12. KAPITEL


Als Golo erwachte, hatte er das Gefühl, ein Stier müßte über ihn hinweggetrampelt sein. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte.

»Dem Himmel sei Dank, Herr! Ihr seid wieder bei Euch!« Das Gesicht eines jungen Knappen beugte sich über ihn. »Soll ich den Medicus des Bischofs rufen lassen?«

Golo versuchte stöhnend, sich zu erheben, gab aber auf halbem Weg wieder auf und ließ sich zurücksinken. Er lag in einem roten Zelt auf einer Bettstatt aus Kissen und Pelzen. Ob dem Knappen seine Betroffenheit ernst war? Vermutlich war er nur ein Heuchler. Golo wußte nur zu gut, wie Diener üblicherweise von ihren Herren dachten.

»Hol mir lieber einen Priester«, röchelte er leise. Schlagartig wich dem Jungen alle Farbe aus dem Gesicht. »Nein, Herr... Ihr werdet doch nicht!« Der Knappe wollte schon zum Eingang des Zeltes laufen, als Golo ihn gerade noch an einem Zipfel seines Gewandes packen konnte.

»War nur ein Spaß... Vergiß es. Mir geht es... gut. Aber laß mich... jetzt in Ruhe. Ich will allein sein.«

Der Junge blickte ihn einen Moment lang verwundert an, dann gehorchte er. Stöhnend richtete sich Golo auf. Es hatte ihn nicht so schlimm erwischt, wie er gedacht hatte. Schließlich war er nicht zum ersten Mal von einem Pferd gefallen. Seine Rüstung hatte den Sturz allerdings keineswegs angenehmer werden lassen. Ihm war jetzt klar, daß das Leben als Ritter nichts für ihn war. Sicher hatte es Spaß gemacht, die edlen Herren von ihren Rössern zu stoßen, doch welchen Preis hatte er dafür gezahlt! Er mußte an den Ritter im roten Waffenrock denken, den man tot vom Turnierplatz getragen hatte. Nein, so wollte er nicht enden! Auch wollte er nicht länger in die Intrige des Bischofs verwickelt sein. Das konnte nicht gutgehen, wenn er sich inmitten eines Heeres streitsüchtiger Normannen als Adliger ausgeben mußte. Irgendwann würde ihnen auffallen, daß er in Wahrheit nur ein Knecht war, und sie würden ihn in Stücke reißen.

Golo streifte den Waffenrock ab und kämpfte sich mühsam aus dem schweren Kettenhemd. Als er sich endlich entblößt hatte, betrachtete er sein Hinterteil. Durch den Sturz hatten sich dort dunkelrot die Ringe des Kettenhemdes abgemalt. Zu reiten würde in den nächsten Tagen die reine Hölle sein. Der Knappe humpelte zu der Kleidertruhe, die dicht neben dem Eingang stand. Dort suchte er einige schlichte Kleidungsstücke zusammen, in denen man ihn für einen Pagen halten mochte. Während des Durcheinanders des Turniers war die beste Gelegenheit zu fliehen. Er würde die Mauern von Saintes schon weit hinter sich gelassen haben, bevor der Bischof überhaupt bemerkte, daß er verschwunden war. Golo überprüfte den Sitz seiner neuen Kleider und war zufrieden.

Wenn Jehan de Thenac geglaubt hatte, er ließe sich einfach so herumschubsen, dann hatte er sich geirrt. Er würde jetzt seine Pferde holen und Aquitanien auf immer den Rücken kehren. Wenn er abwechselnd auf den beiden mächtigen Streitrossen ritt, dann würde er jedem Verfolger mit Leichtigkeit entkommen. Ein Leben lang zu lügen und auf die Gnade dieses tyrannischen Bischofs angewiesen zu sein, das war nichts für ihn! Er dachte wieder an Troyes und daran, wie er schon im nächsten Jahr eine Handvoll Knechte haben würde, die für ihn die Drecksarbeit auf seinem Gutshof erledigten. So wollte er sein Leben fristen!

Vorsichtig schob Golo die Plane am Eingang des Zeltes ein wenig zur Seite und spähte nach draußen. Es mußte später Nachmittag sein. Er hatte offenbar für eine ganze Weile das Bewußtsein verloren. Das Leben im Lager ging seinen gewohnten Gang. Knappen eilten im Auftrag ihrer Herren umher. Ein Stallbursche striegelte ein Pferd. Hier und dort lungerten ein paar Waffenknechte herum. Entschlossen trat Golo vor das Zelt. Er hatte seine kurzen Haare unter einer Kappe versteckt und humpelte, so schnell es ihm seine geschundenen Knochen erlaubten, zu den Pferdekoppeln. Nur vor dem Küchenzelt des Bischofs machte er kurz Halt, um sich ein frisches Brot und ein Stück Käse einzustecken.

Lanzenbrecher war inzwischen längst abgesattelt worden, und ein Knecht hatte ihm einen Hafersack umgehängt. Neben dem Schimmel waren das Schlachtroß Gwalchmais und die anderen Pferde angepflockt. Sein Vermögen wartete darauf, daß er es wieder in Besitz nahm! Golo wollte schon zu dem Pferdeknecht herübergehen, als zwei Soldaten in den Waffenröcken des Bischofs erschienen. Die Krieger gingen geradewegs zu den Pferden. Sie tauschten ein paar Worte mit dem Knecht, der daraufhin nickte.

Was zum Henker mochte dort vor sich gehen? Golo hatte sich hinter ein Zelt zurückgezogen und beobachtete die drei. Sollte der Bischof etwa schon erfahren haben, daß er versuchte, aus dem Lager zu fliehen? Aber wer könnte ihn verraten habe? Etwa der junge Knappe aus seinem Zelt? Ob der Kerl am Ende beobachtet hatte, wie er verkleidet aus dem Zelt herausgekommen war? Golo leckte sich nervös die Lippen. Er mußte seine Pläne ändern! Vielleicht sollte er sich unter die Zuschauer des Turniers mischen und erst bei Nacht wiederkommen, um seine Pferde zu holen. Doch dann müßte er an den Wachen des Lagers vorbei, und das waren allesamt Männer des Bischofs, die ihn zumindest vom Sehen her kannten. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Ohne die Pferde hatte es keinen Sinn zu fliehen! Sie waren seine Zukunft!

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. »Herr von Zeilichtheim, habe ich Euch endlich gefunden!«

Erschrocken drehte Golo sich um. Er hatte sich immer noch nicht richtig an seinen falschen Namen gewöhnt, und manchmal passierte es ihm, daß er gar nicht reagierte, wenn er mit dem Adelstitel angesprochen wurde. Es war einer der Diener des Bischofs, der ihn aufgespürt hatte.

»Ich war bereits in Eurem Zelt. Es freut mich, Euch nach dem schweren Sturz so wohlauf zu sehen.«

Golo war sich nicht sicher, ob sein Gegenüber die letzte Bemerkung ironisch gemeint hatte. Zumindest verzog der Kerl keine Miene dabei. Jetzt waren auch noch die beiden Wachen beim Pferdeknecht auf ihn aufmerksam geworden und kamen herüber. Ob Jehan geahnt hatte, daß er fliehen wollte? Wie sonst hatten ihn diese Kerle so schnell gefunden? Und was mochte der Bischof von ihm wollen?

»Was für eine eigenartige Gewandung tragt Ihr nur? Ihr werdet Euch neu kleiden müssen, bevor Ihr vor den Herzog der Sumpflande tretet, Herr Golo.«

»Zu welchem Anlaß wünscht der Herr de Thenac mich denn zu sehen?« fragte der Knecht möglichst unverfänglich. »Nur wenn ich das weiß, vermag ich mich wirklich angemessen zu gewanden.«

»Der Herzog der Sumpflande pflegt mich nicht über seine Absichten aufzuklären«, entgegnete der Diener steif. »So wie es mir scheint, wird dies in Anbetracht der Ereignisse dieses Tages wohl ein Gespräch unter vier Augen werden.«

Golo schluckte. Also doch... Jehan hatte ihn beobachten lassen und wußte um seine Fluchtpläne. Der Knecht atmete tief durch. Nun galt es, die Haltung zu wahren und alles entschieden zu leugnen. Der Bischof war kein Mann, der Spaß verstand, wenn jemand versuchte, seine Pläne zu durchkreuzen.

»Ich wollte mich nur davon überzeugen, daß mein Schlachtroß im Turnier nicht verwundet worden ist«, murmelte Golo gepreßt.

»Natürlich«, entgegnete der Diener des Bischofs gelassen.

Klang ein Hauch von Ironie in seiner Stimme, oder bildete er sich das ein? Der Knecht spürte, wie ihm kalter Schweiß den Rücken hinablief. Solche Intrigenspiele waren nichts für ihn. Er liebte es, wenn die Dinge klar und unmißverständlich waren. »Können wir nun zu Eurem Zelt gehen, Herr? Der Herzog der Sumpflande besteht sehr dringlich darauf, Euch zu sehen.«

»Selbstverständlich!«

Die drei Männer geleiteten ihn bis zum Zelt, und während die beiden Waffenknechte draußen Posten bezogen, folgte der Diener Golo sogar bis ins Innere und ließ ihn auch, während er sich neu ankleidete, nicht aus den Augen.

»Wo soll ich den Herrn Herzog denn treffen?«

»In der kleinen Kapelle unten am Fluß. Er hat sich dort zum stillen Zwiegespräch mit dem Herrn eingefunden. Dort ist es ruhig. Niemand wird uns stören.«

Der Knecht schluckte. Genau das hatte er befürchtet. Er kannte den Ort, und für seinen Geschmack war es dort entschieden zu ruhig. Ein kleiner, sehr dichter Wald schirmte die Kapelle gegen den Turnierplatz ab. Sie stand auf einer Lichtung, die zwar nahe am Wasser lag, doch vom Fluß aus nicht einzusehen war. Ein Ort, wie geschaffen dazu, um ihn ermorden zu lassen. Golo griff nach seinem Schwert und gürtete es um seine Hüften. Er wußte zwar, daß er gegen Jehan und vermutlich auch gegen die beiden Waffenknechte nicht im Schwertkampf bestehen konnte, aber so blieb ihm zumindest die Illusion, sich verteidigen zu können. Er war sich sicher, daß der Bischof und seine Spießgesellen ihn dort auf der Lichtung ermorden würden. Seine Leiche würden sie in den Fluß werfen oder im Wald unter einem Haufen alten Laubes verbergen. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Jehan brauchte ihn nun nicht mehr weiter. Ja, nach diesem Fluchtversuch bestand für den Bischof keinerlei Anlaß mehr, ihm zu vertrauen.

»Seid Ihr bereit, Herr?« Der Diener sah ihn fragend an.

Golo straffte sich und erwiderte den Blick. Dies war der letzte Weg, den er in seinem Leben machen würde. Er würde sich dabei nicht wie ein Feigling verhalten! »Gehen wir!« Seine Stimme klang nicht ganz so fest, wie er gehofft hatte.

Draußen vor dem Zelt schlossen sich ihnen sofort wieder die beiden Waffenknechte an. Für einen Beobachter, der nicht wußte, was geschah, mochte es so aussehen, als sei Golo eine besonders wichtige Persönlichkeit, die von einer Ehrengarde eskortiert wurde.

Schnell hatten sie den Turnierplatz hinter sich gelassen. Es war später Nachmittag. Der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Am Himmel gab es kaum Wolken. Der Sommer kündigte sich an. Die ausladenden Äste der hohen Buchen, die den schmalen Weg durch den Wald flankierten, spendeten angenehmen Schatten. Gierig sog Golo die würzige Waldluft ein und blickte den kleinen Vögeln nach, die durch das dichte Laubdach segelten. Ein Stück vor ihnen erhob sich eine Elster keckernd vom Waldweg. Warum hatte er nicht in seinem Zelt bleiben können? Hätte er diesen idiotischen Fluchtversuch nicht gewagt, hätte der Bischof sicher noch eine Zeitlang sein Spiel mit ihm getrieben. Golo seufzte. Ihm war ein wenig schwindelig, und sein Kopf brummte, als suchten Hunderte wütender Bienen nach einem Weg aus seinem Schädel heraus.

»Ist Euch nicht wohl, Herr?« Der Diener war stehengeblieben und musterte ihn besorgt.

»Das muß wohl der Sturz sein... Ich glaube, ich habe mir ziemlich den Kopf angeschlagen.«

Der Mann nickte. »In der Kapelle ist es kühl. Das wird Euch sicher guttun. Ihr sitzt fest im Sattel. Beinahe hättet Ihr es geschafft, den Herren Berengar von Broceliande in den Staub zu schicken.«

Was nutzte ihm dieser zweifelhafte Ruhm, dachte Golo. Morgen schon würde niemand mehr davon sprechen. Der Knecht taumelte ein wenig. Mit einem raschen Schritt war der Diener an seiner Seite und stützte ihn. »Es ist nicht mehr weit.« Er gab den beiden Waffenknechten einen Wink, und sie nahmen Golo in ihre Mitte.

Dem Knecht war hundeelend. Er hatte keine Kraft mehr. Die Bäume schienen um ihn herum zu wirbeln...

Halb benommen merkte er, wie er durch ein Portal gezerrt wurde. Es war hier dunkler und kühler.

»Ah, da erscheint ja endlich auch der ehrenwerte Herr von Zeilichtheim!« Jehans Gesicht erschien vor ihm. Der Bischof trug liturgische Gewänder und war auf das Prächtigste herausgeputzt. Flüchtig konnte Golo ein paar andere Gestalten hinter dem hohen Herren erkennen.

»Ihr habt Euch heute auf dem Turnier hervorgetan, mein lieber Freund. Mit dem Schwert mögt Ihr nicht der Beste sein, doch habt Ihr alle überzeugt, daß Ihr es versteht, mit der Lanze Hervorragendes zu leisten. Der Herr Berengar kam nach dem Gestech zu mir und erklärte, er sei froh, daß er nicht zu einem dritten Durchgang gegen Euch antreten mußte. Für diese herausragende Leistung habt Ihr Euch die Sporen der Ritterschaft verdient.« Der Bischof beugte sich ein wenig tiefer und flüsterte nun leise. »Wenn du erst einmal in aller Öffentlichkeit zum Ritter geschlagen bist, wird niemand mehr deinen Stand anzweifeln können. Die Zeremonie wird morgen im alten Römertheater stattfinden, und die ganze Armee wird zugegen sein, um deiner Schwertleite beizuwohnen. Danach wirst du noch einmal erzählen, auf welch heimtückische Weise diese Bastarde aus den Sümpfen deinen Freund Volker ermordet haben. Ist das klar?«

»Mir ist schlecht...« murmelte Golo.

»Reiß dich zusammen! Mit dir werden noch zwei andere Edle in den Ritterstand erhoben. Zieh dich jetzt aus. Ihr werdet in den Fluß steigen und baden, um geläutert zu sein, wenn ihr morgen zum Ritter werdet. Nach dem Bad sollt ihr in frische Gewänder aus neuen Linnen gehüllt werden und über Nacht in dieser Kapelle wachen.«

»Ich kann nicht...«

Der Bischof erhob sich. Er sprach nun wieder so laut, daß ihn alle in der Kapelle verstehen konnten. »Mich dünkt, der Herr von Zeilichtheim hat sich noch nicht ganz von seinem Sturz erholt. Helft ihm, seine Kleider abzulegen!«



Volker kam es so vor, als habe er schon eine Ewigkeit zwischen den Gebeinen der toten Helden des Feenvolkes gelegen. Zeit genug jedenfalls, um von immer quälenderen Gedanken heimgesucht zu werden. Was würde geschehen, wenn er einen Fehler machte? Würde Neman wirklich zusehen, wie man ihn ermordete? Er hatte sein Schwert. Mit ein paar Priesterinnen müßte er doch fertigwerden... Er dachte eine Weile darüber nach und kam so auf jenen Gedanken, der ihn wesentlich mehr ängstigte als die Aussicht, mit einem Schwert in der Hand einer Übermacht von Feinden gegenüber zu stehen. Was war, wenn Neman ihn hinters Licht geführt hatte? Vielleicht war sein Tod für sie schon längst beschlossene Sache? Womöglich hatte sein Sterben sogar schon begonnen. Er lag in einer Grabkammer, tief unter der Erde, die mit einem massigen Felsrad verschlossen war, von dem er nicht wußte, wie man es von der Stelle bewegte. Vielleicht hatte die Fee ihn betrogen! Was war, wenn der Streiter der Morrigan noch lebte und es niemals ein Begräbnis geben würde? Dann wäre er es, den sie in dieser Nacht zu Grabe gelegt hatte! Er würde hier unten verdursten.

Das konnte nicht sein! Er sollte so etwas nicht einmal denken! Warum sollte sie das tun? Vielleicht weil du wieder genesen bist und sie deine Lügengeschichten durchschaut hat, meldete sich eine Stimme in seinem Inneren. Jetzt bist du stark genug, um sie zu überwältigen, falls es dir in den Sinn kommen sollte, auf diesem Wege die Flucht zu versuchen.

Aber warum hätte sie ihn auf so umständliche Weise ermorden sollen? Warum eine so aufwendige Geschichte? Es hätte doch gereicht, das Essen zu vergiften, das sie ihm regelmäßig brachte.

Auch dafür gibt es einen ganz einfachen Grund, entgegnete die kalte Stimme des Zweifels. Hätte sie dich vergiftet, würde deine Leiche irgendwo auf der Insel herumliegen. Manchmal kommen auch andere Feengestalten hierher. Denk nur an die Wäscherin! Neman ist gezwungen, deine Leiche verschwinden zu lassen. Dich wegzutragen wäre schwere Arbeit... Du weißt, sie ist zierlich gebaut. Also hat sie dich hierher gebracht, an einen Ort, an dem ein Toter mehr nicht auffallen wird. So mußte sie dich nicht tragen.

Sie ist nicht so, versuchte sich Volker einzureden. Er dachte an all die Stunden, die sie zusammen verbracht hatten. Gewiß, sie war anders als andere Frauen. Auf ihre Art scheu und zurückhaltend... Oder war alles nur Kalkül gewesen? Hatte sie von Anfang an mit ihm gespielt? So wie sie hatte sich noch nie eine Frau seinem Charme widersetzt. Sie war unempfänglich für Schmeicheleien, und daß er recht attraktiv war, schien sie auch zu ignorieren. Hatte sie ihn also benutzt? Aber wozu?

Ein Geräusch schreckte den Spielmann aus seinen Gedanken. Es klang wie fernes Flötenspiel. Dann hörte er auch Trommeln. Volker verharrte still und lauschte. Bald schon konnte es keinen Zweifel daran geben, daß sich die Musik näherte. Neman hatte ihn nicht belogen! Der Leichenzug kam. Hoffentlich würde es gelingen, die Priesterinnen zu täuschen. Jetzt konnte er auch schrille Stimmen hören. Das Geschrei von Klageweibern.

Rumpelnd rollte der Verschlußstein am Eingang zur Seite. Flackerndes Fackellicht fiel in die Grabkammer. Zwei Frauen in weißen Gewändern traten ein und stießen merkwürdig trillernde Schreie aus. Die eine von ihnen trug eine Fackel, die andere eine flache Tonschale, aus der duftender Rauch aufstieg. Ihnen folgte eine Gruppe von sechs Frauen, die in weiße, bodenlange Gewänder gekleidet waren. Volker stockte der Atem. Eine der Totenträgerinnen war Gunbrid! Was hatten die Feen mit ihr gemacht? Wie hatten sie die Christin dazu gebracht, an einem heidnischen Ritual teilzunehmen?

Die sechs Priesterinnen trugen ein großes Leinentuch, in dem der Leichnam des Kriegers ruhte. Jetzt betrat auch Neman die Kammer. Wie die anderen Priesterinnen war sie in ein weißes Gewand von schlichtem Schnitt gehüllt. Doch trug sie dazu prächtigen Schmuck. Schwere, goldene Armreifen, eine breite, emaillierte Kette und goldene Haarnadeln, mit der eine komplizierte Frisur aus Zöpfen, frischen Blüten und kleinen Ästen zusammengehalten wurde. Ihre Wangen waren mit weißem Puder eingerieben, die Lippen mit dem Saft von Waldbeeren rot bemalt und die Augen von schmalen, mit Holzkohle gezogenen Linien gerahmt. Fasziniert starrte der Spielmann aus seinem Versteck zwischen den Gebeinen zu der Priesterin. Sie war von atemberaubender, barbarischer Schönheit.

Zwei Priesterinnen begannen, die Knochen von der bronzenen Liege auf ein weißes Leintuch zu räumen, das sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Offenbar sollte der Streiter der Morrigan diesen Ehrenplatz erhalten. Aus dem Gang hinter dem Felstor erklang noch immer Trommelschlag und Flötenspiel. Die Priesterinnen, welche die Gebeine umbetteten, murmelten leise Zauberformeln, während eine andere Frau Räucherwerk entzündet hatte und damit über den bleichen Knochen hin und her wedelte, so als wolle sie auf diese Weise den Geist des Verstorbenen besänftigen.

Als der letzte Knochen von der bronzenen Liege entfernt war, begann Neman ein Lied in einer fremden Sprache anzustimmen, während die Priesterinnen den Körper des toten Kriegers auf seine letzte Ruhestatt hoben und dann das Leintuch unter ihm hinwegzogen. Der Mann war enthauptet worden. Sein Körper war ausgezehrt. Flüchtig konnte Volker die tiefe Wunde über der Hüfte sehen, die Arbotorix, dem Recken der Morrigan, den Tod gebracht haben mußte.

Ob jetzt der Zeitpunkt war, sich zu erheben? Gott allein wußte, wie lange die Priesterinnen noch in der Grabkammer bleiben würden. Wie mochte er dieses Schauspiel am eindrucksvollsten gestalten? Sollte er sich mit einem Schrei erheben? Nein! Er sollte ein Sänger sein... Er erinnerte sich an einige Verse eines traurigen Liedes, das Neman einmal gesungen hatte. Er würde sie leicht ändern. Sein neues Leben sollte mit einem Lied beginnen. So ziemte es sich für einen Spielmann. Die ersten Worte hauchte er nur leise, doch dann wurde seine Stimme immer lauter.


»Das Mark in meinen Knochen schmerzt mich,

Neman!

Das Blut in meinen Adern ist eine bitterwilde Flut,

Neman!

Es ist dein Herz, das ruft und das ich höre,

Neman!«


Die Stimmen der Priesterinnen waren verstummt, und die jungen Frauen waren totenblaß, als Volker sich zwischen den Gebeinen erhob. In der Rechten hielt er sein Schwert, und er konnte an den Gesichtern der Frauen ablesen, daß jede ihn für einen Krieger hielt, der aus dem Totenreich zurückgekehrt war.


»Ist es der Wind im Wald,

ist es Brandung, die am Fels zerbricht,

oder spricht die Stimme deines Herzens zu mir,

Neman

und ruft mich aus dem Grab zurück.


Meine Göttin mit den weißen Brüsten,

meine Göttin mit dem kupfernen Haar

und den Lippen, so rot wie Vogelbeeren,

Neman!


Wo ist der Schwan, der weißer ist als du,

wo die Woge der See, die sich bewegt wie du,

Neman!


Kein Grab ist so tief,

keine Zeit so weit,

daß ich die Stimme deines Herzens nicht zu hören vermöchte,

Neman!«


Die wiedererstandene Göttin schritt an der Totenliege vorbei und trat vor ihn hin. Vorsichtig und langsam streckte sie die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Bist du der Mann, den uns unsere Ahnen verheißen haben? Bist du der Sänger, der sich aus den Gebeinen der toten Helden erhebt?«

»Ich bin jener, den die Stimme seines Herzens aus dem Grab befreit!« Volker konnte sehen, wie sich eine steile Zornesfalte auf der Stirn der Hohepriesterin zeigte. Er sollte seine Worte mit mehr Bedacht wählen!

»Der Streiter der Morrigan ist von uns gegangen«, erklärte Neman mit fester Stimme. »Folge uns aus dem Grab, Sänger. Die Krieger von Tirfo Thuinn erwarten dich. Mögen sie entscheiden, ob du ihr neuer Herr sein magst. Folge mir!« Neman drehte sich um und trat zu der steinernen Pforte der Grabkammer. Volker fluchte innerlich. Sie hatte sich mit keinem Wort eine Blöße gegeben. Er war davon ausgegangen, mit seinem Auftritt nur ein paar Priesterinnen beeindrucken zu müssen. Er brauchte sich nur umzublicken, um zu sehen, daß ihm dies gelungen war. Mit den Kriegern war das etwas anderes. Sie würden ihn nicht zwischen den Knochen aufstehen sehen und würden gewiß sofort seinen Akzent bemerken. Volker war sich bewußt, daß er, so sehr er sich auch bemühen mochte, den merkwürdigen, altertümlichen Dialekt der Feen nicht nachahmen konnte. Wollte Neman ihn ans Messer liefern? Doch dann hätte sie schon hier unten gegen ihn sprechen können. Nein, sie war lediglich nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Keinen Schritt würde sie ihm entgegenkommen. Entweder schaffte er es, die Krieger dort oben zu überzeugen, oder er war ein toter Mann, und die Frau, die ihn über Wochen gesundgepflegt hatte, würde zusehen, ohne nur mit der Wimper zu zucken.

Er folgte der wiedergeborenen Göttin in den langen Gang, der sie hinaus in die Nacht führen würde. Hinter ihm erklangen die leisen Schritte der anderen Priesterinnen. Volker ging mit hoch erhobenem Haupt und festem Schritt. Er durfte nach außen nicht die kleinste Schwäche zeigen. Jeder, der ihn sah, mußte davon überzeugt sein, daß er gekommen war, um zu herrschen, und nicht den geringsten Zweifel an seiner Bestimmung hegte!

Dem Spielmann war übel. Er fühlte sich so wie an jenem Tag, als er zum ersten Mal am Hof des Königs in Worms aufgetreten war. Sein Magen drohte zu rebellieren, seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. Jedesmal, wenn er einen Auftritt hatte, der ihm besonders wichtig war, kehrte dieses Gefühl zurück. Er hatte keine Erklärung dafür. Selbst wenn er völlig gesund war, fühlte er sich bei solchen Gelegenheiten wie ein Siecher, der dem Ende nahe war. Ein alter Troubadour hatte ihm einmal erklärt, dies sei die Bardenkrankheit, und es gebe kein Mittel dagegen. Der Mann hatte auch behauptet, sie sei ein gutes Zeichen, denn an dem Tag, an dem man sich zum ersten Mal nicht mehr so elend fühle und keine Angst mehr habe, vor seinen Zuhörern zu versagen, höre man auf, ein wirklicher Barde zu sein.

Volker verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln. Vielleicht war er schon sehr kurz davor, für immer von der Bardenkrankheit befreit zu werden. Was sie wohl mit seinem Kopf machen würden? Ob er auf einem Pfahl stecken würde? Vielleicht würde er von den wütenden Kriegern auch einfach nur in Stücke gerissen werden. Er seufzte. Er sollte diese Gedanken aus seinem Kopf verbannen. Sie raubten ihm nur Kraft!

Sie traten aus dem Eingang des Grabes. Die laue Luft des warmen Frühlingsabends war wie Balsam nach den Stunden in der stickigen Gruft. Doch das war der einzige Genuß! Der Rest erschien ihm mehr wie ein Alptraum. An den Flanken des Grabhügels und bis hinab zum Wasser standen Hunderte von Männern. Viele waren im Nebel verborgen, und man nahm nur das Licht ihrer Fackeln wahr. Die Krieger sahen aus, als hätten die Pforten der Hölle sie ausgespien. Alle erschienen sie Volker ungewöhnlich groß und kräftig. Sie hatten Schnauzbarte, deren Enden hochgezwirbelt oder zu dünnen Zöpfen geflochten waren. Viele waren nackt oder trugen nur Beinkleider. Ihre Körper waren mit blauen Tätowierungen geschmückt oder wenigstens mit blauer Farbe bemalt. Einige hatten etwas in ihre Haare geschmiert, so daß sie ihnen wie Stacheln vom Kopf abstanden. Fast alle Krieger waren mit langen Schwertern bewaffnet. Mit den bunt bemalten Schilden und ihren phantastischen Helmen sahen sie aus, als ob sie bereit seien, in die Schlacht zu ziehen.

Wie Pfeile trafen ihn die Blicke der Männer. Hilfesuchend blickte sich Volker nach Neman um, doch die Hohepriesterin war verschwunden. Wie eine eisige Hand griff die Angst nach ihm. Was zum Henker hatte das zu bedeuten? Eben erst hatte die Priesterin doch noch neben ihm gestanden! Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Abgesehen vom Knistern der Fackeln und dem leisen Gluckern der Quellen war es totenstill. Volker wußte, daß er etwas sagen mußte. Nur noch wenige Herzschläge, und er hätte den Zeitpunkt verpaßt, an dem er die Dinge noch zu seinen Gunsten wenden konnte. Je länger das Schweigen andauerte, desto verzweifelter würde seine Lage.

»Dort, Macha ist zu uns gekommen!« schrie ein Mann nur ein paar Schritt von Volker entfernt und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf etwas, das sich hinter Volkers Rücken befinden mußte. Erschrocken drehte sich der Spielmann um. Flankiert von zwei Fackelträgerinnen trat eine Frau, gehüllt in einen langen, schwarzen Umhang, aus dem Eingang des Grabes. Ihr Gesicht glich dem Nemans so sehr, als sei sie ihre Zwillingsschwester, doch waren ihre Züge härter. Ein grausames Lächeln spielte um ihre blutroten Lippen. Auch sie hatte weiß geschminkte Wagen, und um ihre Augen war so viel Ruß aufgetragen, daß es schien, als ruhten ihre Augäpfel in tiefen, schwarzen Höhlen. In ihrem Haar steckten zwei Rabenschwingen, und als sie mit ihren Armen den Umhang weit auseinandersteckte, sah es aus, als habe sie an Stelle menschlicher Glieder zwei Flügel. Volker schluckte. Im Fackellicht konnte er sie nicht richtig erkennen. Etwas stimmte mit dieser Frau nicht! Ihre Arme! Sie waren zu lang! So weit, wie Macha ihren Umhang auseinanderstreckte, mußten ihre Arme mindestens einen halben Schritt länger sein, als dies bei normalen Sterblichen der Fall war.

»Sag uns, wer du bist, Fremder!« ertönte die dunkle Stimme der Kriegergöttin.

Volker atmete tief ein. Neman hatte davon gesprochen, daß die Männer von Tirfo Thuinn Krieger und Barden seien. Er würde versuchen, ihre Herzen mit ein paar abgewandelten Strophen aus einem alten Kriegslied seiner Heimat zu gewinnen.


»Ich bin der Sturmwind,

der das Gras beugt!

Ich bin die Flamme,

die die Scheiterhaufen entzündet!

Ich bin der Schnitter,

der in die Reihen der Feinde fährt!

Ich bin der Sänger,

der sich aus den Gebeinen der Toten erhoben hat,

um an der Seite der wiedergeborenen Göttin zu stehen!

Ich bin der Todbringer

für jeden, der Zweifel im Herzen trägt!«


Gespannt beobachtete der Spielmann die Reaktion seiner Zuhörer. Viele der Krieger hatten ihre Waffen sinken lassen. Er schien sie mit seinen Worten erreicht zu haben. Doch in den Gesichtern mancher Männer konnte er noch immer die Zweifel lesen.

»Wie kommt es, daß du mit dem Dialekt der Leute jenseits der Nebel sprichst, wenn du unser Kriegerkönig sein willst? Wie willst du über uns herrschen, wenn du nicht einmal unsere Sprache beherrschst?« rief einer der Männer, und zustimmendes Gemurmel machte sich breit.

»Nicht euch zu beherrschen ist mein Ziel! Ihr seid freie Männer! Doch wenn ich eure Feinde vernichten will, dann muß ich sie kennen, muß wissen, wie sie denken und welche Entscheidungen ihre Feldherren treffen werden. Ich muß in ihnen aufgehen können, um sie dann mit eurer Hilfe um so leichter zu besiegen. Mancher von euch wird ein Jäger sein, und wer auf die Pirsch geht, der wird wissen, daß derjenige der beste Jäger ist, der denken kann wie ein Hirsch oder ein Reh, und seine Beute erlegt, weil er schon im voraus weiß, wie sich die Tiere verhalten werden.«

»Und warum sollten die Krieger von jenseits der Sümpfe kommen und uns angreifen? Keiner kennt dort unsere Stadt, und jene, die am Rand des Moors leben, fürchten das Nachtvolk.«

»Sie werden kommen, weil sich die Zeiten geändert haben. Die Normannen herrschen in Aquitanien, und sie brachten die Priester des Zimmermannssohnes. Die Priester aber wollen die heiligen Haine fallen sehen, weil sie keine anderen Götter neben ihrem Herren akzeptieren werden.« Volker hoffte inständig, daß ihn diese Worte nicht ins ewige Fegefeuer bringen würden, doch wenn er hier lebend herauskommen wollte, mußte er die Barbarenkrieger mit seiner Rede überzeugen. »Als der Winter zu Ende ging, habt ihr die Burg eines normannischen Barons niedergebrannt, der eines eurer Heiligtümer geschändet hat. Die Normannen sind ein Volk von Eroberern, die auf ihren Schiffen aus einem kalten, unwirtlichen Land hoch im Norden gekommen sind. Sie werden es nicht dulden, daß einer der Ihren getötet wurde. Sie werden kommen und blutige Rache für den Baron nehmen.« Der Spielmann war sich zwar durchaus nicht sicher, daß König Eurich sich darum scherte, daß einer seiner Lehnsmänner ermordet worden war, doch konnten die Sumpfmänner nicht wissen, wie die Dinge in Aquitanien standen. Nach dem wenigen, was Volker von Neman über das Volk von Tirfo Thuinn erfahren hatte, lebten sie sehr zurückgezogen und interessierten sich nicht sonderlich für die Dinge, die jenseits der Nebelwand geschahen. Das galt jedenfalls so lange, wie sie nicht direkt betroffen waren, wie es bei Baron Rollos Versuch, den heiligen Hain zu schänden, geschehen war.

Unter den Kriegern erhob sich unruhiges Gemurmel. Es schien, als habe er eine Mehrheit der Männer mit seinen Worten überzeugt.

Macha war an Volkers Seite getreten. Mit großer Geste schwang sie ihren Mantel auf und umfing ihn mit ihrem weiten Umhang. Dann legte sie ihren Kopf an seine Brust und verharrte so einen Augenblick lang. Der Spielmann spürte, wie ihm das Herz bis zum Halse schlug. Nemans Schwester war ihm unheimlich. Eine Mauer von Kälte schien sie zu umgeben. Ihr Umhang aus schwarzer Wolle war mit Hunderten von Rabenfedern geschmückt, und ein süßlicher Verwesungsgeruch, wie ihn der Spielmann von Schlachtfeldern kannte, ging von ihr aus.

»Es schlägt das Herz eines Barden in seiner Brust«, verkündete die schwarze Macha schließlich mit lauter Stimme und entließ ihn aus ihrer unheimlichen Umarmung. »Neman hat mir berichtet, wie er sich vor den Augen der Priesterinnen aus den Gebeinen der toten Krieger erhoben hat. Vielleicht ist er der Sänger, von dem die alten Legenden künden. Ich werde ihn mit nach Galis nehmen. Soll dort die Morrigan über sein Schicksal entscheiden!«

Zwischen den Kriegern öffnete sich eine Gasse, die zum Ufer der Insel führte. Keiner der Männer wagte es, seine Stimme gegen den Entscheid der schwarzen Macha zu erheben.

»Folge mir!« murmelte die Rabenfrau halblaut und ging mit gemessenem Schritt zum Ufer hinab. Im Nebel eingehüllt wartete dort eine schwarze Barke. Undeutlich konnte Volker auch die Schemen anderer Boote erkennen.

Kaum war er an Bord gekommen, da wurde die Barke vom Ufer abgestoßen. Die Kraft von mehr als zwanzig Ruderern ließ sie schnell in die Finsternis gleiten.

Mit gemischten Gefühlen blickte Volker in den wirbelnden Nebel. Endlich war er der Gefangenschaft auf der Grabinsel entkommen. Doch was war Galis? Ein Dorf, eine Burg? Wohin würde ihn diese dunkle Hohepriesterin bringen?


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