11. KAPITEL


An das Gewicht der Rüstung hatte Golo sich immer noch nicht gewöhnt. Wie konnte man sich nur freiwillig in solche Mengen von Metall zwängen? Sein Kettenhemd saß schlecht. Es zwickte und zwackte überall. Und erst der Topfhelm! Sein ehemaliger Besitzer war vom Pferd gestürzt und so unglücklich gefallen, daß er zunächst kein Glied mehr zu rühren vermochte und drei Tage nach dem Unfall verstarb. Leider hatten es die Flöhe im Strohpolster des Helms ihrem ehemaligen Herren nicht gleichgetan. Sie hatten den Sturz offenbar unversehrt überstanden.

Der Blick des Knappen wanderte über die große Wiese vor der Stadtmauer. Durch die schmalen Sehschlitze des Topfhelms hatte er keinen sonderlich guten Überblick. Aber Lanzenbrecher würde schon wissen, wohin er sich halten mußte. Unsicher blickte der Knecht nach rechts und links. Wenn die edlen Herren an seiner Seite wüßten, wer er war, sie würden ihn zweifellos in Stücke reißen. Ein Unfreier, der sich erdreistete, eine Rüstung anzulegen und an einem Turnier teilzunehmen! Sein Schild und sein Waffenrock waren weiß und trugen kein Wappen. Ein Zeichen dafür, daß er zum ersten Mal in einem Turnier focht. Golo wäre es lieber, wenn ihn der Bischof niemals zu dieser Scharade gezwungen hätte. Doch Jehan bestand darauf, das betrügerische Spiel fortzusetzen, das sie in Martinopolis am Königshof begonnen hatten.

Lanzenbrecher schnaubte. Der große Hengst schien sich auf den bevorstehenden Kampf zu freuen. Fast hundert Ritter aus Aquitanien und den angrenzenden Königreichen hatten sich zum Pfingstturnier eingefunden. Sie waren in zwei Gruppen aufgeteilt worden, die nun an den gegenüberliegenden Enden einer großen Wiese Aufstellung genommen hatten. Alle warteten sie nur noch auf das Signal der Hornisten, die vor der Ehrentribüne des Bischofs standen. Die Ritterschar auf der feindlichen Seite bot einen eindrucksvollen Anblick. Die meisten hatten nach der neuen Mode aus Outremer ihren Rössern bunte Tücher in den Farben ihrer Wappenschilde und Waffenröcke übergeworfen. Einige hatte sogar ihre Lanzen bunt anmalen lassen und trugen auf ihren Helmen so seltsamen Schmuck wie Pferdeköpfe, Adlerflügel oder Greifen. Alle waren mit Kettenhemden gerüstet, die in der Sonne des Pfingstmorgens wie lauteres Silber glänzten. Golo grinste. Auch er hatte einen Diener des Bischofs gestern abend damit beauftragt, für ihn das Kettenhemd zu polieren. Ohne Zweifel hatte es auch seine Vorteile, sich wie ein Adliger aufführen zu dürfen. Wenn er nur nicht gezwungen wäre, an diesem Turnier teilzunehmen!

Der Ritter zu seiner Rechten trug ein rotes Tuch aus feinem Leinenstoff um seinen Oberarm gewickelt. Das Liebespfand einer Dame. Was ihn anging, so gab es keine hübsche Maid, die ihn mit Herzklopfen beobachtete, dachte der Knecht bitter. Nach den Drohungen des Bischofs hatte er sogar darauf verzichtet, mit den Küchenmägden anzubandeln. Seit Wochen lebte er wie ein Mönch! Dabei hatte Saintes durchaus hübsche Weibsbilder zu bieten.

Golo packte die Lanze fester. Wenn nur endlich das Signal zum Angriff käme! Diese elende Warterei machte ihn noch ganz verrückt. Sechs Wochen lang hatte ihn der Bischof und sein Rüstmeister im Schwertkampf und im Lanzenreiten ausgebildet. Doch was bedeutete das schon? Die meisten Ritter hier auf dem Feld waren gewiß von Kindesbeinen an in den Waffenkünsten unterwiesen worden. Wahrscheinlich durfte er froh sein, wenn es ihm gelang, die Turnierbahn ohne gebrochene Knochen zu verlassen.

Hinter der Absperrung und auf den Tribünen rings herum drängelten sich Hunderte von Zuschauern aus der Stadt und den nahegelegenen Dörfern. Auch die Krieger aus der Armee, die der Bischof in den letzten Wochen aufgestellt hatte, waren unter den Zuschauern. Es hatten sich Söldner aus aller Herren Länder unter dem Banner des Bischofs von Saintes versammelt. Fränkische Axtkämpfer, Schleuderer von den Balearen, eine Schar leichter Reiter vom Hof des Hunnenkönigs Etzel, normannische Ritter aus Armorika, Spießträger aus Spanien und aus dem Königreich der Langobarden. Sogar ein paar Alchemisten aus dem goldenen Byzanz waren gekommen, und man munkelte, daß Jehan sie sogar besser bezahlte als einen voll gepanzerten Ritter, der mit eigenem Gefolge in die Schlacht zog. Aus Aquitanien waren ungefähr sechzig Ritter dem Heerbann gefolgt. Jeder von ihnen hatte einen kleinen Trupp Fußsoldaten und Bogenschützen mitgebracht, so daß das Heer, das sich vor Saintes versammelt hatte, mittlerweile mehr als zweitausend Köpfe zählte. Golo hatte noch nie zuvor so viele Bewaffnete an einem Ort gesehen und war der festen Überzeugung, daß keine Macht der Welt dieser Armee widerstehen könnte. Nicht einmal das Nachtvolk aus den Sümpfen!

Das Hornsignal hallte über das Feld. Der Knecht klemmte sich die Lanze fest unter die Achsel, so wie er es in den letzten Wochen gelernt hatte. Lanzenbrecher setzte sich von ganz alleine in Bewegung. Hunderte Hufe zerwühlten donnernd das frische Grün der Pfingstwiese. Die beiden Reiterformationen trafen aufeinander. Lanzen splitterten, Pferde wieherten, und die Schreie Verletzter ertönten. Golos Gegner war ein Mann in einem roten Waffenrock. Er hatte den Kerl noch nie zuvor gesehen. Der Knecht zielte mit seiner Lanze in die rechte Hälfte des gegnerischen Schildes. Ein Schlag wie von der Faust eines Riesen traf ihn. Der andere Ritter wankte im Sattel. Dann stürzte er. Lanzenbrecher stürmte weiter. Halb benommen erreichte Golo das andere Ende der Turnierwiese. Er hatte gewonnen! Er, ein Knecht, hatte einen dieser stolzen, überheblichen Ritter ins Gras geschickt. Er konnte es kaum glauben.

Ohne sein Zutun ordnete sich Lanzenbrecher in die Formation der Reiter ein, die wieder nebeneinander in einer langen Reihe Aufstellung nahmen. Waffenknechte und Diener eilten auf den Turnierplatz, um jenen Rittern zu helfen, die sich nicht mehr aus eigener Kraft erheben konnten. Pferde wurden weggeführt, und junge Schildknappen räumten zersplitterte Lanzenschäfte und zerbrochene Wappenschilde vom Feld. Dann ertönte erneut das Hornsignal vor der Tribüne des Bischofs, und wieder preschten die Reihen der Reiter aufeinander zu. Golo sah sich einem Ritter gegenüber, der so wie er ganz in Weiß gekleidet war. Noch ein Kämpfer, der sein erstes Turnier bestritt. Offenbar hatte der andere ihn ausgesucht, weil er in ihm leichte Beute vermutete. Der Knecht preßte grimmig die Lippen aufeinander. Dem Kerl würde er es zeigen! Seine Lanze traf genau ins Zentrum des gegnerischen Schildes. Golo hielt seinen Schild leicht zur Seite geneigt, so daß die gegnerische Waffe fast wirkungslos an ihm entlangschrammte. Einen Lidschlag lang bog sich seine eigene Lanze bedrohlich unter dem Druck des Aufpralls. Dann stürzte sein Gegner! Noch ein Sieg. Golo schrie vor Freude. Er war nicht schlechter als diese Adligen. Sicher gab es manches Edelfräulein, das sich jetzt fragte, welcher unbekannte Held sich hinter dem weißen Wappenschild verbergen mochte.

Wieder wurde der Kampfplatz gesäubert. Es gab einen kurzen Zwischenfall. Ein Ritter in rotem Waffenrock lag leblos am Boden. Der Medicus des Bischofs wurde hinzugewunken. Auch zwei andere Ritter knieten nun neben dem Mann. Als sich der Arzt endlich erhob, schüttelte er den Kopf. Ein weißes Leinentuch wurde über den Ritter gebreitet. Dann hob man ihn auf eine Trage und schaffte ihn von der Wiese.

Golo hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Wer dieser Krieger gewesen sein mochte? Heute morgen war er gewiß noch voller Hoffnung auf den Siegeslorbeer in dem Turnier gewesen. Jetzt hatte der unglückliche Sturz seine Träume auf immer beendet. Der Knappe hatte bislang keinen Gedanken daran verschwendet, wie viele Möglichkeiten es gab, bei einem Turnier zu sterben. Eine Lanze, die den Schild verfehlte... Ein schweres Schlachtroß, das über einen hinwegtrampelte...

Wieder ertönte das Hornsignal vor der Tribüne, und diesmal zitterte Golos Hand, als er sich die Lanze unter die Achsel klemmte. Ein Ritter mit einem schwarzen Drachen auf rotem Schild hielt diesmal auf ihn zu. Der Knappe keuchte. Er kannte dieses Wappen! Es war der Anführer der normannischen Ritter aus Armorika, Berengar von Broceliande, der dort auf ihn zukam. Ein berühmter Krieger, der schon unzählige Turniere gewonnen hatte. Golo begann zu beten. Wäre nur schon alles vorbei!

Die Lanze des Gegners traf ihn mit voller Wucht. Als erfahrener Kämpfer hatte Berengar auf die rechte Hälfte von Golos Schild gezielt, so daß die Spitze der Waffe nicht so leicht abgleiten konnte. Der Knappe wurde in seinem Sattel nach hinten gedrückt. Seine Schenkel verkrampften sich um Lanzenbrechers Leib. Golo fühlte, wie sich sein rechter Fuß im Steigbügel verfing. Dann gab es einen Knall. Splitter schlugen gegen seinen Helm. Berengars Lanze war zerbrochen! Sie mußte bei einem der vorangegangenen Kämpfe Schaden genommen haben. Augenblicklich war der Druck verschwunden. Die beiden Ritter passierten einander. Atemlos erreichte Golo das rettende Ende des Turnierplatzes.

Bei allen Heiligen! Er war gegen einen der berühmtesten Ritter der Christenheit angetreten und im Sattel geblieben. Gewiß war ein wenig Glück dabei im Spiel, doch war ihm nun endgültig klar, daß diese Ritter auch nur Männer aus Fleisch und Blut waren und es mit ihrer Waffenkunst nicht so weit her war, wie er immer geglaubt hatte. Man konnte sie besiegen! Selbst die besten unter ihnen!

Der Knecht blickte die Reihe der Reiter entlang, die am anderen Ende des Feldes erneut Aufstellung nahm. Es waren vielleicht noch fünfzehn Krieger. Auf ihrer Seite sah es gewiß nicht besser aus. Der Ritter mit dem Drachenschild rief nach einem seiner Knappen. Man brachte ihm eine neue Lanze. Berengar zeigte mit der Waffe herausfordernd zu ihm herüber. Golo nickte. Er würde annehmen. Diesmal sollte der Kerl vor ihm im Dreck liegen!

Das Feld war schnell geräumt. Wieder ertönte das Angriffssignal. Diesmal spürte Golo keine Angst mehr. Er hielt den Blick starr auf den Ritter mit dem Drachenschild gerichtet. Fast gleichzeitig senkten sie beide die Lanzen. Es war, als ob ein Feenzauber über dem Turnierplatz läge. Die Bewegungen Berengars erschienen dem Knecht unnatürlich langsam. So blieb ihm Zeit, mit seiner eigenen Lanze sorgfältig auf die Mitte des gegnerischen Schildes zu zielen. Kurz vor dem Aufprall korrigierte er mit einem leichten Schwenk noch ein letztes Mal die Richtung. Dann traf die Spitze krachend auf den schwarzen Drachen. Der Normanne neigte den Schild zur Seite. Golo fluchte. Er konnte sehen, wie seine Turnierlanze an der Schräge abglitt. Sein eigener Schild wurde ihm nun mit Wucht gegen die Brust gepreßt. Helle Lichter tanzten in seinem Helm. Plötzlich sah er nur noch das Blau des Himmels. Einen Herzschlag lang fühlte er sich, als treibe er im Wasser eines langsam dahinfließenden Stroms. Dann schlug er hart auf den Boden, und ihm wurde schwarz vor Augen.



Volker war auf die Begegnung mit der Wäscherin nie zu sprechen gekommen. Neman schien nichts davon zu wissen, und er hatte beschlossen, daß es klüger sei, die schweigsame Heilerin nicht zu fragen. Überhaupt vermied er alles, wovon er befürchtete, daß er damit die junge Frau erzürnen könnte. Statt dessen ließ er seinen Charme spielen und versuchte die Unnahbare zu verführen oder wenigstens für sich zu gewinnen. Niemals zuvor hatte er eine Frau getroffen, die so kalt war. Nie sah er sie von Herzen lachen, und wenn sie lächelte, blieb sie dabei doch stets melancholisch. Vergeblich versuchte er, sie dazu zu bringen, von sich zu erzählen. Er erfuhr lediglich, daß sie sich selbst für eine Göttin hielt und noch zwei Schwestern hatte.

Ihre einzige Schwäche war die Liebe für Geschichten aus fernen Ländern. Und so verbrachte Volker die vielen einsamen Stunden, die er allein auf der Insel war, damit, stets neue, farbenfrohe Erzählungen von fremden Ländern zu ersinnen. Er erzählte von den Lotusblütenessern, von denen Homer berichtet, und von jenem Volk kranichköpfiger Menschen, das der verbannte Herzog Ernst besuchte. Von den Heiligenlegenden der christlichen Kirche wollte Neman nichts wissen. Sie war zutiefst in ihrem Heidentum verwurzelt, und Volker gab es schnell auf, ihre Seele retten zu wollen, indem er sie zum wahren Glauben bekehrte. Oft, wenn er allein auf dem Grabhügel saß und in den Nebel starrte, brütete er darüber nach, was diese unnahbare Frau für ihn bedeutete. Ursprünglich hatten seine Bemühungen einzig das Ziel, mit ihr gemeinsam die Insel zu verlassen und so vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht zu erhalten. Doch diese Gedanken traten mit der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. Sehnsüchtig fieberte er ihren Besuchen entgegen und genoß es, wenn sie vor ihm saß und mit großen Augen seinen Geschichten lauschte. Er war sich allerdings nicht sicher, ob es die Einsamkeit war, die ihn so fühlen ließ, oder ob er tatsächlich begann, sich in seine Lebensretterin zu verlieben. Im Grunde hielt er nichts von jener Form der Minne, die ihre Erfüllung in der Anbetung einer Dame fand. Eine Liebe, die nur im Geiste vollzogen wurde, war noch nie sein Ideal gewesen.

Seine Wunde war fast völlig verheilt, und endlose Tage waren verstrichen, seit er auf dem einsamen Eiland gestrandet war, als eines Nachmittags Neman in heller Aufregung zu ihm kam. Er saß im Eingang der Grabhöhle und starrte wie so oft in den wirbelnden Nebel der nahegelegenen Quelle, als sich ihre vertraute Gestalt aus dem weißen Dunst schälte. Es war das erste Mal, daß ihr das Haar, das sonst stets gekämmt und wohlgeordnet war, in wirren Strähnen ins Gesicht hing. Atemlos kam sie auf ihn zugelaufen.

»Der Streiter der Morrigan ist heute morgen gestorben. Er war nicht mehr in der Lage, das Beltaine-Feuer zu entzünden. Das ist ein böses Omen. Wenn das Licht, das die Dunkelheit vertreiben soll, nicht entzündet wird, dann müssen die Ernten auf den Feldern verrotten, und das Vieh wird unfruchtbar bleiben. Nach Sonnenuntergang werde ich mit meinen Jungfern dem Toten das letzte Geleit zu diesem Sidh geben, dem Hügel der toten Helden. Krieger werden bis zum Eingang des Grabes mit uns kommen, und es wird kein Versteck für dich geben, in dem du unentdeckt bleiben kannst.«

Volker stutzte einen Moment und sah sie fragend an. »Du willst mich also von hier fortbringen?« Einer der wenigen Fortschritte der letzten Wochen bestand darin, daß sie es duldete, daß er sie mit dem vertrauteren Du ansprach.

Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Ich habe lange über dich nachgedacht, und ich glaube, daß du tatsächlich jener Sänger bist, von dem die alten Geschichten erzählen. So wie es verheißen ist, hast du dich aus den Gräbern der toten Helden erhoben. Man sagt, daß der Sänger Unglück und Veränderung bringen wird. Dazu passen der Tod des Streiters der Morrigan und die nicht entzündeten Beltaine-Feuer. Es scheint, als sei ich lange blind für das Offensichtliche gewesen, und auch die anderen werden nichts begreifen können, wenn ich ihnen nicht zeige, was sie sehen wollen.«

Volker hatte keines ihrer Worte verstanden, doch setzte er eine ernste Miene auf und nickte zustimmend. Neman griff nach der Öllampe, die im Eingang der Grabhöhle stand, und winkte ihm zu. »Folge mir! Ich muß dich nun auf verbotenen Grund führen. Nur dort werden meine Jungfern in dir den erkennen können, der du wirklich bist.«

Der Spielmann hoffte, daß dies nicht der Fall sein würde, und folgte Neman. Zunächst glaubte er, sie wollte ihn nur ein Stück tiefer in den gewunden Gang führen, um ihm eine Nische zu zeigen, wo er vor den Blicken der anderen Priesterinnen verborgen sein würde, doch als ihr Weg sie immer weiter ins Innere der Erde brachte, begann er unruhig zu werden. Die Bilder seiner Alpträume standen ihm wieder lebhaft vor Augen. Die tanzenden Toten, die ihn ins Verderben ziehen wollten. Die Mauer aus lebendigem Gebein...

»Wohin bringst du mich, Neman?«

»An den Ort deiner Fleischwerdung, Sänger. Du möchtest doch von hier entfliehen. Dies ist der Weg! Wenn du tust, was ich dir sage, so wirst du noch vor Sonnenaufgang der König meines Volkes sein. Sie wissen Sänger zu schätzen, doch mußt du ihnen in dieser Nacht als das erscheinen, was sie in dir sehen wollen, sonst bist du des Todes!«

Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Das flackernde Licht der Lampe warf geisterhafte Schatten auf die Wände des Ganges. Überall gab es Nischen, in denen Skelette lagen. Hier und da schimmerte grün angelaufene Bronze und das Braun lange verrosteter Klingen. Es schienen nur Krieger in diesen Gräbern zu liegen, und allen war gemein, daß sie keinen Kopf hatten. Betrieben die Feen etwa auch mit ihren eigenen Helden diesen gräßlichen Trophäenkult? Volker hatte sich das in den letzten Wochen schon oft gefragt, doch wagte er es nicht, Neman darauf anzusprechen.

Warmer Schweiß lief dem Spielmann übers Gesicht. Es schien immer wärmer zu werden, je tiefer sie kamen. Oder war es seine Angst...

Plötzlich blieb Neman unvermittelt stehen und hob die Lampe. Ein großer, grauer Stein verschloß den Gang. Es war der Fels, den Volker aus seinen Träumen kannte. Keuchend atmete der Spielmann aus. Er wünschte, er wäre wieder in jener verzweifelten Schlacht, in der er allein mit einer Handvoll Rittern den König verteidigt hatte. Jener laue Sommertag, an dem er dem Tod so nahe wie nie zuvor gewesen war, erschien ihm jetzt, in der Erinnerung, vergleichsweise angenehm. Er hatte das Gefühl, an der Pforte zur Hölle angelangt zu sein.

Neman drehte sich um und hielt ihm die Öllampe hin. »Halt das!« befahl sie knapp und wandte sich wieder dem Felsen zu. Ihre blassen, schlanken Hände glitten über die rauhe, mit fremdartigen Bildern geschmückte Oberfläche des Steins. Sie murmelte etwas in einer Sprache, die der Spielmann noch nie zuvor gehört hatte. Dann drückte sie gegen den Fels, und mit dumpfem Dröhnen rollte der gewaltige Stein zur Seite.

Volker starrte die zierliche Frau mit weit offenem Mund an. Es hätte seiner Meinung nach mindestens der Kraft eines Riesen bedurft, um diese Pforte zu öffnen. Doch die Heilerin machte kein Aufhebens darum. Ohne ein Wort nahm sie ihm die Lampe aus der Hand und trat in die niedrige Kammer hinter dem Tor.

Der Spielmann preßte die Lippen zusammen. Sie war nur ein Weib, und wie er war auch sie nur aus Fleisch und Blut. Wenn sie sich dort hineinwagte, dann würde er ihr folgen! Die Kammer, die er betrat, war vielleicht acht Schritt lang und höchstens fünf Schritt breit. Die Decke war so niedrig, daß er den Kopf einziehen mußte. Ein muffiger Geruch nach Staub und Verwesung lag in der Luft. Decke und Wände waren mit dicken, grob bearbeiteten Holzbalken verschalt. Die Kammer lag voller Gerümpel, das er in dem schwachen Licht nicht recht zu erkennen vermochte. An einer der Wände lehnten hohe Karrenräder. Dicht daneben schien ein Thron aus gehämmerter Bronze zu stehen, dazu ein eigenartiges, schmales Bett, das auf einer Längsseite mit einer hohen, sanft geschwungenen Lehne versehen war. Zwischen dem Gerümpel lagen Skelette. Manchen hatte man Schwerter und Speere auf die letzte Reise mitgegeben. Auch ein großer Bronzeschild lehnte an einem hohen Kessel, dessen Rand mit Löwenfigürchen geschmückt war. Neman ging zu einem Ständer, in dem eine halb verkohlte Fackel steckte, und zündete sie mit dem Docht der Öllampe an. Dann wandte sie sich zu Volker um. »Zieh dich aus!«

Der Spielmann starrte sie fassungslos an. Im Grunde war es das, was er seit Wochen wollte, doch an diesem Ort und...

»Du kannst nicht in deinen Kleidern auferstehen. Man sieht ihnen zu deutlich an, daß sie aus der Welt jenseits des Nebels kommen.«

Volker räusperte sich. »Was soll ich hier unten? Ich meine, das ist kein sonderlich romantischer Ort, und es könnte vielleicht...«

»Was glaubst du eigentlich, was ich von dir will?« zischte die Heilerin gereizt.

»Nun, dein Befehl läßt doch wohl nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig...«

»Dann befolge ihn!«

Volker blickte ihr in die Augen. Das Gesicht der Heilerin war eine Maske. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst vor einer Frau. Seine Hände glitten zur Schnalle seines Wehrgehänges. Er löste den Gürtel und ließ die Waffe zu Boden gleiten. Dann öffnete er sein von dunklem Blut verkrustetes Wams. Als nächstes streifte er die Tunika ab und ließ zuletzt seine Beinlinge zu Boden gleiten.

Neman zeigte auf seine leinene Bruech. »Ich meine alles, Spielmann. Keiner meiner Krieger trägt so etwas.«

Volker öffnete den Gürtel der knapp geschnittenen Leinenhose, und die Heilerin lächelte zufrieden. »Kommen wir nun zum nächsten Teil.« Sie nestelte ein kleines Gefäß mit einer breiten Öffnung aus einem der Lederbeutel an ihrem Gürtel. »Du mußt aussehen wie ein Kämpfer, der bereit ist, in die Schlacht zu ziehen.« Die Heilerin tauchte ihren rechten Zeigefinger in das Gefäß. Als sie ihn wieder hervorzog, war er mit einer blauen Paste verschmiert. Sie trat dicht vor Volker, so daß er jetzt ihren warmen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Er fühlte, wie sich regte, was die Bruech vor den Blicken Nemans hätte verbergen sollen. Ihr Zeigefinger strich sanft über seine linke Wange. Dann tauchte sie ihn erneut in das kleine Gefäß.

Volker räusperte sich leise. Sein Mund war staubtrocken. »Was... was machst du da?«

»Ein großer Krieger muß auch die Zeichen eines Kriegers tragen. Ich habe das Rabensymbol auf deine Wange gemalt. Es besagt, daß du ein Auserwählter der Morrigan bist. Die Schlangenlinien und die Spirale darunter verraten den Kundigen, daß du bereits viele Feinde getötet hast. Doch das ist nicht genug. Ich werde dich noch weiter bemalen. Du weißt nicht, wie ein Ritter der Morrigan aussieht. Seine Haut ist wie eine Schriftrolle, auf der er seine Geschichte trägt. Die Narbe auf deiner Brust ist ein Teil davon, und auch die anderen Narben werde ich in deine Geschichte einbeziehen.«

Volker verschwieg ihr, daß er sehr wohl wußte, wie ein solcher Ritter aussah. Der Gedanke daran, nach dem Vorbild des nackten Kriegers hergerichtet zu werden, den er vor dem Trophäenbaum gesehen hatte, behagte ihm nicht. Den heidnischen Kulten zu nahe zu kommen mochte ihn sein Seelenheil und seinen Platz im himmlischen Paradies kosten.

Als Neman endlich fertig war, hatte sie ihn von Kopf bis Fuß mit ihren Zeichen bemalt. Danach hob sie einen eigenartigen Bronzehelm aus einem Haufen von Knochen auf und reichte ihm das alte Rüstungsstück. Der Helm hatte breite Wangenklappen, und ein prächtiger Drache mit ausgebreiteten Flügeln erhob sich auf seinem Kamm. Es war eine meisterhafte Handwerksarbeit.

»Nimm das! Damit wirst du glaubwürdiger aussehen. Dein Schwert magst du behalten. Für einen Krieger ist es immer besser, die Waffe an seiner Seite zu tragen, mit der er vertraut ist. Das lederne Wehrgehänge ist deine einzige Kleidung.« Sie bückte sich und wischte mit der flachen Hand ein wenig Staub zusammen. Dann häufte sie ihn auf ihren Handteller und erhob sich. Für einige Herzschläge musterte sie ihn mit gerunzelter Stirn. Schließlich nickte sie. »Du siehst schon fast überzeugend aus.« Sie hob die flache Hand und blies ihm den Staub ins Gesicht.

Fluchend wedelte Volker den feinen Schmutz zur Seite. Seine Augen brannten wie Feuer. »Was soll das, verdammt?«

»Du sollst der Sänger sein, der sich aus den Gräbern der toten Helden erhoben hat. Es steht dir an, ein wenig mit Leichenstaub bedeckt zu sein. So siehst du glaubwürdiger aus.«

Volker schluckte. An die Herkunft des Staubes hatte er noch gar keinen Gedanken verschwendet.

»Du wirst dich zwischen den Gebeinen der Toten verstecken und warten. Wenn ich mit meinen Jungfern zurückkehre, um den Streiter der Morrigan hier zu seiner letzten Ruhe zu betten, dann paßt du einen günstigen Moment ab, um dich zu erheben. Versetze die Weiber in Angst und Schrecken! Sprich mit hohler Stimme und behaupte, du seiest auferstanden, um dein Volk vor großem Elend zu bewahren. Erzähl eine düstere Geschichte! Das kannst du ja recht gut...«

»Und was ist, wenn ich einen Fehler mache? Ich meine, ich weiß fast nichts über diesen Sänger.«

»Niemand weiß viel über ihn. Die Legende sagt nur, daß er kommen wird, um unserem Volk in großer Not beizustehen. Du sagtest, du hättest an Fürstenhöfen gespielt... Dies wird der wichtigste Auftritt deines Lebens. Wenn du nicht überzeugend bist, werde ich dich als Betrüger entlarven, und du wirst einen grausamen Tod sterben.«

»Ich könnte verraten, daß du mir das Leben gerettet hast.«

Das Gesicht der Heilerin blieb regungslos. »Niemand würde dir glauben. Ich bin die wiedergeborene Göttin. Mein Wort ist über jeden Zweifel erhaben. Ich werde deine Kleider und deinen Kettenpanzer im Sumpf versenken. Sie passen nicht zu deiner Rolle und dürfen nicht auf der Insel gefunden werden. Außerdem werde ich oben im Grab und auf der Insel alle Spuren beseitigen, die auf dich hindeuten könnten. So wirst du sicher sein.«

Volker überlegte einen Moment lang, ob er jetzt seine Begegnung mit Babd erwähnen sollte. Doch wenn die Wäscherin bis jetzt geschwiegen hatte, warum sollte er dann reden?

Neman hatte seine Kleider aufgehoben und war zum Eingang der Grabkammer getreten. »Lösche das Licht der Fackel, wenn ich gegangen bin. Und...« Zum ersten Mal spielte der Hauch eines Lächelns um ihre Lippen. »Viel Glück! Ich würde dich nur ungern verlieren, mein schöner Fremder.«

Mit dumpfem Knirschen rollte der Türstein, der wie der Mahlstein einer Mühle aussah, vor die Pforte der Totenkammer. Volker löschte das Licht und blieb allein mit seiner Angst und der Dunkelheit.


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