen Bartstoppeln. Sein Kopf sah aus wie aus Sandstein gemeißelt. Der kantige Unterkiefer wirkte stets verkrampft, und die Stirn war von tiefen Falten durchzogen. Der Kopf war kahl rasiert bis auf einen langen Pferdeschwanz, der ihm bis zur Taille reichte. Den langen Obsidianstab, das wichtigste Symbol seines Amtes, hielt er so fest, als wäre er eine schwarze Schlange, die er mit einer Hand erdrosseln wollte. Seine Uniform war schwarz wie die Nacht, schwarz wie fettiger Ruß.

Als Oberster Seher-im-Wartestand war Fassin eigentlich in jeder Beziehung Verpychs Vorgesetzter. Doch der ranghöchste Diener des Sept brachte es immer noch fertig, dass er sich vorkam wie ein Kind, das etwas angestellt hatte und fast dabei erwischt worden wäre. Fassin sah voraus, dass sie beide ihre Schwierigkeiten haben würden, wenn er erst endgültig das Amt des Obersten Sehers übernahm.

Verpych vollführte eine schneidige Wendung, strebte geradewegs auf ein großes abstraktes Wandgemälde zu und hob seinen Stab, als wollte er auf eine Eigenheit der Pinselführung hinweisen. Das ganze Bild verschwand in einem Schlitz im Fußboden, und dahinter öffnete sich ein schwach beleuchteter Gang. verpych sagte nur: »Abkürzung«, und trat ein, ohne sich umzusehen, ob Fassin ihm folgte.

Fassin schaute über die Schulter. Das Gemälde glitt aus dem Schlitz wieder nach oben und sperrte das Licht aus dem Korridor fast völlig aus. Dieser Gang wirkte vergleichsweise kahl und irgendwie unfertig. Fassin wusste nicht mehr, wann er zum letzten Mal durch einen Versorgungstunnel gegangen war; vermutlich als Kind, auf Entdeckungsreise mit seinen Freunden.

Vor einem Fahrstuhl blieben sie stehen. Die Tür stand offen, ein Klingeln war zu hören. In der Kabine stand ein Jungdiener und hielt ein Tablett mit schmutzigen Gläsern in einer Hand. Mit der anderen drückte er auf die Schaltknöpfe. Ratlosigkeit und Frustration spiegelten sich in seinem Gesicht.

»Raus hier, du Schwachkopf«, sagte Verpych und trat in den Fahrstuhl. »Er wartet auf mich.«

Der Junge riss die Augen auf, stammelte eine Entschuldigung und verließ die Kabine so hastig, dass ihm um ein Haar das Tablett aus der Hand gefallen wäre. Verpych drückte mit dem Ende seines Stabes auf einen Knopf, die Tür schloss sich, und der Fahrstuhl – ein schlichter Metallkasten mit verschrammtem Boden – fuhr abwärts.

»Haben Sie das vorzeitige Wecken schon verkraftet, Haushofmeister?« , fragte Fassin.

»Durchaus«, gab Verpych knapp zurück. »Also, Seher Taak. Wenn diese Clowns von Mechanikern sich nicht selbst mit einem Stromschlag hingerichtet oder so lange in die Lichtleitungen geschaut haben, um zu sehen, ob sie auch funktionieren, dass sie davon blind geworden sind, müsste etwa eine Stunde vor Mitternacht alles bereit sein für Ihre Unterredung mit dem Wesen, das gerade abgestrahlt wird. wäre Ihnen neunzehn Uhr gelegen?«

Fassin überlegte. »Es könnte sein, dass meine Verlobte Jaal Tonderon und ich …«

»Die Antwort, die Sie suchen, lautet ›Ja‹, Seher Taak«, sagte Verpych.

Fassin sah stirnrunzelnd auf den alten Mann hinab. »Warum fragen Sie dann überhaupt …?«

»Ich wollte nur höflich sein.«

»Ach ja, natürlich. Das fällt Ihnen sicher nicht ganz leicht.«

»Ganz im Gegenteil. Aber mit der Unterwürfigkeit hat man bisweilen zu kämpfen.«

»Ihre Anstrengungen finden jedenfalls die gebührende Anerkennung.«

»Nur dafür lebe ich, junger Herr.« Verpych lächelte schmal.

Fassin sah ihm fest in die Augen. »Verpych, könnte es sein, dass ich in Schwierigkeiten stecke?«

Der Diener wandte den Blick ab. »Ich habe keine Ahnung.« Der Fahrstuhl wurde langsamer. »Diese Abgesandten-Projektion ist in der Geschichte des Sept Bantrabal ohne Beispiel. Ich habe mit etlichen anderen Haushofmeistern gesprochen, und niemand kann sich an etwas Vergleichbares erinnern. wir dachten alle, solche Phänomene gäbe es nur im Umkreis des Hierchon und seiner engsten Freunde in der Hauptstadt des Systems. Ich habe mich auch mit einem Kontaktmann im Palast in Verbindung gesetzt und ihn um Rat-schläge oder sachdienliche Hinweise gebeten. Aber bisher warte ich noch auf eine Antwort.«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, die beiden stiegen aus. Wieder lag ein Korridor vor ihnen, aus dem blanken Fels gehauen und mit vielen Kurven. Hier war es ziemlich warm. Der Haushofmeister sah Fassin an. aus seinem Blick sprach Besorgnis, sogar Mitgefühl. »Ein Ereignis ohne Beispiel kann dennoch ein positives Ereignis sein, Seher Taak.«

Fassin hoffte, dass seine Miene die Skepsis ausdrückte, die er empfand. »Was habe ich denn nun zu tun?«

»Sie begeben sich um neunzehn Uhr oder besser noch etwas früher in den Audienzsaal im obersten Stockwerk.« Sie kamen an eine Y-Kreuzung und bogen in einen breiteren Korridor ein. Rot uniformierte Mechaniker rollten eine Palette mit verwirrend komplizierten Geräten auf eine offene Doppeltür zu.

»Es wäre mir lieb, wenn Olmey dabei sein könnte«, sagte Fassin. Tchayan Olmey war in seiner Kindheit seine Lehrerin und mütterliche Freundin gewesen und hätte Slovius’ Nachfolge als Familienoberhaupt und Oberste Seherin antreten können – aber sie hatte sich lieber in die Hausbibliothek zurückgezogen, um sich ausschließlich der Forschung und der Ausbildung von Sehern zu widmen, ohne eigene Trips zu unternehmen.

»Das wird sich wohl nicht einrichten lassen«, sagte Verpych und schob Fassin durch die Doppeltür in einen Saal, der halbrund war wie ein kleines Theater. Hier war es heiß, und es wimmelte von Mechanikern in roten Uniformen. Dutzende von Schränken standen offen und gaben den Blick auf komplexe Apparaturen frei, von der hohen Decke hingen Kabel herab, schlängelten sich über den Boden und verschwanden in Rohren in der Wand. Es roch nach Öl, verschmortem Plastik und Schweiß. Verpych postierte sich ganz hinten am höchsten Punkt des Raumes und beobachtete das Treiben. Als zwei Mechaniker zusammenstießen und ihre Kabel fallen ließen, schüttelte er den Kopf.

»Wieso denn nicht?«, fragte Fassin. »Olmey ist im Haus. Eigentlich wollte ich Onkel Slovius ebenfalls zu dem Gespräch dazubitten.«

»Auch das wird nicht möglich sein«, sagte Verpych. »Nur Sie und ich allein werden mit diesem Ding sprechen.«

»Und mir bleibt keine andere Wahl?«, fragte Fassin.

»Ganz recht«, sagte der Haushofmeister. »Keine.« Er wandte sich wieder den Mechanikern zu. Einer von den ranghöheren war bis auf ein paar Meter herangekommen und wartete darauf, mit ihm zu sprechen.

»Aber wieso denn nicht?«, wiederholte Fassin und merkte sofort, dass er quengelte wie ein kleines Kind.

Verpych schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aus technischer Sicht spräche meines Wissens nichts dagegen. Aber vielleicht ist der Inhalt der Unterredung nicht für andere Ohren bestimmt.« Er wandte sich an den Mann in der roten Uniform, der immer noch vor ihm stand. »Meister Imming«, sagte er freundlich. »Ich halte nach dem Grundsatz, dass alles schief gehen wird, was schief gehen kann, folgende Katastrophen für möglich: die Hausautomatik ist entweder zu einem einzigen Klumpen zusammengerostet, der nicht mehr zu gebrauchen ist, sie ist zu feinem Staub zerfallen oder sie hat sich unerwartet für intelligent erklärt und nun müssen die Gebäude, der ganze Sept und womöglich sogar der Planet mit Atomwaffen zerstört werden. was davon trifft zu?«

Der Blick des Mechanikers huschte von Fassin zu Verpych. »Wir sind auf mehrere Probleme gestoßen«, sagte er langsam.

»Ich hoffe doch sehr, das nächste Wort lautet ›Aber‹ oder ›Jedoch‹«, sagte Verpych, an Fassin gewandt. »Ein ›Zum Glück‹ wäre natürlich zu viel des Guten.«

Der Meister fuhr fort. »Mit beträchtlichem Aufwand ist es uns wahrscheinlich gelungen, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Wir sind guter Hoffnung, die Arbeiten termingerecht abschließen zu können.«

»Die Kapazitäten reichen aus, um alles aufzuzeichnen, was übertragen wird?«

»Knapp.« Meister Imming deutete auf die Palette mit Geräten, die soeben durch die Doppeltür gerollt wurde. »Wir ziehen Ersatzkapazitäten von den Wartungssystemen ab.«

»Gibt es Hinweise auf die Art des in dem Signal enthaltenen Subjekts?«

»Nein. Es bleibt bis zur Aktivierung codiert.«

»Könnten wir es entschlüsseln?«

Imming machte ein gequältes Gesicht. »Eigentlich nicht.«

»Könnten wir es nicht wenigstens versuchen?«

»In der verfügbaren Zeit wäre das so gut wie ausgeschlossen, Haushofmeister. Und illegal. womöglich gefährlich.«

»Seher Taak wüsste gerne, was ihm bevorsteht. Sie können ihm keinen Anhaltspunkt geben?«

Meister Imming verneigte sich vor Fassin. »Leider nein. So sehr ich es bedauere.«

Verpych wandte sich an Fassin. »Wir sind offenbar nicht in der Lage, Ihnen behilflich zu sein, Seher Taak. Es tut mir Leid.«


»Was ist das überhaupt für ein Schiff?«, fragte Ilen mit gedämpfter Stimme und schaute hinauf in die Schatten. »Wem hat es gehört?«

Sie waren durch einen langen, gezackten Spalt in der linken Flanke geflogen und zwischen zwei massiven, stark gekrümmten Streben nach oben geschwebt. Hinter den verbogenen oder geknickten Rippen war der Himmel zu sehen. Die Rumpfabschnitte dazwischen waren schon vor siebentausend Jahren in ihre Atome und Moleküle zerlegt worden. Sal hatte die Maschine etwa vierhundert Meter weit in den Schatten unter der heil gebliebenen vorderen Rumpfpartie gesteuert und sich langsam, so dicht wie möglich an den verbeulten, zusammengedrückten Zwischendecks und eingebrochenen Schotts entlang, nach oben getastet. Erst als sie über sich nur noch einen schmalen Splitter des violetten Sternenhimmels sahen, fühlten sie sich halbwegs sicher vor dem Raumschiff – wahrscheinlich eine von den Kisten der Beyonder – das bis vor kurzem alles angegriffen hatte, was sich auf der Oberfläche bewegte.

Dann hatte er das kleine Flugzeug in einer kleinen Vertiefung auf einer rußgeschwärzten, einigermaßen ebenen, leicht geriffelten Bodenfläche hinter den Resten eines eingedrückten Schotts aufgesetzt. Nach vorne versperrten schon nach fünfzig Metern zerschlissene Bahnen eines exotisch schillernden, wie steif gefrorenen Materials den Weg in den vorderen Bereich des Schiffes. Saluus hatte lauthals erwogen, den Flieger durch diese Vorhänge zu manövrieren, aber davon hatten ihn die anderen abgebracht. Aus dem Funkgerät kam nichts mehr. Sogar das gestörte, verstümmelte Signal, das sie draußen noch aufgefangen hatten, war nach dem Einflug in das Wrack verstummt. Für ein Gerät, das darauf ausgelegt war, auch noch durch massiven zwanzig oder dreißig Kilometer dicken Fels Empfang zu bekommen, war das sehr ungewöhnlich. Die Luft im Innern des zerstörten Rumpfes war so kalt wie in einer riesigen Höhle und völlig geruchlos. wenn man wusste, dass man sich in einem Raum befand, war es verwirrend, dass die Stimmen kein Echo erzeugten. Jeder Laut klang seltsam hohl. Die Innen-und Außenscheinwerfer umgaben den Flieger mit einer winzigen Lichtblase und machten damit noch deutlicher, wie klein er neben dem uralten Schiffswrack doch war.

»Wem es genau gehörte, ist umstritten«, sagte Saluus. Auch er sprach leise, und auch er blickte auf zu den glatten Rippen der Decke, die sich, im Dämmerlicht gerade noch erkennbar, mehr als dreihundert Meter über ihnen wölbten. »Registriert wurde es als Sceuri-Wrack – die Sceuri hatten einen Bergungstrupp ihrer Kriegsgräbereinheit geschickt, um es auszuräumen – doch dann wurde es wohl von jemand anderem beschlagnahmt oder geraubt. Und man nimmt an, dass die Besatzung sehr gemischt war, aber zumeist aus Schwimmern bestand: Wasserweltb ewohnern. Ursprünglich könnte es sogar ein Schiff der Oerileithe gewesen sein, die Bauweise passt zu den Klein-dwellern. aber ein Kriegsschiff war es sicherlich.«

Taince schnaubte. Sal sah sie an. »Bitte?«

»Auf keinen Fall«, sagte sie, »ist es ein Nadelschiff.«

»Habe ich das behauptet?«, fragte Sal.

»Wenn überhaupt, dann wäre es eine ziemlich fette Nadel«, sagte Fassin. Er drehte sich um die eigene Achse und folgte mit den Augen der Wölbung der Schiffswände in die Dunkelheit hinein bis dahin, wo etwa einen Kilometer entfernt die eingedrückte Nase im Boden steckte.

»Es ist kein Nadelschiff«, protestierte Sal. »Ich habe nie gesagt, dass es ein Nadelschiff ist.«

»Siehst du«, sagte Taince. »Jetzt hast du alle verwirrt.«

»Jedenfalls«, sagte Sal, ohne darauf einzugehen, »behauptet ein Gerücht, man hätte zwei Voehn-Leichen aus den Trümmern gezogen, und das macht es eigentlich erst interessant.«

»Voehn?« Taince lachte laut auf. »Tote Dornflosser?« Ihre Stimme triefte vor Verachtung. Sie lächelte sogar, und das erlebte man bei ihr nicht jeden Tag. Schade, dachte Fassin, denn ihr glattes, etwas zu breites Gesicht – der Schädel war vorschriftsmäßig kahl rasiert – bekam dann etwas Koboldhaftes, das sehr anziehend war. vermutlich war genau das der Grund, warum sie so selten lächelte. Fassin fand ohnehin, dass Taince in ihrer schwarzen Freizeitkombination sehr gut aussah. (Die anderen trugen die übliche strapazierfähige Wanderkleidung, wobei Sals Sachen natürlich dezent, aber doch deutlich besser und zweifellos unverschämt viel teurer waren.) Tainces Anzug beulte sich zwar an den seltsamsten Stellen aus, lag aber da an, wo es wichtig war, und ließ keinen Zweifel daran, dass man keinen Army-Boy, sondern ein Army-Girl vor sich hatte. Hier im Halbdunkel wirkte der Stoff so matt und schwarz wie die Schatten. Offenbar verfügten bei den Nav-Streitkräften sogar die Freizeitanzüge der Rekruten über eine integrierte Tarnfunktion.

Jetzt schüttelte Taince den Kopf, als traute sie ihren Ohren nicht. Selbst Fassin, der schon bald nach dem Einsetzen der Pubertät über das zwanghafte Interesse jedes Jungen an allem, was mit Militär und Aliens zu tun hatte, mehr oder weniger hinausgewachsen war, hatte von den Voehn gehört. In den Medien wurden sie gewöhnlich als lebende Legenden oder fast mythische Kriegshelden bezeichnet, doch das war eine Verharmlosung. In Wirklichkeit waren sie Einsatzkräfte und Leibwächter der neuen Herren der Galaxis.

Die Voehn waren gnadenlos und durch nichts zu erschüttern, hoch intelligente Alleskönner, fast unzerstörbar, unter allen Lebensbedingungen einsatzfähig und seit etwa neuntausend Jahren unbesiegt. Diese Übersoldaten waren die martialischen Idole der Epoche, das Nonplusultra an militärischer Perfektion für alle Spezies, aber sie waren selten, nicht sehr zahlreich und weit verstreut. Wo sich die neuen Herren, die Culmina, aufhielten, waren auch die Voehn zu finden, aber nur an wenigen anderen Orten. Zumindest soweit Fassin wusste, hatte in diesen neun Jahrtausenden kein einziger Voehn jemals das Ulubis-System und seinen Hauptplaneten Sepekte betreten. in die Nähe von Nasqueron waren sie schon gar nicht gekommen, und auf dem kleinen Planetenmond ’glantine war noch nicht einmal ein totes Exemplar gelandet.

Für die Menschen, ob f-oder r-Menschen hatten die Voehn und ihr Ruf natürlich eine besondere Bedeutung. Immerhin waren es vor fast achttausend Jahren die Taten eines einzelnen Voehn-Schiffes gewesen, die diese Unterscheidung und die beiden Präfixe überhaupt erforderlich gemacht hatten.

»Voehn«, sagte Sal in herausforderndem Ton zu Taince. »Voehn-Überreste. So geht das Gerücht.«

Taince kniff die Augen zusammen und richtete sich in ihrer Nav-Kombi auf. »Ich habe davon nichts gehört.«

»Mag sein«, sagte Sal. »Meine Kontaktleute sitzen natürlich ein paar Stockwerke über der Rekrutenstube.«

Fassin schluckte. »Ich dachte, nach dem Aufprall war hier drin alles Matsch«, sagte er rasch, bevor Taince antworten konnte. »Und was nicht Schmiere war, ist verdampft.«

»Stimmt«, stieß Taince mit zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne den Blick von Sal zu wenden.

»Ganz richtig«, nickte Sal. »Aber die Voehn sind doch so richtig harte Burschen, nicht wahr, tain?«

»Scheiße, ja«, sagte Taince. Jetzt war ihre Stimme ganz ruhig. »Dreckige Hartkekse.«

»Die sind nicht so leicht umzubringen, und noch schwieriger ist es, sie zu Brei zu zerquetschen«, sagte Sal, ohne die Signale zu beachten, die Taince aussendete.

»Sie zeichnen sich durch enorme Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Schicksal und feindlichen Angriffen aller Art aus«, sagte Taince kalt. Für Fassin hörte es sich an wie ein Zitat. Die Klatschmäuler behaupteten, sie und Sal wären so etwas wie ein Paar oder hätten zumindest hin und wieder Sex miteinander. Aber wenn Fassin den Ausdruck in ihren Augen in diesem Moment richtig deutete, war diese Seite ihrer Beziehung, falls sie denn jemals existiert hätte, in akuter Gefahr, ihrerseits zu Brei zerquetscht zu werden. Er sah sich zu Ilen um, weil er sehen wollte, was sie für ein Gesicht machte.

Sie saß nicht mehr auf der anderen Seite des Fliegers. Er suchte weiter, aber sie war nicht zu finden. »Ilen?«, fragte er. Dann wandte er sich an die beiden anderen. »Wo ist Ilen?«

Sal klopfte auf den Knopf in seinem Ohr. »Ilen?«, fragte er. »He, Len, wo bist du?«

Fassin spähte in die Schatten. Er sah im Dunkeln nicht schlechter als die meisten Menschen, aber fast ohne Sternenlicht und nur mit den schwachen, auf Energiesparmodus geschalteten Scheinwerfern des Fliegers in seiner Mulde war nicht viel zu erkennen. Auch im Infrarotbereich war das Ergebnis kaum besser, hier zeigten sich nicht einmal verblassende Fußspuren auf dem seltsamen Untergrund.

»Ilen?«, wiederholte Sal und sah Taince an, die ihrerseits die Umgebung absuchte. »Ich bin blind wie ein Maulwurf, und mein Kopfhörer funktioniert nicht«, sagte er. »Siehst du besser als wir?«

Taince schüttelte den Kopf. »Die Spezialaugen kriegt man erst im vierten Jahr.«

Scheiße, dachte Fassin. Ob wohl jemand eine Taschenlampe dabei hatte? Wahrscheinlich nicht. Wer verwendete heute noch Taschenlampen? Er prüfte seinen eigenen Kopfhörer, aber auch der war tot; kein Empfang, nicht einmal aus der unmittelbaren Umgebung. Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wann mochte das Urbild dieser Geschichte entstanden sein? Vier Kinder borgten sich Papas Karren aus und verloren kurz vor Einbruch der Dunkelheit unweit der alten verlassenen Neandertalerhöhle ein Rad? Könnte hinkommen. Und dann rannten sie kopflos in die Dunkelheit hinein, und eins nach dem anderen starb eines grausamen Todes.

»Ich drehe die Scheinwerfer höher«, sagte Sal und griff nach dem Innenschalter. »Notfalls können wir starten und …«

»ILEN!« schrie Taince, so laut sie konnte. Fassin zuckte zusammen und hoffte, dass es niemand bemerkt hatte.

»… Hier drüben!«, drang Ilens Stimme ganz schwach aus den Tiefen des Wracks.

»Entfernung von der Truppe!«, rief Sal in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatten. »Keine gute Idee! Aufs Schärfste zu verurteilen! Empfehle sofortige Rückkehr.«

»Pinkeln in Peer-Group problematisch«, kam die Antwort. »Schamhafte-Blase-Syndrom. Nach Erleichterung sofortige Rückkehr. Und jetzt rede normal, sonst sagt Len zu Tain, sie soll Sal Auge ausstechen.

Taince grinste. Fassin musste sich abwenden. Manchmal, in Augenblicken wie diesem, wenn man es am wenigsten erwartete, überraschte ihn Ilen, die sonst fast eigensinnig auf ihrer ganz und gar ungerechtfertigen Schüchternheit und Unsicherheit beharrte, mit solchen Äußerungen oder Verhaltensweisen. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Komm bloß nicht auf die Idee, dich in sie zu verlieben, dachte er. Das wäre nun wirklich unerträglich.

Sal lachte. Im Infrarotmodus erschien in fünfzig Metern Entfernung ein Ilen-förmiger Klecks. Sie kauerte mit gesenktem Kopf wie ein flacher Hügel über einer Falte im gerillten Untergrund. »Da. Alles in Ordnung«, verkündete Sal, als hätte er sie persönlich gerettet.

Gleich darauf kam Ilen zurück und blinzelte ins weiche Scheinwerferlicht. Ihr weißblondes Haar glänzte. Sie nickte den anderen zu. »’n Abend«, sagte sie und grinste.

»Willkommen daheim«, sagte Sal. Dann zog er ein Bündel aus einem Gepäckfach und schwang es sich auf den Rücken.

Taince betrachtete das Bündel, dann funkelte sie ihn empört an. »Was zur Hölle hast du vor?«

Sal machte ein unschuldiges Gesicht. »Ich will mich nur ein wenig umsehen. Du kannst mich ja begleiten, wenn …«

»Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Tain, mein Kind«, entgegnete er lachend. »Seit wann brauche ich deine Erlaubnis?«

»Ich bin kein verdammtes Kind, und ja, verdammt, du brauchst sie.«

»Könntest du dich bitte bemühen, etwas weniger zu fluchen? Du brauchst wirklich nicht so penetrant mit deiner neu erworbenen militärischen Ruppigkeit zu prahlen.«

»Wir bleiben hier«, sagte sie wieder mit dieser kalten Stimme. »Dicht beim Flieger. Wir streunen nicht einfach mitten in der Nacht in einem Alien-Wrack herum, das obendrein gesperrt ist, während über uns ein feindliches Schiff herumfliegt.«

»Und wieso nicht?«, protestierte Sal. »Das Beyonder-Schiff ist inzwischen wahrscheinlich auf der anderen Seite des Planeten oder sogar schon zerstört. Und außerdem, falls dieses Schiff, der Kampfsatellit, die Drohne, was immer es auch sein mag, bis hierher sehen kann, woran ich ernsthaft zweifle, wird es eher den Flieger aufs Korn nehmen als ein paar menschliche Warmblüter, deshalb sind wir sicherer, wenn wir nicht bei der Maschine sind.«

»Man bleibt immer bei seiner Maschine«, sagte Taince und schob das Kinn vor.

»Und wie lange?«, fragte Sal. »Wie lange dauern solche Störattacken, solche Kleinangriffe denn gewöhnlich?« Taince sah ihn nur wütend an. Sal beantwortete seine Frage selbst. »Im Durchschnitt einen halben Tag. In diesem Fall wahrscheinlich bis morgen früh. Wir sind mittlerweile an einem Ort, wo normalerweise nie jemand hinkommt, es ist nicht unsere Schuld, und wir müssen irgendwie die Zeit totschlagen … warum ›zum Teufel‹ sollten wir uns nicht umsehen?«

»Weil es sich um Sperrgebiet handelt«, sagte Taince. »Deshalb.«

Fassin und Ilen wechselten amüsierte Blicke, obwohl ihnen die Sache nicht mehr geheuer war.

»Taince!«, sagte Sal und wedelte mit den Armen. »Leben heißt, etwas riskieren. So ist das nun einmal. Nun stell dich nicht so an.«

»Man bleibt bei der Maschine«, wiederholte Taince grimmig.

»Könntest du dich für eine Sekunde von deiner Programmierung befreien?«, fragte Sal. Das klang aufrichtig verärgert. Er sah die beiden anderen Hilfe suchend an.»Könnt ihr euch irgendeinen vernünftigen Grund vorstellen, warum dieses Wrack überhaupt zum Sperrgebiet erklärt wurde, wenn man von der Überreaktion einiger autoritärer Bürokraten und schwachsinniger Militaristen absieht, die meinten, ihr Revier markieren zu müssen?«

»Vielleicht wissen sie mehr als wir«, sagte Taince.

»Nun komm schon!«, protestierte Sal. »Das behaupten sie doch immer!«

»Hör zu«, sagte Taince ruhig. »Ich räume ein, es ist wahrscheinlicher, dass der feindliche Angreifer die Systeme des Fliegers aufs Korn nimmt. Deshalb erkläre ich mich bereit, stündlich zur vollen Stunde so weit in Richtung auf den Riss im Rumpf zurückzugehen, dass ein Funkspruch gesendet werden kann. Wenn die Subsatelliten wieder funktionieren, kann ich mich erkundigen, ob die Gefahr noch besteht.«

»Schön«, sagte Sal, der in einem anderen Gepäckfach des Fliegers wühlte. »Lass dich nicht aufhalten. Für mich ist dies eine einmalige Gelegenheit, mich in diesem unglaublich faszinierenden Alien-Artefakt umzusehen, und ich werde sie mir nicht entgehen lassen. wenn du grässliche Schreie hörst, dann bin ich soeben einem schrecklichen Monster aus dem Weltall in die Klauen, die Saugnäpfe oder … den Schnabel gefallen, das von jedem einzelnen Bergungsteam übersehen wurde und sich nun genau diesen Abend in den letzten siebentausend Jahren aussucht, um mit knurrendem Magen aufzuwachen.«

Taince holte tief Luft, trat einen Schritt zurück und sagte: »Gut, dann liegt hier wohl ein Notstand vor.« Sie ließ eine Hand in der schwarzen Kombination verschwinden und brachte einen kleinen dunkelgrauen Gegenstand zum Vorschein.

Sal sah sie ungläubig an.»Was ›zum Teufel‹ ist das denn? Eine Waffe? Du willst doch wohl nicht auf mich schießen, taince?«

Sie schüttelte den Kopf und drückte mit dem Daumen seitlich auf den grauen Zylinder. Stille trat ein, dann runzelte Taince die Stirn und sah sich das Ding in ihrer Hand genauer an. »Tatsächlich«, sagte sie, »kann ich dir im Moment nicht einmal mit einer Anzeige bei den örtlichen Sicherheitskräften drohen, jedenfalls nicht in Echtzeit.« Sal atmete auf, zog aber nicht heraus, was immer er in dem Fach gesucht hatte. taince schüttelte den Kopf und warf einen Blick durch die schwarze Höhle des riesigen Raumschiffs. Dann hielt sie das kleine graue Ding in die Höhe und zeigte es den anderen. »Mit diesem Baby«, sagte sie, »müsste ich ein Loch in eine Kinderwindel auf der anderen Seite des Planeten schießen können, aber es sucht immer noch nach kosmischer Strahlung.« Das klang weder verlegen noch wütend, sondern eher ratlos. (Fassin hätte sich an ihrer Stelle zu Tode geschämt und das auch nicht verbergen können.) Taince nickte. Ihr Blick blieb nach oben gerichtet. »Beeindruckend.« Damit steckte sie die kleine Pistole wieder ein.

Sal räusperte sich. »Taince, hast du nun eine Waffe oder nicht? Ich will nämlich eine aus diesem Fach ziehen, und du hast eben so schießwütig ausgesehen, dass du mich erschreckt hast.«

»Ja, ich habe eine Waffe«, sagte sie. »Aber ich verspreche dir, dich nicht zu erschießen.« Ihr Lächeln kam nicht von Herzen. »Und wenn du so versessen darauf bist, noch weiter in dieses Ding hineinzurennen, werde ich auch nicht versuchen, dich aufzuhalten. Du bist jetzt schon ein großer Junge und kannst selbst auf dich aufpassen.«

»Na endlich«, sagte Sal zufrieden, zog aus dem Fach eine schlichte Kompressionspistole, mit der aber wohl nicht zu spaßen war, und befestigte sie an seinem Gürtel. »In den Fächern am Heck findet ihr Lebensmittel und Wasser, Schlafsäcke, Ersatzkleidung und so weiter«, verkündete er und heftete sich zwei selbstleuchtende Klappen an die Schultern seiner Jacke. »Morgen früh bin ich wieder zurück.« Er klopfte ein paarmal auf seinen Ohrknopf, dann lächelte er. »Gut, die innere Uhr stimmt noch.« Er schaute in die Runde. »He, wahrscheinlich gibt es gar nichts zu sehen; vielleicht bin ich schon in einer Stunde wieder da.« Die anderen sahen ihn nur an. »Sonst möchte wohl niemand mitkommen?«, fragte er dann. Ilen und Fassin wechselten einen Blick. Taince beobachtete Sal. Der sagte: »Geht inzwischen ruhig schlafen«, und wandte sich zum Gehen.

»Du bist auffallend gut vorbereitet«, sagte Taince leise.

Sal zögerte, dann machte er kehrt und sah sie mit offenem Mund an. Sein Blick wanderte von Fassin zu Ilen und wieder zurück zu Taince. Jetzt waren seine Augen weit aufgerissen. Er hob die Hand, wies auf den fernen Riss im Rumpf, dann nach oben wie in Richtung Weltall, und schüttelte schließlich den Kopf. »Taince, taince«, flüsterte er und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte schwarze Haar. »Dein Misstrauen grenzt an Verfolgungswahn. Muss das so sein, wenn man beim Militär ist?«

»Unsere Kampfflugzeuge werden von der Firma deines Vaters gebaut, Saluus«, sagte sie. »Vorsicht ist eine Überlebensstrategie.«

»Das war ziemlich billig, Taince.« Sal schien gekränkt. »Ich meine es ernst. wirklich. wie kommst du nur auf so etwas?« Er klopfte ungeduldig auf seinen Rucksack. »Hölle und Teufel, Weib, wenn ich keine Notfallausrüstung an Bord hätte, müsste ich mir jetzt einen Vortrag darüber anhören, dass man nicht ohne ausreichende Vorräte in die Wüste fliegt!«

Taince sah ihn lange fast ausdruckslos an. Endlich sagte sie: »Pass auf dich auf, Sal.«

Er entspannte sich und nickte. »Du auch«, sagte er. »Bis bald, alle miteinander.« Er grinste noch einmal in die Runde und sagte: »Tut nichts, was ich nicht auch … und so weiter.« Dann hob er grüßend die Hand und stapfte davon.

»Warte«, sagte Ilen. Sal drehte sich um. Ilen zog ihren kleinen Tagesrucksack aus dem Flieger. »Ich komme mit, Sal.«

Fassin starrte sie entgeistert an.»Was?«, piepste er wie ein verschreckter kleiner Junge. Aber niemand hörte auf ihn, und diesmal war er froh darüber. taince sagte nichts.

Sal lächelte. »Wirklich?«, fragte er das Mädchen.

»Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Ilen.

»Schon in Ordnung«, sagte Sal leise.

»Ehrlich?«

»Was sollte ich denn dagegen haben?«

»In kritischen Situationen sollte man nicht allein auf Entdeckungsreise gehen«, sagte Ilen. »Das ist doch richtig so?« Sie sah Taince fragend an. Die nickte. »Sei vorsichtig.« Ilen küsste Fassin auf die Wange, zwinkerte Taince zu und folgte Sal die flache Böschung hinauf. Die beiden winkten noch einmal und entfernten sich.

Fassin beobachtete ihre Fußspuren im Infrarot. Die hellen Flecken auf dem Boden verblassten in weniger als einer Sekunde.

»Ich werde dieses Mädchen nie verstehen«, sagte Taince. Es klang unbekümmert. Die beiden sahen sich an. »Schlage vor, du legst dich jetzt aufs Ohr«, sagte Taince und wies mit einem Nicken zum Flieger hin. Sie bohrte in der Nase und betrachtete das Ergebnis. »Ich wecke dich, bevor ich zum Riss gehe, um zu sehen, ob wir Empfang haben.«


Irgendwo in dem verdunkelten Raum platzte eine Duftknospe, und wenig später stieg ihm Orchidia noctisia in die Nase, ein künstliches Aroma, das für ihn untrennbar mit dem Herbsthaus verbunden war. Im Zimmer war es ruhig, man spürte kaum einen Luftzug, die Knospe musste also ganz in der Nähe gewesen sein. Er hob den Kopf ein wenig an. Zwischen dem Bett und dem Servierwagen, auf dem man ihnen das Essen gebracht hatte, schwebte ein winziges Gebilde, seidenweich, wie eine schlanke, durchsichtige Blüte. Er ließ den Kopf auf Jaals Schulter zurücksinken.

»Mmmm?«, fragte sie schläfrig.

»Hast du in der Stadt Freunde getroffen?«, fragte Fassin und wickelte sich eine lange Locke von Jaal Tonderons goldenem Haar um den Finger. Dann drückte er die Nase in ihren Nacken und atmete den Duft ihrer bräunlichen Haut. Sie schmiegte sich an ihn und beschrieb kleine Kreise mit ihren Hüften. Er hatte sich schon vor einiger Zeit aus ihr zurückgezogen, aber die Berührung tat immer noch gut.

»Ree, Grey und Sa«, sagte sie. Es klang ein wenig müde. »Wir erledigten die Einkäufe. Danach waren wir mit Djen und Sohn verabredet. Dayd war auch dabei, Dayd Eslaus. Ach ja, und Yoaz. Du kennst Yoaz Irmin doch noch?«

Er biss sie leicht in den Nacken, und sie zuckte wie gewünscht zusammen und schrie leise auf. »Das ist lange her«, sagte er.

Sie streckte eine Hand nach hinten, streichelte seine nackte Flanke und tätschelte ihm das Hinterteil. »Sie hat dich bestimmt in lebhafter Erinnerung behalten, mein Lieber.«

»Ha!«, sagte er. »Ich sie auch.« Das trug ihm einen Klaps ein. Sie schmiegten sich aneinander, Jaal nahm die Hüftbewegungen wieder auf, und Fassin überlegte, ob wohl noch Zeit für einmal Sex wäre, bevor er gehen musste.

Sie drehte sich zu ihm um. Jaal Tonderon hatte ein rundes, breites Gesicht, das gerade noch die Bezeichnung schön verdiente. Seit etwa zweitausend Jahren sahen die Gesichter von r-Menschen so aus, wie ihre Träger es wollten. Wer mit seinem natürlichen Aussehen zufrieden oder wem es gleichgültig war, der blieb dabei, sonst wurden wunschgemäß gezielte Verbesserungen vorgenommen. Wirklich hässlich waren nur die Menschen, die damit irgendein Zeichen setzen wollten.

In einer Epoche, in der jedermann schön sein und/oder wie eine bekannte historische Persönlichkeit aussehen konnte (inzwischen gab es Gesetze, die eine allzu große Ähnlichkeit mit zeitgenössischen Berühmtheiten verhinderten), waren nur jene Gesichter und Körper wahrhaft interessant, die möglichst dicht an die Grenze zur Unscheinbarkeit oder sogar Unattraktivität herangingen, ohne sie vollends zu überschreiten. Man unterschied zwischen Gesichtern, die in Wirklichkeit gut aussahen, aber nicht auf Bildern, oder die gute lebensähnliche Gemälde ergaben, aber auf dem Bildschirm nicht wirkten, von Gesichtern, die im Schlaf ohne Reiz waren, aber atemberaubend schön wurden, wenn sie sich mit Leben erfüllten, oder die so lange unscheinbar blieben, bis die betreffende Person lächelte.

Jaal war mit einem Gesicht geboren, das – nach ihren eigenen Worten – wie ein Gemeinschaftsentwurf aussah: ein wenig harmonischer Flickenteppich, dessen Einzelteile nicht so ganz zueinander passen wollten. Doch ihre Physiognomie, ihr Charakter und ihre Ausstrahlung wirkten auf so geheimnisvolle Weise zusammen, dass sie fast jeder, der sie kennen lernte, unwiderstehlich fand. Fassin war insgeheim der Meinung, Jaal müsse erst in ihr Gesicht hineinwachsen und würde in reiferen Jahren noch schöner sein als jetzt. Nicht zuletzt deshalb hatte er um ihre Hand angehalten.

Fassin hatte allen Grund zu glauben, dass sie ein langes gemeinsames Leben vor sich hatten. Es war sinnvoll, sich eine Partnerin aus dem gleichen beruflichen Umfeld zu wählen – noch dazu, wenn die Partie die Bande zwischen den beiden wichtigsten Seher-Häusern stärken sollte und von beiden Septen freudig begrüßt wurde – und es war nur vernünftig, auch die Aussicht auf Langlebigkeit mit ins Kalkül zu ziehen.

Natürlich wäre die gemeinsame Zukunft für zwei ›Langsamen‹-Seher wie Fassin und Jaal objektiv, wenn auch nicht subjektiv länger als für die meisten ihrer Zeitgenossen, und ihr Leben verliefe radikal anders. Ein Seher, der ausgedehnte Trips in verlangsamter Zeit machte, alterte nur sehr allmählich. Onkel Slovius blieb mit seinen vierzehnhundert Jahren unter dem Rekord und war auch (natürlich ein Glück) noch nicht am Ende seines Lebens angelangt, doch sein Alter sollte sich unschwer übertreffen lassen. Ehegatten und Liebespartner von Sehern mussten die Phasen verlangsamter und normaler Lebenszeit sorgfältig planen, denn wenn sie aus dem Takt gerieten, drohte die emotionale Entfremdung. Tchayan Olmey, Fassins alte Mentorin und Lehrerin, war durch eine solche Diskontinuität unversehens aus der Bahn geworfen und von ihrer alten Liebe getrennt worden.

»Was hast du?«, fragte Jaal.

»Es ist nur diese …, äh … diese Besprechung.« Er warf einen Blick auf die antike Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

»Mit wem bist du denn verabredet?«

»Kann ich dir nicht sagen«, wehrte er ab. Als Jaal am Haushafen unten im Tal aus ihrer Suborbitalfähre gestiegen war, hatte er erwähnt, dass er später noch einen Termin hätte, aber sie hatte über dem neuesten Klatsch aus der Hauptstadt und über der Geschichte des Skandals um ihre Tante Feem und den Jungen aus dem Sept Khustrial vergessen, sich genauer danach zu erkundigen. Und nachdem sie geduscht und mit ihm zu Abend gegessen hatte, waren andere Dinge wichtiger gewesen.

»Du kannst es mir nicht sagen?« Sie runzelte die Stirn, rückte noch näher an ihn heran, hob eine ihrer dunkelbraunen Brüste an und legte sie auf seinen hellhäutigen Oberkörper. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass ein Warzenhof, der heller war als seine Umgebung, einen ganz besonderen Reiz hatte … »Oh Fass«, sagte Jaal. es klang verärgert. »Es ist doch hoffentlich kein Mädchen? Eine von den Dienerinnen vielleicht? Verdammt, fängt das etwa schon an, bevor wir verheiratet sind?«

Sie lächelte. Er grinste zurück. »Es ist lästig, aber es muss sein. Tut mir Leid.«

»Du kannst es mir wirklich nicht sagen?« Sie drehte den Kopf, ihr blondes Haar fiel ihm auf die Schulter. Es fühlte sich noch besser an, als es aussah.

»Wirklich nicht«, beteuerte er.

Jaal starrte unverwandt auf seine Lippen. »Wirklich nicht?«, wiederholte sie.

»Nun ja.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Ich kann dir immerhin verraten, dass es kein Mädchen ist.« Ihre Augen wichen nicht von seinem Mund. »Hör mal, Jaal, habe ich vielleicht irgendetwas zwischen den Zähnen?«

Ihre Lippen berührten schon fast die seinen. »Noch nicht«, murmelte sie.


»Sie sind Fassin Taak vom Seher-Sept Bantrabal, Mond ’glantine, Gasriesenplanet Nasqueron, Sonne und System Ulubis?«

»Das ist richtig.«

»Sie sind körperlich anwesend und werden nicht durch eine Projektion oder Repräsentation irgendwelcher Art vertreten?«

»So ist es.«

»Sie sind nach wie vor als ›Langsamen‹-Seher aktiv, haben Ihren Wohnsitz in den Jahreszeitenresidenzen des Sept Bantrabal und arbeiten vom Satellitenmond Third Fury aus?«

»Ja, ja und ja.«

»Gut. fassin Taak, alles, was zwischen Ihnen und diesem Konstrukt gesprochen wird, unterliegt strengster Vertraulichkeit. sie verpflichten sich zu strikter Geheimhaltung und werden von dem, was hier zur Sprache kommt, nur so viel nach außen tragen, wie unerlässlich ist, um Ihnen den Weg frei zu machen für alle Aktivitäten, die man von Ihnen erwartet, und alle Ziele, die man Ihnen setzt. Haben Sie das verstanden und willigen Sie ein?«

Fassin überlegte. Als die leuchtende Kugel zu sprechen anfing, hatte sie ihn im ersten Moment an ein Plasmawesen erinnert (nicht dass er jemals einem begegnet wäre, aber er hatte Bilder gesehen), und dieser Gedanke hatte ihn so sehr beschäftigt, dass er das Gesagte nicht voll hatte aufnehmen können. »Eigentlich nicht. Bedaure, ich möchte nicht …«

»Wiederholung …«

Fassin befand sich im Großen Audienzsaal im obersten Stockwerk des Herbsthauses, einem großen, kreisrunden Raum, der in der Horizontalen Ausblicke nach allen Seiten gestattete und ein riesiges transparentes Dach besaß. Jetzt waren alle Fenster undurchsichtig. Das Mobiliar beschränkte sich im Moment auf einen einzelnen Stuhl für ihn und einen kurzen Zylinder, vermutlich aus Metall, über dem eine Kugel aus leuchtendem Gas schwebte. Von dem Zylinder führte ein fettes Kabel zu einer Bodenklappe in der Mitte des Raumes.

Die Gaskugel wiederholte ihre Belehrung. Diesmal sprach sie langsamer, zeigte aber erfreulicherweise keine Spur von Gereiztheit oder Herablassung. Die Stimme war flach und akzentfrei, verriet aber doch einen Anflug von Persönlichkeit, als hätte man Stimmproben von einem bestimmten Individuum genommen und den Ausdruck nur unvollständig eliminiert.

Fassin hörte bis zum Ende zu, dann sagte er: »Schön, ich habe verstanden und willige ein.«

»Gut. Dieses Konstrukt ist eine Projektion der Administrata der Merkatoria unterhalb der Ministerebene, der von der Hohen Kommandantur, Technikdivision, Oberste Hierarchiestufe, Vorgesetztenstatus verliehen wurde. Es wurde abgestrahlt vom Portralträger T-Schiff Est-taun Zhiffir. Es ist berechtigt, empfindungsfähig zu erscheinen, ohne es tatsächlich zu sein. Haben Sie das verstanden?«

Fassin überlegte wieder und entschied sich für ein knappes ›klar doch‹, fragte sich aber sofort, ob die Projektion diese Art von umgangssprachlicher Affirmation wohl verstehen könnte. Es sah ganz danach aus.

»Gut. Seher Fassin Taak, Sie werden hiermit zur Ocula der Justitiarität abkommandiert. Sie erhalten ehrenhalber den Rang …«

»Halt!« Fassin wäre fast aufgesprungen. »Was?«

»Ehrenhalber den Rang …«

»Nein, ich meine, wohin bin ich abkommandiert

»Zur Ocula der Justitiarität. Sie erhalten ehrenhalber den Rang …«

»Die Justitiarität?« Fassin verschlug es fast die Sprache. »Zur Ocula

»Richtig.«

Die barocken, bewusst unübersichtlich gehaltenen Machtstrukturen der gegenwärtigen von der Culmina geprägten Epoche verkörperten die Ambitionen von mindestens acht Hauptspezies und etlichen großen Unterkategorien anderer Raumfahrender Rassen und die Einschränkungen, die man ihnen aufgezwungen hatte; sie ›kontextualisierten‹ (nach eigenem Anspruch) auch mehrere kleinere Zivilisationen, die sich von ihrer Größe und ihren Zielsetzungen her stark voneinander unterschieden; und sie beeinflussten zumindest am Rande ein ganzes Spektrums von weiteren Aliens. Eingebettet in dieses Gefüge waren viele Organisationen und Institutionen, deren Namen den Menschen – zumindest denen, die sich in solchen Dingen auskannten – gehörigen Respekt, wenn nicht sogar Angst einflößten.

Die Justitiarität war dafür vielleicht noch das harmloseste Beispiel; man respektierte sie – viele fanden die Ziele, die sie verfolgte, sogar eher uninteressant –, aber gefürchtet wurde sie kaum. Sie war ein paramilitärischer Orden, ein fachspezifischer Zusammenschluss von Technikern und Theoretikern einer Wissenschaft, die man früher als Informatik bezeichnet hatte, und befasste sich deshalb, wenn auch nicht ausschließlich, mit jenen Resttechnologien aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz, die in ihren Funktionen so weit beschnitten waren, dass sie auch nach dem Krieg noch existieren durften.

Vor mehr als siebentausend Jahren hatte der Maschinenkrieg die überwiegende Mehrheit der KIs überall in der Galaxis vernichtet. Der anschließende Frieden, von der Culmina erzwungen und geprägt, verdankte seine Stabilität einem Regime, das jegliche Forschung auf dem Gebiet der KI verbot und von allen Bürgern verlangte, dass sie sich aktiv an der Jagd auf die wenigen da und dort noch verbliebenen KI-Relikte und an ihrer Zerstörung beteiligten. Die militärisch organisierte und von einem festen Unterbau aus religiösen Dogmen getragene Justitiarität war mit dem Betrieb, der Verwaltung und der Wartung all jener IT-Systeme betraut, die auch nur annähernd komplex genug waren, um durch Zufall oder durch gezielte Einwirkung Intelligenz und Empfindungsfähigkeit entwickeln zu können, aber für die Führung der verschiedenen von ihnen abhängigen Gesellschaften als zu wichtig erachtet wurden, um abgeschaltet und demontiert zu werden.

Mit den Lustralen der Cessoria war ein zweiter und weitaus mehr gefürchteter Orden gegründet worden, der die Aufgabe hatte, nicht nur die KIs selbst, sondern auch alle Individuen aufzuspüren und zu vernichten, die entweder versuchten, neue KIs zu schaffen, oder bereits vorhandenen Schutz und Zuflucht gewährten oder sie in anderer Weise unterstützten. Das hatte allerdings nicht verhindert, dass innerhalb der Justitiarität eine Geheimdienstabteilung – die Ocula – entstanden war, die in ihrem Aufgabenbereich, ihren Methoden und sogar ihrer Philosophie erhebliche Gemeinsamkeiten mit den Lustralen aufwies. Fassin konnte sich keinen Grund vorstellen, warum er gerade dieser Ocula, einer etwas zwielichtigen und angeblich auch leicht bedrohlichen Organisation zugeteilt werden sollte.

»Die Ocula?«, sagte Fassin. »Ich? Bist du da ganz sicher?«

»Absolut.

Streng genommen hatte er keine Wahl. Die Seher mussten, um ihre Tätigkeit ausüben zu können, offiziell als eigener Berufsstand innerhalb des Miszellariats anerkannt sein. Unter den Sammelbegriff Miszellariat fielen alle Gruppen, die der Merkatoria nützlich waren, aber nicht in eine der gängigeren Unterkategorien passten. Somit waren alle Seher der Merkatoria in vollem Ausmaß disziplinarisch unterstellt und hatten allen Anweisungen von übergeordneten und mit der erforderlichen Autorität ausgestatteten Instanzen zu gehorchen.

Praktisch kamen sie allerdings nie in eine solche Situation. Fassin konnte sich nicht erinnern, dass in der zweitausendjährigen Geschichte des Sept Bantrabal jemals ein Mitglied dieses Sept in Friedenszeiten irgendwohin abkommandiert worden wäre. warum also jetzt? Und warum gerade er?

»Kann die Einweisung fortgesetzt werden?«, fragte die leuchtende Kugel. »Die Sache ist wichtig.«

»Das mag schon sein, aber ich habe noch Fragen.«

»Sachdienliche Fragen werden beantwortet, soweit das möglich und ratsam ist«, erklärte die Kugel.

Fassin überlegte angestrengt. Musste er sich das wirklich gefallen lassen? Was hätte er zu erwarten, wenn er nicht gehorchte? Würde man ihn degradieren? Ihn zwingen, auf sein Amt zu verzichten? Ihn in die Verbannung schicken? Für vogelfrei erklären? Zum Tode verurteilen?

»Fassen wir zusammen«, sagte die Gaskugel. »Seher Fassin Taak, sie werden hiermit zur Ocula der Justitiarität abkommandiert. Was die Geheimhaltungsstufe angeht, werden Sie ehrenhalber zum kommissarischen Stellvertreter eines Captain befördert, vom Dienstalter und der disziplinarischen Stellung her sind Sie Major, Sie erhalten die Besoldung eines Generals und die Reiseprivilegien eines Feldmarschalls. Dieses Konstrukt ist in diesen Punkten zu keinerlei Zugeständnissen ermächtigt. Werden Sie die Bedingungen akzeptieren?«

»Und wenn ich nein sage?«

»Haben Sie mit Strafmaßnahmen zu rechnen, die sich auf jeden Fall gegen Sie persönlich, wahrscheinlich gegen den Sept Bantrabal und möglicherweise gegen die ›Langsamen‹-Seher von ’glantine in ihrer Gesamtheit richten. Werden Sie die dargelegten Konditionen akzeptieren?«

Fassin hielt wohl oder übel den Mund. Diese schwebende Leuchtgasblase hatte soeben nicht nur ihn, nicht nur seinen Sept und die ganze Sippe mit allen Angehörigen und Dienern bedroht, sondern auch das größte und unersetzliche Zentrum der Dweller-Forschung auf dem gesamten Planetenmond und eines der drei oder vier bedeutendsten in der gesamten Galaxis! Das war so unerhört, so heillos übertrieben, dass es eigentlich nur ein Scherz sein konnte. Fassin bemühte sich verzweifelt, im Rückblick alles, was er heute mit Slovius, verpych und den anderen erlebt hatte, die sich an einem solchen Scherz beteiligt haben müssten, zu einem Szenario zusammenzufügen, das überzeugender wäre als das, womit er soeben konfrontiert wurde. Es konnte doch nicht sein, dass ihn eine Projektion von so erschreckend hohem Rang, entsandt von einem Portalträgerschiff, das noch ein Dutzend Lichtjahre entfernt war, kurzerhand zu einem Geheimdienst abkommandierte. Einem angeblich allmächtigen Geheimdienst, der die geballte Macht der Administrata und der Techniker hinter sich wusste und nur einem Orden und einer Wissenschaft Rechenschaft schuldig war, von der er nicht mehr verstand als jeder Laie.

»Werden Sie Ihre Abkommandierung zu den oben genannten Bedingungen akzeptieren?«, wiederholte die Kugel.

Vielleicht, dachte Fassin, richtete sich der Scherz auch gegen den Sept Bantrabal als Ganzes. Vielleicht wusste hier im Herbsthaus niemand, dass es sich um einen Schabernack handelte. Aber wer würde so viel Aufwand betreiben, nur um ihn zu erschrecken und wie einen armen Tropf aussehen zu lassen? Wann könnte er sich wohl jemanden zum Feind gemacht haben, der über die Mittel verfügte, ein solches Schauspiel zu inszenieren? Nun ja …

»Werden Sie Ihre Abkommandierung zu den oben genannten Bedingungen akzeptieren?«, fragte die Kugel noch einmal.

Fassin gab auf. wenn er Glück hatte, war die ganze Sache ein Scherz. wenn nicht, wäre es dumm und womöglich gefährlich, sie als solchen zu behandeln.

»Angesichts deiner unverzeihlich plumpen Drohungen habe ich wohl kaum eine andere Wahl.«

»Sollte das eine positive Antwort sein?«

»So könnte man es nennen.«

»Gut. Sie können nun Fragen stellen, Seher Fassin Taak.«

»Warum werde ich abkommandiert?«

»Damit Sie die Aufgaben, die man Ihnen stellen wird, leichter erfüllen und die Ziele, die Sie anzustreben haben, besser erreichen können.«

»Und was verlangt man von mir?«

»Zunächst haben Sie Anweisung, nach Pirrintipiti, der Hauptstadt des Planetenmondes ’glantine zu reisen und ein Schiff nach Borquille zu besteigen, der Hauptstadt von Sepekte, dem Hauptplaneten des Ulubis-Systems. Dort werden Sie weitere Instruktionen erhalten.«

»Und danach?«

»Danach wird man Ihnen, wie eben schon dargelegt, gewisse Aufgaben stellen und Sie verpflichten, gewisse Ziele zu verfolgen.«

»Aber warum? Was steckt dahinter? Worum geht es bei alledem?«

»Dazu enthält dieses Konstrukt keine Informationen.«

»Und warum gerade die Ocula der Justitiarität?«

»Dazu enthält dieses Konstrukt keine Informationen.«

»Wer hat das angeordnet?«

»Dazu enthält dieses Konstrukt …«

»Schon gut!« Fassin trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Stuhls. Die Projektion musste doch von irgendwoher ihre Vollmachten erhalten haben. Sie musste wissen, wo sie im weit gespannten Netz der merkatorialen Hierarchie mit ihren zahllosen Dienstgraden stand. »Welchen Rang hatte die Person, die diesen Befehl erteilt hat?«

»In der Administrata: Stabschef der Armeegruppe der Justitiarität«, antwortete die Kugel. (Also von ganz oben, dachte Fassin. Ob das nun ein dummer Scherz sein sollte, eine Schwachsinnsidee des Militärs oder einfach eine völlig überflüssige Aktion, die Genehmigung dafür kam von jemandem, der nicht behaupten konnte, es nicht besser zu wissen.) »In der Hohen Kommandantur: Leitender Techniker«, fuhr die Projektion fort. (Dito; Leitender Techniker klang nicht so großartig und einschüchternd wie etwa Stabschef der Armeegruppe, aber es war der höchste Rang bei den Technikern, jener Kaste, die verantwortlich zeichnete für die Entwicklung, die Beförderung und die Installierung der Wurmlöcher, von denen die ganze galaktische Metazivilisation zusammengehalten wurde. Was seine Macht anging, war ein LT wahrscheinlich in jeder Spezies einem Stabschef überlegen.) »In der Omnokratie«, erklärte die Kugel abschließend, »Komplektor«.

Fassin riss die Augen auf und blinzelte ein paarmal. Als er merkte, dass ihm der Mund offen stand, machte er ihn rasch zu. er bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Ein verdammter Komplektor?, dachte er. Der Befehl kommt von einem Angehörigen der Culmina?

Die Komplektoren bildeten klar und unumstritten die Spitze der zivilen Hierarchie der Merkatoria. Jeder Komplektor war absoluter Herrscher über einen großen und im Allgemeinen geografisch klar definierten Bereich der Galaxis wie etwa einen Sternencluster oder sogar einen kleineren oder größeren Galaxisarm. Noch dem Unbedeutendsten aus dieser Gruppe waren Hunderttausende von Sonnen, Millionen von Planeten, Milliarden von Habitaten und Billiarden von Seelen unterstellt. Komplektoren standen über der Administrata, sie hatten Weisungsbefugnis gegenüber den Leitern aller anderen Abteilungen der Hohen Kommandantur innerhalb ihrer Zuständigkeit – Techniker, Propylaea, Navarchie und Generalflotte – und sie gehörten immer der Culmina an. Über einem Komplektor gab es lediglich andere Komplektoren, die noch mehr zu sagen hatten.

Fassin zwang sich, in Ruhe zu überlegen. Das Ganze konnte immer noch ein dummer Scherz sein. Dass man sich dabei auf die Autorität eines Komplektors berief, machte dies sogar wahrscheinlicher. Es war einfach grotesk.

Andererseits hatte die vage Erinnerung an eine Unterrichtsstunde, in der er wahrscheinlich besser hätte aufpassen sollen, den beunruhigenden Verdacht geweckt, sich unberechtigt auf die Autorität eines Komplektors zu berufen, zähle eventuell zu den Schwerverbrechen.

Denk nach, denk nach. Vergiss den Komplektor; konzentriere dich auf die aktuelle Situation. Von welchen Voraussetzungen könnte er ausgehen? Irgendetwas im Egobereich? (Diese psychologische Abfrageroutine hatte man ihm im College eingebläut, wo er auf der so genannten Ich-ich-ich!-Skala hohe Werte erreicht hatte. Wenn auch nicht so hohe wie Saluus Kehar.) Eine Egofrage konnte er immerhin sofort abklären.

»Wer außer mir wird noch auf diese Weise berufen?«, fragte er.

»Durch eine Abgesandten-Projektion? Niemand.«

Fassin lehnte sich zurück. das war zwar schmeichelhaft, aber wahrscheinlich ein schlechteres Zeichen, als man zunächst vermuten würde.

»Und auf andere Weise?«

»Sie werden in Borquille, der Hauptstadt von Sepekte, zusammen mit einer Gruppe von hohen Beamten weitere Anweisungen erhalten. Diese Gruppe besteht aus etwa dreißig Personen.«

»Und worum geht es bei diesen Anweisungen?«

»Dazu enthält dieses Konstrukt keine Informationen.«

»Wie lange werde ich wohl unterwegs sein? Fliege ich nur nach Sepekte, hole mir die ›Anweisungen‹ und komme wieder zurück? Oder dauert es länger?«

»Von Vertretern der Ocula der Justitiarität wird erwartet, dass sie auch sehr kurzfristig für größere Einsätze zur Verfügung stehen.«

»Ich sollte mich also auf eine längere Abwesenheit einrichten?«

»Von Vertretern der Ocula der Justitiarität wird erwartet, dass sie auch sehr kurzfristig für größere Einsätze zur Verfügung stehen. Dieses Konstrukt enthält keine weiteren Informationen zu Ihrer Frage.«

Fassin seufzte. »Ist das alles? Hat man dich wirklich nur geschickt, um mir mitzuteilen, dass ich nach Sepekte fliegen soll? So viel Lärm um … nichts?«

»Nein. sie sollen auch erfahren, dass es sich hier um eine Angelegenheit von denkbar größter Tragweite handelt, in der Ihnen eine wichtige Rolle zugedacht sein könnte. Es liegen Informationen vor, die auf eine schwere und akute Gefahr für das gesamte Ulubis-System schließen lassen. Dieses Konstrukt enthält dazu keine näheren Angaben. Sie haben sich zwecks Entgegennahme weiterer Instruktionen nach Borquille, der Hauptstadt von Sepekte, dem Hauptplaneten des Ulubis-Systems, zu begeben und sich morgen Abend, am Neunten Pflicht, spätestens zur Stunde Fünfzehn nach Ortszeit Borquille-Sepekte, im Palast des Hierchon zu melden. Das entspricht Gchron, 6, 61 …« Die Kugel wiederholte den Termin, zu dem sich Fassin am folgenden Tag im Palast des Hierchon einzufinden hatte, noch in mehreren weiteren Formaten, wie um im Falle einer Verspätung jede Ausrede von vornherein auszuschließen. Fassin starrte auf eine einheitlich beige polarisierte Fensterfläche auf der anderen Seite des Saales und versuchte zu ergründen, was dies alles zu bedeuten hatte.

Doch alles, was ihm einfiel war: Verdammte Scheiße.

»… am achtzehnten November AD 4034 nach r-Menschen-Zeit«, schloss die Leuchtkugel. »Die erforderlichen Transportmittel werden bereitgestellt. An Fluggepäck sind eine große Reisetasche und ein entsprechendes Behältnis für eine komplette Paradeuniform gestattet, welche für die Audienz beim Hierchon vorgeschrieben ist. Für die Reise wird ein Druckanzug empfohlen. Noch weitere Fragen?«


Verpych überlegte einen Moment. »Ein typischer Anfall von Militärhysterie.«

Slovius rutschte in seinem Wannensessel hin und her. »Etwas genauer bitte?«

»Wahrscheinlich ein Versuch, frühere Versäumnisse durch Übereifer wettzumachen.«

»Man hat ihnen mehrfach erklärt, es gäbe ein Problem, aber sie haben nur die Nase gerümpft, und nun sind sie plötzlich aufgewacht und in Panik geraten?«, übersetzte Fassin.

Verpych nickte knapp.

»Die Entscheidungsdynamik hochgradig starrer Machtstrukturen ist ein interessantes Forschungsobjekt«, sagte Tchayan Olmey lächelnd, Fassins alte Lehrerin und mütterliche Freundin. Die graue, hagere Gestalt war wie ein Fels in der Brandung. Die vier saßen um einen großen runden Tisch in Slovius’ früherem Arbeitszimmer. Slovius selbst schwamm in einem großen, halb geschlossenen Becken, das wie eine Kreuzung zwischen einer antiken Sitzbadewanne und einem kleinen Flieger aussah. Fassin erschien das Gesicht seines Onkels so lebhaft und trotz der Stoßzähne und des Schnauzbarts so … ja, so menschlich wie seit Jahren nicht mehr. Slovius hatte zu Beginn des Treffens verkündet, für die Dauer der derzeit völlig unübersichtlichen Lage werde sein schleichender Verfall zum Stillstand gebracht. Er habe die Zügel im Sept Bantrabal wieder in die Hand genommen. Fassin hatte erschrocken gespürt, wie sich in seinem Innern ein kleinliches, selbstherrliches Stimmchen regte und enttäuscht und empört dagegen protestierte, dass sein Onkel den Weg in die Verwirrung und Gleichgültigkeit der Senilität und schließlich in den Tod nicht weiter fortsetzen wollte.

»Die Projektion sprach von einer ›schweren und akuten Gefahr‹«, erinnerte Fassin. vermutlich war es diese Formulierung gewesen, die ihn so beunruhigt hatte, dass er die Versammlung einberief und alles erzählte. wenn das Ulubis-System wirklich in Gefahr schwebte, sollten zumindest die höchsten Vertreter des Sept Bantrabal darüber Bescheid wissen. Die Einzige, die bei der Besprechung fehlte, war Fassins Mutter. Sie befand sich auf einer einjährigen Klausur in einem zehn Lichttage entfernten Habitat der Cessoria irgendwo im Kuipergürtel des Systems und konnte daher nicht zugezogen werden. Man hatte überlegt, ihr eine Warnung zukommen zu lassen, dann aber entschieden, dies sei verfrüht und womöglich sogar schädlich, solange man nichts Genaueres über diese rätselhafte Bedrohung wüsste.

Olmey zuckte die Achseln: »Die Überreaktion könnte sich auch auf die Wahl der sprachlichen Mittel zur Beschreibung des vermeintlichen Problems erstrecken«, sagte sie.

»In letzter Zeit häufen sich die Beyonder-Anschläge«, bemerkte Verpych nachdenklich.

In den zweihundert Jahren nach dem Verlust des Arteria-Portals waren die sporadischen (und in der Regel gegen Randbezirke des Systems und militärische Ziele gerichteten) Angriffe der Beyonder-Rebellen auf Ulubis so stark zurückgegangen, dass sie kaum mehr als ein Ärgernis darstellten. auf jeden Fall waren sie weit weniger zahlreich als in den Jahren vor der Zerstörung des Wurmlochs. Fast alle Systeme der Merkatoria hatten sich im Lauf von Jahrtausenden an die lästigen, aber selten vernichtenden Attacken gewöhnt – sie banden Schiffe und Material und sorgten für eine gewisse Nervosität in der gesamten Metazivilisation, aber zu wirklichen Gräueln war es bisher nicht gekommen. Deshalb war die Bevölkerung von Ulubis erleichtert und empfand es als unverhofftes Geschenk, dass die Präsenz des Militärs im System in dieser Zeit der Isolation aus unerfindlichen Gründen eher reduziert als verstärkt worden war.

Im Laufe des vergangenen Jahres hatten die Angriffe jedoch leicht zugenommen – zum ersten Mal in zweihundert Jahren war die jährliche Rate gestiegen anstatt zu fallen – und sie hatten eine etwas andere Qualität, als man es bisher gewöhnt war. Zum einen waren die Ziele nicht mehr nur Militäreinrichtungen oder Teile der Infrastruktur gewesen. Eine Bergwerkskolonie in einer Kometenwolke war zerstört worden, einige im Gürtel und in den Wolken eingesetzte Schiffe wurden vermisst oder waren haltlos treibend, leer oder völlig ausgebrannt aufgefunden worden, ein kleines Linienschiff, das zwischen Nasqueron und dem äußersten Gasriesen des Systems verkehrte, war spurlos verschwunden, und vor einem halben Jahr war plötzlich mitten im System ein schwerer Raketenkreuzer aufgetaucht, der mit achtzig Prozent Lichtgeschwindigkeit geradewegs auf Borquille zusteuerte. Man hatte ihn mühelos abgeschossen, aber die Entwicklung gab doch Anlass zur Sorge.

Slovius rutschte wieder auf seinem Wannensessel hin und her und verspritzte Wasser auf den Holzboden. »Gibt es etwas, das du uns nicht sagen darfst, Neffe?«, fragte er und machte ein verwirrendes Geräusch, das sich so anhörte, als gluckse er vergnügt in sich hinein.

»Nichts Bestimmtes. Ich soll über die ganze Angelegenheit mit niemandem sprechen, außer um meine … Mission zu fördern. Die im Moment lediglich darin besteht, morgen bis Stunde fünfzehn nach Borquille zu kommen. Ich verstehe das natürlich so, dass ich mich euch dreien bedenkenlos anvertrauen kann. Ich möchte euch jedoch bitten, nichts weiterzutragen.«

»Nun«, sagte Slovius mit einem kehligen Laut, der wie ein Gurgeln klang, »hiermit stelle ich dir für den Transfer nach Pirrintipiti mein eigenes Suborbschiff zur Verfügung.«

»Vielen Dank. aber es hieß, für den Transport wäre gesorgt.«

»Die Navarchie hat für morgen früh eine halbe Stunde vor Vier einen Start angemeldet«, bestätigte Verpych. »Den werden sie verlegen müssen, wenn sie vorhaben, sie bis Fünfzehn Uhr nach Sepekte zu bringen«, fügte er hinzu und rümpfte die Nase. »Sie werden den ganzen Flug über fünf bis sechs Ge ertragen müssen, Fassin Taak.« Haushofmeister Verpych lächelte. »Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Wasser-und Nahrungsaufnahme von jetzt an entsprechend zu dosieren.«

»Mein Schiff bleibt auf jeden Fall in Bereitschaft«, sagte Slovius, »falls dieses Transportmittel nicht auftauchen oder sich als allzu primitiv herausstellen sollte. Sie sorgen dafür, Haushofmeister.«

Verpych nickte. »Zu Befehl.«


»Onkel, auf ein Wort?«, fragte Fassin, als alle sich zum Gehen anschickten. Er hatte gehofft, Slovius vor Beginn der Zusammenkunft unter vier Augen sprechen zu können, aber sein Onkel war zusammen mit Verpych gekommen. Er hatte energiegeladen und siegesgewiss ausgesehen, während Verpych beunruhigt, ja sogar besorgt schien.

Slovius entließ seinen Haushofmeister und Olmey mit einem knappen Nicken. wenig später war Fassin mit seinem Onkel im Arbeitszimmer allein.

»Neffe?«

»Du hast dich heute Morgen, während die Abgesandten-Projektion heruntergeladen wurde, nach meinen letzten Trips erkundigt …«

»Du möchtest wissen, wie weit ich bereits informiert war?«

»Hm, ja.«

»Das T-Schiff hatte mich mit einem einfachen, aber hoch verschlüsselten Signal von der Ankunft der Projektion in Kenntnis gesetzt. Das Signal enthielt eine persönliche Botschaft von einem alten Freund von mir, der als Erster Ingenieur auf dem Schiff fährt. Er ist Kuskunde – ich hatte die Feinheiten der linguistischen und der Körpersprache dieser Spezies vor vielen hundert Jahren auf dem College studiert. So konnte ich, ohne dass dies ausdrücklich gesagt worden wäre, den Eindruck gewinnen, einer deiner Trips könnte dies alles in Gang gebracht haben.«

»Ich verstehe.«

»Deine Abgesandten-Projektion hat nichts verlauten lassen, was diesen Verdacht bestätigen könnte?«

»Kein Wort.« Fassin zögerte. »Onkel, stecke ich in Schwierigkeiten?«

Slovius seufzte. »Ich kann nur spekulieren, Neffe, aber ich nehme nicht an, dass du direkt in Schwierigkeiten steckst. Ich will aber gestehen, dass ich beunruhigt bin. Ich habe ganz stark das Gefühl, dass große, schwere und für den Gang der Ereignisse ungemein wichtige Räder in Bewegung gesetzt wurden. Und ich denke, die Geschichte lehrt uns, dass es sich in solchen Fällen empfiehlt, in Deckung zu gehen. Solche Räder sind so mächtig und rollen mit so ungeheurer Wucht dahin, dass der Wert eines Menschenlebens vor ihnen bestenfalls zur Bedeutungslosigkeit schrumpft.«

»Bestenfalls?«

»Bestenfalls. Schlimmstenfalls werden die Menschen gezielt geopfert und liefern das Schmieröl, das die Räder in Bewegung hält. Bist du mit meiner Erklärung zufrieden?«

»Wenn man es so ausdrücken kann.«

»Nun, es scheint, als tappten wir beide gleichermaßen im Dunkeln, Neffe.« Slovius betrachtete einen kleinen Ring, der sich tief in einen seiner Stummelfinger eingeschnitten hatte. »Und wenn es dunkel ist, sollte man sich schlafen legen. Das möchte ich dir hiermit empfehlen.«


»Da sind Sie ja, Fassin Taak«, sagte Verpych forsch. Er hatte vor der Tür gewartet. »Diesmal haben Sie es geschafft, mich zu beeindrucken. Wir verdanken Ihnen offenbar nicht nur den Anbruch interessanter Zeiten, es ist Ihnen auch gelungen, das Auge der Obrigkeit auf uns zu lenken. Meinen Glückwunsch.«


Sie hatten die Bettrollen halb aufgeblasen, sich darauf gesetzt und mit dem Rücken an die Seitenwand des Fliegers gelehnt. »Hat er dir nie die Geschichten aus der Harten Schule erzählt?« , fragte Fassin.

Taince schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie zog wieder das kleine graue militärische Funkgerät heraus, hatte aber immer noch keinen Empfang. Sie und Fassin waren bereits vor einer halben Stunde zu dem Riss im Rumpf gegangen, um auf ein Signal auf diesem Gerät oder in ihren Kopfhörern zu warten. Ein schwerer Aurora-Ausbruch warf seinen flackernden Schein über den Himmel, Nasqueron hing wie eine riesige umgedrehte Kuppel über ihnen, dunkel, aber von eigenen Aurora-Bändern erhellt und durchzuckt von einem Netzwerk von Blitzen. Durch ihre Stiefel hatten sie eine Serie von kleineren Erdbeben gespürt, doch obwohl die Natur so sehr in Aufruhr war – zum Teil vielleicht auch, weil die magnetische Aktivität den Funkverkehr störte – hatten sie in ihren Geräten nichts gehört.

Auf dem Rückweg hatte sich Fassin beklagt, dass die Beyonder einen Planeten, der in erster Linie für seine friedlichen Dweller-Forschungen bekannt war, überhaupt angriffen, und dass die Sicherheitskräfte, die Truppen der Navarchie, die Außengeschwader und die Generalflotte, diesen Planeten nicht besser zu schützen wüssten. Taince hatte versucht, ihm die logistischen Probleme in Zusammenhang mit dem Transport von genügend vielen Nadelschiffen und anderen Ausrüstungsgegenständen durch die ’löcher an den jeweiligen Einsatzort zu erklären, und auf die Gleichungen verwiesen, nach denen sich errechnen ließ, welcher Aufwand nötig wäre, um die vielen und weit verstreuten Systeme der Merkatoria vollständig zu sichern. Selbst mit Arteria-Portalen, die ein nahezu verzögerungsfreies Reisen ermöglichten, sei dies ein aussichtsloses Unterfangen, und die erforderlichen Summen seien für die Wirtschaft nicht tragbar. Die vielen feindlichen Gruppierungen mochten alles in allem kümmerlich sein, aber sie seien weithin verstreut. Erschwerend komme hinzu, dass sie oft auf einer stark verlängerten Zeitskala agierten. Wichtig sei vor allem, dass ’glantine und das Ulubis-System im Ganzen geschützt seien. Die systemeigenen Geschwader könnten es mit jeder gewöhnlichen Beyonder-Gruppierung aufnehmen, und sie hätten, nur ein paar Portalsprünge entfernt, die Generalflotte im Rücken, die jedem Angreifer haushoch überlegen sei.

Als Fassin immer noch nicht aufhörte, über die Störattacken der Beyonder zu jammern, hatte Taince das Gespräch auf die Marotten, Neigungen und Schwächen ihrer Klassenkameraden gelenkt, und so waren sie auf Saluus gekommen.

»Nun ja«, sagte Taince, »er hat gelegentlich erwähnt, dass er die Harte Schule besucht hat, aber von sich aus nie mehr dazu gesagt, und ich werde ihn keinem Verhör unterziehen.«

»Aha«, sagte Fassin. waren Saluus und Taince vielleicht doch kein Liebespaar? Die Schulzeit, die Kindheit … waren das nicht die Themen, über die man sich im Bett unterhielt? Er streifte Taince mit verstohlenem Blick. ›Liebespaar‹ war ohnehin nicht das richtige Wort, nicht für Sal und Tain, immer vorausgesetzt, sie hatten tatsächlich ein Verhältnis. Die beiden waren anders als alle anderen in ihrem Jahrgang, sie standen immer etwas abseits der herrschenden Szene, die bestimmt war von Verabredungen, junger Liebe und ersten sexuellen Abenteuern, so als hätten sie das bereits alles hinter sich oder wären auf Grund ihrer Veranlagung oder durch schiere Willensstärke dagegen immun.

Taince wirkte einschüchternd auf die meisten gleichaltrigen und viele wesentlich ältere Jungen, aber das kümmerte sie nicht. Fassin hatte selbst erlebt, wie sie zwei sehr nette, anständige Bewerber mit einer Schroffheit abwies, die verletzend war, um sich dann – ganz offensichtlich nur für eine oder höchstens ein paar Nächte mit kräftigen, aber langweiligen Burschen einzulassen. Auch wusste er von mindestens drei Mädchen in ihrem Jahrgang, die hoffnungslos in sie verliebt gewesen waren, aber auch das hatte sie nicht interessiert.

Saluus war von vornherein in einer noch stärkeren Position gewesen; er sah nicht nur gut aus – das war keine Kunst – sondern ging damit ganz lässig um und war obendrein selbstsicher, charmant und witzig. Und er hatte auch noch Geld! Als Erbe eines großen Vermögens erwartete ihn eine andere Welt, in der die Abstufungen noch feiner waren als in der verwirrenden Monumentalhierarchie, in der sie alle seit ihrer Geburt lebten, eine Welt mit einer anderen Belohnungsstruktur, die zugleich jünger und älter war als das Kolossalgebäude der Merkatoria, auch wenn sie letztlich vollständig darin aufging. Fassin hatte sich wie die anderen Jungen in seinem Jahrgang – ja, wie die meisten im ganzen College – längst damit abgefunden, dass man niemals erste Wahl war, solange sich Sal in einer Gruppe befand.

Und doch nützten weder Taince noch Sal – besonders Sal – ihre Stärken über Gebühr aus. Höchstens, wenn sie unter sich waren.

Fassin kamen sie vor wie frühreife Erwachsene mit eigenen Zielen, die sie unbeirrt und entschlossen verfolgten. Sex war nur eine juckende Stelle, die man kratzte, ein quälender unterschwelliger Hunger, den man gelegentlich möglichst schnell und rationell, mit einem Minimum an störendem Beiwerk stillte, um sich rasch wieder den wirklich wichtigen Dingen im Leben widmen zu können.

Zwei komische Käuze.

»Warum?«, fragte Taince. »Warst du auch in der Harten Schule, Fass?«

»Ich?«, rief Fassin erstaunt. »Nein, verdammt!«

»Schon gut«, sagte Taince. Sie hatte ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt, und eine Hand auf das Knie gelegt. »Und?«, sie wedelte mit der Hand hin und her. »Ist sie wirklich so hart?«

»Man macht Jagd auf die Schüler!«, erklärte Fassin.

Taince zuckte die Achseln. »Davon habe ich gehört. Immerhin frisst man sie nicht auf.«

»Ha! Manche kommen trotzdem um. Ich finde das nicht komisch. Es sind doch noch Kinder. sie stürzen von Klippen oder von Bäumen, sie verschwinden in Felsspalten, und einige werden so unter Druck gesetzt, dass sie Selbstmord begehen. Andere verirren sich in der Wildnis und werden von echten Raubtieren gejagt, getötet und verspeist.«

»Hm. Die Abbrecherquote ist also ziemlich hoch.«

»Taince, lässt dich das alles denn völlig kalt?«

Taince grinste. »Du willst wissen, ob solche Geschichten meine mütterlichen Instinkte wecken, Fass?« Er antwortete nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Nun, das ist nicht der Fall. Du willst wissen, ob ich für diese Juniorvertreter der Raffenden Klasse Mitleid empfinde? Ja, für diejenigen, die es nicht schaffen. oder die ihre Eltern hassen, wenn sie es absolviert haben. Bei den anderen klappt es wohl so wie geplant; eine neue Generation von puren Egoisten wird herangezogen. aber ich habe damit nichts zu tun. Ich verschwende an diese Kinder keinen Gedanken. Sonst müsste ich sie vielleicht verabscheuen. Vielleicht würde ich sie auch bewundern. Es hört sich an, als ginge es in solchen Schulen schlimmer zu als in der Grundausbildung.«

»Für die Grundausbildung entscheidet man sich selbst. Diese kleinen …«

»Nicht, wenn man einberufen wird.«

»Einberufen?«

»Die entsprechenden Gesetze wurden nie aufgehoben.« Sie zuckte die Achseln. »Zugegeben, es ist hart für die Kinder. aber es ist legal, und die Reichen sind eben ein anderer Schlag.« Das klang gleichgültig.

»Sal hat wirklich nie etwas davon erzählt?«

Der Unterton in seiner Stimme ließ Taince aufhorchen. Sie sah ihn an. »Du meinst«, sie zog mehrmals ihre schwarzen Augenbrauen hoch, »›hinterher‹, Fassin?«

Er wich ihrem Blick aus. »Wie du willst.«

Ihre Augen ließen ihn nicht los. »Fass, willst du wirklich nur wissen, ob Sal und ich miteinander vögeln?«

»Nein!«

»Die Antwort lautet ja. Hin und wieder, danke der Nachfrage. Hast du jetzt eine Wette gewonnen? Wie hoch ist die Quote?«

»Ich bitte dich«, flehte er und dachte dabei: Verdammt, seit ich es weiß, bin ich nicht mehr sicher, ob ich es denn wirklich wissen wollte. Fassin stellte sich die Pärchen seiner Klasse und seines Jahrgangs – künftige und bereits bestehende, gleichgeschlechtliche und andere – gern beim Sex vor. Du lieber Himmel! Ein paarmal hatte er sogar zugesehen oder mitgemacht, wenn es zur Sache ging. Aber Sal und Taince, die bumsten, dass die Wände wackelten … das Bild war schockierend.

Taince zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du schön bittest, darfst du vielleicht sogar einmal dabei sein. Das hast du doch gern, oder?«

Fassin konnte nicht verhindern, dass er rot wurde, und rettete sich in Sarkasmus. »Ich lebe für nichts anderes.«

»Und die Harte Schule hat er tatsächlich nie erwähnt«, sagte Taince. »Weder vorher, noch während, noch hinterher. Oder ich wäre sehr viel mehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, als ich dachte.«

»Es klingt so grauenvoll! Kalte Duschen, ein Bett für mehrere Schüler, körperliche Züchtigung, Entbehrungen aller Art, Einschüchterung, übelste Beschimpfungen, und in den Ferien darf man womöglich um sein Leben rennen!«

Taince schnaubte. »Das heißt, man zahlt gutes Geld für eine Behandlung, der unsere Ahnen während ihres ganzen kurzen und beschissenen Lebens zu entgehen suchten. Das nennt man Fortschritt.«

»Ich glaube, der Junge hat dabei einen Knacks abbekommen«, sagte Fassin. »Das ist meine ehrliche Meinung.«

»Oh, das glaube ich dir gerne«, gab Taince gedehnt zurück. »Aber Sal scheint mit der Methode ganz einverstanden zu sein. Er sagte, sie hätte ihn zum Mann gemacht.«

»Schon, aber zu was für einem Mann?«

Taince grinste. »Außerdem seid ihr an allem schuld, du und deine Leute.«

»Oh nein«, seufzte Fassin. »Das nicht auch noch.«

»Es ist doch ein Dweller-Brauch, oder nicht?«

»Und? Was willst du, verdammt nochmal, damit sagen?«

»Wer hat denn dieses Informationshäppchen über die Jagd auf Kinder und Verwandte unters Volk gebracht?«, fragte Taince. Sie grinste noch immer. »Das wart doch ihr. Die Seher …«

»Es waren nicht …«

»Dann eben die Dweller-Forschung, wenn dir das lieber ist.« Taince winkte verächtlich ab. »Sie machen Jagd auf ihre Jungen, sie sind langlebig, weit verbreitet, eine erfolgreiche Spezies, und sie leben direkt vor unserer Haustür. Und dann kommt irgendein Wichser daher und sucht nach einer neuen Methode, um die Reichen zu schröpfen. was glaubst du wohl, was von alledem er verwenden wird?«

Fassin schüttelte den Kopf. »Die Dweller sind fast so alt wie das Universum, sie haben sich über die ganze Galaxis ausgebreitet, doch obwohl sie allen anderen weit voraus waren, besaßen sie genügend Anstand, nicht alles so umzukrempeln, dass es ihren Vorstellungen entsprach. Sie haben den Krieg so formalisiert, dass kaum noch jemand dabei ums Leben kommt, und was sie Arbeit nennen, besteht zumeist darin, die größten Wissensmengen zu verwalten, die jemals zusammengetragen wurden …«

»Aber wir haben gelernt …«

»Dass ihre Bibliotheken die chaotischsten in der ganzen Galaxis sind und sie Fremden nur höchst ungern Zugang dazu gewähren? Das ist richtig, aber trotzdem: sie waren schon eine friedfertige, zivilisierte und weit verbreitete Spezies, als es Erde und Sonne noch gar nicht gab. Und was ist die einzige Lektion, was wir mit Begeisterung von ihnen übernehmen? Macht Jagd auf eure Kinder?«

»So steht es in deinen Vorlesungsnotizen«, erinnerte ihn Taince.

Die Dweller waren berüchtigt dafür, dass sie ihre eigenen Jungen jagten. Die Spezies war in der Mehrheit – der überwiegenden Mehrheit – aller Gasriesenplaneten der Galaxis zu finden, und so oft man eine dieser Planeten-Gesellschaften hinreichend gründlich erforscht hatte, war man darauf gestoßen, dass die erwachsenen Dweller einzeln oder im Rudel Jagd auf ihre eigenen Kinder machten. Manchmal nur, wenn sich die Gelegenheit ergab, aber ebenso oft auch über längere Zeiträume in gut organisierten Expeditionen. Für die Dweller war dieses Verhalten ganz natürlich, ein Brauch, den sie seit Jahrmilliarden pflegten, ein integraler Bestandteil ihrer Kultur, ohne den sie nicht sie selbst gewesen wären, eine Phase des Erwachsenwerdens. Wenn sich – selten genug – ein Dweller die Mühe machte, diese Praxis gegenüber fremden Schnöseln zu verteidigen, die glaubten, sich darüber erregen zu müssen, dann erklärte er im Brustton der Überzeugung, die Jagd auf die Jungen sei einer von vielen Gründen, warum die Dweller nach so langer Zeit immer noch nicht ausgestorben wären und sich an diesem harmlosen Spaß erfreuen könnten.

Schließlich sei nicht nur die Spezies als Ganzes uralt; auch einzelne Dweller hätten angeblich eine Lebensspanne von Milliarden von Jahren. Und da selbst die wahrhaft riesigen Lebensräume in allen Gasriesenplaneten der Galaxis (und nicht nur hier, wie bisweilen gemunkelt wurde) nicht unendlich seien, müsste man das Wachstum der Bevölkerung auf irgendeine Weise in Grenzen halten. Naseweise Spezies von außen – besonders solche, deren Zivilisationen so kurzlebig waren, dass man von den ›Schnellen‹ sprach – sollten nicht vergessen, dass die heutigen Jäger früher ihrerseits gejagt worden waren, und dass die heutigen Gejagten durchaus die Jäger der Zukunft werden könnten. Außerdem dauere dieser Abschnitt höchstens etwas mehr als ein Jahrhundert, und das sei für jemanden, der beste Aussichten hatte, Hunderte von Jahrmillionen alt zu werden, nun wirklich eine Bagatelle, kaum der Rede wert.

»Sie spüren keinen Schmerz, Taince«, sagte Fassin. »Das ist der entscheidende Punkt. sie können nicht ganz erfassen, was körperliches Leiden bedeutet. Jedenfalls nicht emotional.«

»Woran ich nach wie vor zu zweifeln wage. Aber selbst wenn? Was willst du damit sagen? Dass sie nicht intelligent genug sind, um seelische Qualen zu empfinden?«

»Selbst seelische Qualen sind nicht wirklich das, was wir darunter verstehen, wenn es kein physiologisches Äquivalent dazu gibt, keine körperliche Schablone, an der sich die Seele orientieren kann, keine Verbindung zwischen den beiden Arten von Schmerz.«

»Ist das die Theorie des Jahres? Das Einmaleins der Exo-Ethik?«

Ein mittleres Erdbeben erschütterte die Mulde, in der das Flugzeug stand, aber sie achteten nicht darauf. Irgendwo hoch über ihnen schwangen die riesigen Bögen aus schillerndem Material sachte hin und her.

»Ich will damit nur sagen, dass wir von dieser Zivilisation sehr viel mehr lernen könnten als nur, unsere Kinder zu misshandeln.«

»Ich denke, die Dweller gelten gar nicht als Zivilisation im strengen Sinn?«

»Du meine Güte«, seufzte Fassin.

»Und?«

»Nun ja, das kommt darauf an, wie du Zivilisation definierst. Die einen halten die Dweller für postzivilisatorisch, weil die einzelnen Gruppen auf jedem Gasriesen kaum Kontakt zueinander pflegen. Andere sprechen von einer Diaspora-Zivilisation, was eigentlich das Gleiche ist, nur etwas vornehmer ausgedrückt. Wieder andere betrachten die Dweller als degeneriert, ein Beispiel dafür, wie eine Spezies eine ganze Galaxis erobern und im letzten Moment doch noch scheitern kann, weil sie einfach keine Lust mehr hat, weil sie vergessen hat, was eigentlich der Zweck der ganzen Übung war, weil sie sich plötzlich ihrer Skrupellosigkeit schämt, weitere Zerstörungen zu vermeiden sucht und es nicht mehr als recht und billig findet, auch anderen eine Chance zu geben, oder weil sie von einer stärkeren Macht eins auf die Finger bekommt. all das könnten natürlich wahre Gründe oder blühender Unsinn sein. Und deshalb betreiben wir Dweller-Forschung. Um vielleicht eines Tages Gewissheit zu bekommen … Was ist?« Er fand die Art, wie Taince ihn ansah, etwas merkwürdig.

»Nichts. Ich dachte nur so. willst du immer noch behaupten, du wüsstest nicht, was du nach dem College machen willst?«

»Es könnte durchaus sein, dass ich kein Seher werde, taince, und nichts mit der Dweller-Forschung zu tun haben will. Niemand zwingt mich dazu. Bei uns gibt es keine Einberufung.«

»Na schön«, sagte sie. »Aber jetzt ist es Zeit für den nächsten Kontaktversuch zur realen Welt.« Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. »Kommst du mit?«

»Was dagegen, wenn ich dableibe?« Fassin rieb sich die Augen und sah sich um. »Ich bin doch ein wenig müde geworden. Glaubst du, dass wir hier halbwegs sicher sind?«

»Schätze schon«, antwortete Taince. »Ich bin bald wieder zurück.« Sie schritt in die Dunkelheit hinein und war bald verschwunden. Nun war Fassin allein im weichen Licht des Fliegers in der riesigen Höhle, in der es kein Echo gab.

Er konnte sich nicht entscheiden, ob er schlafen wollte, und nach einer Weile fühlte er sich doch nicht mehr ganz so sicher. Fast wäre er Taince nachgegangen, aber er wollte sich nicht verirren, und so blieb er, wo er war. Er räusperte sich, setzte sich aufrecht hin und verbot sich einzuschlafen. Irgendwann musste er doch eingedämmert sein, denn er wachte erst auf, als er die Schreie hörte.


Er verließ das Haus in der falschen Dämmerung, die vom Widerschein des Sonnenaufgangs erzeugt wurde. Ulubis stand noch weit unter dem Horizont, erleuchtete aber die Hälfte der ’glantine zugewandten Hemisphäre von Nasqueron und überflutete die Nördliche Tropische Hochebene mit sanftem bräunlich goldenem Licht. Ein kleines Auroraspektakel im Norden steuerte sein zittriges gelbes Leuchten bei. von Freunden und Angehörigen hatte er sich bereits am Abend zuvor verabschiedet, für andere wie seine Mutter, die er nicht persönlich treffen konnte, hatte er Botschaften hinterlassen. Jaal hatte geschlafen, als er ging.

Fassin war ziemlich überrascht, dass Slovius zum Haushafen gekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen. Der hundert Meter breite Kreis aus völlig glattem Kaltschmelzgranit befand sich einen Kilometer hangabwärts, nahe am Fluss und am Rand des sanft ansteigenden Hochlandwaldes. Von Westen zogen hohe, dünne Wolken herüber, aus denen ein leichter Regen fiel. auf einem Dreifuß am Rand des Kreises stand, von Dampfschwaden und flimmernder Hitze umwabert, ein schnittiges, rußschwarzes, etwa sechzig Meter langes Navarchieschiff.

Die beiden hielten an und betrachteten es ausgiebig. »Ist das nun ein Nadelschiff?«, fragte Fassin.

Sein Onkel nickte. »Ich denke schon. Du reist durchaus standesgemäß nach Pirrintipiti, Neffe.« Slovius’ eigene Sub-orbjacht, ebenfalls stromlinienförmig, aber etwas gedrungener und etwa halb so groß wie das schwarze Navarchieschiff, stand auf einem runden Parkfeld gleich neben dem Hauptkreis. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Fassin trug unter dem leichten Sept-Umhang einen dünnen einteiligen Druckanzug und kam sich vor, als wäre er von Kopf bis Fuß in warmes Gel gepackt. Fassin hatte den Koffer mit seiner Paradeuniform in einer Hand. Die zweite Tasche trug ein Diener mit Pferdeschwanz, der einen großen Schirm über ihn hielt. Slovius wurde in seiner Sitzwanne von einer transparenten Abdeckhaube geschützt. Ein weiterer Diener hielt Fassins schlafende Nichte Zab in den Armen. Die Kleine – sie hatte irgendwie mitbekommen, dass ihr Onkel nach Sepekte berufen wurde und war am Abend zuvor unverantwortlich lange aufgeblieben – hatte darauf bestanden, sich von Fassin zu verabschieden, und es auch geschafft, ihren Eltern und ihrem Großvater die Erlaubnis dazu abzuschmeicheln, war aber eingeschlafen, sobald alle in der kleinen Seilbahngondel saßen, die zum Hafen fuhr.

»Ach ja, grüße bitte meinen alten Freund, den Obersten Seher Chyne von den Favrial von mir«, sagte Slovius, als sie sich dem Navarchieschiff näherten. »Falls du ihn siehst. Und natürlich ganz besonders Braam Ganscerel vom Sept Tonderon.«

»Ich werde versuchen, alle zu grüßen, die dich kennen, Onkel.«

»Ich hätte dich begleiten sollen«, sagte Slovius zerstreut. »Nein, doch lieber nicht.«

Eine grau uniformierte Gestalt trat von einer Senkplattform unter dem schwarzen Schiff und kam ihnen entgegen. Der Offizier, eine freundliche junge Frau mit frischen roten Wangen, nahm die Mütze ab, verbeugte sich vor Slovius und sagte zu Fassin: »Major Taak?«

Fassin starrte sie verständnislos an, dann fiel ihm wieder ein, dass er jetzt der Ocula der Justitiarität angehörte und im Rang eines Majors stand. »Äh, ja«, sagte er.

»First Officer Oon Dicogra, NMS 3304«, stellte die junge Frau sich vor. »Willkommen. Bitte folgen Sie mir.«

Slovius streckte eine Flossenhand aus. »Ich werde mich bemühen, bis zu deiner Rückkehr am Leben zu bleiben, Major Neffe.« Sein heiseres Keuchen sollte wohl ein Lachen sein.

Fassin umfasste verlegen die kurzen Fingerstummel. »Ich hoffe immer noch, dass alles nur blinder Alarm ist und ich in ein paar Tagen wieder hier bin.«

»Pass auf jeden Fall gut auf dich auf. Leb wohl, Fassin.«

»Versprochen. Leb wohl.« Er küsste die immer noch schlafende Zab leicht auf die Wange, ohne sie zu wecken, dann folgte er dem Offizier der Navarchie zur Plattform, stieg auf die konkave Standfläche und winkte, während sie zum Schiff emporschwebten.

»Wir werden meistens mit 5.2 Ge fliegen«, sagte Dicogra, während Fassins Umhang und sein Gepäck in einem drucksicheren Kasten verstaut wurden. »Sind Sie damit einverstanden? Nach dem Physio-Profil, das wir für Sie erstellt haben, spricht nichts dagegen, aber wir müssen uns vergewissern.«

Fassin sah sie an. »Nach Pirrintipiti?«, fragte er. Die Shuttles und Suborbs, die er kannte, beschleunigten sehr viel weniger stark, und sie schafften den Flug in knapp einer Stunde. Wie eng mochte der Zeitplan sein?

»Nein, nach Borquille«, sagte Dicogra. »Wir fliegen direkt in die Hauptstadt.«

»Ach so«, sagte Fassin überrascht. »Nein, 5.2 ist in Ordnung.«

Die Schwerkraft des Planetenmondes ’glantine betrug etwa ein Zehntel dieses Wertes, aber Fassin war an höhere Drücke gewöhnt. Er wollte schon darauf hinweisen, dass er sich bei seiner Arbeit jahrelang in einem Schwerkraftfeld von mehr als sechs Ge aufhalten musste, aber dabei saß er natürlich in Schockgel verpackt in einem Dweller-Pfeilschiff, und so zählte das nicht wirklich.

First Officer Dicogra lächelte, krauste die Nase und sagte anerkennend: »Nicht schlecht. Dass Sie ein ziemlich harter Bursche sind, steht schon im Physiobericht. Trotzdem, wir werden fast zwanzig Stunden mit dieser Beschleunigung fliegen, nur mit ein paar Minuten Schwerelosigkeit genau auf halbem Weg, also, müssen Sie nochmal auf den Pütt? Sie wissen schon, die Toilette?«

»Nein, alles klar.«

Sie deutete auf seine Leistengegend. Eine Wölbung wie von einem harten Suspensorium war die einzige Stelle seines Körpers, wo der graue, zentimeterdicke Druckanzug nicht fest an der Haut anlag. »Irgendwelche Aufhängungen erforderlich?«, fragte sie lächelnd.

»Nein danke.«

»Ein Mittel zum Schlafen?«

»Nicht unbedingt.«

Der Captain des Schiffes war eine Whule, Angehörige einer Spezies, die Fassin immer wie eine Kreuzung zwischen einer grauen Riesenfledermaus und einer überdimensionierten Gottesanbeterin vorkam. Sie begrüßte Fassin kurz über einen Bildschirm, ohne die Brücke zu verlassen. Anschließend wurde er von First Officer Dicogra und einem zerbrechlich aussehenden, aber sehr geschickten Whule-Matrosen, der für menschliche Nasen nach Mandeln roch, auf eine schräge Liege mit steilen Seitenwänden in einer kardanisch aufgehängten Kugelgondel verfrachtet. Der Whule-Matrose hievte sich mit knatternden Flügelmembranen aus der Gondel, und Dicogra machte es sich auf der zweiten Liege bequem. Ihre Vorbereitungen für einen Tag bei fünf Ge bestanden darin, dass sie ihre Mütze in ein Fach warf und die Uniform unter sich glatt zog.

Das Schiff hob langsam ab, und Fassin beobachtete auf dem Bildschirm an der gewölbten Wand vor sich, wie der Hafen mit seinem kreisrunden Landeplatz zurückblieb und die kleinen Gestalten den Kopf hoben, als sich das Navarchieschiff entfernte. Er hatte den Eindruck, Zab mit einem winzigen Ärmchen winken zu sehen, doch dann schob sich die Wolkendecke dazwischen, das Bild kippte und drehte sich, das Schiff beschleunigte – die Kardangondel sorgte dafür, dass er und Dicogra aufrecht blieben – und strebte ins All hinaus.


Hatte da jemand geschrien? Er riss die Augen auf. Seine Nackenhaare sträubten sich, sein Mund war trocken. Es war immer noch dunkel. Er war in der Ruine des Alien-Schiffs und lehnte mit dem Rücken an der Wand des schwach erleuchteten Fliegers. taince war zum Riss gegangen, um zu sehen, ob ihr Funkgerät Empfang hatte. verdammt, das waren tatsächlich Schreie, irgendwo hinter ihm. oder vielleicht Hilferufe? Er kam auf die Beine, schaute sich um. Nicht viel zu sehen; nur schwache Umrisse der bizarren, von Zerstörung und Zusammenbruch geformten Landschaft im Innern des Schiffswracks, schiefe Decks und Schotts und die gewaltigen Streifen aus irgendeinem unbekannten Material, die von der fernen, im Dunkeln nicht zu erkennenden Decke hingen. Die Schreie kamen aus dem Innern des Wracks, aus der Richtung, in die Saluus und Ilen gegangen waren. Er starrte in die Finsternis und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Jähe Stille, dann vielleicht eine Stimme – Sals Stimme, aber die Worte waren zu undeutlich. Hilfe? Taince? Fass?

Was soll ich tun? Ihm entgegenlaufen? Auf Taince warten? Nach einer zweiten Taschenlampe, einer zweiten Waffe suchen, falls es die überhaupt gibt?

Ein Klirren hinter ihm. Er fuhr herum.

Taince sprang mit einem Riesensatz von einer Stufe in der eingedrückten Wand zu Boden. »Alles klar?«

»Ja, aber …«

»Komm mit! Aber bleib ein paar Schritte hinter mir. Sag Bescheid, wenn du nicht mithalten kannst.« Sie lief langsam, mit einer Hand die Waffe in die Höhe haltend, an ihm vorbei. An das grimmige Lächeln auf ihrem Gesicht sollte sich Fassin erst später erinnern.

Sie rannten den flachen Hang hinauf und tiefer in das Schiff hinein. Der Boden unter ihren Füßen wurde immer welliger, bis sie schließlich von Grat zu Grat springen mussten. Endlich ließen sie sich durch einen Riss nach unten fallen, liefen über eine leicht ansteigende, halb elastische Oberfläche, die sich anfühlte wie Eisen mit dünner Gummiauflage, und flankten über dicke Trossen, die in Hüfthöhe wie ein unregelmäßiges Netz über den ganzen Raum gespannt waren. Fassin folgte Taince, so gut er konnte. Die Leuchtstreifen an ihrem Overall wiesen ihm den Weg. Obwohl sie in einer Hand die Pistole hielt, lief und sprang sie fließender als er, der beide Arme frei hatte. Der Boden stieg steiler an, dann ging es abwärts.

»Taince! Fassin!«, rief Sal irgendwo von vorne.

»Kopf runter!«, brüllte Taince, die plötzlich wie ein Taschenmesser zusammengeklappt war.

Fassin reagierte gerade noch rechtzeitig; nur sein Haar streifte die harte tintenschwarze Kante über sich. Sie wurden langsamer, Taince tastete sich mit einer Hand an der dunklen Decke entlang und schlüpfte seitlich durch einen schmalen Spalt.

Fassin folgte ihr. Die kalten, seelenlosen Wände zu beiden Seiten schienen ihn zu erdrücken.

Von vorne fiel schwaches Licht auf den verwirrend schrägen Boden und das Durcheinander aus Trägern und Röhren, das die Decke bildete. Spitze Zacken wie Stalaktiten und Stalagmiten, dünne herabhängende Kabel, eine rote Masse, die nach unten explodiert und in Form einer riesigen umgedrehten Blüte erstarrt war. Und da, auf einem schmalen Sims vor einem gezackten, etwa dreieckigen Loch im Boden von vielleicht zwei Metern Durchmesser, im Schein der Reflektoren auf seiner Jacke in die Tiefe starrend, kauerte Sal.

Nun blickte er auf. »Len!«, rief er. »Sie ist hinuntergestürzt.«

»Sal«, fragte Taince scharf. »Ist der Untergrund stabil?«

Er schien verwirrt, verängstigt. »Denke schon.«

Taince testete den Boden mit einem Fuß, dann kniete sie an einer Spitze des Dreiecks nieder. Fassin bedeutete sie zurückzubleiben. Sie legte sich auf den Bauch und steckte den Kopf in das Loch. Dann murmelte sie etwas von verstärkten Kanten und schickte Fassin mit einer Handbewegung an die Seite gegenüber von Saluus. Dort war mehr Platz. Er streckte sich auf dem Boden aus und schaute in die Tiefe.

Unter dem Dreieck öffnete sich eine dunkle Höhle. Ganz schwach blinkten scharfe Kanten herauf; stufige Gebilde, die wie riesige Kühlflossen aussahen. Fassin schwirrte der Kopf, als ihm aufging, wie viel von dem Schiffswrack sich noch unter ihnen befand. Er versuchte sich zu erinnern, wie weit der Flieger vor dem Eintritt in das Riesenschiff vom Wüstenboden aufgestiegen war. wie hoch waren sie gewesen? Hundert Meter? Etwas weniger? Und auf dem Weg vom Flieger hierher waren sie fast nur aufwärts gegangen.

Ilen lag etwa sechs Meter unter ihm. Sie hatte sich an zwei armdicken Vorsprüngen verfangen, die wie nach oben gewölbte Stoßzähne aus dem nächsten unversehrten Schott ragten. Sie lag auf dem Bauch, ihr Kopf, ein Bein und ein Arm hingen über dem Abgrund. Die Leuchtstreifen an ihren Ärmeln spendeten ein fahles, grünlich blaues Licht. Die abgebrochenen Enden der beiden Stoßzahngebilde endeten nur wenige Zentimeter neben ihrem Körper. Auf einer Seite ragten in Abständen von acht bis neun Metern weitere Stoßzahnpaare wie Knochenfinger aus dem Schott ins Leere. Der Abgrund unter ihr war schätzungsweise fünfzig oder sechzig Meter tief, und unten warteten die Kühlflossen mit ihren scharfen Kanten.

Der menschliche Verstand hatte sich erst an Welten wie ’glantine gewöhnen müssen, wo die Schwerkraft geringer war und man nach einem Sturz, bei dem man sich auf der Erde beide Beine gebrochen hätte, noch unversehrt aufstehen konnte. Aber wenn die Fallhöhe und damit die Beschleunigung groß genug war, blieb ein Körper nach einem Sturz aus sechzig Metern hier ebenso schwer verletzt oder gar tot liegen wie nach einem Dreißig-Meter-Sturz auf der Erde.

»Haben wir ein Seil?«, fragte Taince.

Sal schüttelte den Kopf. »Oh Gott, was für eine verdammte Scheiße. Nein. Doch, ja, aber ich habe es dort hinten gelassen.« Er wies mit einem Nicken zum Schiffsinneren hin. Ein Schauer überlief ihn, er schlang die Arme um seinen Körper, dann schlug er den Kragen seiner Jacke hoch, als wäre ihm kalt. »K-konnte den Knoten nicht wieder aufkriegen.«

»Verdammt! Sie bewegt sich«, sagte Taince, steckte den Kopf wieder in das Loch und rief: »Ilen! Ilen, du musst still liegen! Kannst du mich hören? Nicht bewegen! Sag nur, ob du mich hören kannst!«

Ilen drehte schwach den Kopf, der Arm, der über den Abgrund hing, zitterte ein wenig. Sie schien sich auf den Rücken drehen zu wollen, rutschte aber nur noch näher an den Abgrund heran.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, stöhnte Sal. Seine Stimme klang schrill und gepresst. »Sie war hinter mir. Ich dachte, es ist alles okay. Es muss eine Luke gewesen sein. Ich habe nichts gesehen, bin wohl drübergestiegen. vielleicht lag sie auch nur lose auf, und Len hat sie durchgetreten. Sie hat nach mir gerufen. Ich sah sie noch schwanken. Sie wollte mit einer Hand das Gleichgewicht halten, dann hat sie aufgeschrien und ist hineingestürzt. Ich war zu weit weg, konnte sie nicht mehr erreichen. Wir haben nichts weiter gemacht und nicht einmal etwas gefunden! Nur Schrott! Verdammte Scheiße! Es war doch alles in Ordnung! Sie war dicht hinter mir!«

»Still jetzt«, sagte Taince. Sal lehnte sich zurück und wischte sich den Mund ab. Er zitterte. taince steckte die Pistole wieder ein, klebte sich einen Leuchtstreifen auf die Stirn, hielt sich mit beiden Händen an den Seiten des Dreiecks fest und steckte den Kopf tiefer in das Loch als zuvor. Dann stemmte sie sich noch einmal hoch und schaute zu Fassin zurück. »Halt mich an den Füßen fest.«

Fassin gehorchte. Taince ließ sich bis über die Schultern in das Loch sinken, mahnte noch einmal: »Ilen! Du musst ganz still liegen!«, und stemmte sich kurz wieder hoch. Der Leuchtstreifen auf ihrer Stirn brannte wie ein unheimliches Auge. »Da unten gibt es nichts, woran man sich festhalten könnte«, sagte sie. »Sie rutscht hin und her. Hat sich wohl den Kopf angeschlagen. Sie wird weiter abstürzen.« Sie sah Sal an. »Sal, wie weit ist es bis zu diesem Seil? Zeitangabe!«

»Scheiße! Keine Ahnung! Zehn, fünfzehn Minuten vielleicht?«

Taince schaute wieder in das Loch. »Verdammt«, sagte sie leise. »Ilen!«, rief sie dann. »Du musst still liegen!« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich rufe, bewegt sie sich erst recht«, sagte sie wie zu sich selbst. Sie holte tief Luft und wandte sich an Saluus und Fassin. »Okay. Wir machen Folgendes«, sagte sie. »Wir holen sie mit einer Menschenkette heraus. wir haben das schon geübt. Es ist machbar.«

»Gut«, sagte Sal und richtete sich auf. Im trüben Licht war sein Gesicht totenbleich. »Was müssen wir tun?«

»Einer hält sich oben fest, ein Zweiter klettert an seinem Körper hinunter und hängt sich an seine Füße, der Letzte klettert an beiden vorbei und holt Ilen. Das mache ich.«

Sal riss erschrocken die Augen auf. »Aber ganz oben …«

»Bist du. Du bist der Kräftigste von uns. auf der Erde wäre es nicht möglich; hier schon«, erklärte Taince. Sie rutschte zu Sal hinüber und griff nach seinem Rucksack. »Ich habe schon Ketten mit vier Gliedern gesehen. Ihr zwei seid doch ganz gut in Form. Fass, du bist in der Mitte. Der Oberste bindet sich zusätzlich mit den Gurten hier fest«, sagte sie mit einem Blick auf Sal. Dann zog sie ein Messer aus der Tasche und stieß es in einen der Schulterriemen.

Sal kniete zitternd am Rand des Loches nieder. »Verdammter Mist, Taince«, sagte er, »natürlich will jeder hier, dass sie gerettet wird, aber auf diese Weise bringen wir uns womöglich alle um. Scheiße, verdammte Scheiße. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Ich kann das einfach nicht glauben. So etwas kann nicht passieren, verdammt, das kann doch gar nicht sein!« Zitternd setzte er sich wieder auf die Fersen zurück und betrachtete seine Hände, drehte sie hin und her, starrte sie an, als wären sie ihm fremd. »Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt halten kann«, sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Du schaffst das schon«, sagte Taince, die immer noch an den Gurten herumsäbelte.

»Verdammt, wir werden alle sterben«, sagte Sal. »Hölle und Teufel.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich will das nicht. Nein. Nein

»Es wird schon gut gehen«, sagte Taince und verknotete die abgeschnittenen Riemen rasch mit denen, die noch am Rucksack befestigt waren.

Ich bin ganz ruhig, dachte Fassin. Vermutlich stehe ich unter Schock, aber ich bin vollkommen ruhig. Entweder sind wir bald alle tot, oder wir kommen mit einem blauen Auge davon, und dann hält unsere Freundschaft für den Rest unseres langen Lebens, jedenfalls bin ich überhaupt nicht aufgeregt. Wir müssen nehmen, was kommt, und solange wir unser Bestes tun und keiner die anderen im Stich lässt, haben wir uns nichts vorzuwerfen. Er schaute auf seine eigenen Hände nieder und sah, dass sie zitterten. Aber das ließ sich beherrschen. Er beugte und streckte die Finger. Er fühlte sich stark. Er würde tun, was in seinen Kräften stand, und wenn das nicht ausreichte, war es nicht seine Schuld.

Sal sprang auf und geriet dabei gefährlich nahe an den Rand des Lochs. »Wir haben noch ein weiteres Seil«, sagte er plötzlich. Er war immer noch sehr blass, aber jetzt war sein Gesicht fast ausdruckslos. Er drängte sich an Taince vorbei.

Fassin sah ihn an. Er hatte keine Ahnung, worum es ging.

»Was ist?«, fragte Taince. Sie rüttelte an einem quadratischen Stalagmiten, der aus dem Boden ragte, und band die Rucksackriemen daran fest.

»Ein Seil«, sagte Sal, deutete in die Richtung, wo der Flieger stand, und machte einen Schritt nach rückwärts. »In der Maschine ist noch ein Seil. Ich hole es. Ich weiß, wo es ist.« Er ging weiter.

»Sal!«, schrie Taince. »So viel Zeit haben wir nicht!«

»Es wird schon reichen. Ich gehe.« Sal blieb nicht stehen.

»Verdammt, Sal, du läufst jetzt nicht weg«, sagte Taince. Ihre Stimme war leiser und tiefer geworden. Sal zögerte kurz, doch dann schüttelte er den Kopf und rannte los.

Taince sprang auf und wollte ihn festhalten, aber er war zu schnell. Er sprang über einen Stalagmiten und rannte auf den schmalen Spalt zu, durch den Fassin und Taince gekommen waren. Taince beugte ein Knie und zog die Pistole. »Bleib stehen, du verdammter Feigling!«

Vielleicht, dachte Fassin, hätte Taince eine halbe Sekunde Zeit gehabt, um zu schießen, doch als Sal losspurtete, sich in den Spalt zwängte und verschwand, senkte sie die Waffe und steckte sie ein. Dann sah sie Fassin an. Jetzt war ihr Blick leer. »Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte sie und schlüpfte rasch aus der Kombination. Fassin glaubte im ersten Moment, sie sei darunter nackt, aber sie trug einen einteiligen, fleischfarbenen Body. Sie fügte Hose und Jacke der Kombination wieder zusammen und zog daran, um zu sehen, ob die Verbindung hielt. »Gut«, sagte sie. »Das bindest du dir jetzt um den Knöchel.«

Die Riemen am Rucksack gaben nicht nach. Fassin band sie sich um die Handgelenke, traute ihnen aber nicht zu, sein eigenes und Tainces Gewicht zu tragen und hielt sich zunächst mit den Händen an der Kante fest. Auch der Knoten, mit dem er Tainces Hosen an seinem Knöchel befestigt hatte, löste sich nicht. taince konnte ohne Schwierigkeiten zuerst an ihm und dann an ihrer Kombination hinab klettern. Fassin drehte den Kopf so weit wie möglich nach hinten, um sie beobachten und auch Ilen im Auge behalten zu können, so als wäre sie in Sicherheit, solange sie in seinem Blickfeld war. Doch dann bebte die Erde, und das Schiff erzitterte. Der Stoß war nicht allzu stark, aber Fassin brach der kalte Schweiß aus, und Hände, Handflächen und Finger rutschten von der Kante, bis er wirklich nur noch an den Riemen hing. unter ihm, unter Taince und immer noch unerreichbar bewegte sich Ilen ein letztes Mal, bekam das Übergewicht und stürzte in die Dunkelheit hinab.

Taince wollte nach ihr greifen. Fassin spürte, wie ein Ruck durch seinen Knöchel ging. Keuchend und zischend streckte sie sich, um das Mädchen zu fassen, aber vergeblich. Ilen entschwebte langsam in die Schatten, ihr Haar und ihre Kleider flackerten wie helles kaltes Feuer.

Sie war wohl immer noch nicht richtig bei Bewusstsein, denn sie schrie nicht. Die beiden hörten nur, wie ihr Körper endlose Sekunden später tief unten auf den Kühlrippen aufschlug. Vielleicht spürten sie auch den Schlag, der durch das Schiff ging.

Fassin hatte die Augen geschlossen. Sal hat Recht. Das kann nicht wirklich passieren. Er versuchte, den Rand des Loches wieder mit den Händen zu fassen, um die Last von den Riemen zu nehmen.

Taince hing eine Weile reglos unter ihm. »Ich hab’ sie verloren«, sagte sie leise, und es klang so verzweifelt, dass Fassin plötzlich Angst bekam, sie könnte loslassen und sich hinter Ilen in die Tiefe stürzen. Doch dann sagte sie nur: »Ich komme jetzt rauf. Halt dich fest.«

Sie kletterte an ihm nach oben und half ihm aus dem Loch. Ilens Körper war nicht zu sehen. Minutenlang saßen sie schwer atmend nebeneinander, mit dem Rücken an einen der Stalagmiten gelehnt, fast so wie vorher im Flieger. taince knüpfte ihre Kombination auf und zog sie wieder an. Dann nahm sie die Pistole aus der Tasche und stand auf.

Fassin sah die Waffe an. »Was hast du vor?«, fragte er.

Sie schaute auf ihn hinab. »Keine Sorge, ich werde den Dreckskerl nicht erschießen.« Ihre Stimme klang jetzt ruhig. Sie stieß mit der Spitze ihres Stiefels an seinen Fuß. »Wir sollten zurückgehen.«

Er stand auf. Seine Knie zitterten ein wenig, und sie packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Wir haben unser Bestes gegeben, Fass«, sagte sie. »Alle beide. Um Ilen können wir später trauern. Jetzt müssen wir zum Flieger zurück. Wir müssen Sal finden, müssen sehen, ob wir Funkkontakt bekommen, und dann müssen wir schleunigst von hier weg und Anzeige erstatten.«

Sie wandten sich von dem Loch ab.

»Warum steckst du die Pistole nicht wieder ein?«, fragte Fassin.

»Wegen Sal«, sagte Taince. »Er ist noch nie so gedemütigt worden. So viel ich weiß, hat er noch nie völlig versagt. trauer und Schuldgefühle, das ginge jedem an die Nieren.« Sie atmete mehrmals rasch ein und hielt dann die Luft an. Wohl eine Atemübung zur Beruhigung. »Es könnte sein, dass er glaubt … wenn niemand je erfährt, was hier passiert ist …« Sie zuckte die Achseln. »Er hat eine Waffe. Ich kann nicht ausschließen, dass er uns angreift.«

Fassin sah sie ungläubig an. »Meinst du? Ernsthaft?«

Taince nickte. »Ich kenne ihn«, sagte sie. »Und wundere dich nicht, wenn der Flieger nicht mehr da ist.«

Der Flieger war nicht mehr da.

Sie gingen zu dem Riss im Rumpf. Der Flieger stand draußen im trüben Licht der falschen Dämmerung. Ein breiter Streifen von Nasqueron wurde bereits von der Sonne beschienen. Sal saß vor der Maschine und schaute über die kalte Wüste. Bevor sie zu ihm gingen, schaltete Taince ihr Funkgerät noch einmal ein und stellte fest, dass sie wieder Empfang hatte. Sie rief die nächste Navarchie-Einheit und setzte einen kurzen Bericht ab. Dann stapften sie durch den Sand zum Flieger. Die Kopfhörer waren immer noch tot.

Als sie näher kamen, drehte sich Saluus um. »Ist sie abgestürzt?« , fragte er.

»Wir hätten sie fast erwischt«, sagte Taince. »Es war ganz knapp.« Sie hatte die Pistole immer noch im Anschlag. Sal hielt sich eine Hand vor die Augen. Mit der anderen umklammerte er ein dünnes, verbogenes und halb geschmolzenes Metallstück. Als er die Hand wieder von den Augen nahm, drehte er dieses Metall mit beiden Händen unaufhörlich hin und her. Seine Waffe lag neben seiner Jacke auf dem Rücksitz. »Ich habe den Stützpunkt erreicht«, sagte Taince. »Der Alarm ist aufgehoben. Wir sollen bleiben, wo wir sind. Ein Schiff ist unterwegs.« Sie stieg in die Maschine und setzte sich auf den Platz hinter dem Piloten.

»Wir hätten sie niemals retten können, tain«, behauptete Sal. »Fass«, wiederholte er, als der junge Mann vorne einstieg und sich neben ihn setzte. »Wir hätten sie wirklich nicht retten können. Wir wären nur selbst dabei draufgegangen.«

»Hast du das Seil gefunden?«, fragte Fassin. Im Geiste nahm er Sal das verbogene Metallstück ab, mit dem er immer noch spielte, und stach ihm damit ein Auge aus.

Sal schüttelte nur den Kopf. Er schien noch nicht wieder klar denken zu können. »Ich bin mit dem Fuß umgeknickt«, sagte er. »Vielleicht habe ich mir den Knöchel verstaucht. Hätte es fast nicht mehr bis zurück geschafft. Ich dachte, ich könnte die Maschine durch das Zeug, das von der Decke hing, und über die Trümmer hinweg dahin zurückfliegen, wo das Unglück passiert war, aber diese Bahnen waren solider, als sie aussahen; also kam ich hier heraus und wollte versuchen, einen Funkspruch abzusetzen.« Er hörte nicht auf, das Metallstück in den Fingern zu drehen.

»Was ist das?«, fragte Fassin nach einer Weile.

Sal senkte den Blick. zuckte die Achseln: »Ein Teil vom Schiff, das ich gefunden habe.«

Taince griff ihm von hinten über die Schulter, entriss ihm das Ding und warf es in den Sand.

Dann warteten sie schweigend, bis das Suborb der Navarchie auftauchte. Als Taince ausstieg und ihm entgegenging, verließ Sal den Flieger, hinkte zu dem Stück Metall und hob es wieder auf.

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