FÜNF Reisebedingungen

»Wohin?«

»Wohin du willst?«

»Hoestruem, in der Nähe von Aopoleyin«, sagte Fassin.

»Wir wissen, wo Hoestruem ist.«

»Wir sind nämlich nicht dumm.«

»Ich jedenfalls nicht. Janath vielleicht schon.«

»Ich habe mein Minimalbudget an Natürlicher Dummheit durch den Zusammenschluss mit dir bereits vollständig ausgeschöpft.«

»Verzeih meinem Partner. Wir wollten uns nur vergewissern. Der Schock über deine unsägliche Fremdheit ist einfach zu groß. Du willst also nach Hoestruem.«

»Ja«, sagte Fassin.

»Und Zosso hat dich geschickt.«

»Macht wohl immer noch Terror wegen dieses verdammten Schals.«

»Als Code aber ganz nützlich.«

»Hoestruem.«

»Hoestruem.«

»Machbar.«

»Schon, aber es geht mehr um das Warum als um das Wie.«

»Das Wie ist einfach.«

»Das Wie ist einfach. Das Problem ist eindeutig das Warum.«

»Wie in ›Warum der Aufwand?‹«

»Wie in ›Warum sollten wir?‹«

»Sollten wir denn nun?«

»Eher rhetorisch.«

»Muss gemeinsam entschieden werden.«

»Unbedingt.«

»Zosso bittet darum.«

»Das tut Zosso.«

»Tun wir ihm den Gefallen?«

»Wir könnten ihm auch einfach den Flossenschal zurückgeben.«

»Gibt es den Schal überhaupt?«

»Einen echten Schal?«

»Ja.«

»Wenn du so fragst …«

»Egal.«

»Tut nichts zur Sache.«

»Immer gefährlich, zu lange an einem Ort zu bleiben.«

»Zosso. Reiseanfrage. Für diesen menschlichen Herrn in seinem Gasschiff-Schutzanzug.«

»Ähem«, räusperte sich Y’sul.

»Und seinen Freund.«

»Seinen Freund nicht zu vergessen.«

»Freund und Mentor«, ergänzte Y’sul.

»Ja, das auch.«

»Tun wir’s, oder tun wir’s nicht?«

»Ist die Frage.«

»Tun wir’s tun oder lassen wir’s nicht?«

»Ja. Nein. wählen Sie eine der Möglichkeiten.«

»Richtig.«

»Genau.«

»Lasst euch ruhig Zeit«, murmelte Y’sul.

Sie waren in einer Rotabar in Eponia, in einer kugelförmigen Klebestadt in den kalten Chaoswüsten der Nördlichen Polarregion. Der geliehene Düsenclipper hatte sich redlich bemüht, sich wie ein Suborb zu verhalten. Bei einer Serie von kleinen Hüpfern über die Atmosphäre wäre er fast ins All gesprungen, bevor er endlich langsamer wurde, tiefer sank und neben der dünnen, wolkenähnlichen Struktur zur Ruhe kam. Die große Stadt war nur fünfzehntausend Kilometer vom Nordpol des Riesenplaneten entfernt und umfasste hunderte von Kubikkilometern kalten, abgestandenen Gases. Sie hatten Quercer & Janath in der Rotabar mit dem Namen Das Feuchte Gähnen aufgestöbert. Valseir hatte sich geweigert, aber Y’sul und Fassin hatten sich in eine Stauchgondel gezwängt und sich mit Schwindel erregender Beschleunigung ins Separee der beiden Expeditionscaptains schießen lassen.

Fassin war noch nie einem Expeditionscaptain begegnet. Er hatte zwar gehört, dass es solche Leute gab, und wusste, dass sie sich fast immer im Äquatorialband aufhielten, aber sie waren scheu und nicht leicht zu fassen. In der Vergangenheit hatte er oft versucht, sich mit einem von ihnen zu treffen, aber es war immer irgendetwas dazwischengekommen, oft erst im letzten Moment.

Die Rotabar befand sich in rasender Fahrt, sie drehte Schleifen und Kreise und rotierte wild um sich selbst, so dass die Stadt hinter den Wänden der Diamantblase vorbeirauschte, als wäre sie nur dazu da, die nach draußen schauenden Gäste zu verwirren. Die Wirkung war in dieser Stärke beabsichtigt. Dweller hatten einen überragenden Gleichgewichtssinn, es war nicht leicht, sie schwindlig zu machen. Wie ein Irrer gedreht zu werden, war für einen Dweller ein Heidenspaß, weil sich seine Umgebung dabei so aufregend verfremdete. Wenn man dabei Drogen konsumierte, wurde das Vergnügen noch größer. Dennoch hatte Fassin den Eindruck, als sei Y’sul ein wenig grau um die Kiemen, als sie sich endlich durch die kaum besuchte Rotabar zum Separee der Expeditionscaptains vorgearbeitet hatten.

»Alles klar?«

»Alles perfekt.«

»Weckt das nicht Erinnerungen an den Flug mit der Poaflias durch die Sturmwand?

»Überhaupt … Nun ja, ein bisschen. Rülps. vielleicht.«

Die Expeditionscaptains Quercer & Janath traten als eine Person auf. Sie sahen aus wie ein großer Dweller etwa im Erwachsenenstadium, aber in jeder der beiden Scheiben steckte ein eigenes Individuum. Fassin hatte schon von Vollzwillings-Dwellern gehört, war aber einem solchen Paar noch nie begegnet. Gewöhnlich befand sich das Gehirn eines Dwellers gleich neben der Zentralachse im breiten Mittelteil einer Scheibe, zumeist links. Rechtshirn-Dweller machten etwa fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, doch das war von Planet zu Planet verschieden. Nur ausnehmend selten entwickelten sich in einem Wesen zwei Gehirne, und dann war etwas wie Quercer & Janath das Ergebnis. Der Doppel-Dweller trug eine glänzende Ganzkörperhülle mit durchsichtigen Fenstern und Gittereinsätzen über den Sinnesorganen an den Naben und einem getönten durchsichtigen Feld über den Sinnesstreifen am äußeren Rand des Flossensaums.

»Viel werdet ihr nicht sehen können.«

»Falls wir euch überhaupt mitnehmen.«

»Ja, falls wir euch an Bord lassen.«

»Ihr braucht einen Platz. Der ist keineswegs gesichert.«

»Wahrhaftig nicht. Entscheidung steht noch aus.«

»In der Schwebe.«

»Unbedingt. aber.«

»Auf jeden Fall.«

»Werdet ihr nicht viel sehen.«

»Das wird keine Besichtigungsreise.«

»Auch keine Kreuzfahrt.«

»Weder noch.«

»Und ihr müsst alles abschalten.«

»Alle nicht-biologischen Systeme.«

»Mindestens.«

»Wenn überhaupt.«

»Großes Wenn.«

»Wir euch mitnehmen.«

»Ich denke, wir haben verstanden«, sagte Fassin.

»Gut.«

»Ausgezeichnet.«

»Wann können wir mit einer Entscheidung rechnen?«, fragte Y’sul. Er hatte den Sinnesstreifen seines rechten Flossensaums nach innen gedreht, so dass er nur mit einer Seite sehen konnte. Die gleiche Geste, als kniffe ein betrunkener Mensch ein Auge zu.

»Geschafft. Ich hab’ mich entschieden. Du auch?«

»Ja. Ich auch.«

»Ist es ein Ja?«

»Es ist ein Ja.«

»Ihr nehmt uns mit?«, fragte Fassin.

»Bist du taub? Ja.«

»Eindeutig.«

»Danke«, sagte Fassin.

»Und wo geht es jetzt hin?«, knurrte Y’sul gereizt.

»Aha!«

»Ha!«

»Wartet.«

»Mal ab.«


Das Schiff war beeindruckend. Ein blanker, ebenholzschwarzer Nagel, dreihundert Meter lang, umringt von Triebwerksgondeln, die sich wie fette Samenkörner aneinander reihten. Es lag in einem öffentlichen Hangar unter der Klebestadt, in einem halbkugelförmigen Raum von einem Kilometer Durchmesser, der von den hexagonalen Seitenflächen angrenzender kleinerer Blasenräume begrenzt wurde.

Hier wollte sich Valseir von den beiden verabschieden. Die Reise sollte – in den Worten der beiden Expeditionscaptains – bei hoher Beschleunigung mit einer drehintensiven Serie von rasanten fraktalen Spiralmanövern beginnen, nichts für Leute mit schwachen Nerven. Der greise Dweller hatte sich dieser Strapaze unter Berufung auf sein hohes Alter entzogen.

Y’sul seufzte, als er hörte, was sie erwartete. »Schon wieder eine Karussellfahrt?«

»Grüße Leisicrofe von mir«, bat Valseir an Fassin gewandt. »Das Bildblatt hast du doch hoffentlich noch?«

Fassin nahm das Foto von Himmel und Wolken aus dem Gepäckfach seines Gasschiffchens und zeigte es dem Alten. »Ich werde deine Grüße bestellen.«

»Bitte tu das. Und viel Glück.«

»Dir auch. wo finde ich dich, wenn ich zurückkomme?«

»Überlass das nur mir. wenn ich gerade anderweitig beschäftigt bin, versuche es da, wo wir Zosso getroffen haben. Oder vielleicht bei einer SturmSegel-Regatta.«

»Gut«, sagte Y’sul. »Aber bring beim nächsten Mal lieber keinen von deinen Freunden mit.


Das schwarze Nagelschiff hieß Velpin. Es schoss aus der riesigen Wolkenstadt wie eine Nadel aus einem Wasserfall aus gefrorenem Schaum und verschwand im eisigen Gasstrom, der unaufhörlich um den fernen Pol des Planeten rauschte. Nun begann ein grotesker Flug. Das Schiff drehte Spiralen und Schleifen, rotierte um die eigene Achse, stieg, fiel, und stieg abermals.

Eingeschlossen in einem Raum im Zentrum, der zugleich als Fahrgastkabine und Frachtabteil diente, und von Gurten gehalten, spürten Fassin und Y’sul, wie sich das Schiff in immer kleineren Spiralen nach oben schraubte und sich mit winzigen Korkenzieherbewegungen einfädelte in größere Schlingen, die ihrerseits Teil von noch größeren Schlingen mit noch engeren Spiralen waren.

»Beschissene Höllenfahrt!«, bemerkte Y’sul.

An der Rückwand der Kabine befand sich ein defekter Bildschirm, auf dem es heftig schneite. Er machte surrende Geräusche, und gelegentlich rasten Bilder von gestreiften Wolkenfetzen, verzerrte Knäuel von Licht und Schatten vorüber. Fassin konnte sehen und hören, aber beides nur schwach. Alle Systeme im Gasschiff waren abgeschaltet. von Gurten aufrecht gehalten, konnte er durch ein Feld vor seinem Gesicht schauen, das er transparent gemacht hatte – er hatte auch einen Teil des Schockgels abfließen lassen, um besser sehen zu können. Die Geräusche, die in das kleine Pfeilschiff drangen, waren gedämpft und schrill zugleich. y’sul sprach mit quiekender, kaum verständlicher Stimme.

»Hast du eine Ahnung, wozu diese Fraktalspiralen gut sein sollen?«, hatte Fassin gefragt, als sie beide gesichert waren und Quercer & Janath sich in ihren nur ein Abteil entfernten Kommandoraum begeben hatten.

»Vielleicht sind sie nur purer Unfug« , hatte Y’sul geantwortet.

Jetzt sah Fassin seinen Freund an. Der Dweller hatte beide Sinnesstreifen eingerollt.

Das Schiff beschleunigte hart und flog eine weite Kurve. Über den Schirm zuckten hektisch kreisende Sterne vor einem schwarzen Hintergrund, dann erlosch das Bild.

Die rasenden ineinander geschachtelten Spiralbewegungen lösten sich auf und wurden zu einer einzigen Drehung um die Längsachse, als würde die Velpin durch das Rohr einer riesigen Kanone gejagt.

Ein hoher singender Ton versetzte das ganze Schiff in Schwingungen, dann hatte es offenbar seine Reisegeschwindigkeit erreicht. Die Drehung wurde allmählich langsamer. Fassin sah, wie Y’sul seine Sinnesstreifen zögernd entrollte. Der Bildschirm zeigte minutenlang nur langsam kreisende Sterne. Dann wurde er abermals schwarz. Die Rotation beschleunigte sich noch einmal, bis Fassin den Druck durch das Schockgel hindurch im ganzen Körper spürte. Ich liege in meinem eigenen Sarg, dachte er. Natürlich. Jetzt entwickelte er auch noch einen Tunnelblick. Er sah alles wie durch einen Gewehrlauf, die Aussicht schrumpfte auf einen einzigen kleinen Punkt am anderen Ende. weit, weit entfernt, nur graue Finsternis jenseits der Finsternis zu beiden Seiten, so schaute er durch dieses endlose Rohr dem letzten klar definierten Ort entgegen, ihrem Ziel, das niemals näher kam.


Fassin erwachte. Das Schiff rotierte noch immer, aber die Geschwindigkeit ging wieder zurück. Seine Nase juckte, und er musste pinkeln, obwohl das gar nicht sein konnte, wenn Schockgel und Kiemenwasser ihre Pflicht taten. Er schlief wieder ein.


Taince Yarabokin erwachte. Einer der ersten Gedanken auf ihrem langsamen Weg ins volle Bewusstsein war, dass Saluus Kehar die für ihn aufgezeichnete Botschaft wahrscheinlich doch nicht erhalten hatte. Damit blieb ihr Zeit für weitere Änderungen, Neuaufzeichnungen und Verbesserungen, sie konnte sich noch länger auf dem Band sehen und hören und jedes Mal wieder in Tränen ausbrechen. Sie hatte noch Zeit, hatte noch die Chance, ihm persönlich gegenüberzutreten und ihn vielleicht zu töten, wenn sich die Möglichkeit böte und sie dann auch noch den Wunsch dazu spürte. (Sie wusste es nicht – manchmal wollte sie ihn tot sehen, manchmal wollte sie ihn am Leben lassen, um ihm zu sagen, sie hätte die Geschichte an die Medien gegeben, und sich an seiner Schande zu weiden, und manchmal sollte er nur erfahren, dass sie wusste, was sich in jener längst vergangenen Nacht in dem Schiffswrack in der Wüste abgespielt hatte.)

Sie nahm sich die Zeit und tastete benommen im virtuellen Raum nach Informationen. Noch ein halbes Jahr bis Ulubis. Von jetzt an würde sie bis zum Angriff wach bleiben. Sie war als eine der Ersten für die letzte Annäherungsphase geweckt worden, weil sie die örtlichen Gegebenheiten noch mit am besten kannte. Insgeheim hatte sie ihre Zweifel, dass sie allzu viel praktische Hilfe zu geben hätte, schließlich hatte sie Ulubis vor mehr als zweihundert Jahren zum letzten Mal gesehen, und es könnte sich, vorsichtig ausgedrückt, nach der Invasion doch deutlich verändert haben, aber die Flotte hatte niemand Besseren. Taince betrachtete sich in dieser Beziehung eher wie einen Talisman, ein kleines Symbol des Systems, um das sie kämpfen wollten. Wenn ihr unter anderem diese Überlegung den Platz in der Flotte verschafft hatte, so störte sie das nicht. Sie wusste, dass sie ein guter, tüchtiger und tapferer Soldat war und sich ihren Rang allein durch ihre Verdienste erworben hatte. Dass sie nun auf dem Weg war, um ihr Heimatsystem zu retten, war nur eine Zusatzprämie.

Die Flotte hatte sich seit dem Kampf mit den Beyonder-Rebellen auf halbem Wege weiter auseinander gezogen. Man setzte nun nicht mehr darauf, das gesamte Gewicht ihrer Artillerie auf einmal zum Einsatz zu bringen, sondern hatte ein Netz von vorgeschobenen Beobachtungsschiffen eingerichtet, das die Hauptflotte ausreichend lange vorher vor allen auftauchenden Schwierigkeiten warnen sollte. Taince hatte die letzten Jahre überwiegend zeitverlangsamt und schlafend in ihrer Kapsel verbracht, sich aber – seit die Vorhutschiffe eine gewisse Sicherheit boten – auch immer wieder Erholungs-und Entspannungsphasen außerhalb des Schockgels gegönnt. In der Rotationsschwerkraft hatte sie sich fast wie ein normaler Mensch gefühlt. wenn sie durch das Schiff ging, war ihr gerade diese Normalität fremd vorgekommen, sie war wie ein Alien in einem menschlichen Körper gewesen, unbeholfen, voller Staunen über Kleinigkeiten wie ihre Fingernägel oder die Härchen auf ihrem Arm. Begegnungen mit anderen Menschen, die ebenfalls nicht im Dienst waren, hatten sie anfangs verlegen gemacht. Die virtuelle, verdrahtete Existenz in der Kapsel – wo sie die Möglichkeit hatte, aus unermesslichen Daten-und Bedeutungssensorien zu schöpfen – war ihr viel reicher erschienen, und sie hatte sie so schmerzlich vermisst wie ein amputiertes Glied.

Wenn sie erst wieder voll bei Bewusstsein wäre, würde sich diese Erfahrung wiederholen. taince konnte nicht behaupten, dass sie sich darauf freute. Wenn sie auf zwei Beinen herumstolperte, wollte sie zurück in die Kapsel und ihre Vielfachsynchronität, doch wenn sie dort war, sehnte sie sich nach einem normalen, physischen Leben in einer Zeitgeschwindigkeit und einer Realität. Nach blauem Himmel und Sonnenschein, frischem Wind im Haar und grünem Gras und Blumen unter den bloßen Füßen.

Wie vor langer Zeit. Aber vielleicht kam das niemals wieder?

Während Taince noch realisierte, dass sie langsam geweckt wurde, ohne dass Alarme schrillten, in Übereinstimmung mit dem einprogrammierten, vorher vereinbarten Dienstplan und nicht wegen eines dringenden Notfalls, der jeden Moment das Ende bringen könnte, kam ihr ein weiterer Gedanke. Sie war noch nicht in den Tod entkommen, noch war nicht alles vorüber, noch mochten ihr unbekannte Katastrophen, unbekannte Ängste bevorstehen, bevor sie im Vergessen Frieden finden konnte.


»Hoestruem«, sagten Quercer & Janath.

»Wo?«, fragte Fassin.

»Was meinst du mit ›Wo?‹«

»Du bist mittendrin

Fassin war zu sich gekommen, sobald die Systeme des Gasschiffchens wieder eingeschaltet worden waren. Er war immer noch verwirrt und fühlte sich irgendwie schmutzig, ein Eindruck, der erst allmählich verschwand, als ihn das Schockgel wieder vollends einhüllte. Auch Y’sul war ziemlich benommen durch die Luft getaumelt, nachdem er sich aus den Anschnallgurten befreit hatte.

Jetzt schwebten sie vor dem Bildschirm in der Fahrgastkabine. Quercer & Janath, die immer noch ihre glänzenden Overalls trugen, hatten ihn mit einem Schlag eines Nabenarms wieder in Gang gesetzt. Fassin sah sich das Bild sehr genau an, aber es zeigte nur ein Sternenfeld, und er konnte nicht feststellen, in welche Richtung er schaute. Sicher nicht dahin, wo er es sonst gewöhnt war. Die Aussicht war ihm vollkommen fremd.

»Mittendrin?«, fragte er verdutzt und kam sich ziemlich töricht vor.

»Ja, mittendrin.«

Fassin schaute zu Y’sul, der immer noch ein wenig grau um den Flossensaum war.

Der Dweller zuckte nur die Achseln. »Tja«, sagte er. »Ich gebe mich geschlagen. wer, was oder wo zur Hölle ist Hoestruem?«

»Ein Wölker.«

»Ein Wölker ?«, wiederholte Fassin. Das musste ein Übersetzungsfehler oder einfach ein Missverständnis sein. wölker waren Cincturier: halb zivilisierte Wesen, Maschinen oder auch Technikmüll, noch fremder als die Beyonder, fernab von allem.

Y’sul schüttelte sich. »Meint ihr einen SchwingenWölker, einen BaumWölker, einen KlebeWölker oder …«

»Nein.«

»Nichts von alledem.«

»Einfach nur ein Wölker.«

»Aber …«, sagte Fassin.

»Dann eben Aopoleyin!«, rief Y’sul. »Fangen wir damit an. Ist das der Ort, wo wir gerade sind?«

»Ja.«

»Durchaus.«

»Irgendwie schon.«

»Kommt darauf an.«

»Jedenfalls der nächste Ort.«

»Das nächste System.«

»Wie?«, fragte Y’sul.

»Das Nächste was?« Auch Fassin verstand jetzt gar nichts mehr. Er sah sich das Sternenfeld genauer an. Irgendetwas stimmte damit nicht. Ganz und gar nicht. wie man es auch betrachtete, auch wenn man es auf den Kopf stellte, spiegelte oder rückwärts holografierte.

»Ich glaube, ich bin immer noch durcheinander«, sagte Y’sul langsam. »Was meinst du mit ›System‹?«

»Etwa vierunddreißig Kilojahre.«

»Sonnen-, nicht Gasriesensystem. Eventuelle Verwechslungen werden bedauert.«

»Vierunddreißig Kilojahre?«, wiederholte Fassin. Er hatte Angst, gleich wieder das Bewusstsein zu verlieren. »Du meinst wohl …« Die Stimme versagte ihm.

»Vierunddreißigtausend Standardlichtjahre. In etwa. Eventuelle Verwechslungen werden bedauert.«

»Das habe ich bereits gesagt.«

»Weiß schon. Andere Person, andere Verwechslung.«

Sie befanden sich in einem anderen System, einem anderen Sonnensystem, in einem ganz anderen Teil der Galaxis; wenn man ihnen die Wahrheit sagte, hatten sie Ulubis – das System und den Stern – vierunddreißigtausend Lichtjahre weit hinter sich gelassen. Es gab im Ulubis-System ein funktionierendes Portal, und es war durch ein Wurmloch mit diesem fernen Sternensystem verbunden, von dem weder Fassin noch Y’sul jemals gehört hatten.


Das Wölker-Wesen namens Hoestruem hatte einen Durchmesser von einem Lichtjahr. Wölker waren – je nachdem, mit wem man sprach – empfindungsfähig, halb empfindungsfähig, proto-empfindungsfähig, kaum empfindungsfähig oder nicht im Entferntesten empfindungsfähig – wobei die letzte extreme Ansicht im Allgemeinen nur von Parteien vertreten wurde, für die es von großem Interesse gewesen wäre, hätte sie der Wahrheit entsprochen, weil sie nämlich für große Gaswolken viele nützliche und einträgliche Verwendungen gefunden hätten. Doch nur unter der Voraussetzung, dass die Wolke nicht lebendig war. Wölker waren wohl eher als riesige Pflanzen mit verteilter Intelligenz denn als Tiere anzusehen, sie hatten von ihrer Zusammensetzung her große Ähnlichkeit mit den Wolken aus interstellarem Gas, in denen sie wohnten oder aus denen sie bestanden (der Unterschied war nicht von Belang).

Wölker gehörten zu den Cincturiern, jener Gruppe von Wesen, Spezies, Maschinen und intelligentem Schutt, die – im Allgemeinen – zwischen den Sternensystemen existierte und nicht eindeutig einer anderen Kategorie zuzuordnen war. (So gehörten sie nicht zu den Eklipta, im interstellaren Raum lebenden Kometariern, waren keine wandernden Exemplare der Braun-Zwerg-Gemeinschaften und auch keine wirklichen Exoten wie die nicht-baryonischen Penumbrae, die 13-D-Dimensionierten und die flussbewohnenden Quantarchen).

Valseirs Freund Leisicrofe widmete sich der Erforschung der Cincturier. Die Expedition, auf der er sich befand, führte ihn zu verschiedenen Angehörigen dieser Gattung – Wölkern, Segelschotern, Faslern, Schuftern und so weiter – überall in der Galaxis. Hoestruem hatte er aufgesucht, weil er einer der wenigen Wölker in der Nähe eines Wurmlochs war. Allerdings eines Wurmlochs beziehungsweise eines Portals, von dem weder die Merkatoria noch der Rest der selbst ernannten Zivilisierten Galaxis eine Ahnung hatte.

Der Stern Aopoleyin war nur ein Dutzend Lichtjahre entfernt. Der Wölker Hoestruem – er war viel größer als das ganze Sternensystem bis zu seinem äußersten Planeten – zog teilweise durch die äußeren Zonen des Systems, mit der Absicht (falls Absicht kein zu starkes Wort war) gemächlich zu einem weit entfernten Teil der großen Linse zu wandern. Die Velpin machte sich auf die Suche nach ihm.

»Wie lange waren wir eigentlich weg?«, erkundigte sich Fassin bei Quercer & Janath. Sie schwebten im Kontrollraum und sahen den Scannern zu, die schnatternd die Umgebung nach etwas absuchten, das Ähnlichkeit mit einem Schiff hätte. Die Velpin kam nur langsam voran. Dweller und Wölker hatten seit langem eine Vereinbarung, der zufolge die Schiffe der Dweller nur in sehr geringem Tempo durch einen Wölker fliegen durften. Wölker waren elastisch, aber ihre einzelnen Filamente, die feinen Bänder und Kanäle aus dünnem Gas, aus denen ihr Sensorium und ihr Nervensystem bestand, waren hochempfindlich, und ein Schiff von der Größe der Velpin musste sich langsam und vorsichtig zwischen den Fäden der Wölker-Substanz hindurchtasten, um keinen Schaden anzurichten. Die Velpin sendete einen Hagel von Signalen, die Leisicrofe immer wieder aufforderten, sich zu melden, aber Quercer & Janath hatten wenig Hoffnung, den Gesuchten damit zu erreichen. Diese Gelehrten waren bekannt dafür, dass sie ihre Funkgeräte einfach abschalteten.

Der Vollzwilling wirkte aufrichtig ratlos. Er schüttelte sich, dass die Falten des glänzenden Overalls raschelten. »Wie lange wollt ihr wo gewesen sein?«

»Wie lange waren wir bewusstlos?«, verdeutlichte Fassin.

»Ein paar Tage.«

»Und dann noch ein paar Tage mehr.«

»Im Ernst?«, fragte Fassin.

»Was heißt hier eigentlich ›wir‹?«, protestierte Y’sul. »Ich war nicht ohne Bewusstsein.«

»Da.«

»Siehst du?«

»Dein Freund ist anderer Meinung.«

»Ihr sagtet, ein paar Tage«, zitierte Fassin.

»Ein paar Tage?«, wiederholte Y’sul. »Ein paar Tage? Wir waren doch nicht bewusstlos, schon gar nicht ein paar Tage lang, nicht einmal einen einzigen Tag!« Er hielt inne. »Oder?«

»Der Vorgang dauert seine Zeit und erfordert viel Geduld«, sagte ein Zwilling. »Am besten verschläft man ihn. Keine Zerstreuung.«

»Womit hätten wir euch denn bei Laune halten sollen?«

»Es ist auch eine Frage der Sicherheit.«

»Natürlich.«

»Ich war nur ein wenig schläfrig!«, rief Y’sul. »Ich habe die Augen zugemacht, um nachzudenken, nur für einen Moment, nicht mehr!«

»Ungefähr sechsundzwanzig Tage.«

»Wir waren sechsundzwanzig Tage ohne Bewusstsein?«, fragte Fassin.

»Standardtage.«

»In etwa.«

»Was!«, donnerte Y’sul.»Heißt das, man hat uns absichtlich betäubt

»So könnte man es ausdrücken.«

»So könnte man es ausdrücken!« brüllte Y’sul. Er war außer sich.

»Wie gesagt.«

»Und was für eine Ausdrucksweise soll das sein, ihr elenden Piraten und Kidnapper?«

»Die Ausdrucksweise der reinen Wahrheit.«

»Heißt das, ihr habt uns unter Drogen gesetzt oder einfach k. o. geschlagen?« Y’sul schrie jetzt aus Leibeskräften.

»Ja. Ihr hättet euch sonst zu Tode gelangweilt.«

»Wie könnt ihr es wagen!«, kreischte Y’sul.

»Außerdem gehört es zu den Bedingungen für die Benützung der Röhre.«

»Die Reisebedingungen«, leierte die linke Seite von Quercer & Janath.

Die andere Seite des Vollzwillings pfiff anerkennend.

»Ach ja! Die Reisebedingungen; die sind immer gültig.«

»Ohne sie können wir nicht zu Diensten sein.«

»Ohne sie kommt niemand durch die Röhre.«

»Könnt … Was? … Ihr … Beding …!«, stammelte Y’sul.

Fassin gab ihm ein Zeichen und übernahm das Wort. »Ja richtig. wenn ihr erlaubt, würde ich euch gerne ein paar Fragen zu dieser Röhre … äh … dieser Art des Reisens stellen.

»Unbedingt.«

»Nur zu.«

»Aber überlege dir die Fragen gut; sonst könnten die Antworten blanker Unsinn sein.«

»… Eine Schande, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht …« Y’sul schwebte zu einer Reihe von Holotank-Scannern mit mittlerer Reichweite und klopfte daran, als könnte er damit Leisicrofes Schiff schneller finden.

Fassin hatte gewusst, dass sie länger als ein bis zwei Stunden ohne Bewusstsein gewesen waren. Das hatte ihm nicht nur seine eigene Physiologie verraten, sondern auch die Menge an Säuberungs-und Wartungsarbeiten, die das Schockgel und das Kiemenwasser zu erledigen hatten. Er war sogar erleichtert, als er hörte, dass sechsundzwanzig Tage vergangen waren. Natürlich war es erschreckend, ohne jede Vorwarnung so viel Zeit zu verlieren, man fühlte sich noch im Nachhinein hilflos (würde es auf der Rückreise womöglich genauso sein?), aber wenigstens hatten die beiden nicht von einem Jahr oder gar von sechsundzwanzig Jahren gesprochen. Was in der Zwischenzeit in Ulubis geschehen war, wusste nur das Schicksal – da die Systeme seines Gasschiffs nicht funktioniert hatten, konnte Fassin natürlich auch nicht kontrollieren, ob sie tatsächlich so lange ohne Bewusstsein gewesen waren –, aber es hatte den Anschein, als enthielte die Legende von der Dweller-Liste zumindest ein Körnchen Wahrheit. Es gab geheime Wurmlöcher, zumindest gab es ein Wurmloch zwischen Ulubis und Aopoleyin, und Fassin hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass es das einzige sein sollte. Der Verlust von zwei Dutzend Tagen war kein zu hoher Preis für diese Erkenntnis.

Fassin ertappte sich, wie er versuchte, in seinem Gasschiffchen tief Luft zu holen. »Sind wir tatsächlich durch ein Wurmloch gekommen?«, fragte er.

»Ausgezeichnete erste Frage! In jedem Sinn leicht zu beantworten! Ja.«

»Richtig! Nur sprechen wir von Cannula.«

»Wo ist das Ulubis-Ende – das Nasqueron-Ende des Wurmlochs, der Cannula? Wo ist die Adjutage?«, fragte Fassin.

»Aha! Er kennt die Terminologie.«

»Ich bin beeindruckt.«

»Und in einer Hinsicht wieder eine ausgezeichnete Frage.«

»Ganz deiner Meinung. In anderer Hinsicht vollkommen hoffnungslos.«

»Kann es dir nicht sagen.«

»Aus Sicherheitsgründen.«

»Wirst du sicher verstehen.«

»Natürlich verstehe ich das«, sagte Fassin. Eine ehrliche Antwort wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. »Wie lange existiert das Wurmloch schon?«, fragte er weiter.

Der Vollzwilling zögerte mit der Antwort. Endlich:

»Weiß nicht.«

»Nicht mit Sicherheit. Wahrscheinlich Milliarden von Jahren.«

»Möglich.«

»Wie viele davon gibt es noch?«, fragte Fassin. »Ich meine Wurmlöcher – Cannula?«

»Gleichfalls.«

»Gleichfalls?«

»Gleichfalls wie in – noch einmal – ich weiß es nicht.«

»Keine Ahnung.«

»Nun ja, eine Ahnung schon.«

»Na schön, eine Ahnung. Kann es dir nicht sagen. steht ebenfalls in den Reisebedingungen.«

»Immer diese vertrackten Reisebedingungen.«

»Oh ja, sehr vertrackt.«

»Gibt es weitere Wurmlöcher von Ulubis – oder irgendwo in der Nähe des Ulubis-Systems – anderswohin?«

»Noch eine gute Frage. Kann ich dir nicht sagen.«

»Könnte uns das Captainspatent kosten.«

»Dieses Wurmloch nach Aopoleyin: hat es eine Verbindung zu einem Wurmloch der Merkatoria? Hat eines von ihren Wurmlöchern ein Portal, eine Adjutage hierher?«

»Nein.«

»Einverstanden. Offene Antwort. Welch eine Erleichterung. Nein.«

»Und von hier, von Aopoleyin«, fuhr Fassin fort. »Gibt es da weitere Wurmlöcher?«

Wieder kurzes Schweigen. Dann:

»Klingt albern, aber wir können es nicht sagen.«

»Als ob irgendjemand nur eine einzige blöde Röhre hierher hätte.«

»Trotzdem.«

»Wir können es nicht sagen.«

»Und das ist amtlich.«

Fassin signalisierte Resignation. »Reisebedingungen?«, fragte er.

»Du lernst schnell.«

»Aber warum ich?«, fragte Fassin.

»Warum du?«

»Was heißt, warum du?«

»Warum hat man mir erlaubt, das Wurmloch zu benützen und hierher zu reisen?«

»Du hast gefragt.«

»Genauer gesagt, Valseir, Zosso und Drunisine haben für dich gefragt.«

»Wie konnten wir ablehnen?«

»Ich hätte also nicht in meinem eigenen Namen fragen können?« , sagte Fassin.

»Oh, Fragen sind immer erlaubt.«

»Ich denke, wir belassen es dabei.«

»Man sollte seine Fahrgäste nicht beleidigen.«

»Ungeschriebenes Gesetz.«

»Wisst ihr von anderen Menschen, denen erlaubt worden wäre, Dweller-Wurmlöcher zu benützen?«

»Nein.«

»Ebenfalls nein. wobei wir das nicht unbedingt erfahren hätten.«

»Andere Seher?«

»Nicht dass wir wüssten.«

»Was zugegeben keine präzise Antwort ist.«

»Na schön«, sagte Fassin. Tief im Innern des Gasschiffchens klopfte ihm das Herz bis zum Hals. »Unternehmt ihr oft Reisen durch das Wurmloch?«

»Definiere ›oft‹.«

»Ich will es anderes formulieren: wie oft habt ihr das Wurmloch in den letzten zehn Standardjahren benützt?«

»Einfache Frage.«

»Der man gut ausweichen kann.«

»Aber sagen wir – ein paar hundert Mal.«

»Bitte die Ungenauigkeit zu entschuldigen. Reisebedingungen.«

»Ein paar hundert Mal?«, rief Fassin. Du meine Güte, wenn das stimmte, dann fuhren diese Burschen in ihrem geheimen Wurmlochsystem in der Galaxis herum, als wären es die Untergrundbahnen unter einer Stadt.

»Öfter ganz sicher nicht.«

»Gibt es viele andere Schiffe wie …? Nein, anders gefragt: wie viele andere Schiffe in Nasqueron unternehmen regelmäßig Wurmlochreisen?«

»Keine Ahnung.«

»Nicht die leiseste.«

»Nicht einmal ungefähr? Könnten es Dutzende sein, oder eher hunderte?«

Die linke Seite von Quercer & Janath ließ ihren glänzenden Overall durchsichtig werden. Auf ihrer Signalhaut erschien das Muster für große Erheiterung.

Die rechte Seite stieß wieder diesen Pfiff aus.

Fassin wartete auf eine gesprochene Antwort, aber die kam nicht. »Sind es viele?«, fragte er schließlich.

Das Schweigen hielt an.

»Einige.«

»Nicht nur einige.«

»Das kannst du verstehen, wie immer du willst.«

»Noch einmal, bitte die Ungenauigkeit zu entschuldigen. Reisebedingungen.«

»Tausende?«, fragte Fassin. Der Vollzwilling gab keine Antwort. Fassin schluckte. »Zehn …«

»Zahlen weiter aufzustocken ist zwecklos.«

»Siehe vorhergehende Antwort.«

Damit war er so klug wie zuvor. Es konnten einfach nicht so viele Schiffe sein, oder doch? Auch bei noch so phantastischer Tarntechnologie, bei hunderten oder tausenden von Schiffsbewegungen jährlich innerhalb eines Systems musste doch hin und wieder irgendein Sensor etwas aufgefangen haben. Kein System war perfekt, es gab keine Technik, die nie versagte. Irgendetwas musste auffallen. Wie weit draußen mussten die Portale sein? Fassin war kein Spezialist für Physik, aber er war ziemlich sicher, dass die Raumzeit relativ flach und das Portal von einem Schwerkraftgradienten, der so steil war wie im Umkreis eines Gasriesen, weit entfernt sein musste. Ob ein Abstand wie der eines Mondes im nahen Orbit wohl genügte?

»Und Nasqueron?«, fragte er.»Wäre Nasqueron in dieser Hinsicht ein typischer Dweller-Planet?«

»Jede Dweller-Heimat ist etwas Besonderes.«

»Nasqueron – das Nest der Winde – nicht weniger als alle anderen.«

»Dennoch ja.«

Ja. Hätte Fassin bei den bisherigen Fragen und Antworten in normaler Schwerkraft aufrecht gestanden, er hätte sich wohl schon vor einiger Zeit setzen müssen. Um nicht einfach umzufallen.

»Seid ihr schon einmal hierher geflogen, nach Aopoleyin?«, fragte er.

Schweigen. Dann: »Nein.«

»Wenn ja, dann können wir uns nicht erinnern.«

Fassin spürte, wie ihn der Schwimm erfasste, jenes Gefühl tiefer Haltlosigkeit, das einen Menschen befällt, der sich ohne jede Vorwarnung mit einer ganz und gar abnormen Situation konfrontiert sieht.

»Und wenn – falls – wir nach Nasqueron zurückkehren, darf ich dann jedem erzählen, wo ich gewesen bin?«

»Wenn du dich daran erinnerst.«

»Dann schon.«

»Gibt es einen Grund, warum ich mich nicht erinnern sollte ?«

»Cannula-Reisen spielen einem manchmal seltsame Streiche, Seher Taak.«

»Ihr würdet versuchen, die Erinnerung aus meinem Gehirn zu löschen?« Fassin bekam eine Gänsehaut. »Das geht bei menschlichen Gehirnen nicht so einfach, wenn man sie nicht beschädigen will.«

»Davon haben wir gehört.«

»Wir gehen davon aus, dass dir niemand glauben wird.«

»Nur keine Panik.«

Y’sul hatte unverwandt auf die Schirme gestarrt. »Aber mir könnte man glauben!«, sagte er jetzt und wandte sich plötzlich um.

Quercer & Janath hüpften theatralisch auf und ab, als hätten sie ihn ganz vergessen.

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Nicht dein Ernst!«, fiepten sie fast im Chor.

Y’sul prustete und signalisierte große Erheiterung. »’türlich nicht.« Kichernd wandte er sich wieder den Schirmen zu und murmelte. »Wofür haltet ihr mich denn? Ich hänge schließlich am Leben. Und ich möchte meine Erinnerungen doch lieber behalten, vielen Dank …


Die Suche wurde fortgesetzt. Fassin fragte probeweise die Systeme der Velpin nach einer eigenen Dweller-Liste, einer Karte des unbekannten Wurmlochnetzwerks oder zumindest nach der Lage des Portals ab, das sie im Ulubis-System benützt hatten, um hierher zu kommen. Die Schiffscomputer – der Zugriff war kein Problem, sie waren kaum abgeschirmt – enthielten offenbar nur die einfachsten Sternenkarten und sonst gar nichts. Die Galaxis war in einem Maßstab erfasst, der erkennen ließ, wo die Sterne und die großen Planeten zu sein hatten, aber auch nicht mehr. Weder Habitate noch Megastrukturen waren verzeichnet, und die Oort-und Kuiperobjekte und die Asteroidengürtel waren nur schwach angedeutet. Das Werk glich eher einem Schulatlas als einer richtigen Sternkarte. Das Gasschiffchen hatte genauere Karten. Fassin suchte die Datenbanken elektronisch so gründlich wie möglich ab, ohne sich allzu verdächtig zu machen, fand aber nichts Besseres.

Vermutlich waren die echten Karten irgendwie versteckt, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass dem nicht so war. Die Velpin war ein gutes Schiff – für Dweller-Verhältnisse ausgesprochen solide gebaut – mit vergleichsweise modernen Triebwerken von schlichter Eleganz und hoher Leistung, aber ohne Waffen, nur mit einer gewissen Frachtkapazität. Das war alles. Die rudimentären Sternendaten passten ins Bild.

Fassin suchte nach einem Weg, um das Schiff in seine Gewalt zu bringen. Ob er die Velpin entführen könnte? Er hatte sich lange genug in dem unaufgeräumten kugelförmigen Kommandoraum aufgehalten, um zu sehen, wie Quercer & Janath das Schiff steuerten. Das schien nicht weiter schwierig zu sein. Er hatte sogar danach gefragt.

»Wie läuft das denn mit der Navigation

»Durch Zeigen.«

»Zeigen?«

»Man fliegt in den entsprechenden Raumabschnitt und zeigt in die gewünschte Richtung.«

»Man braucht nur genügend Energie, das ist das ganze Geheimnis.«

»Raffinierte Delta-v-Manöver sind ein Zeichen dafür, dass die Energie nicht ausreicht.«

»Energie ist alles.«

»Man kann nur mit Zeigen sehr weit kommen.«

»Vorausgesetzt, man hat die nötige Energie.«

»Manchmal sind allerdings gewisse Abweichungen zu berücksichtigen.«

»Das wird zu speziell.«

Fassin fand keine Möglichkeit, das Schiff zu übernehmen. Ein wild entschlossener Dweller konnte notfalls jahrelang auf den Zustand verzichten, den ein Mensch als Schlaf bezeichnete, und Quercer & Janath behaupteten, sie bräuchten überhaupt keinen Schlaf, nicht einmal kleine Ruhepausen mit verminderter Aktivität. Fassins Gasschiff hatte abgesehen von den Manipulatoren keine Waffen, er hatte nie gelernt, es im Nahkampf einzusetzen, und ein Dweller-Erwachsener war in jedem Fall größer und wahrscheinlich – außer bei Höchstgeschwindigkeit – auch stärker als das Gasschiffchen. Außerdem waren Dweller notorisch schwer kampfunfähig zu machen und/oder zu töten.

Taince Yarabokin hatte ihm einiges von ihrer Nahkampfausbildung erzählt. Wenn man es mit einem feindlich gesinnten Dweller zu tun hatte – und man selbst als Mensch etwa in einem konventionellen Raumanzug steckte – lautete der erste Rat, sich eine möglichst große Waffe zu besorgen. Niemand kannte eine Methode, mit der es ein unbewaffneter Mensch, auch wenn sein Anzug gepanzert war, mit einem kräftigen Jung-Dweller aufnehmen konnte. Hatte man keine große Waffe, dann war die zweitbeste Möglichkeit: Ganz Schnell Weglaufen. Von allen Spezies in der Merkatoria konnten nur die Voehn unbewaffnet mit einem Dweller fertig werden, und auch bei ihnen stand der Ausgang nicht immer von vornherein fest.

Möglicherweise könnte er Quercer & Janath einfach rammen. Wenn er sein Gasschiffchen mit der Nase voraus in sie hineinsteuerte, könnte er sie vielleicht k. o. schlagen oder kampfunfähig machen, aber er war nicht sicher, ob es in irgendeinem Teil des Schiffs genügend Platz gab, um die Geschwindigkeit für ein solches Manöver aufzubauen. Er müsste ein paar Abteile entfernt anfangen und dann in den Kommandoraum rasen, wobei er nur hoffen konnte, sofort einen Volltreffer zu landen. Wenn sie ihn kommen hörten und einfach beiseite rotterten, würde er nur in die Instrumente krachen. Er fragte sich, was Hatherence wohl getan hätte. Hätte man sie überhaupt mitgenommen? Wohl kaum mit Waffen irgendwelcher Art. Andererseits nahmen die Dweller solche Dinge bekanntlich sehr locker. Wieder andererseits hatte er von dieser Lockerheit hier bisher nichts feststellen können.

Selbst wenn es ihm gelänge, Quercer & Janath aus dem Weg zu räumen, was war mit Y’sul? Der ältere Dweller würde ihm wohl kaum helfen, wahrscheinlich nicht einmal kooperieren. Y’sul hatte sehr deutlich gemacht, dass er ein absolut loyaler Dweller war. Er wollte ein guter Führer und Mentor sein, aber er war kein Verräter, kein Freund der Menschheit. Er war weder mit der Merkatoria im Bunde, noch hegte er Sympathien für deren Machtstrukturen, und ihre Zivilisation war ihm nach eigener Aussage unverständlich und vollkommen egal.

Und selbst angenommen, Fassin könnte die zwei – oder, je nach Betrachtungsweise, auch drei – Dweller überrumpeln und das Schiff unter seine Kontrolle bringen – was dann? Er hatte immer noch keine Spur einer geheimen Navigationsmatrix gefunden. wohin sollte er fliegen? Wie sollte er das Wurmloch-Portal finden, durch das sie hierher gelangt waren? Und wenn er es fände, wie käme er hinein? Schließlich war davon auszugehen, dass es bewacht oder zumindest verwaltet wurde. Die Merkatoria-Portale gehörten zu den am strengsten überwachten und geschützten Objekten in der Galaxis. Auch wenn die Dweller in solchen Dingen eine Gleichgültigkeit an den Tag legten, die ans Chaotische grenzte, würden sie ihn wirklich einfach so durch eines ihrer Portale fliegen lassen wie durch einen x-beliebigen Raumabschnitt?

Er hatte versucht, von Quercer & Janath mehr darüber zu erfahren, wie man ein Wurmloch-Portal – eine Adjutage – ansteuerte und passierte, dabei aber zu seiner Überraschung festgestellt, dass die beiden Meister in der Technik des Ausweichens noch nicht ihr ganzes Können gezeigt hatten. Die Antworten hatten alle früheren an Unbrauchbarkeit noch weit übertroffen.

Immerhin hatten sie Fassin erlaubt, das Schiff zu verlassen und sich ein Stück weit davon zu entfernen, während es weiter vorsichtig durch das dünne Beinahe-Vakuum des Wölkers Hoestruem schwebte. Fassin wollte sich möglichst vergewissern, dass er nicht einem Schwindel aufsaß. Woher sollte er schließlich wissen, dass er auch wirklich da war, wo Quercer & Janath behaupteten? Er hatte nur ihre eigene Aussage und die Informationen auf irgendeinem Bildschirm und in oder außerhalb von einigen Holo-Displays. Das Ganze konnte ein schlechter Witz sein, mit dem ihn jemand zum Narren halten wollte. Er musste sichergehen.

Nach Verlassen der Velpin blieb er auf gleicher Höhe mit dem Schiff, das durch die angeblich ich-bewusste interstellare Wolke glitt, und bemühte sich, mit den Sinnen seines Gasschiffchens festzustellen, ob er sich in einer künstlichen Umgebung von gewaltigen Ausmaßen befand.

Soweit er sagen konnte, war das nicht der Fall. Er schwebte tatsächlich in einer Wolke aus Gas und Staub am Rand eines Planetensystems, ein Viertel des Galaxisumfangs von seiner Heimat entfernt, auf halbem Wege zum galaktischen Kern. Die Sterne sahen vollkommen anders aus. Nur die fernen Galaxien waren noch da, wo sie hingehörten. Wenn er nicht wirklich am Rand des interstellaren Raumes war, dann war die Simulation brillant. Er verbrauchte etwas von seiner Reaktionsmasse – im Grunde Wasser – um einige Kilometer von der Velpin wegzufliegen, traf aber weder auf eine Wand, noch auf einen Riesenbildschirm. Entweder hatte man eine Virtuelle Realität von beispiellosen Dimensionen erzeugt, oder man manipulierte ihn direkt durch sein Gehirn oder hatte den Kragen des Gasschiffs irgendwie auf hundertprozentige Immersion aufgerüstet und seiner Kontrolle entzogen.

Ein Ausspruch von Valseir fiel ihm ein: Eine Theorie, die den Solipsismus als einleuchtende Erklärung der Phänomene darstellt, die sie zu beschreiben sucht, macht sich hochgradig verdächtig.

Valseir hatte über die ›Wahrheit‹ und andere Religionen gesprochen, aber Fassin fand, der Satz ließe sich auch auf seine Situation anwenden. Er hatte kaum eine Wahl, er musste so tun, als sei das alles echt. Zugleich musste er, nur für alle Fälle, im Hinterkopf behalten, dass dem vielleicht nicht so war. Denn wenn das alles Wirklichkeit war, dann befand er sich vielleicht an der Schwelle zur spektakulärsten Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, einer Erkenntnis, die jeder nur denkbaren Kombination aus der Merkatoria, ihren Gegnern und so etwa jeder anderen raumfahrenden Spezies der Galaxis unermesslichen Schaden zufügen oder unschätzbare Vorteile bringen könnte. Er fühlte sich wie bei dem Gespräch mit der Abgesandten-Projektion, das vor einer ganzen Ewigkeit im Herbsthaus stattgefunden hatte. Erörtern Sie, was wahrscheinlicher ist: das, was Sie zu sehen glauben, oder dass alles eine Lüge ist, ein abgekartetes Spiel, ein unverständlicher und viel zu weit getriebener Scherz.

Er setzte alle vorhandenen Mittel ein, um sich Gewissheit zu verschaffen. Er war im Weltraum. alles passte zusammen. Oder die Simulation war so perfekt, dass es keine Schande war, darauf hereinzufallen. Damit wäre er wieder bei der ›Wahrheit‹. Hatherence hätte sein Dilemma zu würdigen gewusst.

Wenn er wirklich wollte, könnte er vermutlich einfach davonfliegen. Das Gasschiff würde ihn auf unbegrenzte Zeit am Leben erhalten, es war fähig, selbständig in eine Planetenatmosphäre einzutreten, und wenn er fast seine ganze Reaktionsmasse verbrauchte, könnte er in wenigen Jahren das innere System dieser Sonne Aopoleyin erreichen. Er bräuchte von der Reise kaum etwas mitzubekommen, könnte den größten Teil verschlafen. aber was dann? Er hatte von diesem Stern noch nie gehört. Nach dem rudimentären Sternenatlas des Gasschiffs befand sich das System irgendwo im Oberen Khredeil (was immer das sein mochte), aber es wurde nicht von Menschen oder Merkatoria-Angehörigen bewohnt. Es war überhaupt nicht als bewohnt gekennzeichnet. Das musste nicht heißen, dass dort niemand wäre – es gab offenbar keinen Fleck im Universum, den nicht irgendjemand seine Heimat nannte –, aber es hieß, dass er der Rückkehr nach Hause wahrscheinlich keinen Schritt näher käme.

Als Quercer & Janath aufgeregt signalisierten, sie hätten etwas gefunden, kehrte er zum Schiff zurück. Es war nicht Leisicrofes Schiff, sondern das Bewusstsein des Wölkers – ein zarter Ball aus Gas und Chemikalien, zusammengehalten von einem Hauch von Schwerkraft.


… Sucht nach …?

Einem Dweller. Einem Gasriesen-Dweller mit Namen Leisicrofe.

… Bild …

Bild?

… Bild versprochen … bestimmtes Bild …

– Ach so. Ich habe ein Bild bei mir. Wie …? Wo, ich meine, wem zeige ich es, damit du es sehen kannst?

… Nein … beschreiben …

Schön. Es ist ein Bild von weißen Wolken an einem blauen Himmel.

… Passt …

Dann kannst du es mir sagen ? Wo Leisicrofe ist?

… Fort …

Wann ist er fortgegangen ?

… Zeit messen wie …?

Standardsystem?

… Bekannt … Wesen Leisicrofe ging vor 7, 35 x 108 Sekunden …

Fassin rechnete nach. Etwa zwanzig Jahre.

Er war in die Randzonen des Wölker-Bewusstseins eingebettet. Das Gasschiffchen ruhte sanft zwischen zwei breiten Gassträngen, die ein klein wenig wärmer waren als das Weltall mit seinen eisigen Temperaturen. Im Grunde befand er sich auf einem Trip und hatte angehalten, um mit einem Wesen zu sprechen, neben dem ein stark zeitverlangsamter Dweller ein Geschwindigkeitsfreak gewesen wäre. Wölker dachten überdurchschnittlich langsam.

Ein Signal von außen, von der Velpin. Er sendete dem Wölker:

Wo ist Leisicrofe hingegangen?

Dann schaltete er auf normale Geschwindigkeit hoch.

»Brauchst du noch lange?«, fragte Y’sul. Es klang gereizt. »Meine Geduld mit diesem bilateralen Monomanen ist fast erschöpft. Du bist seit zehn Tagen weg, Fassin. was ist los? Bist du eingeschlafen?«

»Ich arbeite, so schnell ich kann. Für mich sind nur zwanzig oder dreißig Sekunden vergangen.«

»Du könntest einfach hier bleiben und mit normaler Geschwindigkeit denken. Dann könnten wir uns alle zusammen durch den Kopf gehen lassen, was dieses Gasgehirn zu sagen hat. wozu spielst du dich mit deinen Tripkünsten auf?«

»Nach deiner Methode kommt man nicht so leicht ins Gespräch. Ich will Respekt zeigen. Man holt mehr aus den Leuten heraus, wenn man …«

»Ja, ja, ja. Mach einfach weiter. Ich denke mir inzwischen neue Spiele aus, um diesen Schwachkopf mit seiner Persönlichkeitsspaltung zu beschäftigen. Rottere du nur davon und kommuniziere mit diesem Weltraumgemüse. Die wirklich schwere Arbeit bleibt wieder einmal an mir hängen. Jetzt tut es mir schon Leid, dass ich überhaupt mitgekommen bin. Wenn ich in meiner Abwesenheit noch mehr gute Kämpfe versäumt habe …« Seine Stimme verklang in der Ferne.

Fassin schaltete wieder auf extrem verlangsamte Zeit zurück. Der Wölker hatte noch nicht geantwortet.


Auf dem Rückweg von dem Wölker zur geheimen Wurmlochmündung flogen sie keine wahnwitzigen Spiralen. Zur Zerstreuung diente derselbe verschwommene, wenig zuverlässige Bildschirm, und auch die Türen zur Fahrgastkabine waren wieder versperrt, aber die wilde Rotation blieb aus. Fassin hatte Quercer & Janath gestattet, die Systeme seines Gasschiffs abzuschalten und es fernzusteuern. Diesmal verzichtete er darauf, das Schockgel wegzuwischen oder die Frontscheibe transparent zu machen, und versetzte sich stattdessen in Trance. Das fiel ihm nicht schwer, das Verfahren hatte viel Ähnlichkeit mit der Umstellung auf verlangsamte Zeit. Und auf diese Weise konnte er weder sehen noch hören, wie sich Y’sul darüber beschwerte, dass man ihn nur wegen einer harmlosen Reise durch den Weltraum schmählich k. o. schlug.

Diesmal steuerten sie Mavirouelo an – einen weiteren Ort, von dem Fassin noch nie gehört hatte. Laut Hoestruem war das Leisicrofes nächstes Ziel gewesen. Der Wölker hatte nicht gewusst, was sich hinter dem Namen verbarg, ein System, ein Planet, ein weiterer Wölker oder irgendetwas anderes. Quercer & Janath waren kurz verstummt, als sie den Namen hörten, und Fassins Sensoren hatten registriert, wie sie den primitiven galaktischen Atlas des Schiffes konsultierten. Dann hatten sie erklärt, den Ort zu kennen. Ein Planet im Achum-System. (Fassin oder zumindest die Speicher das Gasschiffs wussten von diesem System. Es war sogar durch ein eigenes Wurmloch angeschlossen, das von der Merkatoria kontrolliert wurde, aber Fassin nahm nicht an, dass sie es benützen würden.) Die Gesamtreisedauer sollte ›ein paar Tage‹ betragen.

Als Fassin in die Bewusstlosigkeit versank, kreisten seine Gedanken um die Schönheit des Wölkers. Das riesige Wesen, eine Million endlos langer, hauchdünner Lichtschals, nur ein Hauch von Materie und Schwerkraft, eigentlich fast nichts, aber insgesamt doch mit einer Masse von vielen Sonnensystemen, ließ sich durch das All treiben, aber nicht ohne Ziel, sondern auf einer vor Urzeiten festgelegten Route, die sich über Jahrmillionen erstreckte. Schubkraft und Steuerung erhielt es durch winzige Strömungen kalter Plasmen, die Kräfte kaum wahrnehmbarer Magnetfelder und das seufzerstarke Aus-und Einatmen interstellaren Materials. Äußerlich kalt und tot und dennoch ein lebendes, denkendes Wesen. Und im rechten Licht betrachtet auch schön. Auf den entsprechenden Wellenlängen war es von einer unendlichen Erhabenheit …


Saluus stand auf einem Balkon aus Eis und Metall und betrachtete die Aussicht. Der Atem gefror ihm vor dem Mund zu einer Nebelwolke.

Die Klausur der Justitiarität lag, teils ins Eis eingebettet, teils daraus geformt, in dem gefrorenen Wasserfall Hosennir, einer vierhundert Meter hohen, einen Kilometer breiten Eisklippe. Hier stürzte sich der Fluss Doaroe von der semi-arktischen Hochebene zu den Tundren und Ebenen hinab. Die Wintersonne stand tief am Himmel und tauchte, ein großartiges Schauspiel, Sepektes Wolken in sattes Rot und Violett, spendete aber viel zu wenig Wärme, um das Eis schmelzen zu lassen.

Sepekte taumelte langsam und nicht besonders stark auf seinem Orbit dahin. Die Polarkreise, wo die Sonne mitten im Sommer niemals unter-oder in den Tiefen des Winters niemals aufging, hatten einen Durchmesser von weniger als tausend Kilometern. Offiziell war der Planet nach menschlichen Normen als heiß bis gemäßigt eingestuft, seine Winter waren länger, aber nicht so hart wie auf der Erde und beschränkten sich in ihrer strengsten Form auf kleinere Gebiete als auf dem Heimatplaneten der Menschheit. Aber der Hoisennir-Wasserfall lag weit im Norden und hoch oben in den Bergen des Arktisschilds, so dass der Doaroe bisweilen über ganze Standardjahre bis auf den Grund gefroren war.

Man sprach von einer Klausur, weil die Anlage der Justitiarität gehörte, aber für Saluus war es einfach ein Hotel mit Tagungszentrum. Die Aussicht war jedenfalls grandios, vorausgesetzt, es gab genügend Tageslicht, um sie auch richtig zu genießen, und die Landschaft hatte, wie Saluus gerne zugab, einen gewissen herben Reiz.

Dennoch war er nicht gern hier. Er fühlte sich nicht wohl, wenn er einen Ort nicht jederzeit verlassen konnte – notfalls zu Fuß, wenn es zum Schlimmsten kam. Wer hier wegwollte, brauchte ein Lufttaxi oder musste mit dem Aufzug im Innern des gefrorenen Wasserfalls hinauf zum Landeplatz auf dem Eis des gefrorenen Flusses oder hinunter zur Vakuumbahnstation am Ufer des gefrorenen Sees am Fuß der Klippe fahren. Als er hörte, wo die Konferenz über die Dweller-Abordnung stattfinden sollte – man hatte sie aus Sicherheitsgründen sehr kurzfristig anberaumt – hatte er eigens ein Parasegel eingepackt, nur um im Notfall ein Hintertürchen zu haben.

Dabei war er ziemlich sicher, dass ein solcher Notfall nicht eintreten würde – und wenn doch, dann wäre die Katastrophe so groß und käme so plötzlich, dass eine Flucht nicht mehr möglich wäre –, aber mit dem Parasegel neben dem Balkonfenster seines Schlafzimmers fühlte er sich wohler und sicherer. Die anderen prominenten Konferenzteilnehmer hatten zumeist Suiten tief im Innern des Wasserfalls gewählt, möglichst weit weg von allen Gefahren von außen, aber Saluus hatte auf einer Außensuite mit Aussicht bestanden, um einen Fluchtweg zu haben. Er war seit Jahrzehnten nicht mehr mit dem Parasegel geflogen, aber er wollte lieber Kopf und Kragen riskieren, als sich wimmernd in einer Ecke seiner Suite zusammenzukauern und auf den Tod zu warten.

Manchmal fragte er sich, wieso ihn dieser Wunsch nach einer Fluchtmöglichkeit so hartnäckig verfolgte. Er war weder damit zur Welt gekommen, noch konnte er ein traumatisches Kindheitserlebnis dafür verantwortlich machen. Der Gedanke hatte sich im Laufe seines Erwachsenenlebens allmählich eingeschlichen. So etwas gab es manchmal. Er hatte sich bisher auch nicht die Zeit genommen, eingehender darüber nachzudenken.

Wichtig war vermutlich nur, dachte Saluus, dass man in dieser Hotelklausur in der gegenwärtigen Lage nicht mehr gefährdet war als irgendwo sonst. Die Angriffe auf das Ulubis-System dauerten an, sie hatten nie für längere Zeit nachgelassen, aber auch nie einen ausgesprochenen Höhepunkt erreicht. Viele Ziele waren eindeutig militärischer Natur und wurden gemeinhin mit Bomben, Raketen und anderen Kurzstreckenwaffen attackiert. Anschläge dieser Art wurden gewöhnlich den Beyonder-Rebellen zugeschrieben. Andere Ziele waren von eher kulturellem oder moralischem Wert, oder sie waren einfach groß. Sie wurden vom Weltraum aus mit Felsbrocken beschossen, die stark, manchmal bis knapp unter Lichtgeschwindigkeit beschleunigt worden waren. Solche Attacken waren zahlreicher geworden, während Überfälle durch Drohnen mit Strahlenwaffen und Raketen abgenommen hatten.

Einige Strategen hielten das für ein Zeichen, dass ihre Feinde es nicht geschafft hatten, die Invasion zum geplanten Zeitpunkt durchzuführen, aber die Beweise, die sie dafür vorlegten, stützten sich nach Saluus’ Meinung viel zu sehr auf Simulationen, die alle von den gleichen Voraussetzungen ausgingen.

Jedenfalls dauerte das Warten schon viel zu lange. Die Bevölkerung hatte die verschiedenen Stadien der Verarbeitung – Schock, verleugnung, trotz, Solidarität, grimmige Entschlossenheit und was noch alles dazugehörte – bereits hinter sich und war der ständigen Attacken nur noch überdrüssig. Die Sache sollte ein Ende haben. Auch wenn es ein Ende mit Schrecken wäre, die unberechenbaren Bombardements und die ständige Unsicherheit hatten den Willen ohnehin schon halb gebrochen.

Schlimmer war noch, dass viele Leute inzwischen nicht mehr an die Unglücksprognosen glaubten, seit durchgesickert war, wann die Invasion erwartet wurde, ohne dass sich der Hungerleider-Kult dann auch tatsächlich hätte blicken lassen. Die eingefleischten Verschwörungstheoretiker unterstellten, alles sei von Anfang an eine einzige paranoide Todesphantasie des Militärs und der Industrie gewesen, es hätte niemals eine echte Bedrohung existiert, die meisten Angriffe würden von den Sicherheitskräften selbst durchgeführt und seien entweder Teil eines internen Konflikts oder einer sorgfältig geplanten Serie von zynischen Aktionen, bei denen eigene Opfer bewusst in Kauf genommen würden, um Sympathien für die Streitkräfte zu wecken, die dem einfachen Volk noch die letzten bürgerlichen Freiheiten raubten. Alles sei nur ein Vorwand, um das Ulubis-System in eine semifaschistische Gesellschaft umzuwandeln, in der einige wenige Privilegierte die Macht fest in Händen hielten.

Selbst gemäßigtere Stimmen haderten mit dem Verlust von Freiheiten und den auferlegten Beschränkungen und wollten immer häufiger wissen, wo denn die schreckliche Bedrohung bleibe, auf die man sich seit fast einem vollen Jahr vorbereite? Müsste nicht inzwischen der Himmel im Schein der Triebwerke der Invasionsflotte lodern, die im Raum um Ulubis abbremste? Man zog allmählich in Zweifel, ob all die Opfer und Entbehrungen wirklich erforderlich seien. wurde nicht zu viel gegen eine Gefahr getan, die sich bisher noch nicht gezeigt hatte, und zu wenig gegen die zermürbenden kleinen, aber doch immer wieder verheerenden Angriffe?

Die Strategen fragten sich auch, wo denn die Truppen des E-5-Separats eigentlich sein sollten. Man hatte sich über den besten Verteidigungsplan die Köpfe heiß geredet: sollte man der oder den Invasionsflotten entgegenziehen, in der Hoffnung, sie zu überraschen und damit einen kleinen Vorteil zu erringen – und zumindest einen Teil der Kämpfe von den bevölkerten Regionen des Ulubis-Systems fern zu halten – oder sollte man abwarten und ein Maximum an Streitkräften da versammeln, wo sie letzten Endes am dringendsten gebraucht würden? Man hatte bereits Kundschafterdrohnen in die Richtung geschickt, aus der die Invasion angeblich kommen sollte, aber bisher hatte keine von ihnen etwas gefunden. Man war auf Spekulationen angewiesen.

Im Orbit um G’iri, dem kleineren Gasriesen, der von Nasqueron aus gesehen weiter draußen lag, wurde eine riesige magnetische Railgun gebaut, die im Weltraum vor der anrückenden Flotte Schutt verstreuen sollte. Die riesige Donnerbüchse hatte die Aufgabe, einen Hagel von Überwachungsgeräten und eine Wolke von winzigen gesteuerten Explosiv-oder auch nur kinetisch wirksamen Minen vor die Invasionsschiffe zu schleudern, aber sie wurde jetzt erst hochgefahren, Monate zu spät, sie war viel teurer geworden als veranschlagt, und sie wurde von Problemen gebeutelt. Zumindest diesen jüngsten Fehlschlag konnte man nicht auf das Konto von Kehar Heavy Industries buchen. Saluus’ Firma hatte mit dem Auftrag nichts zu tun gehabt. Sie wäre zwar der geeignetste Hersteller gewesen, aber man hatte das Projekt an ein Konsortium anderer Firmen vergeben, einerseits, um zu zeigen, dass KHI kein Monopol hatte, andererseits, um auch die Konkurrenz einmal bei einem Großauftrag zum Zuge kommen zu lassen.

Der Zwischenbericht über das Nasqueron-Debakel hatte KHI mehr oder weniger entlastet. Man hatte nichts Schlimmeres gefunden als gelegentliche Schlampereien in der Buchhaltung und die Art von Vereinfachungen, wie sie in einer Notlage und bei diesem Zeitdruck selbstverständlich waren. Mit anderen Worten, die Blamage bei der Schlacht im Sturm hatte sich das Militär ganz allein selbst zuzuschreiben, so wie Saluus es von Anfang an behauptet hatte. Nicht zuletzt deshalb hatte man ihn seither besser in den Planungs-und Strategieapparat der Ulubis-Merkatoria integriert und berief ihn sogar mit schöner Regelmäßigkeit in den Krisenstab des Kriegskabinetts.

Das war vernünftig. Außerdem schmeichelte es seiner Eitelkeit, und er war ehrlich genug, das zu erkennen und zu akzeptieren. Und es hatte natürlich den Nebeneffekt, dass er fester in die politische Hierarchie des Systems eingebunden wurde. Man identifizierte ihn noch stärker als bisher mit Machtstrukturen und einzelnen Machthabern, und damit hatte er noch mehr Anlass, für die Erhaltung der Merkatoria-Herrschaft zu kämpfen. Wenn jetzt der Böse Feind über das System herfiele und es eroberte, könnte Saluus nicht mehr so ohne weiteres die Hände heben und beteuern, er sei nur ein gewöhnlicher Schiffsbauer und stelle sich demütig in den Dienst der neuen Herren.

Saluus war es dennoch nicht unbedingt zuwider, im Dunstkreis der Macht zu stehen, darauf zugreifen und sie in gewissem Grade sogar kontrollieren zu können. Und selbst wenn es zum Schlimmsten käme, gab es im Kriegskabinett Personen, die in sehr viel höherem Maße als er Symbolträger des alten Regimes waren, während er als Leiter von KHI für jeden wertvoll wäre, der sich an die Spitze des Systems setzte. Er müsste eben improvisieren. Außerdem hatte er sich einen Fluchtplan zurechtgelegt. Je länger die Invasion des E-5-Separats auf sich warten ließ, desto eher wäre mit dem Gegenangriff der Merkatoria zu rechnen, und in diesem Fall wäre es eventuell ratsam, von der Bildfläche zu verschwinden, solange der Feind noch damit beschäftigt war, sich einzunisten und seinerseits eine Verteidigung aufzubauen. (Eigentlich sollte der Feind gar nicht ahnen, dass die Merkatoria-Flotte unterwegs war, aber auch das war bereits durchgesickert, und seine Verbündeten, die Beyonder, hätten ihn wohl in jedem Fall gewarnt.)

Saluus konnte jederzeit untertauchen, wenn das die einfachere Lösung wäre. Er wollte auch versuchen, mit einigen Guerillagruppen in Kontakt zu kommen, hoffentlich ohne sich direkt engagieren zu müssen, damit er, wenn die Merkatoria das System zurückeroberte, nicht wie ein Feigling dastünde, dem es nur um seinen eigenen Reichtum ging, sondern wenn möglich als Held. Aber wenn es unangenehm wurde, war manchmal die beste Strategie, sich aus der Schusslinie zu bringen. Tatsächlich ließ er gerade auf einer der geheimen Werften ein sehr schnelles Schiff bauen, einen Prototyp, den er auf keinen Fall so weit entwickeln wollte, dass er für den aktiven Dienst oder auch nur für militärische Probeläufe reif war. Das sollte sein Fluchtfahrzeug für den Notfall werden.

Bei alledem war ihm die Frau, die ihm Fassin Taak einst als Ko vorgestellt hatte – ihr richtiger Name, der Name, den sie jetzt verwendete, war Liss Alentiore – eine echte Hilfe gewesen. Er hatte sich wohl in sie verliebt. So sehr sogar, dass seine Frau – die sich selbst ganz munter zahlreiche Affären leistete – zum ersten und einzigen Mal Anzeichen von Eifersucht gezeigt hatte. (Daraufhin hatte Liss eine Lösung vorgeschlagen, auf die er, zumindest in seiner Phantasie, auch selbst schon gekommen war. Nun führten sie eine sehr anregende ménage à trois.)

Wichtiger war, dass Liss sich als vertrauenswürdige Beraterin und zuverlässige Informationsquelle erwiesen hatte. In den letzten Monaten voller Hektik und Verzweiflung hatte sich Saluus, wenn er nicht mehr wusste, wie er sich verhalten sollte, oft mit ihr beraten, entweder in halb offiziellem Rahmen in seinem Büro, seinem Flieger oder auf seinem Schiff oder von Kopfkissen zu Kopfkissen. Sie hatte immer eine Lösung gefunden, wenn nicht sofort, dann nach einer Bedenkzeit von einer oder zwei Nächten. Sie war von einer Gerissenheit, die an eine Katze erinnerte; sie wusste manchmal so genau, wie andere funktionierten, wie sie dachten und wohin sie springen würden, dass es an Telepathie grenzte.

Um Liss in seiner Nähe zu haben, hatte er sich einen neuen Posten ausgedacht und sie zu seiner persönlichen Privatsekretärin gemacht. Seine bisherigen Sekretärinnen, eine für Geschäftliches, die andere für Gesellschaftliches, waren leicht pikiert gewesen, besaßen aber Verstand genug, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die Neue mit falscher Freundlichkeit aufzunehmen. Sie unternahmen keinen Versuch, Liss’ Stellung zu untergraben. Saluus ahnte, dass sie sich Liss dennoch sehr genau angesehen hatten und zu dem Schluss gekommen waren, jeder Angriff gegen sie würde wohl auf sie selbst zurückschlagen.

Auch seine Sicherheitsleute waren zunächst misstrauisch gewesen und hatten in ihrer Vergangenheit gewühlt. Zunächst hatten sie alle möglichen Hinweise auf unappetitliche Skandale und dann eine verdächtige blinde Stelle in ihrem Lebenslauf gefunden. Aber letztlich war nichts wirklich Verwerfliches zu Tage gekommen, jedenfalls hatte sie nichts Schlimmeres angestellt als er selbst in ihrem Alter. Sie war jung und wild gewesen und hatte sich mit zwielichtigen Typen eingelassen. Genau wie er. Und wenn schon? Als er sie behutsam nach ihrer Vergangenheit befragte, war er auf Verletzungen, traumata und böse Erinnerungen gestoßen und hatte aufgehört, um sie nicht noch mehr zu kränken. Daraufhin hatte er erst recht das Gefühl, der Ritter zu sein, der die bedrängte Jungfrau rettete.

Zuvor hatte sie als mittelmäßige Journalistin für eine Technikzeitschrift gearbeitet und noch früher als Tänzerin, Schauspielerin, Hostess und Masseurin gejobbt. Er hatte sie aus dieser Existenz herausgeholt. An jenem Abend mit Fassin, als er sie kennen lernte, hatte sie viel jünger ausgesehen, als sie tatsächlich war – Saluus hielt inzwischen sehr viel von der Kombination weiser Kopf auf jungen Schultern – aber nachdem sie sein Angebot angenommen und sich Behandlungen unterzogen hatte, von denen sie vorher nie zu träumen gewagt hätte, sah sie jetzt noch besser aus. Sie war ihm dankbar. Das sprach sie zwar nie so offen aus – es hätte ihre Beziehung auch zu sehr belastet –, aber manchmal sah er es in ihren Augen.

Nun, auch er hatte allen Grund zur Dankbarkeit. Sie hatte seinem Privatleben neuen Auftrieb gegeben, und gesellschaftlich war sie eine echte Bereicherung.

Im letzten Winkel seines Herzens schämte er sich sogar, weil er sie Fassin ausgespannt hatte, und das bereitete ihm eine zusätzliche Befriedigung. Saluus hatte den Jugendfreund nicht direkt beneidet – eigentlich beneidete er niemanden, wie käme er auch dazu? –, aber Fassins Leben war von einer Unbeschwertheit, die Saluus sich immer gewünscht hatte, und die er ihm deshalb verübelte. Zu einem großen Familienverband zu gehören, inmitten von Menschen zu leben, die alle der gleichen soliden Beschäftigung nachgingen und allein für ihre Arbeit respektiert wurden, ohne sich bei Ausschreibungen, durch positive Bilanzen, auf Aktionärs-und Betriebsversammlungen ständig aufs Neue bewähren zu müssen … waren diese akademische Geborgenheit, diese Sinnerfüllung nicht das wahre Glück? Und dann ging der Junge auch noch hin, ließ sich fünf Jahre lang in einem Miniatur-Gasschiff (das nicht einmal von KHI gebaut worden war) in Schockgel einlegen wie ein Hering, zog mit einer Horde degenerierter Dweller herum und wurde damit zum Helden.

Ob es das war, was Fassin für Liss so anziehend gemacht hatte? Hatte sie ihn womöglich nur deshalb für Saluus aufgegeben, weil die Gelegenheit günstig war? Nicht auszuschließen. Aber es störte ihn nicht. Sal wusste, dass auch Beziehungen ihren Marktwert hatten. Nur Kinder und romantische Schwachköpfe sahen das anders. Man bewertete seine eigene Attraktivität – körperlich, psychisch und gesellschaftlich –, dann wusste man, wo man stand und konnte den Blick entsprechend nach oben oder nach unten richten. Man konnte eine Abfuhr riskieren, sich aber auch sozial verbessern, oder man begnügte sich mit einem soliden Leben ohne große Schwankungen und verzichtete darauf zu erfahren, was man hätte erreichen können.

Saluus sog die kalte Luft tief in seine Lungen.

Die Sonne Ulubis war hinter den bewaldeten Bergen im Südwesten untergegangen. Am dunkelvioletten Himmel erschienen die ersten Sterne. Die sinkende Sonne zog das breite Glitzerband von Orbitalhabitaten und – fabriken hinter sich her wie einen erlöschenden Kondensstreifen, als hätte jemand eine Hand voll funkelnden Staubs über den Himmel gestreut. Saluus überlegte, wie viele dieser winzigen Fünkchen wohl ihm gehörten. Es waren weniger als noch vor einem Jahr. Einige hatte man verlegt, weil sie in ihren alten Bahnen allzu leicht zur Zielscheibe geworden wären. Zwei waren zerstört worden – beides große Docks, in denen zu jener Zeit Schiffe der Navarchie lagen. trümmer des einen waren auf Fessli City gestürzt und hatten Zehntausende erschlagen, der Angriff selbst hatte ein Vielfaches dieser Opfer gefordert. Jetzt wurde KHI wegen Fahrlässigkeit der Prozess gemacht, man warf ihr vor, die Dockschiffe nicht rechtzeitig entfernt zu haben. Obwohl man im Krieg war und das Militär die Macht in Händen hatte, war für solchen Unsinn immer noch Raum. Er war gerade dabei, ein paar Worte in die richtigen Ohren zu flüstern, um eine pauschale Ausnahmeregelung für Kriegszeiten zu erwirken.

Saluus suchte hinter den Wolken seines eigenen Atems nach Nasqueron, aber der Gasriese stand weit unter dem Horizont, und selbst wenn Saluus sich auf dem richtigen Breitengrad befunden hätte, wäre der Planet wahrscheinlich von all den Objekten im Orbit verdeckt worden.

Fassin. Trotz aller Vorbereitungen auf den Krieg und die Invasion musste man sich immer wieder darum kümmern, was er gerade trieb. Ob er bei der Sturmschlacht ums Leben gekommen war? Die Berichte von Nasqueron waren nicht eindeutig. Aber das waren Berichte von Nasqueron schließlich nie. Auf jeden Fall wurde er vermisst, und wahrscheinlich befand er sich noch im Gasriesen – allerdings hatte es zwischen der Zerstörung des ersten Netzes von Beobachtungssatelliten um den Planeten zur Zeit der Sturmschlacht und der Errichtung eines neuen nach der Bildung der Dweller-Abordnung ein Zeitfenster gegeben, in dem selbst ein ziemlich großes Schiff die Nasqueron-Atmosphäre hätte verlassen können – aber wer wusste das schon? Und wenn Taak sich immer noch dort herumtrieb, was mochte er vorhaben?

Selbst wenn er noch am Leben sein sollte, Saluus beneidete ihn nicht mehr. Wenn einem nicht nur die ganze Familie auf einen Schlag ausgelöscht, sondern auch die Existenzgrundlage zerstört wurde … vielleicht hatte Fassin Selbstmord begangen? Offenbar hatte er noch vor dem grässlichen Debakel beim GasClipper-Rennen von dem Unglück erfahren. Er wusste, dass alle seine Angehörigen tot waren. Falls er noch lebte, dann wäre er so einsam wie nie zuvor, und er hätte kaum noch eine Heimat, in die er zurückkehren könnte. Er konnte einem Leid tun.

Selbst wenn Fassin jemals wieder auftauchen sollte, hatte Saluus zunächst gedacht, hätte er so viel verloren, dass Liss sicher nicht wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch dann hatte er sich daran erinnert, dass die Menschen manchmal alle Erwartungen enttäuschten. Besonders Frauen waren fähig, sich in eine bestimmte Form von an sich rühmlicher, tatsächlich aber fehlgeleiteter und sogar schädlicher Nächstenliebe zu verrennen und sich selbst zu opfern, wenn jemand vom Schicksal hart getroffen wurde. Zum Glück hatte Jaal Tonderon überlebt. Sal und seine Frau hatten sie eine Weile zu sich eingeladen, um sie aufzumuntern. Er wollte, dass sie stark wäre, falls Fassin jemals den Rückweg fände und sie alle noch hier wären.

Die Dweller-Abordnung war ein großer Erfolg gewesen. Die Dweller hatten offenbar den dringenden Wunsch, für das Missverständnis im Sturm Wiedergutmachung zu leisten, und die Ulubis-Merkatoria wollte um keinen Preis einen hoffnungslosen Krieg an zwei Fronten führen. Man hatte Uerkle, einen anderen Mond, zum Standort für die neue Gemeinschaftsanlage der Seher bestimmt – die Anlage befand sich inzwischen längst im Bau – und einer kleinen Flotte gestattet, um den Gasriesen in den Orbit zu gehen. Die Seher hatten wieder mit direkten Trips begonnen – die Ausrüstung für virtuelle Trips war noch nicht vollständig installiert – und die Dweller merkten entweder nicht oder kümmerten sich nicht darum, dass viele von den neuen vermeintlichen Sehern in Wirklichkeit Kundschafter – genauer gesagt Spione – der Navarchie, der Cessoria und der Justitiarität waren. Sie hatten die Aufgabe, nach Fassin Taak zu suchen, nach einem ebenfalls verschwundenen Dweller namens Valseir, nach jeder Spur von den Waffen, die während der Schlacht im GasClipper-Sturmrennen gegen die Streitkräfte der Merkatoria eingesetzt worden waren, sowie nach eventuellen Hinweisen auf die Dweller-Liste und allem, was auch nur entfernt damit zu tun haben könnte. Bislang war der Erfolg leider ausgeblieben. Auch die Schiffe dieser Kundschafter mussten gekennzeichnet, mit Spürsendern ausgerüstet und von einem Dweller-Führer eskortiert werden, aber es war immerhin ein Anfang.

Ebenfalls im Anfangsstadium – und bislang ebenfalls erfolglos – waren die Verhandlungen mit den Dwellern mit dem Ziel, ein Bündnis zu schließen oder die Dweller-Waffen in die merkatorialen Hände zu bekommen. Die Dweller hatten gezeigt, dass sie über Offensivkapazitäten verfügten – streng genommen hatten sie sich nur verteidigt, aber das spielte keine Rolle –, die ihnen niemand zugetraut hätte. wenn man sie dazu bewegen könnte, ein Bündnis mit dem Rest des Ulubis-Systems einzugehen, ließe sich das Kräfteverhältnis zwischen Invasoren und Verteidigern vielleicht umkehren. Selbst wenn die Dweller nur einen Teil ihres militärisch-technischen Wissens preisgäben – oder bereit wären, einige ihrer Hyperwaffen zu verleihen oder zu vermieten –, könnte das Ulubis so stärken, dass es fähig wäre, sich allein gegen die Invasion zu wehren, ohne auf das Eintreffen der Generalflotte warten zu müssen.

Und wenn dieser Plan scheiterte, müsste man sich überlegen, wie man die Invasionsflotte der Hungerleider zu einem Angriff auf Nasqueron bewegen könnte, damit sie sich an den Wunderschiffen, die bei der Sturmschlacht die Streitkräfte der Navarchie zerstört hatten, die Köpfe einrannte.

Stoff zum Nachdenken gab es genug.

Saluus hatte eine Jacke angezogen, als er ins Freie ging, aber keine Handschuhe, und musste nun die Hände in die Taschen stecken. Plötzlich war Liss an seiner Seite, schob ihren Arm unter den seinen und schmiegte sich an ihn. Der Duft ihrer Haut war berauschend. Er schaute auf sie hinab, und sie presste sich fester an ihn und folgte seinem Blick nach Süden zur Lichterkette der Orbitalbauten.

Er spürte, wie sie in der Kälte zitterte. Sie war nur leicht bekleidet. Er zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern, eine Geste, die er aus Filmen kannte. Sie gab ihm immer noch ein gutes Gefühl. Er selbst fror nicht, obwohl es kälter geworden war und oben ein Wind aufkam. Jemand hatte ihm erklärt, es handle sich um einen teil-katabatischen Wind: die kalte Luftströmung von den höher gelegenen Eiswüsten verdränge die wärmere, weniger dichte Luft weiter unten, fließe sanft aber unaufhaltsam abwärts und ergieße sich wie der Geist des gefrorenen Wassers über den Rand der Klippe.

Lange standen sie schweigend da, dann erinnerte ihn Liss, dass er vor dem Abendessen zu einem Gespräch unter vier Augen mit Peregal Emorte verabredet sei. Doch bis dahin war noch Zeit. Jetzt begann Saluus doch zu frösteln, aber er wollte erst hineingehen, wenn er zitterte. Der Himmel war vollends dunkel geworden. Saluus beobachtete, wie ein planetennaher Satellit wie ein Fünkchen über sie hinwegzog. Neben ihm zuckte Liss zusammen. Er zog sie fester an sich.

»Was ist das?«, fragte sie wenig später und streckte den Arm aus.

Er folgte ihrem Finger. Im Westen, wo Ulubis untergegangen war, war noch ein schwacher violetter Schimmer zu sehen. Etwas über dem Horizont, im unteren Himmelsabschnitt, hinter und über der Stelle, wo der Widerschein des Orbitalbandes am stärksten war, flackerten Lichter. Ein annähernd runder Fleck aus leuchtend blauen Punkten, etwa so groß wie eine auf Armeslänge gehaltene Münze, der mit jeder Sekunde größer wurde. Die flimmernden blauen Punkte verfestigten sich allmählich. Immer mehr leuchteten auf, das kleine Himmelsfenster füllte sich mit kaltem blauem Feuer und stand fast reglos in der frostig stillen Luft über den gefrorenen Ebenen.

Saluus begann zu zittern, aber nicht vor Kälte. Er setzte zum Sprechen an, doch Liss schaute zu ihm auf und sagte: »Das sind sie, nicht wahr? Die Kerle vom Hungerleider-Kult. Das E-5-Separat. Die Invasionsflotte. Sie bremst ab.«

»Wohl schon«, sagte Sal. Der Knopf in seinem Ohr pfiff, und das Komgerät in der Suite trillerte kläglich. »Wir sollten reingehen.«


Wieder benommen. Immer noch in der Fahrgast/Frachtkabine der Velpin. Fassin fuhr die Systeme des Gasschiffchens wieder hoch. Der Bildschirm spielte verrückt, wurde klar, zeigte Sterne, erst fest, dann schwankend, und schließlich einen Planeten – grünlich blau und weiß. Auf den ersten Blick erschien Fassin die Welt fremd, ungeeignet für ein Leben ohne Schutzanzug. Dann erkannte er, dass sie aussah wie ’glantine oder Sepekte; oder wie die Bilder, die er von der Erde gesehen hatte. Du wirst zum Gasriesenbewohner, sagte er sich. Denkst schon wie ein Dweller. das ging gewöhnlich nicht so schnell.

»Oh verdammt!«, rief Y’sul und starrte das Bild auf dem Schirm wütend an. »Das ist noch nicht einmal ein richtiger Scheißplanet

Die Wellen rasten heran, als hätte jemand blinde Starrköpfigkeit konzentriert und in flüssige Form gebracht. Unermüdlich und langsam warfen sie sich gegen die zerklüfteten, massiven Felsbarrieren. Immer neue lang gestreckte, niedrige Wasserfronten bäumten sich auf und stürzten herab wie allzu schwere, unbeholfene Akrobaten, rollten wieder hoch und kippten, hoffnungsvoll und hoffnungslos zugleich, nach vorne, wurden auf den brüchigen steinernen Totenacker geschmettert und zerbarsten zu Gischt und Schaum.

Wenn das Wasser nach jeder Attacke wieder ablief, schleuderte es Felsblöcke, größere und kleinere Steine zwischen den stumpfen und spitzen Granitsäulen umher. Es schälte sich ab wie eine nasse Haut, und das Klappern der Steine berichtete von den allmählichen Erfolgen seiner Beharrlichkeit. Die Wellen – der Ozean – nagten am Festland, sie spalteten es, brachen Stücke ab, schlugen mit Felsen gegen die Felswände, bis Risse entstanden, teile herabstürzten und zerschellten. So schliff das Meer über Jahrhunderte und Jahrtausende mit unbeirrbarem Leistungswillen das Land zu einer neuen Form zurecht.

Er sah den Wellen eine Weile zu, bewunderte ihre dumpfe Gewalt und war wider Willen beeindruckt von so viel lärmender Unermüdlichkeit. Der Salzgischt benetzte sein Haar und drang ihm in Augen, Nase und Lungen. Er atmete tief ein, fühlte sich vereint, verbunden mit, aufgehoben in diesem ewigen erbitterten Kampf der Elemente.

Ein goldener Strahl glitt flach über den rauen Meeresflor, hinter einem dicken Wolkengebirge im Westen kam langsam die Sonne hervor. Die Nebelschleier über den fernen Gipfeln und Felstürmen lösten sich auf und zogen über dem langen, gewölbten Strand nach Norden ab.

Seevögel kämpften über den Wellen mit dem Wind, stießen herab, packten mit ihren Krallen schlanke, in allen Regenbogenfarben schillernde Fische und flogen mit ihnen davon.

Zunächst hatte er sich außerhalb des Gasschiffchens ganz fremd gefühlt. Das war immer so gewesen, doch diesmal war das Gefühl der Fremdheit anders, irgendwie intensiver. Dies war die Heimat fremder Wesen, ein vertrauter und doch ganz anderer Ort; näher der Welt, die sein Zuhause sein sollte, weiter weg von der, die es tatsächlich war. Elftausend Lichtjahre waren sie diesmal von Ulubis entfernt, obwohl sie hierher einen weiteren Weg zurückgelegt hatten als beim letzten Mal. Und doch hatten sie nur zwölf Tage gebraucht.

Als er die Luke des Gasschiffs geöffnet hatte und aufgestanden war, hatte er so stark geschwankt, dass Y’sul ihn stützen musste. Ein krampfhafter Husten hatte ihn geschüttelt, bis er würgen musste, er hatte sich abgemagert und schwach gefühlt, wie ausgelaugt. Diese Rückkehr in den Urzustand des Menschen war wie eine Steigerung von Nacktheit. Er war schleimig, feucht und unbekleidet wie ein Neugeborenes, und ihm war kalt. Sogar die Kiemenwasser-und Schockgelröhren, die sich aus seinem Körper zurückzogen, erinnerten an Nabelschnüre und passten zum Bild einer Geburt. Er kam sich leichter und zugleich schwerer vor, das Blut sackte ihm in die Beine, seine Knochen protestierten.

Nach einer Weile empfand er die Nacktheit – und nackt fühlte er sich auch in gewöhnlicher Kleidung – allmählich wieder als normal. Dennoch überlief ihn hin und wieder ein Frösteln. Der Replikator der Velpin hatte sein Möglichstes getan, um Kleidung zu produzieren, die ein Mensch tragen konnte, aber das Ergebnis lag dennoch fremdartig kalt und glatt auf seiner Haut.

Sie waren auf Mavirouelo, einer zu neunzig Prozent erdähnlichen Welt, nicht weit vom Rand der Galaxis entfernt, aber weniger isoliert als Ulubis. Eine Kolonie von Wasserweltbewohnern, ein Sceuri-Planet. wasserwelten waren die Abart von Felsplaneten, die in der Galaxis am häufigsten zu finden war, obwohl man den Fels nicht sehen konnte. Ein im Durchschnitt etwa erdgroßer Metall/Felskern war unter fünftausend Kilometern Druckeis begraben, auf dem wiederum ein hundert Kilometer tiefer Ozean lastete. Dieser Planetentyp war nach den fast allgegenwärtigen Gasriesen der gängigste, und ihm verdankte die Merkatoria drei ihrer acht Hauptspezies: die Sceuri, die Ifrahile und die Kuskunde.

Mavirouelo war keine klassische Wasserwelt – der Wasseranteil war nicht einmal so hoch wie auf der Erde –, aber es war von den Sceuri kolonisiert worden, bevor sich irgendein einheimisches Tier – zu Land, zu Wasser oder in der Luft – weit genug hatte entwickeln können, um den Planeten als Lebensraum zu beanspruchen. So war Mavirouelo zu einer der Fernwelten der Sceuri geworden, ein Außenposten ihres Semi-Imperiums innerhalb des übergeordneten politischen Gemeinwesens unter der Kontrolle der Merkatoria.

Die Sceuri waren auch keine konventionellen Wasserweltbewohner, sondern Cetasegler, sie ähnelten großen Meeressäugern, hatten aber Spinnakerflossen auf dem Rücken, die sie in den Wind drehen konnten. Daher konnten sie nicht nur schwimmen, sondern auch über ihre Welten segeln.

Y’sul tauchte in seinem Schutzanzug aus dem Meer wie der Kommandoturm eines U-Boots. Die Seevögel flogen erschrocken auf. Er schwamm ans Ufer und kämpfte sich durch die tosenden Wellen zu Fassin vor, der auf einer flachen Klippe stand. Der Mensch sah sich plötzlich wieder mit Saluus Kehar auf dem Balkon des Hauses auf der Wassersäule stehen und zusehen, wie Hatherence in ihrem Schutzanzug über die künstliche Brandung schwebte.

»Fassin!«, dröhnte Y’sul und schwebte summend und Wasser versprühend zehn Meter in die Höhe. »Noch nichts zu sehen?«

»Noch nichts zu sehen.«

Y’sul hielt ein Netz in die Höhe, in dem es glitzerte, flatterte und zappelte. »Schau mal, was ich gefangen habe!« Er hielt sich das Netz vor den vorderen Flossensaum, um es zu begutachten. »Ich glaube, das nehme ich mit zum Schiff zurück.«

Ein Regen von Wassertropfen und kleinen Muscheln ging auf Fassin nieder, als Y’sul über ihn hinweg landeinwärts flog. Ein paar hundert Meter entfernt stand ein Schiffsabschnitt auf einem mit Pflanzen bewachsenen Sims vor den schroffen Klippen, Felssäulen und Bergen. Das fünfzig Meter lange Landefahrzeug war der Nasenkegel der Velpin, der Rest des Schiffes war mit Quercer & Janath an Bord im Orbit geblieben.

Fassin sah dem Dweller nach, dann wandte er sich wieder dem Ozean zu. Er war hier mit einem Sceuri verabredet, der den Dweller Leisicrofe gesehen hatte. Jener hatte sich angeblich bis vor zwölf Jahren hier aufgehalten. Noch hatte sich kein Sceuri blicken lassen. Die Velpin war von der Orbitalkontrolle des Planeten angerufen und von mehreren Militäreinheiten ins Visier genommen worden, bis sie notgedrungen einen Grund für ihren Besuch angegeben hatte.

»Wir suchen nach einem alten Knacker von einem Dweller mit Namen Leisicrofe«, hatten Quercer & Janath erklärt – genau mit diesen Worten.

Man hatte ihnen befohlen, in einen Orbit um den Planeten zu gehen und dort zu bleiben. Die Visierstrahlen blieben auf sie gerichtet. Sie hatten sich verdächtig gemacht, weil sie nicht durch das hiesige Portal gekommen waren, obwohl ihr Schiff ’lochtauglich aussah.

»Sceuri«, hatten Quercer & Janath Fassin und Y’sul erklärt. »Ewig misstrauisch.«

»Paranoid.«

Drei Tage lang hatten sie zugesehen, wie sich der Planet unter ihnen drehte. y’sul hatte abfällig etwas von flachen und langweiligen Stürmen vor sich hin gemurmelt, Fassin hatte fasziniert die großen Schneeflockenstädte zu Wasser und zu Lande betrachtet, während sich der Vollzwilling damit beschäftigt hatte, längst vergessenes Schiffszubehör zu inventarisieren und lärmende Bildblattspiele zu spielen. Nachdem die beiden auf die Fragen der planetaren Verkehrskontrolle nach ihrem Woher geantwortet hatten, von Nhouaste, dem größten der vier Gasriesenplaneten des Systems, war endlich ein Signal gekommen. Ein Forscher namens Aumapile von Aumapile hätte die Ehre gehabt, dem Dweller-Forscher Leisicrofe bei sich aufzunehmen, und würde sich geschmeichelt fühlen, auch für die Neuankömmlinge den Gastgeber zu spielen.

Ein weiterer Schritt auf dem Weg, ein Schritt, der sie vielleicht dem wandernden Dweller und den Daten näher brachte, die er bei sich trug. Falls Leisicrofe noch lebte, falls er die Daten noch hatte, falls die Daten das waren, was sie sein sollten, falls Valseir die Wahrheit gesagt hatte und falls sie nicht völlig veraltet waren, ohne Bedeutung, überholt von der scheinbar sicheren Erkenntnis, dass es ein Netz geheimer Wurmlöcher gab, die nur Dwellern zugänglich waren, dass die Dweller diese Wurmlöcher aber mit niemandem teilen wollten und dass womöglich kein Zusammenhang mit der Dweller-Liste existierte.

Fassin suchte nach irgendeinem Hinweis auf das System, das er bereits zweimal benützt hatte. Er hatte mindestens zwei Wurmlöcher passiert und war durch die halbe Galaxis gereist, ohne dem Schlüssel zu diesem Labyrinth aus Falltüren und Geheimgängen wirklich näher zu kommen. Man hatte ihn in bewusstlosem Zustand hindurchgetragen wie eine verzauberte Jungfrau aus einem Schauerroman, der man einen Schlaftrunk eingeflößt hatte, aber das Geheimnis, das hinter alledem stand, durfte er nicht erfahren.

Er suchte immer noch nach einer Möglichkeit, die Velpin in seine Gewalt zu bringen, aber ohne große Hoffnung auf Erfolg. Das Problem des Zugangs zu den geheimen Wurmlöchern bliebe ja bestehen. wenn er wenigstens einen Weg fände, während dieser wilden Übergänge wach zu bleiben, wäre das schon ein Anfang, aber auch hier war er völlig ratlos.

Vielleicht wäre es möglich, wenn er mit einem Zeitsprung zu Apsile in die Gemeinschaftsanlage auf Third Fury zurückkehren könnte, um den Meistertechniker zu bitten, in das Gasschiff einen Satz von Untersystemen einzubauen, die auch dann noch arbeiteten, wenn die Hauptsysteme abgeschaltet wurden. Es müsste so aussehen, als hätte die Maschine alle Funktionen lahm gelegt, während er in Wirklichkeit noch an die Sensoren angeschlossen und bei Bewusstsein war. Aber nicht einmal die Dweller behaupteten, eine Zeitmaschine zu besitzen, und Fassin fehlten die nötigen Fachkenntnisse, um solche Einbauten an seinem Gasschiffchen selbst vorzunehmen, von der Zeit und den erforderlichen Werkzeugen ganz zu schweigen.

Vielleicht wäre es besser gewesen, zur Merkatoria zurückzukehren. Ein richtiger Major der Ocula hätte den Rückzug angetreten, um sich bei seinen Vorgesetzten zu melden, ihnen über das Geschehen Bericht zu erstatten und auf neue Befehle oder eine Wiederholung der alten zu warten. Aber ihm hatte die Ocula nie etwas bedeutet, und fast alles, was ihm einmal wichtig gewesen war, hatte sich inzwischen in nichts aufgelöst.

Er hätte sogar versuchen können, Verbindung zu den Beyondern aufzunehmen, aber wozu sollte das gut sein, solange er den Schlüssel zur Dweller-Liste nicht hatte? Und außerdem – angenommen sie wären für den Anschlag auf seinen Sept verantwortlich, wenn auch nur indirekt? Wie viel Großmut wollte er walten lassen?

Hatte eine Rückkehr denn überhaupt noch einen Sinn? Siebzig Standardtage waren vergangen, seit Fassin zum ersten Mal in Nasquerons Atmosphäre eingetaucht war. Und die Schlacht im Sturm lag nach der Zeitrechnung der alten Erde mehr als einen Monat zurück. Wer wusste, wie lange er noch nach Leisicrofe suchen musste? Vielleicht musste er ihm durch die ganze Galaxis nachjagen, um ihm immer näher zu kommen, ohne ihn jemals einzuholen? Vielleicht würde er seine kostbaren Daten irgendwann erhalten, nur um bei der Rückkehr festzustellen, dass er zu spät kam, dass das Ulubis-System erobert oder völlig verwüstet war wie Third Fury, wo es nur geschmolzene und erkaltete Schlacke gab, zerstört von einer oder beiden Seiten in einem Kampf um etwas, das gar nicht mehr vorhanden war.

An sich müssten diese Daten immer noch die wichtigste Information sein, die je ein Mensch in Händen gehalten hatte. Aber selbst wenn der Schlüssel zur Dweller-Liste existierte, angesichts der Tatsache, dass Dweller dieses geheime Netzwerk seit Jahrmillionen vor der Nase der ganzen übrigen Galaxis benützen konnten – und das seit wer weiß wie vielen Milliarden Jahren auch taten –, wurde es sehr viel weniger wahrscheinlich, dass ein paar Daten oder ein algebraischer Beweis einen entscheidenden Einfluss haben sollten.

Trotz allem, was sollte er tun? Er konnte sich nichts anderes vorstellen, als weiter nach diesem Schlüssel zu suchen, auf den alle so versessen waren, in der Hoffnung, damit irgendetwas zu erreichen.

Fassin atmete ein und schmeckte Salz auf der Zunge.

Er bezweifelte nicht länger, dass diese Welt real war. wenn es sich um eine virtuelle Umgebung handelte, dann war sie so gut gemacht, dass es keine Schande wäre, sich täuschen zu lassen. Eine solch wilde, sturmumtoste Küste gab es im ganzen Ulubis-System nicht. Und die Sterne sahen auch hier wieder vollkommen anders aus.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Wenige Kilometer vor der Küste tauchte eine große flache Kuppel aus dem Meer, eine riesige, schwarze Hemisphäre mit Schaumflecken, von der das Wasser nach allen Seiten abfloss. Das Ding schoss aus der Tiefe empor wie ein Torpedo, der nicht explodierte. Es wurde immer größer und höher und ließ eine mächtige Wellenfront entstehen, die langsam auf die Klippen zuwogte. Endlich löste sich die Erscheinung – eine Doppeluntertasse von zwei Kilometern Durchmesser – vollends aus dem Meer und näherte sich langsam dem Strand. von ihrer Unterseite floss das Salzwasser in Strömen auf die überschattete Meeresoberfläche hinab und glättete die Wogen.

Y’sul schwebte heran und wies mit einem Nicken zu dem seltsamen Ding hin. »Wir werden abgeholt.«


Sie schwammen ins Innere der großen Untertasse und richteten sich auf. Sie befanden sich in einem Kristallsaal, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war.

Aumapile von Aumapile, ein fetter Aal, so groß wie ein Orca, mit einem mächtigen eingeklappten Fächersegel auf dem Rücken, schwamm in den Fluten. Fassin stand auf einem breiten Sims, das noch glitschig war vom Salzwasser, und Y’sul und der Vollzwilling Quercer & Janath – die Neugier hatte ihn schließlich doch heruntergetrieben, er trug an Stelle eines Schutzanzugs einen unförmigen Doppeloverall aus glänzendem Material – schwebten über dem großen See in der Luft. Die Szene erinnerte Fassin an das Herbsthaus und an Slovius in seinem Becken.

Aumapile von Aumapile – beziehungsweise der Aumapile von Aumapile, so hatte ihn jedenfalls der Diener vorgestellt, der die Menschen und die Dweller in einer Luftkammer im Innern einer Diamantblase durch eine breite, wassergefüllte Röhre zum Audienzraum geleitet hatte – war nicht nur ein zu Recht berühmter Cincturier-Forscher, er war ein unermesslich reicher, zu Recht berühmter Cincturier-Forscher.

Aus einem Unterwasser-Lautsprechersystem drang ein hohes Trällern, das nicht enden wollte. vielleicht ein ›Gesang zur Begrüßung von Gästen aus fernen Landen‹.

»Ein Gesang, bei dem man sofort wieder dahin zurückkehren möchte, wo man hergekommen ist«, hatte Y’sul geflüstert, als man ihnen einen halbwegs annehmbaren Ersatz für Getränke und Inhalate servierte.

Sie sprachen von Leisicrofe. ihr Gastgeber erklärte ihnen mit Hilfe eines kleinen schwebenden Kugellautsprechers, sie hätten ihn um einige Jahre verpasst, worauf Y’sul erwähnte, sie wollten ihm folgen.

»Oh«, sagte der Sceuri, »aber dann müsst ihr mich mitnehmen.«

»Müssen wir?«

»Ich weiß doch, wohin er gegangen ist«, sagte der Sceuri, als sei damit alles erklärt.

»Könntest du uns das nicht einfach sagen?«, fragte Y’sul kleinlaut.

»Drehe uns einfach in die richtige Richtung.«

»Und schon sind wir weg.«

Der Sceuri zappelte in dem großen Becken, dass das Wasser überschwappte. Ein Lachen. Aus dem Schwebelautsprecher gluckste es leise. »Oh, das könnte ich schon, aber ich hatte immer den Eindruck, mein Freund Leisicrofe sei noch weiter herumgekommen als ich, besonders in den Gasen von Nhouaste. Da ihr nicht durch das Wurmloch-Portal gekommen seid und auch er es bei der Abreise nicht benützt hat, könnte das nämlich euer Ziel sein. versteht ihr? Ich habe meine Quellen. Ich weiß, was vorgeht. Ihr könnt mich nicht täuschen. Ich bin nicht so dumm. ihr werdet mit eurem Freund, dem kleinen Verschwender, nach Nhouaste zurückkehren.«

»Wohl kaum«, schnaubte der Expeditionscaptain …

Mit dem kleinen Verschwender war Fassin gemeint. Die Sceuri waren sehr stolz darauf, trotz vieler Hindernisse eine fortgeschrittene Technologie entwickelt und es bis zur Raumfahrt gebracht zu haben. auf einer klassischen Wasserwelt gab es kaum Metalle, die leicht abzubauen waren. was eine solche Welt an metallhaltigen Erzen besaß, war im Allgemeinen unerreichbar unter dickem Eis tief im Felskern des Planeten eingeschlossen. Wasserweltbewohner mussten mit dem auskommen, was an Metall in Form von Meteoriten vom Himmel fiel. In dieser Hinsicht hatten sie einen ähnlichen Werdegang hinter sich wie die Gasriesen-Dweller.

Bei dieser Knappheit an leicht zugänglichen Rohstoffen in den Weltraum zu gelangen, war nicht einfach, und die Sceuri fanden, sie hätten für diesen Triumph des Intellekts über den Mangel reichlich Anerkennung und Respekt verdient. Wenn jemand von einem Planeten mit felsiger Oberfläche kam und die gleiche Leistung vollbrachte, war das nicht anders zu erwarten, eine Kleinigkeit, ein eher banaler Trick. Deshalb bezeichneten die Sceuri die Bewohner solcher Planeten als Verschwender, ohne ihnen das freilich immer ins Gesicht oder den entsprechenden Körperteil zu sagen.

»Wir bitten um Verdeutlichung, oh großer A von A«, bat die andere Hälfte von Quercer & Janath.

Fassin glaubte die Gedankengänge des Sceuri bereits erraten zu haben. Der hiesige – natürlich von Dwellern bewohnte – Gasriese Nhouaste war wie die überwiegende Mehrheit der Dweller-Gasriesen eine Welt, die weder Seher noch andere Wesen außer Dwellern willkommen hieß. Aumapile von Aumapile hatte wahrscheinlich erfahren, in welche Richtung Leisicrofe als Nächstes wollte, und da er nicht das Merkatoria-Wurmloch genommen hatte – und wohl auch kaum vorhatte, mit Unterlichtgeschwindigkeit durch den interstellaren Raum zu reisen –, hatte der Sceuri angenommen, sein Gast wollte seine Forschungen an einem Ort fortsetzen, der ihm selbst trotz seines sagenhaften Reichtums und seiner famosen Beziehungen in diesem wie in jedem anderen System immer verschlossen bleiben würde: in einem von Dwellern bewohnten Gasriesen.

»Ich denke nämlich, die Schufter, die unser gemeinsamer Freund finden wollte, haben eine neue Nische gefunden, nicht mehr im All, sondern im Gas«, sagte der Sceuri. Die Genugtuung in seiner Stimme war noch im Lautsprecher zu hören.

»Schufter?«, fragte Y’sul.

»Bekannt.«

»Gutartige Semi-Schwarmwesen«, verkündete die andere Hälfte von Quercer & Janath. »Unterhalb der Empfindungsfähigkeit. Berüchtigt dafür, an willkürlichen Stellen Weltraumkonstruktionen mit unbekannter Funktion zu errichten. Vermutlich Anfänge einer Infrastruktur für eine Invasion, die nie stattgefunden hat, im Auftrag einer längst ausgestorbenen und gründlich vergessenen Rasse. Verbreitung weiträumig, aber spärlich. Zahlen schwanken. Selten gefährlich, manchmal gejagt, kein Kopfgeld.«

»Ganz genau.«

»Wirklich?«, fragte Y’sul. es klang überrascht.

»Nun tu doch nicht so, als wüsstest du das nicht«, schalt ihr Gastgeber und erzeugte Sinuswellen im Wasser, als hätte man ihn gekitzelt. »Natürlich!« Der Aumapile von Aumapile stieß an jedem Ende einen Wasserstrahl aus. Leichter Verwesungsgeruch stieg Fassin in die Nase. »Aber ich weiß, wohin euer Freund als Nächstes wollte, und ihr wisst es nicht. Wenn ihr mich mitnehmt, bin ich bereit, es euch zu verraten. Aber erst, wenn ich auf eurem Schiff bin. Gasriesen sind so groß! Und wir haben natürlich vier davon. Da denkt man sich: Wer weiß schon, wo man suchen soll?« Der Sceuri schlug mit dem Schwanz. Fassin wurde mit Wasser bespritzt. »Was haltet ihr denn nun davon?«

Y’sul sah Fassin an und zuckte unauffällig mit dem Flossensaum, was bei den Dwellern gleichbedeutend mit einem Kopfschütteln war.

Der Expeditionscaptain schwieg einen Augenblick, dann sagte er:

»Wenn wir dich mitnehmen …«

»Aha! Aber ich habe mein eigenes Schiff! Ihr befindet euch bereits darin.«

»Geht nicht.«

»Du musst mit auf unser Schiff.«

»Ich habe auch kleinere Schiffe! Viele davon! Große Auswahl!«

»Spielt keine Rolle. Nur auf unserem Schiff!«

»Reisebedingungen.«

»Hm …«, sagte der Sceuri.

»Fahrgäste reisen vorbehaltlos.«

»Vorbehaltlos.«

»Was heißt das?«

»Du musst uns vertrauen.«

»Richtig. was auch geschieht.«

»Das heißt nichts anderes, als dass du bei jeder Reise k. o. geschlagen wirst,«, erklärte Y’sul ihrem Gastgeber. Quercer & Janath zischten empört. »Und«, fuhr Y’sul fort, ohne darauf zu achten, »dass du nicht unbedingt dort landen wirst, wo du eigentlich hinwolltest.«

»Wie primitiv! Aber was für ein Vergnügen!«


Elfhundert Schiffe. sie hatten es mit elfhundert Schiffen zu tun. Alle mussten mehr als eine bestimmte Größe haben, um den gewaltigen Abgrund zwischen dem E-5-Separat und diesem System in annehmbarer Zeit überwinden zu können, und wahrscheinlich waren sie alle bewaffnet. Ulubis konnte auch nach dem hektischen Schiffsbauprogramm nur knapp dreihundert wirklich raumtaugliche Kriegsschiffe aufbieten. Die Generalflotte, die ihnen zu Hilfe kommen wollte, war zahlenmäßig ähnlich stark, aber ihre Schiffe gehörten von der Schlagkraft her in eine andere Größenordnung: eine bunte Mischung aus Zerstörern, leichten, mittleren und schweren Kreuzern und wirklich dicken Kähnen, den Schlachtkreuzern und Schlachtschiffen.

Ulubis hatte Fregatten, Zerstörer, leichte Kreuzer und einen einzigen alten Schlachtkreuzer, die Carronade. Man hatte in den Jahrhunderten nach der Zerstörung des Portals eine ganz beachtliche Flotte aufgebaut, und in dem halben Jahr seit Erhalt der Nachricht von der bevorstehenden Invasion waren noch einige Schiffe mehr dazugekommen, aber das reichte bei weitem nicht aus, um den Invasoren ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen. Vor wenigen Monaten hatte man in Nasqueron bei der Schlacht im Sturm in wenigen Minuten ein Sechstel der gesamten Streitmacht verloren, darunter den einzigen Schlachtkreuzer. sonst waren es hauptsächlich leichtere Schiffe gewesen, dennoch war es ein herber Verlust.

Die jüngste Hiobsbotschaft lautete, das Konsortium, das an der Railgun arbeitete, sei so weit hinter den Zeitplan zurückgefallen, dass es mehr als fraglich sei, ob die Waffe vor der Invasion auch nur das Versuchsstadium erreichen würde. Jetzt wurde die Riesenkanone demontiert, damit sie nicht in die Hände des Hungerleider-Kults fiele. Das ganze Projekt, dachte Sal, war eine so grenzenlose Verschwendung von Zeit, Arbeitskräften, Ressourcen und harter Arbeit, dass man schon fast von sublimer Eleganz sprechen konnte.

Kehar Heavy Industries und die anderen Waffenschmieden hatten alles daran gesetzt, um möglichst viele Kriegsschiffe zu bauen, instand zu setzen, aufzurüsten und umzugestalten. Dutzende von Zivilschiffen waren militarisiert worden. Aber alles hatte seine Grenzen. was sie tun konnten, würde niemals ausreichen. Ulubis war unterlegen. Man konnte kämpfend untergehen, aber untergehen würde man in jedem Fall.

»Es könnte nicht schlimmer sein!«, zischte General Thovin von den Sicherheitskräften so erbost, dass er fast seinen ganzen Drink versprühte. Das Gespräch fand im Orbit um Nasqueron statt, auf einem requirierten ehemaligen Kreuzfahrtschiff, einem der Unterstützungsschiffe der Abordnung. Saluus und Submeister Sorofieve von der Propylaea waren vom Kriegskabinett entsandt worden, um bei den Verhandlungen mit den Dwellern womöglich noch etwas mehr Druck zu machen. thovin, der von seinen Verpflichtungen bei den Sicherheitskräften freigestellt und zum Oberbefehlshaber der Orbitalstreitkräfte von Ulubis ernannt worden war, hatte die Verantwortung für die nur leicht bewaffnete Eskorte. Damit war er aus dem Weg und konnte nicht viel Schaden anrichten. Sein wohlklingender neuer Titel wog das Fehlen einer schlagkräftigen Artillerie offenbar fast völlig auf.

»Wir können nicht einmal vor den Hungerleidern kapitulieren«, sagte er, »sonst beziehen wir Prügel, wenn die Generalflotte eintrifft. Dann sind wir zweimal angeschissen!« Er stürzte den Rest seines Drinks hinunter.

Saluus konnte Thovin nicht leiden – er war einer von den Männern, die durch Glück, Beziehungen, nachsichtige Vorgesetzte und jener Gleichgültigkeit gegenüber anderen, die von leicht zu Beeindruckenden als Skrupellosigkeit und von weniger Leichtgläubigen als Soziopathie bezeichnet wurde, an die Spitze einer Organisation gelangt waren. Aber manchmal polterte er einfach los, ohne die Folgen bedenken, und dann sprach er genau das aus, was alle anderen nur dachten. Wie ein Komödiendichter, der in die Obszönität abrutschte.

»Wir haben keine Veranlassung, an Kapitulation zu denken«, sagte Submeister Sorofieve schnell und schaute, Sal konstatierte es belustigt, tatsächlich über die Schulter nach links und nach rechts, um sich zu vergewissern, dass auch niemand sonst im Foyer des alten Schiffes das ›K‹-Wort gehört hatte. Aber bis auf einige Kellner an der Bar, die drei Männer und etwa ein halbes Dutzend ihrer engsten Mitarbeiter war niemand im Raum. (Saluus hatte Liss mitgebracht, seine geheimnisvolle Schönheit. Sie schwieg meistens, wechselte nur gelegentlich ein paar leise Worte mit den anderen Assistenten, Sekretären und Adjutanten. Als sich der Submeister der Propylaea so auffällig umschaute, begegnete Sal ihrem Blick; sie zog lächelnd die Augenbrauen in die Höhe.)

Wenn es hier Spitzel gab, dachte Sal, dann lauerten sie nicht im Schatten hinter den Möbeln, sondern saßen mit in der Runde. Die unentbehrlichen Berater und Helfer, ohne die sie alle ihr ach so wichtiges Leben nicht mehr führen konnten, waren die naheliegendsten Verdächtigen. sollte dem Hierchon – oder irgendeinem untergeordneten, aber immer noch wichtigen Zweig der Ulubis-Merkatoria – jemals etwas von Kapitulation oder anderen als unaussprechlich geltenden Themen zu Ohren kommen, dann wäre das wahrscheinlich einem von diesen Leuten zu verdanken.

Saluus wusste, dass es keine hundertprozentige Gewissheit gab, aber er war weitgehend überzeugt, dass die schöne Liss nicht für jemand anderen arbeitete. Gleich zu Anfang ihrer Beziehung hatte er sich scheinbar versehentlich ein paar Geheimnisse entschlüpfen lassen, die, wäre sie in anderen Diensten gestanden, wohl den Weg zu ihm zurückgefunden hätten. Ihre Bekanntschaft mit Fassin, die offensichtlich schon Jahrzehnte zurückreichte, war so etwas wie eine Empfehlung gewesen. Viel zu umständlich, nur um sie bei irgendeinem Industriellen zu platzieren, und sei es auch Saluus Kehar.

»Keine Veranlassung?«, fragte Thovin. er wandte sich an seine Sekretärin, hob auffordernd sein Glas und zwinkerte ihr theatralisch zu. »Wir würden nur darüber reden, wenn die Generalflotte nicht hierher unterwegs wäre. Es wäre die vernünftigste Lösung.« Er schnaubte. »Damit will ich nicht sagen, dass wir kapitulieren sollten. Wir haben Befehl, zu kämpfen bis zum letzten Mann, aber wenn die Flotte nicht käme und wir nicht nach diesem … diesem Ding suchten, das irgendwo auf Nasq sein soll.« (Er meinte natürlich die legendäre Transformation, dachte Saluus. Die mythische Zauberformel, hinter der Fassin wohl immer noch herjagte, falls er noch lebte.) »Natürlich würden wir überlegen, wie wir dem Tod entgehen könnten, was denn sonst?«

»Wir sind vorbereitet und wir sind gewarnt«, sagte Submeister Sorofieve und lächelte verzweifelt. »Und ich bin sicher, wir werden unseren Mann stehen. Wir kämpfen schließlich um unsere Heimat, um unsere Ehre, um …« – der Mann sah sich schon wieder um – »um unser Menschsein!« Aha. Sal begriff. Sorofieve hatte sich vergewissert, dass keine Aliens zugegen waren, die womöglich gekränkt sein könnten. »Wir haben Jahrtausende merkatorialer … äh … Weisheit und militärischer Erfahrung im Rücken. was haben diese Hungerleider-Renegaten dem entgegenzusetzen?«

Elfhundert Schiffe, dachte Saluus. Elfhundert gegen unsere dreihundert und ein Kräfteverhältnis, von dem die Strategen sagen, es sei auf dem Schlagkraftspektrum weit höher anzusiedeln als das unsere: mittel bis schwer gegenüber leicht. Dazu ein Megaschiff gegen unseren einzigen antiken Schlachtkreuzer.

Erst heute Nachmittag hatten sie sich ein weiteres Mal mit einigen Dweller-Vertretern getroffen. Heutzutage nahm man an solchen Konferenzen persönlich teil, halb liegend, in passende Raumanzüge gezwängt, in zwei-oder dreisitzigen Gasschiffen. Alle versammelten sich in einer großen Halle in einem Riesenschiff. Die Dweller hatten zu diesem Zweck eine ganze Flotte von Panzerkreuzern bereitgestellt. Bei aufgeklapptem Kanzeldach konnte man halbwegs bequem sitzen oder liegen und direkt von Angesicht zu Nabe mit den Dwellern sprechen.

Saluus hätte nicht länger als einen Tag bei mehrfacher Standardschwerkraft verbringen wollen, aber diese Treffen lohnten sich. Die Dweller waren von den Besuchen offenbar sehr angetan, und dank eines Schnellkurses bei erfahrenen Sehern, die ebenfalls mitkamen und den Gesprächen beiwohnten, solange es nicht um besonders heikle Themen von hoher Geheimhaltungsstufe ging, lernte Saluus inzwischen sogar die Mimik der Gasriesenbewohner zu deuten und bekam auch kleinere Nuancen ihrer Ausdrucksweise und gewisse Feinheiten des Benehmens mit. Die Kommunikation lief ja nicht nur verbal, sondern auch über Muster auf der Signalhaut. Wahrscheinlich kam das alles zu spät und war – bislang – ohne jeden Erfolg. Aber auf diese Weise hatte er wenigstens eine Beschäftigung – die Werften von KHI arbeiteten im Grunde automatisch, sie waren rund um die Uhr in Betrieb und stellten sich so perfekt auf die Wünsche des Militärs ein, dass man sie als Teil einer Kommandowirtschaft betrachten musste. Er wäre nur im Weg gewesen.


»Diese Invasion ist eine Gefahr für das gesamte Ulubis-System«, sagte Sorofieve.

Sal unterdrückte einen Seufzer. Dies war erst Sorofieves dritter Tag in dieser neuen Runde – er hatte den Ersten Minister Heuypzlagger ersetzt, der die Schwerkraft allzu strapaziös gefunden hatte – und er redete mit einem Dweller namens Yawiyuen, der ebenfalls neu hinzugekommen war. Aber trotzdem. Seit Wochen beackerten sie nun immer wieder das gleiche Gelände.

»Dieser Hungerleider-Kult wird keinen Respekt vor Nasquerons Neutralität zeigen«, schloss der Submeister.

»Woher weißt du das?«, fragte Gruonoche, ein anderer Dweller. Insgesamt waren sie zu neunt: die zwei menschlichen Unterhändler, jeder mit zwei Assistenten – Liss saß auf einem Platz hinter Sal, sie hatte erklärt, sich in der hohen Schwerkraft ganz wohl zu fühlen – Meretiy, der Oberste Seher vom Sept Krine, und die Dweller, beide in festlicher Halbkleidung, mit Bändern und Edelsteinen geschmückt.

»Was weiß ich?«, fragte Sorofieve.

»Woher weißt du, dass dieser Hungerleider-Kult keinen Respekt vor Nasquerons Neutralität zeigen wird?«, sagte Gruonoche unschuldig.

»Nun«, antwortete Sorofieve, »es sind Invasoren, Kriegstreiber. Ja, um es ganz deutlich zu sagen, es sind Barbaren. Sie haben vor nichts Respekt.«

»Dennoch folgt daraus noch nicht, dass sie sich auch mit uns anlegen würden«, konterte Yawiyuen. Seine Signalhaut zeigte den Willen zur Vernunft.

»Sie wollen das ganze System an sich reißen«, sagte Sorofieve und sah Saluus Hilfe suchend an. »Für sie schließt das auch Nasqueron ein.«

»Wir haben vom Hungerleider-Kult gehört«, erklärte Yawiyuen. ( – Ich frage mich, woher?, sendete Liss über Ohrhörer an Saluus.) »Es handelt sich offenbar um eine eher unbedeutende, wenn auch weit verbreitete hegemonistische Abart der ›Schnellen‹, die sich darauf beschränkt, welten zu erobern, die für ihre eigene Art und ihren Speziestyp geeignet sind, aber kein Interesse daran hat, gasriesen anzugreifen.«

»In diesem Fall …«, schaltete Saluus sich nun geschickt ein. Seine Stimme drang voll und kräftig aus dem Lautsprecher. »… wollen sie jedoch das Ulubis-System nur angreifen, um an Nasqueron heranzukommen.«

»Wozu ?«, fragte Gruonoche.

»Das können wir nicht mit letzter Sicherheit sagen«, erklärte Saluus. »Wir wissen, dass sie etwas von Nasqueron wollen, etwas, das sie von keinem anderen Gasriesen bekommen können, aber wir wissen nicht, was das genau sein könnte. wir sind aber überzeugt, dass sie den Angriff überhaupt nur deshalb führen.«

»Und woher wisst ihr das so genau?« Wieder Gruonoche.

»Wir haben entsprechende Informationen abgefangen«, antwortete Sorofieve.

»Was für Informationen?«, wollte Yawiyuen wissen.

»Informationen«, sagte Sorofieve, »aus dem persönlichen Tagebuch des Oberbefehlshabers einer Invasionsflotte des Hungerleider-Kults, die vor knapp achtzehn Jahren ins Ruanthril-System geschickt wurde. Die Flotte wurde von einer Einsatztruppe der Merkatoria abgefangen. Aus den erbeuteten Unterlagen geht hervor, dass sich der feindliche Befehlshaber besonders darüber beklagte, nur wegen eines einzigen Objekts oder einer Information in Nasqueron so viele Truppen des E-5-Separats für ein so entlegenes und strategisch bedeutungsloses System abzweigen zu müssen.«

»Nasqueron wurde namentlich erwähnt?«, fragte Gruonoche.

»So ist es«, sagte Sal.

Er war schon darauf gefasst, in seinem Ohr ein Stimmchen zu hören, das etwas wie ›gut gelogen‹ sagte, doch dann fiel ihm ein, dass nicht einmal Liss die volle Wahrheit über die Dweller-Liste und die mythische Transformation kannte. Natürlich hatte sie – wie so viele am Rande des Epizentrums der Macht – mitbekommen, dass Fassin in geheimer Mission unterwegs war, um in Nasqueron nach irgendeinem Wertgegenstand zu suchen, und dass das betreffende Objekt etwas mit dem Krieg zu tun haben könnte, aber mehr wohl auch nicht. Sie war nicht dabei gewesen, als die KI-Projektion von Admiral Quile ihre Instruktionen erteilt hatte, und sie war – anders als Sal – auch nachträglich von keinem Anwesenden in das Geheimnis eingeweiht worden. Deshalb wusste sie nichts Genaueres über die Informationen, die bei diesem Treffen bekannt gegeben worden waren.

»Nun«, sagte Yawiyuen sachlich, »dann lasst den Hungerleider-Kult doch angreifen. wir werden uns schon zu wehren wissen.«

Genau das hatte sich der Krisenstab des Kriegskabinetts erhofft.

Könnten wir hier nicht einfach Ja sagen?, sendete Liss.

»Würden Sie in diesem Fall nicht Hilfe von uns erwarten?«, fragte Sorofieve.

»Oh nein!«, rief Gruonoche, als wäre die Vorstellung geradezu absurd.

»Wie Submeister Sorofieve eben sagte«, schaltete sich Saluus ein, »sind wir ganz sicher, dass der Hungerleider-Kult beabsichtigt, das gesamte Ulubis-System einschließlich Nasquerons zu erobern. Die Gefahr betrifft uns alle. Deshalb wäre es für beide Seiten sinnvoll, unsere Verteidigung gemeinsam zu organisieren.«

»Eine gemeinsame Bedrohung erfordert eine gemeinsame Reaktion«, erklärte Sorofieve den Dwellern.

»Oder vielleicht eine Zangenbewegung«, schlug Yawiyuen vergnügt vor.

Wieder unterdrückte Saluus einen Seufzer. Diese zwei Typen waren angeblich hochrangige Unterhändler, unter Vorbehalt – man wollte nach einem noch nicht klar definierten Verfahren eine Volksbefragung abhalten – ermächtigt, für die Dweller-Gesellschaft auf Nasqueron zu sprechen, aber sie plapperten oft genug wie kleine Kinder.

»Vielleicht«, sagte er. »Vorausgesetzt, wir können die Aktionen zumindest koordinieren.«

»Und es wäre natürlich möglich«, sagte Sorofieve, »unsere Defensivtechnologie gemeinsam zu nützen.«

»Oh!«, sagte Yawiyuen und erhob sich über seine Sitzgrube. »Gute Idee! Habt ihr etwas, das wir brauchen könnten?« Seine Begeisterung wirkte vollkommen aufrichtig.

»Unsere Stärken liegen mehr in der Informationsbeschaffung, wir könnten Ihnen sagen, wie diese Hungerleider-Kultisten denken«, bot Saluus an. »Im Grunde sind es auch Menschen. Trotz aller Unterschiede gibt es große Ähnlichkeiten zwischen ihren und unseren Denkstrukturen. wir würden also versuchen, ihre Gedankengänge zu erraten, um ihnen zuvorzukommen.«

»Und was wollt ihr von uns?«, fragte Yawiyuen und ließ sich in die Sitzgrube zurücksinken.

»Wahrscheinlich Waffen«, sagte Gruonoche. Es klang unbeeindruckt.

»Wir mussten die schmerzliche Erfahrung machen«, sagte Saluus, »dass Ihre Offensivkapazitäten den unseren überlegen sind, und sicherlich …«

»Defensivkapazitäten«, unterbrach ihn Gruonoche. »Das meintest du doch?«

Sal bemühte sich, trotz des Helms mit dem Kopf zu nicken, obwohl er damit bei der hohen Schwerkraft seine Halsmuskeln über Gebühr strapazierte. »Gewiss doch, Defensivkapazitäten«, stimmte er zu. »Wenn Sie einen Teil Ihres Wissens auf diesem Gebiet …«

»Waffentechnik gehört nicht zu den Dingen, die wir mit anderen teilen«, beschied ihn Gruonoche knapp.

»Wir könnten zwar sagen, dass wir das gerne täten«, verdeutlichte Yawiyuen. »Wir könnten es sogar ernst meinen – ihr könntet uns vielleicht zu diesem Standpunkt überreden –, aber die Kontrolle über die Waffen liegt in anderen Händen, und diese Instanz würde das nicht zulassen.«

»Vielleicht könnten wir mit den Zuständigen reden?«, fragte Saluus.

Yawiyuen hüpfte über seinem Sitz auf und ab. »Nein.«

»Und warum nicht?«, fragte Sorofieve.

»Sie reden nicht mit Aliens«, stellte Yawiyuen rundheraus klar.

»Sie reden kaum mit uns«, gestand Gruonoche.

»Wie könnten wir denn …?«, begann Saluus.

Wieder fiel ihm Gruonoche ins Wort. »Wir sind nicht die Merkatoria«, sagte er. Saluus war eine solche Behandlung nicht gewöhnt. Er wurde allmählich ärgerlich. »Wir sind nicht die Merkatoria«, wiederholte der Dweller mit Entrüstung in der Stimme. »Wir sind keine von eueren Staaten und auch keine andere von euren von Geldgier oder anderen irrationalen Motiven getriebenen Gruppierungen oder Kräften.«

Das klingt nicht mehr so locker, hörte Sal in seinem Ohr.

»Sie gestatten?«, begann der Oberste Seher Meretiy. Die Seher hatten Anweisung, nur dann in die Gespräche einzugreifen, wenn sie das Gefühl hatten, dass sich ein grundlegendes Missverständnis entwickelte. Genau diesen Eindruck hatte Meretiy offenbar gewonnen, aber er bekam keine Chance, sich weiter zu äußern.

»Das soll bedeuten«, sagte Yawiyuen, »dass es bei uns anders läuft als bei euch. wir haben den Auftrag, mit euch Gespräche zu führen. Was wir von hier mitnehmen, wird allen vorgelegt, die sich dafür interessieren. Wir haben nicht das Recht, anderen Dwellern etwas zu befehlen oder zu verbieten. Dieses Recht hat kein Dweller, denn eine Hierarchie in eurem Sinn kennen wir nicht. wir können Informationen weitergeben. Die Informationen über die Annäherung der Hungerleider-Kultisten wurden allgemein zugänglich gemacht, ebenso wie die Allgemeinheit von der Konzentration von Merkatoria-Truppen unmittelbar vor dem leidigen Zwischenfall innerhalb des C-2-Sturms Ultraviolett 3667 informiert wurden. Die für die einschlägigen Verteidigungssysteme zuständigen Instanzen haben diese Informationen sicherlich zur Kenntnis genommen. Mehr können wir wirklich nicht tun. Unsere Kollegen von der Planetenverteidigung würden nicht daran denken, mit Fremdweltlern zu sprechen, und Technologien dieser Art wurden noch niemals an Außenstehende verliehen, vermietet oder verschenkt.«

»Sie sprechen von Ihren Kollegen von der Planetenverteidigung«, sagte Sorofieve. »Aber wer steht über diesen Kollegen?«

Jetzt wird es spannend.

Yawiyuen hüpfte ein Achselzucken. »Niemand.«

»Jemanden muss es doch geben«, beharrte Sorofieve.

»Wieso?«

»Aber«, fragte Sorofieve, »wer sagt ihnen denn, was sie tun sollen?«

»Sie sind gut ausgebildet«, erklärte Yawiyuen.

»Aber wann? Woher wissen sie, wann sie einzugreifen haben? Wer gibt ihnen die Befehle, wer entscheidet, wann es an der Zeit ist, mit dem Reden aufzuhören und mit dem Schießen anzufangen?«

»Sie selbst.«

»Sie selbst?« Sorofieve konnte es kaum fassen. »Sie lassen das Militär entscheiden, wann Krieg geführt wird?«

Unser Submeister hat offenbar seine Hausaufgaben nicht gemacht, sendete Sal an Liss.

Vielleicht hat er die Berichte gelesen, antwortete sie. – Aber er konnte es nicht glauben.

Saluus hatte sich so umfassend wie möglich über die Dweller informiert. Erstaunlich, wie wenig er gewusst hatte. Er war ein intelligenter, gebildeter Mensch, der in den besten Kreisen verkehrte, dennoch hatte er sich fast geschämt, als er merkte, wie wenig er über die Geschöpfe wusste, die sich mit seiner Spezies ein Sonnensystem teilten. Man hatte beinahe den Eindruck, die Menschheit von Ulubis hätte erkannt, wie wenig den Dwellern an ihr lag, und daraufhin beschlossen, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Und das in einem Seher-System, das mehr Interspezies-Kontakte pflegte als alle anderen – ein halbes Dutzend von ähnlich begünstigten Systemen, die über die ganze Galaxis verstreut waren, vielleicht ausgenommen. Doch selbst hier wussten die Leute nicht viel über die Dweller und wollten auch gar nicht mehr erfahren. Es gab zwar eine ansehnliche Minderheit, die sich anders verhielt, aber die galt schon eher als peinlich – bornierte Alien-Freunde. Im Licht der aktuellen Bedrohung, in der sie die Hilfe der Dweller verzweifelt nötig gehabt hätten, erschien ihm diese Haltung jetzt erschreckend kurzsichtig.

Außerdem hatte sich bei der Lektüre über die Dweller-Gesellschaft ein altes Klischee wieder einmal bewahrheitet: je mehr man lernte, desto mehr erkannte man, wie wenig man wusste. (Der Gasriese selbst könnte als Symbol dafür dienen, hatte Liss vorgeschlagen, als er zum ersten Mal versucht hatte, diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen: unendliche Tiefen.)

»Natürlich entscheiden bei uns die Militärs, wann wir Krieg führen«, sagte Gruonoche, der sich wieder beruhigt hatte. »Sie sind doch die Experten.«

»Wenn ich mich vielleicht einmischen dürfte«, meldete sich der Oberste Seher Meretiy aus seinem Gasschiff. »Das Problem liegt, denke ich, darin, dass wir die militärischen Kapazitäten unserer beiden Gesellschaften unterschiedlich sehen. Für uns – das heißt, für die Menschen, und vielleicht könnte man hier sogar für die ganze Merkatoria sprechen – ist das Militär ein Werkzeug der Politiker, die natürlich im Namen aller regieren. Für unsere Dweller-Freunde ist das Militär dagegen ein altehrwürdiger Berufsstand, zu dem man sich berufen fühlt oder auch nicht, eine Institution, die allein wegen ihres Alters Respekt verdient. Außerdem hat sie, aber das ist fast zweitrangig, die Pflicht, die Dweller-Planeten vor Gefahren von außen zu schützen. Damit ist das Militär für die Dweller so etwas wie eine ›Feuerwehr‹, mehr noch, eine freiwillige Feuerwehr. Es braucht nicht die Genehmigung der Politik, um tätig zu werden, und es braucht auch nicht von ihr beaufsichtigt zu werden, verstehen Sie? Seine einzige Aufgabe ist, so schnell wie möglich auf Katastrophen zu reagieren. Das ist alles.«

Verfickt nochmal, das hatte doch tatsächlich eine gewisse Logik, sendete Liss.

Das erste Wort, mit ihrer Stimme gesprochen, während sie dicht hinter ihm war, löste bei Sal bereits eine Erektion aus. wie hoch musste die Schwerkraft eigentlich sein, um einen Steifen unmöglich zu machen?

»Eine Feuerwehr hat aber doch … einen Anführer, einen Hauptmann?«, fragte Sorofieve in kläglichem Ton und schaute von Meretiy zu Saluus. »Könnten wir nicht wenigstens mit dem reden?«

Yawiyuen hüpfte wieder dieses kleine Achselzucken. »Ganz bestimmt nicht!«

»Aber es muss sein!« Sorofieve heulte fast.

»Wozu?«


»Man braucht die Kiste nur anzusehen, um zu wissen, dass sie schnell ist«, sagte General Thovin von den Sicherheitskräften. Er stand auf einer der Aussichtsgalerien des angeforderten Liners und betrachtete die schnittige schwarze Jacht. Ringsum kreisten die Sterne. »Hat sie einen Namen?«

»Schiff 8770«, antwortete Saluus. »Einen richtigen Namen wird man ihm beim Militär erst zum Zeitpunkt der Übergabe verpassen. Allerdings ist es ein Prototyp, wahrscheinlich nicht vollständig einsatzfähig.«

»Die Lage ist verzweifelt«, sagte Thovin achselzuckend und stocherte in seinen Zähnen herum. »Irgendeine Verwendung wird man schon dafür finden. Und wenn es nur als Rakete wäre.«

Das hättest du dir wohl so gedacht, dachte Sal. »Ganz so weit sind wir noch nicht«, sagte er laut. Sie waren allein. Thovin hatte den Spaziergang durch das ehemalige Zivilschiff angeregt, das weitgehend leer war.

»Sie finden wohl, dass wir hier unsere Zeit verschwenden, Kehar?« Thovin drehte sich zur Seite und legte seinen fast halslosen Kopf schräg, um Saluus ansehen zu können.

»Wenn wir Gespräche mit den Dwellern führen?«

»Ja. Wenn wir mit diesen Scheiß-Dwellern Gespräche führen.«

»Wahrscheinlich. Andererseits verschwendet dann auch unser Freund Fassin Taak – falls er noch am Leben ist – seine Zeit mit der Suche nach dieser Transformation, die vermutlich nicht existiert.«

»Er war tatsächlich Ihr Freund, nicht wahr?«, fragte der General und kniff die Augen zusammen. »Sind Sie nicht zusammen zur Schule gegangen?«

»Richtig, wir gingen zusammen zur Schule und aufs College. Und wir haben uns über viele Jahre nicht aus den Augen verloren. Seinen letzten Kurzurlaub vor dem Trip nach Nasq hat er übrigens in meinem Haus auf Murla verbracht.«

Thovin wechselte abermals das Thema. »Bei mir ging es direkt auf die Akademie der Streitkräfte«, sagte er, während er aufmerksam das pfeilförmige Schiff betrachtete, das vor ihnen im All schwebte. »Das ist wohl Ihr Fluchtfahrzeug, Kehar?«, fragte er mit Unschuldsmiene.

Du bist doch nicht ganz so dumm, wie du aussiehst, dachte Sal. »Und wohin?«, sagte er lächelnd.

»Raus aus dem ganzen Schlamassel, was sonst?«, antwortete Thovin. »Untertauchen, solange die Hungerleider-Besatzung dauert. Und zurückkehren, wenn alles vorbei ist.«

»Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte Sal. »Wollen Sie mir für die Kiste etwa ein Angebot machen?«

»Ich wüsste nicht einmal, wie man sie fliegt. Sie natürlich schon, richtig?«

Es war kein Geheimnis, dass Saluus die Jacht schon selbst geflogen hatte. Er war ein erfahrener Pilot, und mit etwas Übung und ein wenig Computerunterstützung kam jeder damit zurecht.

»Ich bin nur eingesprungen, damit einer von unseren tapferen Jungs für die Front frei wird«, erklärte er Thovin, ohne eine Miene zu verziehen.

»Wäre es nicht komisch, wenn wir gegen die Invasoren gewännen oder die Generalflotte geschlagen würde?«

»Zum Brüllen.«

»Glauben Sie, wir kriegen aus diesen Schwebern irgendwas raus?«

»Ich denke, freiwillig werden unsere guten Dweller nicht mehr herausrücken, aber es lohnt sich doch, die Augen weiter offen zu halten.«

»Soso? Meinen Sie?«

»Vielleicht fällt es der Besatzung eines dieser Hyperschiffe plötzlich ein, Sepekte zu verteidigen, nur so zum Spaß. Oder einer von den Kundschaftern unten in Nasq findet die Transformation, oder Fassin Taak taucht wieder auf und bringt sie mit. Dann können wir uns alle durch ein Wurmloch absetzen oder die Schiffe der Generalflotte herholen, wo immer sie auch sind. wer weiß?«

»Sie glauben also nicht, dass wir nur unsere Zeit verschwenden?«

»Doch, wahrscheinlich schon. Aber was sollten wir denn sonst tun? Sandsäcke füllen?«

Thovin hätte fast gelächelt. »Wenn die Dweller natürlich auf einmal mit einem ihrer tollen Superwaffenschiffe auftauchten, bräuchten wir am Ende keine weiteren Kriegsschiffe mehr zu bauen, wie?«

»Kehar Heavy Industries würde jederzeit gern wieder auf Kreuzfahrtschiffe umstellen.« Sal blickte sich auf der Aussichtsgalerie um. »Ich sehe schon von hier aus so einiges, was man verbessern könnte.«

Thovin wies mit einem Nicken zu dem schlanken, dunklen Schiff hinüber, das draußen in seinem Schlitten lag. »Wenn der Hierchon die Kiste als Privatjacht haben wollte, würden Sie sie doch sicherlich sofort abgeben, nicht wahr?«

Sal überlegte kurz. »Da würde ich sie schon lieber zerstören«, sagte er.

Thovin drehte sich um und sah ihn abwartend an. Sein Gesicht verriet nichts.

»Das ist kein Scherz. Es ist wirklich ein Prototyp«, sagte Sal lächelnd. »Man kann doch das Staatsoberhaupt eines ganzen Systems nicht einer Maschine anvertrauen, die noch nicht ausgereift ist, noch dazu, wenn sie mit Spitzengeschwindigkeiten fliegen sollte, und nur deshalb würde man sie doch überhaupt haben wollen! Es ist ein Unterschied, ob ich selbst mich hineinsetze oder sie dem Hierchon gebe. Angenommen, er käme damit ums Leben? Wie sähe das denn in der Öffentlichkeit aus? Du meine Güte, Mann, denken Sie doch an die Börsenkurse.«

Thovin nickte eine Weile vor sich hin, dann richtete er den Blick wieder auf die Jacht. »Also Rakete«, sagte er.


»Ich auch«, sagte Liss leise im Dunkeln. »Ich hätte ihn auch für einen Idioten gehalten, den man nach oben gehievt hat.«

»Ich glaube, er spielt den Idioten nur recht geschickt«, sagte Sal. »Wahrscheinlich ist seine Dummheit genauso wenig echt wie die Naivität unserer Dweller-Unterhändler. vielleicht sollte Thovin die Führung der Gespräche übernehmen. Verderben könnte er ohnehin nicht mehr viel.«

Sie lagen an Bord der Prototyp-Jacht im Bett. Hier waren sie sicherer als auf dem Linienschiff oder einem der anderen Unterstützungsschiffe der Abordnung, aber die Kabine war viel kleiner und lange nicht so luxuriös. Man wusste zwar nicht ganz genau, ob nicht jemand während der Bauzeit eine Wanze an Bord geschmuggelt hatte, aber Saluus hatte seine vertrauenswürdigsten Leute abgestellt und die Arbeiten so scharf wie möglich überwachen lassen; jedenfalls war hier der sicherste Ort, um Dinge zu besprechen, die andere nicht hören sollten.

»Glaubst du, er wollte dir ein Geschäft vorschlagen? Damit du ihn mitnimmst, falls du dich zur Flucht entschließen solltest ?«

Saluus zögerte. Über eine Flucht hatte er noch nicht einmal mit Liss offen gesprochen. Sie hatte natürlich erraten, dass er die Jacht dazu verwenden könnte – und Thovin offenbar auch. Das warf die Frage auf, für wen das sonst noch auf der Hand lag (die Vorstellung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn!) – aber keiner von ihnen hatte etwas zu gewinnen, wenn er solche Gedanken aussprach.

Sal entschied sich dagegen, diese Wahrheit ans Tageslicht zu zerren. »Nein«, sagte er. »Ich hatte eher den Verdacht, Thovin könnte so etwas wie ein Spion sein.«

»Tatsächlich?«

»Sollte mich nicht wundern, wenn er dem Hierchon direkt oder zumindest den obersten Geheimdienstchefs des Hohen Herrn berichtete. Ich glaube, seine Raubeinigkeit ist nur gespielt, um die Leute einzulullen. Gut möglich, dass der Dreckskerl Verräter aufspüren soll.«

Liss schmiegte sich an ihn und bewegte ihren schlanken Körper langsam auf und ab. »Aber bei dir hat er nichts gefunden ?«

»Wie könnte er denn?«, sagte Sal. »So offen und ehrlich, wie ich nun einmal bin?«

»Natürlich.«

Manchmal, wenn ihr schon die Augen zufielen, während sie ihn noch an sich drückte, klopfte sie mit den Fingern seltsame Rhythmen auf seine Flanke oder seinen Rücken, eine Art Geheimcode der Liebe. Wenn sie dann einschlief, hörte sie auf, oder sie schreckte noch einmal hoch, rutschte von ihm weg, als schämte sie sich, und rollte sich zusammen.


Wieder diese Benommenheit. An Bord der Velpin. Immer noch. Keine Vorstellung, wie lange sie diesmal gebraucht hatten. Quercer & Janath hatten den dreien lediglich gesagt, die Reise würde ›ein paar Tage‹ dauern. Und als der Sceuri nicht hinsah, hatten sie sich mit Signalgeflüster an Fassin und Y’sul gewandt: Dieses ›Du musst uns vertrauengilt auch für euch beide. Aber kein Wort, ja?

Y’sul und Fassin hatten sich nur angesehen.

Ein paar Tage. Von einem Portal zum anderen gelangte man natürlich nahezu ohne Zeitverlust, aber der Weg zu und von den Portalen auf beiden Seiten nahm Tage in Anspruch. Dazu kamen möglicherweise einige Umwege, um eventuelle Beobachter oder Verfolger zu verwirren, die versuchten, die geheimen Zugänge ausfindig zu machen. wer wusste das schon? Natürlich Quercer & Janath, aber die verrieten nichts und waren auch nicht dazu zu bewegen, Fassin oder wenigstens Y’sul während dieser phantastischen und dabei mit solcher Selbstverständlichkeit durchgeführten Sprünge kreuz und quer durch die Galaxis bei Bewusstsein zu lassen.

Beobachter und Verfolger. Wie konnte ein Schiff so viele Reisen unternehmen, ohne dabei bemerkt zu werden? Teleskope für alle Wellenlängen, schwerkraftsensoren, neutrinosucher: in praktisch jedem hoch entwickelten System gab es Instrumente, die mit vernichtend scharfem Blick in naher, mittlerer und großer Entfernung das All nach Signalen absuchten; irgendetwas musste ihnen doch aufgefallen sein. Oder führten die Portale nur in unentwickelte Systeme, wo man bessere Chancen hatte, unbemerkt zu bleiben?

Nein, es gab sie auch in Ulubis und Achum.

Beobachter und Verfolger. Vielleicht Verfolger, die so klein waren, dass sie noch weniger auffielen als das Schiff selbst? Irgendetwas müsste doch einmal hinter einem Dweller-Schiff hergeflogen und unversehens in ein geheimes Wurmloch gestürzt sein … Aber nichts wies darauf hin.

So lässig, so gleichgültig, so la-la-la; war das womöglich nur eine perfekte, immerwährende Schau? Waren alle Dweller in Wirklichkeit geniale Schauspieler, brillant in der Tarnung, Meister in allen Techniken, die erforderlich waren, um jede einzelne Reise, jeden Transfer, jeden Sprung unter absoluter Geheimhaltung durchzuführen? Beim Schicksal und der Vernunft, sie hatten zehn Milliarden Jahre Zeit gehabt, um sich in jeder Disziplin zu vervollkommnen. was mochten sie in dieser Zeit an Fähigkeiten entwickelt und zur Perfektion gebracht haben? (Dennoch blieb das Chaos, blieben extreme Zufälle, blieb die schlichte Wahrscheinlichkeit, dass nichts so perfekt war, dass nicht irgendwann einmal ein Fehler passierte …)

Er kam langsam zu sich. Rovruetz, Direaliete. Verdammte Scheiße, noch mehr neue Namen, noch mehr Orte, die man sich merken musste, noch ein verdammter Schritt auf dem Weg zum Ziel. Er würde diesem Dreckskerl von einem Dweller, der sich nicht fassen ließ, so lange folgen, bis sein letztes Stündchen schlug, oder bis er so orientierungslos war, so verblödet von den vielen Betäubungen, dass er vergaß, worum es bei der ganzen irrwitzigen Suche eigentlich ging. wenn er Leisicrofe eines Tages endlich fände, wenn ohnehin alles zu spät war, würde er den Kerl nur ratlos anstarren, ohne sich erinnern zu können, wonach er ihn fragen wollte oder was in aller Welt ein Dweller besitzen könnte, das für ihn interessant oder wichtig wäre.

Die Kabine der Velpin war fast völlig ausgefüllt vom Schutzanzug des Sceuri namens Aumapile von Aumapile: die riesige schwarze Raute mit den weißen Tupfen war wie ein alles verzerrendes Fenster ins All. Fassin kam nur langsam zu sich, wie jedes Mal taten ihm alle Glieder weh, und er fühlte sich schmuddelig. und nun konnte er nicht einmal Y’sul oder den ohnehin nutzlosen Bildschirm an der Rückwand sehen.

»Würg!«, rief der riesige schwarze Anzug. »Das also nennt man Bewusstlosigkeit? Sehr unangenehm. Und das ist, wie ich vermute, zwangsläufig so.«

Fassin war froh, dass irgendjemand seiner Meinung war. Er fuhr die Systeme des Pfeilschiffs wieder hoch und überprüfte sie dabei. Der linke Manipulatorarm erwies sich als schwer gängig, aber die Autoreparaturmechanismen hatten bereits getan, was sie konnten. Aller Erfahrung nach würde der noch ein paar Monate in Realzeit mit halber Kraft und ziemlich ruckartig funktionieren und dann vollends blockieren. Vermutlich konnte Fassin von Glück reden, dass er bisher ohne größere Pannen davongekommen war, das Schiffchen hatte seit dem Flug von Third Fury immerhin einiges auszuhalten gehabt.

»Dennoch interessant!«, verkündete der Sceuri. Seine Stimme dröhnte durch den ohnehin schon überfüllten Raum. Der Aumapile von Aumapile war noch lauter als Y’sul. »Hmm«, sagte er. »Ja, interessant, kein Zweifel. Seid ihr beiden schon aufgewacht, oder bin ich der Erste? Ha-ha!«

»Wenn ich nicht wach bin, dann habe ich einen sehr lauten Albtraum«, giftete Y’sul von der anderen Seite her.

»Gleichfalls«, sagte Fassin.

»Super! Sind wir denn schon da?«

Sie waren da.

Und sie waren es nicht.

Als das verschwommene Bild auf dem Schirm scharf wurde, zeigte sich, dass sie sich in den mittleren Schichten einer Gasriesen-Atmosphäre befanden. Die Velpin hatte doch einige Drehungen bei hoher Geschwindigkeit hinter sich, und die K. o.-Schläge waren noch derber ausgefallen als zuvor. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um an ihr Ziel zu kommen.

Dies sei, so versicherte ihnen ihr Expeditionscaptain, Rovruetz, Direaliete, ein Wetterbezirk und eine Gasregion des systemeigenen Gasriesen Nhouaste.

Der Aumapile von Aumapile war entzückt. Genauso hatte er es sich vorgestellt! Er hüpfte förmlich aus der Gasschleuse der Velpin in die riesige Schattenlandschaft aus turmhohen WurzelWolken und bis zum Horizont reichenden StrahlenBaldachinen. Er rotierte vor lauter Glück wie eine Zentrifuge. Sie verbrachten, ohne in irgendeiner Weise von eingeborenen Dwellern belästigt zu werden, einen weiteren Tag damit, die angeblichen Schufter-Reste zu untersuchen, die bemerkenswert viel Ähnlichkeit mit einer verlassenen Dweller-Kugelstadt auf einer unendlich langen beschädigten und nicht mehr benützten BandTurbine hatten. Alles sehr eindrucksvoll, aber nicht, wie Fassin und Y’sul bald erkannten, das, wonach sie wirklich suchten.

Das ist nicht Rovruetz, Direaliete, nicht wahr?, fragte Fassin den Vollzwilling kurz nach ihrer Ankunft, während der Aumapile von Aumapile wie ein Wilder durch die Ruinen stürmte, Instrumente kalibrierte und alles auf Filmen festhielt.

Bist du wahnsinnig? Natürlich nicht.

– Direaliete befindet sich auf der anderen Seite der Galaxis.

– Würde Tage dauern, um dorthin zu kommen.

– Ein System?, fragte Fassin.

Ein System.

– Es ist bei mir nicht verzeichnet, bemerkte Fassin.

Natürlich nicht. Direaliete ist der Name in der Altsprache.

– Jedenfalls einer Variante davon.

– Also, sendete Fassin, – ist das hier nur ein Trick.

– Richtig.

– Unser Freund hat, was er wollte, und wir haben, was wir wollten. Zwei von zwei. Einer unserer erfolgreicheren Einsätze.

– Aber, sendete Fassin, – wir vergeuden Zeit.

Die Zeit vergeudet sich selbst.

Wie kämen wir dazu, ihr in den Weg zu schweben?

Nachdem Quercer & Janath sich erst erboten hatten, den atemlosen Sceuri-Forscher zurückzulassen und wieder abzuholen – aber so leichtgläubig war er nun auch wieder nicht – und ihm dann erklärten, sie müssten nun wirklich wieder zurück – während er meinte, es gäbe noch viel zu viel, wonach er suchen müsste – setzten sie den Sceuri einfach aus. Sie warteten, bis der Aumapile von Aumapile in das Zentrum der verlassenen Stadt geschwirrt war, und beteuerten Fassin, er hätte endlich Vernunft angenommen und würde gleich wiederkommen, um mit ihnen die Rückreise anzutreten. Dann schnallten sie den Menschen und Y’sul an, schlossen die Außentüren, warnten die Fahrgäste, dass ihnen einige ziemlich heftige Spiralen bevorstünden, und starteten.

– Was zur Hölle?, signalisierte Fassin an Y’sul, bevor die Systeme des Gasschiffs abgeschaltet wurden. – Was ist mit dem Sceuri?

Der Dweller war eingeweiht gewesen.

Ein guter Witz, wie?, sendete er lachend zurück.

Fassin schickte Signale zum Bildschirm und erreichte Quercer & Janath im Kommandoraum.

Habt ihr den Aumapile gewarnt, dass ihr starten wolltet?

– Ja.

Fassin wartete eine Weile. Es kam nichts mehr. Er sendete: Und?

– Er hat uns nicht geglaubt.

– Hat nur gelacht.

– Ihr setzt also diesen sagenhaft reichen, prominenten, dweller-verrückten Idioten in einem Gasriesen seines Heimatsystems einfach aus?

– So könnte man es sehen.

– Aber er kann nicht sagen, wir hätten ihn nicht gewarnt.

– Reisebedingungen.

– Und wenn man nun Jagd auf ihn macht oder er aus einem anderen Grund stirbt?, fragte Fassin. – Oder irgendwann nach Hause kommt und sehr verärgert ist?

– Wäre natürlich möglich.

– Und weiter?

– Wird er, wenn er nach Hause kommt, nicht einen tiefen Groll auf alle Dweller hegen? Und könnte das für die Dweller, die in Nhouaste leben, nicht von Nachteil sein?

– Argument.

– Könnte zu Reibereien führen.

– Kudos-Verlust!

– Vielleicht hätten wir jemanden informieren sollen, dass wir vorhatten, diesen Plumpsack mit den Sauglöchern zurückzulassen.

– Mal überlegen. vorschlag. ich hab’s! Wir senden ein Signal.

– Zufrieden ?

Fassin bekam keine Zeit für eine Antwort.

Genug geredet. Jetzt wird abgeschaltet. Leiten Spiralen ein.


Der Archimandrit Lusiferus inspizierte seine Truppen. Die nächsten Einheiten befanden sich gleich an Ort und Stelle, in den gewölbten, konzentrischen Rümpfen der Hauptkampfeinheit Lusiferus VII: seine Kerntruppen für den Einsatz im Weltall und am Boden. Die Soldaten hatten neben ihren schnittigen, für alle Bedingungen geeigneten Angriffsschiffen und ihren Hochleistungswaffen Aufstellung genommen. Die Kriegs-und Hilfsschiffe, Truppentransporter, Landefahrzeuge, Monitore, Senkrechtstarterdrohnen, Raketenträger, Kundschafter-und Überwachungsschiffe sowie verschiedenes schweres Gerät, die er außerdem sehen konnte – sie erstreckten sich so weit in die Ferne, wie das Auge ohne Hilfsmittel reichte –, waren nur Projektionen. Aber es waren Live-Projektionen in Echtzeit, und die Originale befanden sich überwiegend im Umkreis von nur wenigen Lichtsekunden vom Kern der Invasionsflotte, deren innerstes Stahlherz die Hauptkampfeinheit Lusiferus VII war.

Dies war eigentlich der Moment, den der Archimandrit am meisten genoss. Inzwischen war es einfach deshalb Tradition, vor jeder größeren Schlacht und besonders vor jeder Eroberung eines Systems eine solche Truppeninspektion abzuhalten, weil das ein so starkes und so befriedigendes Erlebnis war. Nicht einmal der Triumph nach einem Sieg – das Gefühl, den Gegner zermalmt und jeden Widerstand gebrochen zu haben – konnte diesen Moment übertreffen. Gleich würden sich alle diese Streitkräfte in das unvermeidliche Chaos, das Gewimmel einer Schlacht werfen, um dort zusammengeschossen, verwundet und getötet zu werden, sich zu beschmutzen, ziellos umherzuirren und so weiter. Doch jetzt standen oder saßen, lagen oder schwebten sie noch in perfekter Formation vor ihm, blitzblank, dicht gedrängt, angetreten zu exakt ausgerichteten, in Reih und Glied aufgestellten, symmetrisch und systematisch geordneten Einheiten, strotzend vor Energie und Zuversicht, eine tödliche Bedrohung.

Er stand mit wild pochendem Herzen und weit aufgerissenen Augen auf dem Inspektionsbalkon an einem Ende der langen, gekrümmten Reihe von Sälen, die sich in mehreren Schichten übereinander durch den Außenrumpf des Schiffes zogen, und holte mehrmals tief Atem. Bei Gott oder der ›Wahrheit‹, was für ein herrlicher Anblick. Auf seine Weise sogar noch intensiver, noch befriedigender als Sex.

Sie schwebten jetzt antriebslos dahin, die Bremsphase war fast abgeschlossen, nur einen letzten Schub galt es noch zu überstehen, ein paar Tage, in denen man sich unangenehm schwer fühlte. In einer Woche hätten sie das System erreicht und könnten endlich zum Angriff übergehen. Bisher waren sie kaum auf Widerstand gestoßen, zum Teil deshalb, weil sie einen sehr hohen, steilen Kurs geflogen waren. Wenn jemand Minenwolken und Drohnenschwärme ausgesetzt hätte, um sie aufzuhalten, dann sicher auf den direkteren Anflugschneisen. Auf dieser längeren aber sichereren Route waren sie bisher davon verschont geblieben. Die einzige Gefahr hatte bei der Kurskorrektur auf halbem Wege vor einigen subjektiven Jahren bestanden. Damals wären die Antriebe der Flotte auf jedem Weltallüberwachungssystem in Ulubis zu sehen gewesen, das in ihre Richtung zeigte. das Risiko war gering gewesen, und soweit man das feststellen konnte, waren sie unentdeckt geblieben. Zumindest hatte Ulubis keine Flotte ausgeschickt, um die Angreifer zurückzuschlagen, sondern wollte lieber abwarten, um auf der eigenen Schwelle zu kämpfen. Lusiferus’ Taktiker schlossen daraus, dass Ulubis vorbereitet, aber schwach war. Man mochte einigen Sonden und eventuell Schiffen der Zerstörerklasse begegnen, aber das wäre wahrscheinlich alles, bis man die mittleren und inneren Systemregionen erreichte. Seine Admiräle waren überzeugt, dass ihre Laserschiffe und ihre Nahkampfverteidigung mit allem fertig werden konnten, was an Hindernissen zu erwarten wäre.

Lusiferus registrierte Geräusche hinter sich. Dort durften einige seiner höheren Befehlshaber stehen, und hinter ihnen hatte sich seine Leibgarde postiert. Er hörte Getuschel und ängstliches oder gereiztes Zischen. Sein Körper versteifte sich abwehrend. Gerade jetzt wollte er nicht gestört werden, es sei denn, der Untergang seiner ganzen Flotte stünde unmittelbar bevor. Das müssten die Leute doch wissen. Schon kehrte wieder Ruhe ein.

Er entspannte sich und richtete sich noch weiter auf. Die Rotation erzeugte eine Schwerkraft von drei Viertel Ge. Wieder holte er tief Luft und blickte auf seine Männer und ihre Ausrüstung hinab. welch ein erhebender Anblick! Die verkörperte Unbesiegbarkeit, ein erregendes Spektakel kompromissloser, handfester Macht. Und all das gehörte ihm, war eins mit ihm.

Der Untergang seiner gesamten Flotte … Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jetzt, in diesem Augenblick eine Hyperwaffe aus uralter Zeit mit einer gewaltigen Explosion die ganze Invasionsstreitmacht auslöschte, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tun könnte. unsinn – nun ja, zumindest war die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering –, aber was für ein Schauspiel! Vor seinen Augen würde ein Schiff nach dem anderen erlöschen, verschwinden, in Flammen aufgehen oder zur grellen Lichtfackel werden. zerstörung, so weit das Auge reichte.

Er erschauerte, halb vor Entsetzen, halb vor Entzücken. Natürlich würde es niemals dazu kommen, aber schon die Vorstellung war ungemein erregend. Und natürlich war sie auch eine Warnung. Nicht von einem Gott oder einem Programm, die nach den Lehren der ›Wahrheit‹ das Universum beherrschten, sondern von einer unmittelbareren, zuverlässigeren Instanz: seinem eigenen Innern. Sein Unterbewusstsein oder ein wachsamer Teil seiner Persönlichkeit spielte die Rolle des Narren, der im Triumphzug stets an Caesars Seite ging und ihn daran erinnerte, dass alles eitel war. Etwas dergleichen. Diese Zerstörungsphantasien waren eine Mahnung seines eigenen Ichs, nichts für selbstverständlich zu halten, sich zu konzentrieren, alles im Griff zu behalten, den kommenden Krieg mit gewohnter Skrupellosigkeit anzugehen und innere Stimmen zu ignorieren, die zur Mäßigung oder zu ungerechtfertigter Gnade rieten. Jemand hatte einmal gesagt, Grausamkeit wie Gnade sollten niemals der eigenen Eitelkeit schmeicheln, sondern stets Mittel zum Zweck sein. Das würde er nie vergessen.

Ein letzter tiefer Atemzug. Er war bereit. Für alles gewappnet. Dennoch, die Hochstimmung war verflogen. die kleine Unterbrechung hatte keinen echten Schaden angerichtet. Dennoch wäre es sein gutes Recht, wütend zu werden, wenn es sich als nötig erwiese. Aber lieber erst nachsehen, worum es eigentlich gegangen war. Er machte auf dem Absatz kehrt, richtete sich zu voller Höhe auf – man suche sich seine höheren Befehlshaber immer danach aus, ob man auf sie hinabschauen konnte – und sagte laut: »Ja?«

Wie schön, wenn diese aufgeblasenen Prahlhänse erschrocken zusammenzuckten, wenn Männer, die es gewöhnt waren, dass man ihnen auf der Stelle und ohne Widerrede gehorchte, sich auch nur kaum merklich vor ihm duckten.

Tuhluer, der Adjutant, der ihm noch am wenigsten auf die Nerven ging, in letzter Zeit sogar so etwas wie sein Favorit, trat lächelnd vor und runzelte zugleich die Stirn. »Ich bedauere die Störung vorhin.« Dabei hob er die Augenbrauen ein wenig an, als wollte er sagen: Nicht meine Schuld – Sie kennen die Typen ja selbst. »Eben kam ein Alarm von der Kommandozentrale: Hochgeschwindigkeitsschiff direkt von Ulubis im Anflug, laut Signal unbewaffnet, keine Sprengköpfe, ein bis zwei menschliche Insassen, die ein Gespräch suchen. Bremst bereits ab und wird in zehn Stunden auf gleicher Geschwindigkeit mit uns sein. Bei derzeitigem Kurs müsste es linksseits hundert Kilometer neben dem Flottenzentrum anlegen.«

Der Archimandrit funkelte die anderen über Tuhluers Kopf hinweg an. »Und das erforderte mein Eingreifen?«

»Ein Leitstandproblem«, sagte Tuhluer sanft mit einem kleinen Lächeln. »Das Schiff passierte zu diesem Zeitpunkt die vordersten Schiffe der ersten Zerstörerfront und war im Begriff, sich aus der Reichweite der Strahlenwaffen zu entfernen. Die Frage war, ob man schießen sollte oder nicht. Hat sich erledigt. Es kommt in einer halben Stunde in Reichweite der zweiten Verteidigungsfront. Natürlich kann man auch Raketen einsetzen. Eine Trägerdrohne hat bereits die Verfolgung aufgenommen.«

Der Archimandrit Lusiferus stutzte einen Moment, dann lächelte er. Alle atmeten erleichtert auf. »Nun ja«, sagte er. »Dann läuft doch alles nach Wunsch. Es gab also keinen Grund, mich zu stören?«

»Wahrhaftig nicht«, versicherte sein Adjutant und nickte reumütig.

»Und welchen Rang haben die Menschen, falls dieses Ding wirklich Menschen enthält?«

»Laut Meldung ist ein Mann an Bord, ein hochrangiger Industrieller mit Namen Saluus Kehar.«


Wieder die Benommenheit, diese Müdigkeit, das Gefühl, schmutzig zu sein, sich kratzen zu müssen. Fassin war sicher, dass er nach jeder Schlafphase länger brauchte, um wieder zu sich zu kommen, und dass die Trägheit, die dumpfe Verwirrung jedes Mal stärker wurden. Mehr als vierzig Tage hatte die Reise an einen Punkt auf der anderen Seite der Galaxis gedauert, der volle neunzigtausend Lichtjahre von Ulubis entfernt war, wobei die Zahlen nicht viel bedeuteten. Die Zeit innerhalb des Wurmlochs wäre dennoch nicht der Rede wert gewesen. Die Tage und Wochen hatte der Flug vom Portal zu dem Schiff in den Tiefen des interstellaren Raums verschlungen, nach dem sie suchten.

Etliche Tage. Eine weite Strecke. Noch mehr Zeit verloren, noch weiter entfernt von dem, wonach er suchte, während zu Hause in Ulubis die Dinge ohne ihn ihren Lauf nahmen.

Er testete den defekten linken Manipulatorarm des Pfeilsschiffs, winkelte ihn an und streckte ihn wieder. Dann zwang er sich, auf den Bildschirm an der Wand zu schauen. Die Sterne drehten wie eh und je ihre Kreise und bildeten dann den Hintergrund für ein großes, schwarzes Schiff mit unregelmäßiger Oberfläche, eine riesige Ringröhre von zweihundert Kilometern Durchmesser mit pechschwarzen, glänzenden Rippen und vielen Facetten, die im matten Licht einer fernen Sonne glänzte wie eine primitive Krone aus feuchter Kohle. Das war das Nekro-Cineropol-Schiff Rovruetz, ein Totenträger, und es gehörte zur weit verstreuten Großen Exitus-Flotte der Ythyn.

Y’sul betrachtete das Bild auf dem Schirm von der anderen Seite des Raumes und schüttelte seine Flossensäume. »Jetzt müssen wir uns auch noch unter die Morbs mischen«, sagte er. Es klang verschlafen, mürrisch und resigniert zugleich. »Na großartig.«


Und was ist aus den Schuftern geworden, fragte Fassin. Ich dachte, Leisicrofe wollte als Nächstes die Schufter erforschen.

Sie haben offenbar umsonst geschuftet, sendete Y’sul.

Eine falsche Spur.

– Ein Bluff.

Die Velpin hing über einem ganzen Friedhof von Schiffen, die um den Totenträger herumlagen. y’sul und Fassin waren allein auf dem Weg zu dem Riesenschiff. Die Ythyn hatten ihnen vorgeschlagen, mit der Velpin in die Rovruetz hineinzufahren, aber das hatten Quercer & Janath in ihrem glänzenden Overall mit einem durchaus überzeugenden Schauer des Entsetzens abgelehnt. Fassin kam es so vor, als seien ihnen das Nekro-Schiff und seine Kollektion von uralten, zerfallenden Wracks so unheimlich, dass sie sich möglichst davon fern halten wollten.

Die Ythyn waren Sammler, und sie hatten eine Spezialität: Sie sammelten Tote. Sie stellten nichts weiter mit ihnen an, sondern sortierten sie nur grob nach Art, Typ und Größe und lagerten sie dann ein. Im Allgemeinen sammelten sie nur Leichen – und manchmal auch die Schiffe und anderen Transportmittel, auf denen sie sich befanden – die sonst niemand haben wollte. Dennoch war die ganze Tätigkeit hoffnungslos morbide, und deshalb bezeichnete man die Ythyn zusammen mit anderen todessüchtigen Spezies nur als die Morbs.

Fassin und Y’sul wurden in der sanft erleuchteten, höhlenartigen Eingangshalle von einem Ythyn-Offizier empfangen, – einem imposanten dunklen Vogelwesen, mehr als drei Meter groß, in einem engen, glänzenden, fast durchsichtigen Gelanzug. Die Haut darunter erinnerte an dunkelblaues Pergament. Die fest zusammengebundenen Doppelschwingen, die ausgebreitet eine Spannweite von zwölf Metern gehabt hätten, ließen erkennen, dass der Ythyn noch jung war. Er stand auf drei ungleichen Beinen: eine dicke Gliedmaße hinten, zwei dünnere vorne. Der breite Lippenschnabel unter dem Gelanzug war mit glitzernden Intarsien aus Edelmetall verziert. Die beiden Augen glichen riesigen schwarzen Tellern. von den vergitterten Nüstern führten dünne, geschwungene Röhren zu kleinen runden Tanks aus fleckigem Silber, die ihm wie Eier auf dem Rücken hingen. Auf Ythyn-Schiffen gab es keine Atmosphäreschleusen; die Besatzung verbrachte mit ihren toten Schützlingen die ganze Zeit im harten Vakuum. Nur diesem lautlosen Nichts ausgesetzt und deshalb immer auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt, konnten die Leichname in dem großen Schiff eine Ewigkeit lang ungestört lagern, ohne zu verwesen. Die einzigen Verfallserscheinungen waren bedingt durch die Todesursache und die Nebenwirkungen des schnellen oder langsamen Gefrierprozesses.

Ich heiße Sie willkommen, erklärte der Ythyn-Offizier mit einem flachen Signal ohne jede Betonung, nur eingeleitet von formelhaften Zeichen für Traurigkeit und Ehrfurcht. – Sie sind Mr. taak, und Sie sind Mr. y’sul, richtig?

– Richtig, sendete Fassin.

Mein Name ist Neunter Lapidarius, ich bin der diensthabende Rezeptionär. Aber auch die Anreden ›Neunter‹ oder ›Diensthabender‹ sind ehrenvoll und werden gern akzeptiert. Haben Sie, meine Herren, schon verfügt, wie Ihr Körper nach Ihrem Ableben behandelt oder entsorgt werden soll?


Infolge eines grausigen Techno-Fluches, der Rache einer Spezies, von der sie nach einem harten Kampf vernichtend geschlagen worden waren, mussten die Ythyn schon seit einer Milliarde Jahren die Toten einsammeln. Sie hatten durch jene Niederlage ihr kleines Reich, ihre Hand voll Planeten, ihre großen Habitate und die meisten ihrer Schiffe verloren. Sogar ihre Identität hatte man ihnen genommen und sie in ein genetisches Manipulationsprogramm gezwungen, das sie aus Geschöpfen mit ausgewogenem Intellekt zu todesbesessenen Kreaturen machte.

Die Sieger hatten mit teuflischer Gerissenheit eine verborgene Schwäche ihrer Opfer entdeckt und ausgenützt. Die Ythyn hatten sich von jeher etwas zu sehr für das Phänomen der Sterblichkeit interessiert, jedenfalls mehr, als es bei ähnlichen Spezies üblich war. Die Faszination ging allerdings nicht so weit, dass man von einer ernsthaften Perversion hätte sprechen können, und erst recht nicht so weit, dass sie davon definiert worden wären. wären sie bei dem Prozess, der sie so überaus morbide machte, psychisch bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden, dann wäre die Strafe unangemessen plump ausgefallen. Stattdessen wurden sie durch eine subtile, aber signifikante Veränderung der eigenen Körpersignale zu dem, wozu sie vielleicht ohnehin geworden wären, wenn ähnlich bizarre Veränderungen in ihrer Umwelt und ihrer Lebensweise es so gefügt hätten. wer sich weigerte, sich der Erbgutmanipulation zu unterziehen und sich nicht das Leben nahm, wurde entweder getötet oder gefangen genommen und zu der Behandlung gezwungen. Die meisten dieser Opfer begingen hinterher Selbstmord.

Die Überlebenden wurden zu Wanderern, zu einer jener Dutzenden von Spezies, die sich auf Planeten entwickelt hatten, aber nun keine Heimatwelt mehr haben durften – oder, in ganz wenigen Fällen, haben wollten. Sie bauten massive kalte und dunkle Schiffe und häuften riesige Bibliotheken und Datenbanken zum Thema Tod an. Die Schauplätze großer Schlachten, grausiger Blutbäder oder schrecklicher Katastrophen übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Mit der Zeit begannen sie, an diesen Orten die namenlosen Leichen einzusammeln und mehr oder weniger so, wie sie sie gefunden hatten, in ihren großen, luftleeren Schiffen einzulagern. Jedes Schiff schleppte seine Totenfracht von einem Ende der Galaxis zum anderen oder drehte langsame Spiralen am Rand entlang. Die Nekro-Schiffe waren für Wurmlochreisen zu groß und wagten sich nicht einmal allzu nahe an einen Stern heran, deshalb brauchten die Ythyn kleinere Schiffe, um die Toten zu ernten. Doch auch diese benützten die Wurmlöcher in diesen Tagen nur noch selten. Die Propylaea, die alle Portale der Merkatoria verwaltete, war keine Wohlfahrtsorganisation und verlangte Geld für jede Passage. und die Ythyn waren nicht reich.

Sie nahmen die Schiffe, mit denen man die Toten zu ihnen brachte – oder deren Insassen zum Sterben zu ihnen kamen –, aber das waren gewöhnlich nur noch leere Rümpfe, Wracks oder schrottreife Kähne, außerdem waren sie den Ythyn ebenso heilig wie die Toten selbst. Gelegentlich gab es Spenden und Legate von verschiedenen Vereinigungen, aber nur vereinzelt und in großen Abständen. Wenn es am anderen Ende eines Wurmlochs Tote zu bergen gab und die Ythyn sich die Ausgabe leisten konnten, mieteten sie mit ihren spärlichen Reserven ein Nadelschiff. aber gewöhnlich suchten sie die Stellen in der Galaxis, an denen es sporadisch zu Massentodesfällen kam, persönlich auf.

Die letzten Leichen der inzwischen ausgestorbenen Spezies, die ihnen einst ihre Strafe auferlegt hatte, waren längst eingesammelt. Nun hätten sie ohne große Mühe und ohne auf Widerstand zu stoßen die Erbgutveränderung rückgängig machen und den ursprünglichen Zustand wiederherstellen können. Dass sie darauf verzichtet hatten, war entweder ihre größte Tragik, oder ein Zeichen dafür, dass sie in der galaktischen Gemeinschaft einen Platz gefunden hatten, der ihnen besser entsprach als jeder andere.

Wir sind auf dem Weg zum Chistimonouth-System, erklärte der Diensthabende Rezeptionär Neunter Lapidarius dem Dweller und dem Menschen. Sie folgten einem breiten, gekrümmten Korridor tief im Innern des Riesenschiffs. Das große Vogelwesen steuerte mit einem der zwei dünnen Vordergliedmaßen einen kleinen käfigartigen Wagen über eine Monoschiene im Zentrum des Tunnels. Der Wagen fuhr vollkommen lautlos, und auch die Dunkelheit war vollkommen. Sie mussten Aktivsensoren einsetzen, um in dem scheinbar endlosen Gang überhaupt sehen zu können. – Wir suchen nach den sterblichen Überresten einer serpenterischen Zivilisation, mit der erst seit kurzem Kontakt besteht, möglicherweise ein Ableger der Desii-Chau (die bedauerlicherweise selbst nicht mehr sind; wenn nicht bereits ausgestorben, dann bestenfalls weit im fünften Stadium des Niedergangs). Niemand kümmerte sich darum, als sie vor ein paar Jahrhunderten durch eine Serie von Sonneneruptionen ausgelöscht wurde. Der einzige von ihr bewohnte Planet trug schwere Schäden davon. Es gab dort nur eine empfindungsfähige Spezies, von der angeblich niemand überlebt hat. wenn wir in einigen Jahrzehnten dort ankommen, wird es uns eine Ehre sein, in diesen heiligen Hallen so viele von den noch nicht Bestatteten beizusetzen, wie wir nur können.

– In welchem Zustand werden die Unbestatteten sein?, fragte Y’sul. Schweben sie im All? Oder sind sie längst in ihren eigenen Tiefen versunken? In Wasser oder Schlamm oder flüssigem Fels vielleicht?

Die Korridore waren von Toten gesäumt – die Leichen waren innen an die Tunnelröhren geklammert, geheftet, genagelt oder kryogeschweißt.(Begriffe wie Böden, wände und Decken waren nur von Bedeutung, solange das Schiff unter Schub stand, was nur zeitweise der Fall war.) Manche Körper konservierte man am besten in Höhlungen oder Nischen, die mit Diamantfolie verschlossen wurden.

Wer dieses Glück hatte, bleibt im Untergrund, erklärte der Diensthabende. Einige Überreste werden sich vermutlich auch nach so langer Zeit noch in Gebäuden finden lassen. Aus den Berichten diverser Kundschafterspezies ist zu entnehmen, dass sich viele namenlose Kadaver im Weltall an den Lagrange-Punkten angesammelt haben.

– Und wenn sie nicht mehr da sind?, fragte Y’sul. – Wenn euch jemand zuvorgekommen ist und sie … aufgegessen oder wiederverwertet oder sonst etwas mit ihnen angestellt hat?

– Dann ziehen wir weiter zum nächsten Ort, wo wir die Toten ehren können, erklärte der schwarze Vogel ungerührt.

Wenn ich so recht überlege, sagte Y’sul vergnügt, – könnte es an einem Ort namens Ulubis schon bald ein paar Kadaver geben, die man einsammeln sollte.

Fassin sah den Dweller strafend an, aber der beachtete ihn nicht.

Ulubis, sagte der Diensthabende. – Den Namen habe ich noch nie gehört. Ist das ein Planet?

– Ein System, antwortete Y’sul. Heimat des Planeten Nasqueron. Liegt im Quaternärstrom in einer der Südlichen Riffranken.

– Ach so. Ziemlich weit weg von hier.

– Es gibt viele Menschen dort, und noch mehr sind dorthin unterwegs, erläuterte Y’sul. – Wahrscheinlich kommt es zum Krieg. Und dann gibt es wahrscheinlich viele Tote. Ihr sammelt doch auch Menschen, oder?

– Schwierigkeiten bereiten uns nur gewisse Cincturier-Spezies, erklärte das Vogelwesen. Von Menschen haben wir schon gehört und sie in der Vergangenheit auch aufgenommen, aber nicht mit diesem Schiff. Ich werde Ihre Information baldmöglichst an das nächste Nekro-Schiff weitergeben. Natürlich könnte es sein, dass man dort bereits Bescheid weiß oder sich sogar schon auf den Weg gemacht hat. Aber wir sind für den Hinweis sehr dankbar.

– Gern geschehen, sagte Y’sul. Es klang zufrieden. Sein Blick wanderte zu Fassin. – Was hast du?

Fassin wandte sich ab. Hier klebten die Leichen wie kleine erstarrte Vulkanexplosionen an der Tunneloberfläche. – Palonne, erklärte ihr Führer. – Natürlich ossifiziert. Kriegsopfer. Von einem parasitischen Steinfäulnisvirus befallen.

– Faszinierend, sagte Y’sul. – Wie weit ist es noch bis zu diesem Leisicrofe?

Der Diensthabende konsultierte einen kleinen Bildschirm, der an einem seiner zusammengebundenen Flügel befestigt war. – Nur noch ein paar hundert Meter.

– Was treibt er denn hier überhaupt?, fragte Y’sul.

Was er treibt? Der Ythyn klang unsicher.

Er … will euch wahrscheinlich nur studieren, wie?

– Nein. natürlich nicht.Der Ythyn-Offizier schwieg kurz. – Du meine Güte.

Fassin und Y’sul sahen sich an.

Fassin fragte: – Das soll doch wohl nicht heißen, dass er tot ist?

– Doch, sicher. Natürlich. Sie sind auf einem Nekro-Schiff, meine Herren. Ich dachte, Sie wollten nur die Leiche sehen.


Die Nachricht kam, während sie schlief. Die Aufzeichnung war mehrere Stunden alt. Taince betrachtete die schwachen, blau verschobenen Lichter, die sich aus der Richtung des E-5-Separats näherten. Sie waren von der Seite aufgenommen. Die Hungerleider-Flotte befand sich im Anflug auf das Ulubis-System und hatte mit dem Abbremsen begonnen. Die Invasoren würden noch fast drei Monate brauchen, um Ulubis zu erreichen. Die Generalflotte war noch vier Monate entfernt. Sie würde ihr wesentlich dramatischeres Bremsmanöver in etwas mehr als achtzig Tagen einleiten. Ihre Taktiker hatten allein aus dem Bremsprofil der Flotte des E-5-Separats eine Menge erfahren.

Erstens war die Flotte groß: mehr als tausend Schiffe, es sei denn, die Hungerleider hätten haarsträubend raffinierte Methoden, um Triebwerkssignaturen zu fälschen. Zweitens flog sie zu fünfundneunzig Prozent in geschlossener Formation, nur ein paar Dutzend kleinerer Schiffe wagten sich etwas weiter voraus. Das mochte bedeuten, dass auf direktem Kurs eine zweite, in größerer Entfernung bremsende Flotte hinterher kam, die noch nicht zu orten war, aber das war vom Rest des Profils her eher unwahrscheinlich. Aus der Größe, der Auflösung und der Frequenzverschiebung der Triebwerkssignaturen ergab sich, dass es sich um eine relativ langsame Truppe aus technisch veralteten, mittelgroßen Schiffen handelte. Im Grunde bestanden überdurchschnittlich gute Chancen, dass alle bis auf die leichtesten Einheiten der Generalflotte alle bis auf die schwersten Invasorenschiffe angreifen und schlagen konnten. Und was man nicht schlagen konnte, dem konnte man davonfliegen (was allerdings nicht viel nützte, wenn es kein Ziel mehr gab).

Ein dicker Brocken war darunter, ein Riesenkahn, wahrscheinlich eine Kombination aus Kommando-und Kontrollschiff, Landefähre und Truppentransporter mit Produktions-und Reparaturanlagen. Mindestens eine Milliarde Tonnen schwer, Durchmesser im Kilometerbereich, zweifellos bis an die Zähne gepanzert und bewaffnet und mit riesigem Geleitschutz, aber auch ein erstklassiges Ziel, die Königsfigur im Spiel. Wenn es gelänge, dieses Monstrum in einen Kampf zu verwickeln und zu zerstören oder zumindest außer Gefecht zu setzen oder zu kapern, könnte die ganze Invasion zusammenbrechen. Selbst wenn die Invasoren und potenziellen Besatzer nur eine ausreichend starke Front von Bewacherschiffen abstellen mussten, um diesen dicken Pott vor einem ernst gemeinten Angriff zu schützen, würde das ihre Kapazitäten erheblich belasten und ihre Dispositionsmöglichkeiten einschränken. Manöver wie Aufspaltung und Neuformierung des Verbandes wären nur noch in drastisch reduziertem Umfang denkbar.

Die Flottentaktiker hatten diesen Dinosaurier geradezu gehässig beschimpft. Ein Renommierstück hatten sie ihn genannt, ein Schild mit der Aufschrift Idiot an Bord! um den Hals der feindlichen Flotte. jede raumfahrende Spezies, die Kriegsschiffe baute, musste auf die eine oder andere Weise – oft genug auf die harte Tour – lernen, dass große Schiffe einfach nicht sinnvoll waren, höchstens als maßlos überteuertes Mittel, um Eindruck auf naive Eingeborene zu machen. Flexibilität, Steuerbarkeit, niedriges Kosten-Risiko-Verhältnis, effektive Verteilung der immanenten Schadensresistenz, präzise Analyse des Kampfraums, seitenblinde denotative Kontrollstrukturen … solche und noch abgefahrenere Konzepte spielten wirklich eine Rolle bei der Planung von modernen Weltraumkriegen. Ein ›Richtig Großes Schiff‹ schnitt dabei nicht allzu gut ab.

Die Taktiker redeten meistens in ihrem eigenen Kauderwelsch, sie waren leicht erregbar und zwinkerten oft mit den Augen.

»Also eine Stärke, die eigentlich eine Schwäche ist«, hatte Taince bei einer der Besprechungen vorgeschlagen.

»Das wäre eine mögliche Alternativdefinition«, hatte ihr einer der Spezialisten nach kurzem Überlegen zugestanden.

Doch seit etwa einer Woche gab es kaum Hinweise auf weitere Aktivitäten.

Die E 5-Invasoren waren später eingetroffen als erwartet, und die Generalflotte würde früher eintreffen. Was natürlich ganz in ihrem Sinne war. Die Invasoren hatten sicher bald herausgefunden, wann Ulubis mit der Ankunft der Generalflotte rechnen konnte, und es war immer ratsam, den Feind im Ungewissen zu lassen und seine Erwartungen zu enttäuschen. Sollte er ruhig glauben, er hätte alle Zeit der Welt, und bevor er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, war man plötzlich da.

Zuschlagen. Darum ging es immer. Es war eines der Lieblingsworte von Admiral Kisipt. Der Flottenkommandeur, ein Voehn, kannte dieses Wort in mehreren hundert verschiedenen Sprachen, einschließlich des Anglisch der Erde. Sei allzeit bereit, dem Feind einen Schlag zu versetzen. Schnell, energisch und kraftvoll.

Bei Taince hatte die Liebe zugeschlagen, sie hatte sich in einen jüngeren Untergebenen verguckt, und als sie feststellte, dass ihre Gefühle erwidert wurden, hatte sie eine eigene kleine Eroberung inszeniert.

Die Zeitanzeigen tickten gleichmäßig auf den Punkt zu, an dem jeder wieder allein in seine kleine Kapsel zurückkehren und darauf warten musste, dass der Bremsschub das Schiff von knapp unter Lichtgeschwindigkeit auf fast Ulubis-null herunter brachte. Erst dann konnte der Angriff beginnen.


Das Nekro-Cineropol-Schiff Rovruetz schwebte unter der Velpin. Es rotierte ganz langsam und strebte immer noch mit sanfter Beschleunigung seinem fernen Zielsystem und dessen längst verstorbenen, aber noch nicht begrabenen Bewohnern zu. Die Velpin suchte mit allen Sensoren den äußeren Rand des Riesenschiffes ab. Fassin und Y’sul waren wieder an Bord. Man hatte ihnen Leisicrofes leblosen Körper gezeigt. Er war mit einem halben Dutzend weiterer toter Dweller an die vereiste Wand des großen dunklen Korridors geschweißt.

Sehr gut konserviert, wie Sie sehen, hatte der Diensthabende Rezeptionär Neunter Lapidarius betont. – Ich hoffe, Sie finden das Umfeld angemessen. Der Ythyn-Offizier war immer noch erschüttert über das Missverständnis.

Er ist also einfach so gestorben?, hatte Y’sul gefragt.

Offenbar ganz plötzlich. Er trieb – genauer gesagt, er rollte – in seinem Schutzanzug durch das Schiff. wir fanden ihn ein paar Tage nach seiner Ankunft. er hatte darum gebeten, während seines Aufenthalts hier die Verteilung von Leichen verschiedener Spezies erfassen zu dürfen. wir sahen keinen Anlass, ihm das zu verbieten.

Im Innern des Nekro-Schiffs war der Einsatz von Reaktionsmotoren nicht gestattet. y’sul hatte sich mit den vom Anzug geschützten Nabenarmen zur Tunnelwand hin bewegt und war schwerfällig neben dem Leichnam des Dwellers gelandet. Der war bis auf ein kleines Nabentuch nackt.

Ich habe wirklich keine Ahnung, ob das dieser Leisicrofe ist oder nicht, hatte Y’sul erklärt. – Aber es ist ein Dweller, wahrscheinlich von Nasqueron, und er ist auf jeden Fall tot.

– Irgendeine Spur von … irgendwas?, fragte Fassin.

Y’sul hatte den Leichnam bei Licht und mit Radarsensoren untersucht. Er hatte das Nabentuch abgenommen und ausgeschüttelt. Fassin hatte gespürt, wie ihr Ythyn-Gastgeber Einspruch erheben wollte, aber Y’sul hatte das Nabentuch gleich wieder angebracht und sah sich nun die Rückseite des Körpers an, die Stelle, wo er mit Eis an der Tunnelwand befestigt war.

Nichts, lautete seine Antwort.


»Da«, sagte eine Hälfte von Quercer & Janath.

Auf einem Bildschirm der Velpin erschien ein flackernder Umriss um eines der verlassenen Schiffe, die wie Furunkel außen am Rumpf des Nekro-Schiffs saßen.

Fassin betrachtete das Schiff. Es war ein schlichtes schwarzes Ellipsoid, vielleicht sechzig Meter lang. Kalt wie das Weltall und ohne Leben.

»Das ist es?«, fragte Y’sul.»Seid ihr sicher?«

»Es ist ein Dweller-SoloSchiff, Einmann-Allzweckmodell, Standardausführung«, erklärte der Vollzwilling.

»Und dem Ping nach noch nicht lange hier.«

»Könnt ihr seine Systeme aufwecken?«, ragte Fassin. »Herausfinden, wo es zuletzt war, bevor es hierher kam?«

Der Expeditionscaptain sah ihn an. »So funktioniert das nicht.«

»Gib Acht!«

Sie holten sich von den Ythyn die Erlaubnis, das SoloSchiff abzuheben und an die Velpin zu hängen. Dann wärmten sie es auf und leiteten die Standardatmosphäre eines Gasriesen ein. An Bord war gerade so viel Platz, dass Y’sul und Fassin gleichzeitig einsteigen konnten. Quercer & Janath hatten die abgeschaltete Computermatrix des Schiffchens bereits über Laser mit der Matrix der Velpin synchronisiert. Bildschirme, Holotanks, Flächen und andere Displays flackerten auf, stabilisierten sich und blieben hell. Es piepste und klickte auf allen Seiten. Das Schiff fühlte sich immer noch kalt an.

Y’sul beklopfte und betastete mit seinen Nabenarmen einige Maschinenteile, die besonders empfindlich aussahen.

»Kriegt ihr etwas rein?«, fragte er. Der Vollzwilling war auf dem größeren Schiff geblieben.

»Im Log ist was«, erklärte eine Hälfte.

»Log ist Seemannssprache für Tagebuch.«

»Was ihr nicht sagt!«, spottete Y’sul.

»Wirklich. Aber man kommt von hier aus nicht dran. Ihr müsst eure Eingaben von dort machen.«

»Und wie genau?«, fragte Fassin.

»Woher sollen wir das wissen?

»Ist doch nicht unser Schiff.«

»Ihr müsst eben experimentieren.«

Also experimentierten sie, bis sie das korrekte Verfahren gefunden hatten. y’sul musste sich in einen dwellerförmigen Doppelalkoven, eine Sensornische, zwängen und gleichzeitig vier Glyphensymbole auf vier verschiedenen Glyphentafeln drücken. Nun zeigte der Hauptschirm keine Sterne mehr, auch der schwarz glänzende Rumpf des Nekro-Schiffs verschwand, stattdessen erschien das Innere einer kleinen Bibliothek. y’sul griff in den virtuellen Raum, zog ein Buch heraus, auf dessen Rücken Logbuch stand, und schlug es auf.

Eine reglose Dweller-Nabe in Großaufnahme schaute ihnen entgegen.

»Tja«, sagte Y’sul,»sieht genauso aus wie die Leiche in dem großen Weltraumleichenwagen.«

»Wir können ihn sehen. Da müsste ein Play-Knopf sein.«

»Drück ihn doch mal.«

»Mann«, sagte Y’sul,»wir haben wirklich ein Scheißglück. was sollten wir ohne euch Typen bloß anfangen?« Und er drückte auf Play.


Taince Yarabokin wurde durch ein schwaches Alarmsignal aus leichtem Schlaf geweckt und ermahnt, nicht einmal im Traum an eine Einleitung der Sequenz zum Verlassen der Kapsel zu denken. Sie schaltete auf das vordere Außendisplay und schaute hinaus. Ulubis stand scharf und blau vor ihr, eine winzige Sonne inmitten einer Hand voll Sternensand. Das Blau wurde durch die kolossale Geschwindigkeit des Schiffs und der ganzen Flotte erzeugt, die auf die Lichtwellen einhämmerte und die Wellenlängen verkürzte. taince schaltete von Langstreckensensoren auf Schiffsstatus um. Alles drohte von gewaltigen Kräften zerrissen zu werden. Die letzte Bremsphase hatte begonnen. Ein Großteil der Flotte verlor für den Anflug auf und die Ankunft im noch über einen Monat entfernten Ulubis-System rasant an Geschwindigkeit und baute dabei mehr als hundert Gravitationseinheiten auf.

Eine Gruppe – ein volles Geschwader von sechzig Schiffen – bremste jedoch nicht ganz so drastisch ab. Ein weiteres Dutzend wurde gar nicht langsamer und wollte die ganze Strecke bis zum System und auch den größten Teil des Weges durch das Innere bei voller Geschwindigkeit fliegen. Die Besatzungen und die Systeme dieser Schiffe waren in hunderten von Simulationen für einen nicht mehr als knapp vier Stunden dauernden Durchflug bei ultrahoher Geschwindigkeit durch das Planetensystem von Ulubis geschult worden. In weniger als zwanzig Tagen sollten bei dieser Passage möglichst viele Daten zu den aktuellen Bedingungen im System gesammelt und ausgewertet werden. Die nächste Aufgabe war, die Ergebnisse den nachkommenden Schiffen zu signalisieren und zugleich in den Datenbanken aus einem breiten Spektrum von gespeicherten Möglichkeiten ein Paket von Angriffsprofilen auszuwählen. Danach würde gegen alles, was man als Feind identifiziert hatte, aus allen Rohren gefeuert. hoffentlich machte man reiche Beute. Das Vorauskommando würde fast wie aus heiterem Himmel nur einen Monat nach dem Überfall durch die Hungerleider-Flotte über Ulubis hereinbrechen. Mit etwas Glück wäre die Situation noch nicht stabil, und die Streitkräfte des E-5-Separats hätten noch keine Zeit gehabt, ihre Verteidigung angemessen zu organisieren.

Bevor die Schiffe das System vollends durchflogen hätten, würden sie ihrerseits eine noch drastischere Bremsphase einleiten, einen Lichtmonat jenseits davon zum Stillstand kommen und mehrere Wochen nach Eintreffen der Hauptflotte nach Ulubis zurückkehren: bestenfalls, um bei den Aufräumungsarbeiten zu helfen, schlimmstenfalls, um einen vernichtenden Gegenangriff zu führen.

Der Rest dieses Geschwaders sollte das System in kleinen Einheiten unregelmäßig gestaffelt und gut verteilt passieren. Die Taktik würde zum Teil durch die Erkenntnisse der Hochgeschwindigkeitsschiffe bestimmt. wenn alles klappte und der Schlachtplan sich bewährte, würden Wellen von Kriegsschiffen, von denen sich jede länger innerhalb des Systems aufhalten konnte als ihr unmittelbarer Vorgänger, den Feind mit einer Serie von kleineren Schlägen zermürben, seine Zuversicht erschüttern, ihn aus dem Gleichgewicht bringen, verwirren und erste Opfer fordern. Danach würde der Hauptteil der Flotte daherfahren wie eine geballte Faust und einen letzten, massiven K. o.-Schlag anbringen.

Das Licht ihrer Triebwerke würde natürlich vor ihnen eintreffen. Eine vollkommene Überraschung war nicht möglich.

Die Verteidiger von Ulubis hatten sogar noch früher von der Ankunft der Hungerleider erfahren, aber sie hatten mit der Warnung nicht allzu viel anfangen können. Die Flotte des E-5-Separats hatte abgebremst, und während sie noch einige Tage entfernt mitten in der Oort’schen Wolke schwebte, hatten alle Schiffe fast gleichzeitig ihren Antrieb abgeschaltet. als die Leitschiffe die Grenze zum Planetensystem überschritten, waren sie noch langsamer geworden.

In den Wochen, nachdem die Triebwerkssignaturen das Ulubis-Sysstem erreicht hatten und die Triebwerke abgeschaltet worden waren, als folglich die Invasion auf ihrem Höhepunkt war, hatte man viele Waffenblitze gesichtet. die meisten im Umkreis der Planeten Sepekte und Nasqueron.


»Mein Name ist Leisicrofe von Hepieu, Nasqueron, Äquatorzone. Dies ist mein Testament. wer immer du bist, ich gehe davon aus, dass du mir wegen der Daten gefolgt bist, die ich im Auftrag meines Dweller-Landsmannes, des Forschers Valseir von Schenehen bei mir trug. wenn dem nicht so ist und dir diese Aufzeichnung sozusagen der Zufall in die Hände gespielt hat, ist sie vielleicht nur von geringem Interesse für dich. Falls du es jedoch auf die Daten abgesehen hattest, dann muss ich dir gleich sagen, dass du enttäuscht sein wirst.«

Fassin spürte, wie in seiner Seele etwas zerriss.

»Oh-oh«, sage Y’sul.

»Das mag dir wie ein Unglück erscheinen, und vielleicht bist du jetzt wütend. Aber wahrscheinlich habe ich dir einen großen Gefallen erwiesen, denn ich bin der aufrichtigen und festen Überzeugung, dass ich die Daten besser nicht an mich genommen hätte, als man mich darum bat. Mehr noch, man hätte niemanden drängen dürfen, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Natürlich sollte ich nicht wissen, worum es sich handelte, und es war auch nicht direkt Valseirs Schuld, dass ich davon erfuhr.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht so zuverlässig war, wie mein Freund Valseir dachte. Er gab mir die Daten in einem verschlossenen Behälter und bat mich, diesen nicht zu öffnen. Ich versprach es ihm. Er verlangte nicht einmal mein Ehrenwort, sicher glaubte er, wenn er an einen Freund und Forscherkollegen eine solche Bitte richte, sei ein einfaches Ja Garantie genug. Aber ich bin anders als Valseir. Ich bin von Natur aus neugierig, nicht nur dann, wenn ein bestimmtes Thema mich rein vom Intellekt her fasziniert. Viele Jahre widerstand ich auf meinen Reisen der Versuchung, den Behälter zu öffnen, doch irgendwann erlag ich ihr. Ich öffnete den Kasten, ich las, was sich darin befand, und ich erkannte, was es bedeutete.

Selbst dann hätte ich noch aufhören, den Behälter schließen und wieder verwahren können, und hätte ich das getan, ich wäre noch am Leben. Stattdessen las ich weiter – und deshalb musste ich sterben. Ich kann zu meinen Gunsten nur anführen, dass ich zu jener Zeit wohl wie benommen war und all das nicht glauben konnte.«

»Ich glaube eher, er hatte irgendwelche Entspannungsdrogen genommen«, schnaubte Y’sul.

»Und so kam es, dass ich nicht nur das Medium in meiner Obhut hatte, sondern auch seinen Inhalt, das Wissen, das es enthielt. als ich begriff, was ich erfahren hatte, und seinen unschätzbaren Wert erfasste, wurde mir klar, dass ich damit überfordert war. Obwohl ich nicht vollkommen verstanden hatte, was ich gelesen hatte, konnte ich es nicht vergessen. Ich konnte es weitersagen, und es war nicht auszuschließen, dass jemand mich mit Drogen oder durch direkte Eingriffe in mein Gehirn und Bewusstsein zwang, mein Wissen zu verraten.«

»Spinner«, sagte Y’sul.

»Was ist das?«, fragte eine Hälfte von Quercer & Janath leise über die offene Verbindung zur Velpin.

»Hmm. weiß nicht.«

Das klang nicht so, als hätten die beiden der Leisicrofe-Aufzeichnung aufmerksam zugehört.

»Ich will nicht leugnen, dass ich mich seit längerem mit meinem Tod beschäftigt hatte. aber nur gewohnheitsmäßig, in Zusammenhang mit dem Abschluss meiner Forschungen zu den vielen verschiedenen Cincturier-Formen und mit der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Arbeit – von der ich leise Hoffnungen hegte, dass sie zum Standardwerk werden könnte – über dieses Gebiet, das ich mir erwählt habe und dem meine Liebe gehört. Doch mit meinem heutigen Wissen halte ich es, wie ungern auch immer, für besser, meine Studien abzubrechen und meinem Leben ein Ende zu setzen, sobald das in Würde geschehen kann. Ich werde es hier tun, bei den Ythyn, auf dem Nekro-Cineropol-Schiff Rovruetz, denn hier könnte mein Tod noch etwas mehr Sinn haben als an irgendeinem anderen Ort.«

»… Sieht aus wie, oder …«, kam es über den offenen Kanal.

»Anpingen?«

»Nein! Bist du …? Schalte das ab …«

Die offene Verbindung wurde geschlossen. Fassin wandte sich der Zugangsluke und dem kurzen Tunnel zu, der das SoloSchiff mit der Velpin verband.

Leisicrofe sprach immer noch. »… wirst mir verzeihen. Du solltest es tun. Wenn du weißt, wonach du suchst, dann sage ich nur so viel: es sah eher wie ein Code aus, wie eine Frequenz, und dürfte den Erwartungen kaum entsprochen haben. Aber jetzt existiert es nicht mehr. Ich habe es zerstört, habe es zusammen mit dem Behälter in die Sonne Direaliete geschossen. Von einer Kopie ist mir nichts bekannt. Wenn dir dies alles vollkommen sinnlos vorkommt, dann bitte ich dich, respektiere den letzten Wunsch eines alten und – wie sich jetzt zeigt – sehr törichten Dwellers und lass ihn hier in Frieden ruhen.« Das Bild gefror, und die Meldung ›Ende der Aufzeichnung‹ leuchtete auf.

Fassin starrte das Bild des toten Dwellers an. Das war das Ende. Er hatte versagt. Jetzt würde er wohl nie mehr erfahren, ob die Dweller-Liste jemals irgendetwas bedeutet hatte.

»Vollkommen verrückt«, seufzte Y’sul und spielte an den Schaltern der Glyphentafel herum. »Das ist offenbar unser Schicksal.« Er wandte sich an Fassin. »Klingt wohl nicht allzu hoffnungsvoll, junger Mensch?«

Die Verbindung zum Schiff wurde mit leisem Klicken wieder aktiviert. »Raus mit euch!«, schrien Quercer & Janath. »Ihr habt zehn Sekunden Zeit, um auf die Velpin zurückzukommen!«

»Wir werden angegriffen! Es eilt!«

Fassin schüttelte seinen Schock ab und näherte sich rückwärts der offenen Luke, die zur Velpin führte.

Y’sul löste sich aus der Sensornische und folgte ihm. Mit einem Nabenarm kratzte er sich den Flossensaum. »Der Wahnsinn ist offenbar ansteck …«

»Ein Scheiß-Voehnschiff! Wir müssen weg, sofort

»Triebwerke zünden in fünf, vier, drei …«

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