10. KAPITEL


»Wer bist du, Fremder? Ich habe die Knochen und die Runen nach dir befragt, habe der Stimme des Waldes gelauscht und dem Flüstern des Meeres, doch voller Widersprüche ist, was ich über dich erfahren habe. Wegen einer Frau hat man dich verstoßen, und eine Frau war es, die du in diesem Land gesucht hast. Du betest den toten Zimmermannssohn als deinen Gott an, und doch war dein Lehrer ein Mann, der um die wahren Götter weiß. Im Fieber hast du manchmal Verse von Liedern und Epen dahergesagt, so als seiest du ein Barde, doch deine rechte Hand trägt die Schwielen eines Kriegers, und an deiner Seite lag ein Schwert, als ich dich gefunden habe. Erkläre mir diese Rätsel! Wie bist du in das Grab der toten Helden gelangt? Es gibt keinen Pfad, der durch die Sümpfe zu dieser Insel führt, und ich habe kein Boot finden können, mit dem du an dieses Ufer gelangen konntest. Fast scheint es, als hätten Graberde und Dunkelheit dich gezeugt und dir die Gestalt eines Mannes gegeben, damit du bereit bist, die Nachfolge der alten Könige anzutreten.«

»Das sind viele Fragen, schöne Herrin.« Volker legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Es war das erste Mal, daß er den Grabhügel verlassen hatte. Gestützt auf die Heilerin war er bis zum Ufer der kleinen Insel gelangt. Er saß auf einem umgestürzten Stein, der mit Spiralmustern geschmückt war. Nur ein paar Schritt entfernt brach eine heiße Quelle aus dem Fels hervor. Ein schwacher Westwind spielte mit den dichten Dampfschwaden, die aus dem Wasser aufstiegen, und trieb sie in den Sumpf hinaus.

Frisches Gras wuchs zwischen den Felsen, und dicht hinter der Quelle erhob sich ein blühender Ginsterbusch. Während der Zeit, die er in der Grabhöhle verbracht hatte, war der Frühling gekommen.

»Nun, willst du mir nicht antworten?« Die Fee blickte ihn forschend an. Bislang hatte sie ihm keine Fragen gestellt. Sie hatten kaum miteinander gesprochen. Manchmal jedoch, wenn sie glaubte, daß er schlief, war sie vor die Höhle getreten und hatte auf ihrer Harfe gespielt. Volker lauschte gerne ihrer Stimme. Sie war von kristallener Klarheit, ein wenig zu melancholisch vielleicht, doch das mochte auch an den Liedern liegen, die sie sang. Nicht ein einziges Mal hatte er sie eine fröhliche Melodie spielen hören.

Die Wahrheit konnte er seiner unbekannten Retterin nicht sagen. Sie würde ihn an die Ritter der Morrigan ausliefern müssen, wenn sie erfuhr, mit welcher Absicht er in die Sümpfe gekommen war. Er lächelte. Eine schöne Geschichte zu erfinden würde ihm nicht schwerfallen. »So wie Areion, der einst am Hofe des Königs Periandros lebte, bin ich ein Barde, der die Menschen mit seinem Spiel erfreut. Ich vermag zwar nicht wie Orpheus die wilden Tiere mit meiner Stimme in meinen Bann zu schlagen, doch gibt es am Rhein viele Fürstenhöfe, an denen ich ein gerngesehener Gast bin. Selbst an die Tafel von Königen war ich schon geladen, und sie haben mir meine Kunstfertigkeit mit Gold entlohnt. Doch mein Glück war mir zu Kopf gestiegen. Ich versuchte mich in Geschäften, die ich nicht erlernt hatte. So fuhr ich ins Land der Mauren und beschloß, dort für mein Gold kostbares Handelsgut zu kaufen, um meinen Reichtum noch zu vermehren. Weihrauch aus Arabia Felix habe ich dort erworben und lauteres Silber aus dem fernen Baktria. Auch bunte Seide aus einem Königreich, das so weit im Osten liegt, daß ein Mann auf einem Pferd wohl ein ganzes Jahr lang reiten müßte, um es zu erreichen. Wäre ich mit diesen Gütern nach Worms gelangt, so hätte mein Reichtum wohl den des Königs übertroffen, doch es war mein Schicksal zu scheitern, so wie einst auch Areion scheiterte. Wir hatten die Säulen des Herakles passiert, als unser Schiff in einen schrecklichen Sturm geriet und weit nach Westen abgetrieben wurde.« Volker seufzte und legte mit Bedacht eine kleine Pause ein. Für einen Moment lang war er plötzlich unsicher, ob er mit seiner Erzählung vielleicht zu sehr übertrieben hatte. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seine Retterin. Gebannt hing sie an seinen Lippen. Sie schien Geschichten aus fernen Ländern zu mögen. Nun, die konnte sie haben.

»Es muß vor der Küste von Kernow gewesen sein, daß herulische Piraten mein Schiff angriffen. Sie erschlugen meine Männer und warfen ihre Leichen in die See. Auch ich wurde in dem Kampf von einem Pfeil verwundet, doch schonten sie mein Leben, als ich erklärte, daß ich ein berühmter Barde sei und daß sie Lösegeld für mich erhalten könnten. Ich mußte wilde Kriegslieder für sie singen, um sie zu unterhalten. Zugleich mit ihrem erfolgreichen Raubzug schien sie das Glück verlassen zu haben. Der Sturm war abgeflaut, doch trieb uns ein ungünstiger Westwind immer weiter von ihrem Versteck an der Küste von Dyfneint ab. Meine Wunde entzündete sich, und ich begann zu stinken wie ein Leichnam. Ich konnte hören, wie sie flüsterten, daß sie mich ins Meer werfen wollten. Doch einen Barden zu töten heißt, den Zorn der alten Götter herauszufordern. Schließlich beschlossen sie, mich in einem kleinen Boot auszusetzen und mein Schicksal den Wellen zu überlassen. So wurde ich an diese Küste getrieben. Ich hatte schweres Fieber und weiß nicht mehr, wie ich hierher gelangt bin. Ich erinnere mich, wie mein Boot in dichten Nebel getrieben wurde und wie sein Rumpf über Felsen schrammte. Ich stieg ins Wasser und watete zu den Felsen, die ich als dunkle Schatten erkennen konnte. Dort suchte ich Schutz vor dem eisigen Regen und glaubte, eine Höhle gefunden zu haben. So gelangte ich an jenen Ort, an dem ihr mich gefunden habt, Herrin.«

Die Fremde legte den Kopf schief. Einen Herzschlag lang fürchtete Volker, er könne sich durch irgendeine Kleinigkeit als Lügner entlarvt haben, doch dann nickte die Fee. »Die Sümpfe münden ins Meer. Die Flut treibt das Seewasser bis weit in die Marschen hinein. So muß dein Boot hierhergelangt sein, und da du versäumt hast, es aufs Land zu ziehen, wurde es abgetrieben.«

Der Spielmann nickte erleichtert. »Ja, so muß es gewesen sein. Ich verdanke Euch mein Leben. Man nennt mich Volker von Alzey. Mein Vater ist ein reicher Adliger, und so kommt es, daß meine Hand die Schwielen eines Kriegers trägt. Von Kindesbeinen an wurde ich im Gebrauch der Waffen unterrichtet, doch abends, wenn mein Vater mit seinen Freunden in der Halle unserer Burg feierte, lehrte meine Mutter mich das Lautenspiel. Daher rührt es, daß zwei Herzen in meiner Brust schlagen und ich oft im Zweifel bin, in welche Welt ich gehöre. Zu den fahrenden Sängern oder unter die Ritterschaft meines Königs. So will ich meine Laute und mein Schwert in Eure Dienste stellen, schöne Herrin, um meine Schuld bei Euch zu begleichen. Doch sagt, wie ist Euer Name? Ich möchte ein Lied für Euch dichten und von Eurer Schönheit und Eurem Edelmut singen. In meinen Fieberträumen glaubte ich manchmal, Harfenklang zu hören. Seid Ihr eine Bardin?«

Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich wirkte sie traurig, so als habe er mit seinen Worten an eine alte Wunde gerührt. »Ich bin die wiedergeborene Göttin. Man nennt mich Neman, die Totenklägerin. Mit meinen Schwestern herrsche ich über Thirfo Thuinn, das versunkene Land. Ich komme hierher, um den Toten zu singen, und du bist der erste Mann, der diese Grabhöhlen lebend betreten hat. Meine Schwester Macha würde deinen Kopf nehmen, wenn sie von dir wüßte. Darum hüte dich, wenn ich nicht bei dir bin. Manchmal kommt auch sie zur Insel, doch sie betritt niemals das Grab. Sie ist eine große Kriegerin und würde dich erschlagen, wenn sie dich hier entdeckte. Doch du mußt leben! Es scheint, als seist du der Mann, den uns die Alten verheißen haben. Der Sänger, der sich aus den Gräbern der toten Helden erhebt.«

Volker nickte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß es besser sei, ihr nicht zu widersprechen. Auch wenn sie seltsam war und sich für eine Göttin hielt, hatte sie zweifellos Macht. Vielleicht war sie sogar eine Magierin. Nur zu deutlich konnte er sich erinnern, wie sie den Bannspruch auf den Trunk legte, der das Gift in seinem Leib besiegt hatte. Sie zu reizen wäre gefährlich. Er mußte auf sie eingehen... Letzten Endes war auch sie nur eine Frau. Wenn er es richtig anfing, würde sie sich in ihn verlieben, und das wäre der Schlüssel zu seiner Flucht. Sie konnte ihn zu Gunbrid führen. Doch zunächst müßte er seine Kräfte wiedergewinnen. Die Krankheit hatte das Fleisch von seinen Knochen geschmolzen. Er war hager und kraftlos geworden. Ohne ihre Hilfe würde er nicht einmal bis zur Grabhöhle zurückkehren können.

Neman hatte sich auf einem Stein nahe der heißen Quelle niedergelassen. Gedankenverloren blickte sie in den wirbelnden Nebel, der über das Wasser glitt. Sie war schön. Nicht groß gewachsen und von zierlicher Statur. Das Gesicht feingeschnitten, vielleicht ein wenig zu länglich, doch unterstrich das ihre melancholische Ausstrahlung. Ihre schlanken Finger glitten über die Saiten der Harfe, und sie spielte eine Melodie voller Schmerz und Sehnsucht.



Mit einem wuchtigen Hieb schlug der Bischof Golo das Schwert aus der Hand. »Zum Teufel mit dir!« fluchte er und riß sich den Helm vom Kopf. »Du hältst dein Schwert immer noch wie eine Mistforke. Aus dir wird nie ein Ritter werden, du Bauerntrampel.« Ärgerlich winkte er einem Diener, der dicht bei der Tür stand, und ließ sich einen Becher voller Wein bringen.

»Schon am Königshof hättest du dich beinahe verraten. Und sieh mir gefälligst in die Augen. In unserer Geschichte bist du ein Mann von Stand und kein Pferdedieb. Ein Adliger blickt seinem Gegenüber in die Augen. Er ist zu stolz, um vor jemandem den Blick zu senken, und sei es selbst der Leibhaftige! Ist das klar?«

Golo nickte stumm. Sein Leben hatte sich von Grund auf geändert in den letzten Wochen. Seit sie den Hof in Martinopolis verlassen hatten, verfolgte der Bischof das Ziel, aus ihm einen Ritter zu machen. Jeden Morgen schickte Jehan ihn mit zwei seiner Vertrauten aus der Stadt. Die beiden sollten ihm das Reiten beibringen, weil er sich angeblich wie ein nasser Sack im Sattel hielt. Auch unterwiesen sie ihn im Kampf zu Pferde. Ihr Erfolg war allerdings alles andere als überragend und ihre Lehrmethoden nicht gerade feinfühlig. Sein Körper war mit Prellungen und Quetschungen übersät, und manchmal hatte Golo das Gefühl, daß sogar Lanzenbrecher seinen Spaß daran hatte, wenn er aus dem Sattel stürzte. Hätte er nur niemals sein Dorf verlassen! Er dachte daran, wie die jungen Mädchen während der Erntezeit in den Feldern mitgeholfen hatten. An ihre hochgesteckten Röcke, den silbrigen Schweiß auf ihrer Haut und die lachenden, sommersprossigen Gesichter.

»Nun, Ritter, was brütest du vor dich hin?«

»Ich habe mir Gedanken über die Minne gemacht und daß ich mir das Leben als ein Adliger anders vorgestellt hatte.«

Der Bischof gab seinem Diener den Becher zurück und grinste breit. »Möchtest wohl in die warmen Betten der Edelfräulein steigen? Macht es dir Freude, dir vorzustellen, wie du vor ihnen mit deinem Bauernschwanz wedelst und sie dich für einen Ritter halten? Ohne mich wärest du niemals soweit gekommen, vergiß das nicht! Und jetzt möchte ich deine ganze Hingabe beim Schwertkampf wissen! Bei deiner jämmerlichen Deckung wirst du nicht einmal deine erste Schlacht überleben, du Hundsfott. Sei gewiß, daß ich dafür sorgen werde, daß du dich zuerst in einer Schlacht bewährst, bevor du ein Weib von edlem Blut bekommst.« Jehan setzte seinen Helm auf und zog sein Schwert.



So wie die Strahlen der Sonne jeden Tag an Kraft gewannen, so fühlte auch Volker sich zunehmend stärker. Neman besuchte ihn nur unregelmäßig, und manchmal geschah es, daß er für mehrere Tage alleine war. Sie brachte ihm reichlich Nahrung und gelegentlich auch trockenen Torf, mit dem er ein kleines Feuer unterhalten konnte.

Je stärker er sich jedoch fühlte, desto unruhiger wurde er. Der Grabhügel war ein Ort, der ihm Angst einflößte. Obwohl sein Fieber verflogen war, quälten ihn nachts noch immer unheimliche Träume. Er sah, wie sich die Toten aus ihren Gräbern erhoben und ihn umringten. Sie nahmen ihn in ihre Mitte und drängten ihn, immer tiefer in den Hügel hinabzusteigen. Volker versuchte, sich ihnen zu widersetzen. Er zog sein Schwert und kämpfte. Doch wo er eines der kopflosen Skelette in Stücke hieb, erhoben sich sofort zwei neue. Immer dichter wurde die Wand aus lebendigem Gebein um ihn herum, bis sie schließlich zu einer regelrechten Mauer aus übereinandergeschichteten Knochen anwuchs. Der Traum hatte immer dasselbe Ende. Seine Kräfte erlahmten. Er gab auf und folgte dem Drängen der Toten. Sie brachten ihn tief in die Erde, bis zu einer steinernen Pforte. Unheimliche Worte in einer längst vergessenen Sprache ertönten. Das Tor öffnete sich, doch bevor er die Schwelle überschreiten konnte, erwachte er.

Um den Träumen zu entgehen, floh Volker aus dem düsteren Grab. Er mißachtete die Warnungen Nemans. Erst wagte er sich nur bis zum Eingang des Grabhügels, doch dann lockte ihn die Sonne, und er unternahm den ersten Streifzug über die kleine Insel.

Das Reich, in dem er gefangen war, war winzig. Nach Norden hin maß die Insel dreihundert Schritt. Von Ost nach West waren es nicht einmal hundertfünfzig. Sie bestand fast völlig aus kargem, grauen Fels. Den Grabhügel in ihrer Mitte hatte man aus Torfplatten errichtet, die aus dem Moor gestochen worden waren. Eine gewaltige Arbeit. An seiner höchsten Stelle ragte das Grabmal fast zehn Schritt in die Höhe, und Volker schätzte, daß es einen Durchmesser von mehr als vierzig Schritt haben mußte. Auf dem Hügel wuchsen Gras und einige Blumen. Wind und Regen hatten dem Berg von Menschenhand zugesetzt. An manchen Stellen war Torf herausgespült worden und hatte sich zwischen den zerklüfteten Felsen der Insel abgelagert. Auch dort wuchs Gras, und wie grüne Adern erstreckten sich die Streifen des Schwemmgrundes bis hin zu dem dunklen Wasser, das statt einer Mauer Volkers Kerker umgab.

An den ersten beiden Tagen, an denen er sich hinauswagte, genoß er es, der Dunkelheit der Höhle entkommen zu sein. Doch nur allzubald vermochten ihm auch diese Ausflüge aus dem Totenreich keine Freude mehr zu bereiten. Im Gegenteil, sie vertieften nur seine Einsamkeit und seine Verzweiflung. Nicht nur seinen Körper hatte man eingekerkert! Obwohl ihn draußen auf dem Hügel keine Mauern umgaben, war es unmöglich, den Blick über die Weite der Landschaft wandern zu lassen und so wenigstens dem Geiste seine Freiheit zu lassen. Überall zwischen den Felsen der Insel brachen warme Quellen hervor. Wie ein Ring umgaben sie das kleine Eiland, und der dichte Wasserdampf wurde zu einer weißen Mauer. An warmen, windstillen Tagen stieg der Dunst fast senkrecht über der Insel auf. Dann konnte Volker wenigstens ein Stück des blauen Himmels über sich sehen und den Lauf der Sonne beobachten. Doch sobald sich nur der leiseste Luftzug regte, wurde der Nebel in dichten Schwaden über die Felsen getrieben, und man vermochte kaum noch die Hand vor Augen zu erkennen.

Gleichzeitig mit dem Blick schien ihm auch sein Geist gefangen. Er hatte kaum die Kraft, an Flucht auch nur zu denken. Einmal umrundete er die Insel und versuchte abzuschätzen, von welcher Stelle aus die besten Aussichten bestanden, schwimmend zu entkommen. Doch nirgends war der Schatten eines anderen Ufers auszumachen. Ins Wasser zu gehen hieße, sein Leben dem Schicksal anzuvertrauen. Obendrein war er auch kein sonderlich guter Schwimmer und noch immer durch seine Verwundung geschwächt. Weit würde er also nicht kommen. Er war nie ein Mensch gewesen, der große Pläne machte. Seine Entscheidungen traf er oft aus einer Laune heraus. Doch wurde ihm auch klar, wie wichtig für all sein Handeln ein äußerer Anreiz war. Eine Frau, die ihn entzückte, eine Stadt, die er sehen wollte, ein fernes Land, von dem man ihm Wunderdinge erzählte und das er bereisen wollte. All dies fehlte hier. Seine Welt war im gleichen Maße geschrumpft, wie seinem Bewegungsdrang und vor allem seiner Sicht Grenzen gesetzt waren. Immer besser konnte er die Neugier verstehen, mit der Neman seinen Geschichten von fernen Ländern lauschte. Ihre einzige Möglichkeit zu reisen war, auf den Flügeln der Phantasie und geleitet durch die Worte eines Barden zu den Wundern fremder Länder zu fliegen.

Was am schwersten auf Volkers Gemüt drückte, war die Angst um seine Seele als Christenmensch. Mit der Zeit war er sich nicht mehr sicher, ob die Geschichten über die Feen aus den Sümpfen wirklich nur Märchen waren, wie er bislang immer geglaubt hatte. Eines war jedenfalls gewiß. Neman war nicht die Anführerin einer Räuberbande. Und doch hatte sie in einem ihrer wenigen Gespräche angedeutet, daß ihre Schwester Macha erst vor kurzem viele Sklaven gefangen hatte. Was den Spielmann ebenfalls verunsicherte, war die Art, wie Neman sich selbst als eine wiedergeborene Göttin bezeichnete. Was für eine infame Ketzerei! Und doch ließ sich nicht leugnen, daß sie über ungewöhnliche Kräfte verfügte. Sie hatte ihn geheilt und den Wundbrand besiegt, dabei hätte kein Medicus, den er kannte, für sein Leben noch einen Pfifferling gegeben. Eine Göttin war Neman sicherlich nicht, doch dafür gewiß eine mächtige Magierin.

Volker war den Grabhügel hinaufgestiegen, während er seinen dunklen Gedanken nachhing. Als er den Zenit erreichte, ließ er sich ermattet ins hohe Gras sinken und blickte zur Sonne hinauf, die nur als blasse, gelblichweiße Scheibe hinter den treibenden Nebelschleiern zu sehen war. Sie nannte ihn den Sänger, der sich aus den Gräbern der toten Helden erhebt. Der Spielmann hatte versucht, von ihr zu erfahren, was sie damit meinte, doch seine Heilerin war allen Fragen ausgewichen. Bei ihrem nächsten Besuch hatte sie ihm allerdings eine Laute mitgebracht. Es war ein grobes Instrument, das sich seiner Kunst widersetzte und offenbar nur schiefe Töne von sich geben mochte. Dennoch war die Fee mit seiner Kunst zufrieden gewesen und hatte ihm geraten, er solle sich in Spiel und Gesang üben. Vielleicht sollte er ein Lied für Neman dichten. Die meisten Frauen waren anfällig für derlei Schmeicheleien. Noch hatte sein Charme auf die Fee zwar keinerlei Wirkung gezeigt, doch das würde sich ändern! Womöglich war sie noch eine Jungfrau und wußte nicht recht, was mit Männern anzufangen war. Volker lächelte. Er würde sie schon noch in die Künste der Liebe einführen!

Eine Weile hing er seinen Gedanken nach, bis ein eigenartiges Geräusch ihn aufhorchen ließ. Es war ein Klatschen, so als krieche ein großes Tier aus dem Sumpf an Land. Volker tastete nach dem Schwert an seiner Seite. Was im Namen des Herren war da auf seiner Insel? Das Geräusch klang jetzt fast rhythmisch. Ganz langsam erhob sich der Spielmann und spähte in die treibenden Nebelschwaden. Was für eine Kreatur war da nur gekommen, um ihn heimzusuchen? Bislang hatte er noch keinen Gedanken daran verschwendet, daß der Sumpf außer den Feen vielleicht noch andere, gräßlichere Geschöpfe ausspucken könnte.

Vorsichtig schlich er den Hang hinab und duckte sich immer wieder in das kniehohe Gras. Es schien, als bewege sich das Geschöpf, das diese eigenartigen Laute verursachte, nicht von der Stelle. Volker zog sein Schwert. Vielleicht konnte er das Ungeheuer überraschen?

Er mußte schon fast das Ufer erreicht haben. Das Geräusch kam ihm auf unbestimmte Art vertraut vor. Er hatte es schon einmal gehört, wußte aber nicht zu sagen wo.

Plötzlich sah er eine kauernde Gestalt vor sich. Ein Frau mit langem Haar kniete auf einem Felsen am Ufer und schlug ein zusammengeknülltes Kleidungsstück gegen den Stein. Dann tauchte sie es wieder in Wasser und rieb es am Felsen entlang. Eine Wäscherin! Volker atmete auf und schob sein Schwert in die Scheide zurück. Auf welchem Weg sie wohl hierher gelangt war? Gab es am Ende doch eine Möglichkeit, ohne ein Boot die Insel zu verlassen?

Einige Atemzüge lang beobachtete er die Frau. Der Nebel verbarg sie halb vor seinen Blicken, so daß er sie nicht genau erkennen konnte. Schließlich faßte er sich ein Herz und trat auf den flachen, vorspringenden Fels, auf dem sie kauerte. »Seid mir willkommen auf meiner Insel, schöne Fremde, und...«

Mit einem spitzen Schrei sprang die Wäscherin auf. Das nasse Kleidungsstück entglitt ihren Fingern. Sie machte einen Satz zurück, so daß sie bis zu den Knien im Wasser stand. »Komm mir nicht näher! Mich zu sehen heißt zu sterben! Ich bin Babd, die Unglücksbotin!«

Volker breitete die Arme aus. »Ich wollte Euch nicht erschrecken. Verzeiht.«

»Du kannst mich nicht erschrecken! Ich habe deine Nähe gespürt, doch hätte ich nicht gedacht, daß du so töricht wärst, zu mir auf meinen Felsen zu kommen. Laß mich ziehen! Meine Arbeit ist getan... Noch ist es dir nicht verheißen, mein Antlitz zu sehen. Dir ist es bestimmt zu leben!« Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Laut aus, der an das Krächzen eines Raben erinnerte.

Der Spielmann trat einen Schritt vor. »Was tut Ihr da?«

»Dich retten, du Tor! Weiche von mir!«

Ein Windstoß zerriß die Nebelschleier, und einen Atemzug lang konnte Volker die Gestalt der Frau deutlich erkennen. Sie trug ein langes, weißes Kleid ohne Ärmel. Prächtige Goldreifen wanden sich schlangengleich um ihre Arme. Es war Neman! Seine Retterin! Sie war zwar anders gekleidet und trug ungewöhnlichen Schmuck, doch konnte es keinen Zweifel geben! Fast augenblicklich riß die Fee ihre Arme hoch und bedeckte ihr Gesicht. »Komm nicht näher, du Narr! Zurück in den Nebel mit dir!«

»Mit wem sprecht Ihr, Herrin?« ertönte eine dunkle Männerstimme.

»Es sind die Geister der toten Helden. Sie sind unruhig, so als würden sie spüren, daß Arbotorix sich bald zu ihnen gesellen wird.« Die Wäscherin kniete nieder und griff rasch nach dem zerknüllten Kleidungsstück, das vor ihr im Wasser trieb. Hinter ihr tauchte der Schatten eines Bootes auf. Undeutlich konnte Volker einen Mann mit einer langen Stange erkennen, der im Heck stand.

»Warte, Neman!« Volker versuchte, nach ihrem Arm zu greifen, doch die Heilerin war mit einem Satz im Boot, und der Fährmann stakte es sofort vom Ufer fort.

»Nehmt mich mit! Laßt mich nicht hier auf dieser verfluchten Insel!«

Volker konnte hören, wie der Mann etwas murmelte. Die Fee jedoch schwieg. Schnell war das Boot im Nebel verschwunden.


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