5

Das Böse zeigte sich in vielerlei Gestalt. Da war einmal das Böse, das Abweichler im Herzen trugen, vor anderen verbargen, das sie nährten und gedeihen ließen, weil sie zu schwach waren, um es zu bekämpfen, und weil sie sich nicht um die Stadt scherten. Das waren die Leute, vor denen das System die Stadt schützte. Es ermittelte, wo das Böse sich verbarg, auch in Fällen, in denen die betreffende Person noch gar nichts davon wusste und die gefährlichen Gedanken und Gefühle tief in ihrem Gehirn noch gar nicht bemerkt hatte. Das System kannte diese Menschen und stufte sie auf Rang D ein, damit das Böse möglichst wenig Einfluss gewann, und damit die Personen erkannten, dass sie alles daransetzen mussten, um sich von ihren fehlgeleiteten Gedanken zu befreien. Andernfalls wurden sie, im besten Fall, gemieden; im schlimmsten Fall …

Evie wollte lieber nicht nachdenken über den »schlimmsten Fall«. Das war, wenn selbst Rang D nicht mehr schlecht genug war und Rang K verhängt wurde. K bedeutete unrettbar verloren. Es bedeutete, dass das Böse einmal mehr gesiegt hatte.

Manchmal fragte sie sich, welchen Rang sie wohl bekommen würde. Dann. Wenn das System ihr auf die Schliche kam. Sie fürchtete, dass es bereits so weit war; wahrscheinlich würde es sie noch eine Weile beobachten, bis es erkannte, wie verderbt sie war. Dann folgte die Entscheidung. D? Oder K? Sie erschauerte bei dem Gedanken und der Hals schnürte sich ihr zu. Nicht K. Bloß nicht K.

In den Ks wohnte das Böse; sie waren das personifizierte Böse. Ks verschwanden und wurden nie mehr gesehen. Ks waren wie die Bösen außerhalb der Stadt – Menschen, die während der Schreckenszeit Schaden genommen hatten, die vom Bösen aufgezehrt worden waren. Diese Leute waren eine ständige Erinnerung an das, wovor die Stadt sie beschützte. Evie hatte nie einen Bösen zu Gesicht bekommen, aber sie wusste, dass es sie gab, weil sie sie, wie alle anderen Bewohner der Stadt, gehört hatte. Ihr entsetzliches Ächzen und Stöhnen in der Nacht ließ sie unter der Bettdecke frösteln und schwören, die Gesetze der Stadt nie wieder zu übertreten. Sie musste sich endlich befreien vom Bösen, musste gut und rein werden, so wie es sich gehörte.

Die Bösen wollten die Stadt zerstören. Sie fürchteten einen Ort, an dem kein Platz war für das Böse. In den Bösen war keine Güte mehr, da war keine Spur mehr von den Werten, die innerhalb der Stadt als menschlicher Anstand galten. Der Bruder ermahnte sie immer wieder: Die in der Stadt geltenden Werte der Güte waren nicht allen Menschen eigen. Manche waren eher dafür empfänglich, die Werte des Bösen und des Terrors anzuerkennen. Ohne Stadtmauer, ohne Neutaufe und ohne ständige Wachsamkeit könnten auch sie so werden wie die Bösen – voller Wut und Hass und Gewalt und nichts als Zerstörung und Verwüstung im Sinn. Genau wie die Menschen, die die Schreckenszeit entfesselt hatten. Genau wie die meisten Menschen, die bisher gelebt hatten.

Die Bösen kamen nicht oft in die Nähe der Stadt. Sie wussten, dass es keinen Sinn hatte, dass sie niemals hineingelangen konnten. Sie war zu gut bewacht, mit vier mächtigen gepanzerten Toren. Doch anders als bei früheren Befestigungen wurde die Stadt nicht mit zerstörerischen Waffen geschützt, etwa Pistolen, Revolvern und anderen Werkzeugen der Gewalt, wie sie einem in der Schule vorgeführt wurden. Der Schutz der Stadt bestand nur aus ihren massiven Mauern, die von den Bürgern errichtet und seither ständig verstärkt worden waren. Nachts, wenn Eindringlinge ihr Glück versuchten, patrouillierte ein Wachtrupp aus freiwilligen Polizisten an der Mauer. Und dann waren da noch die vier Torwächter, tapfere und gute Männer, die sicherstellten, dass niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis des Bruders herein-oder hinauskam. Denn noch immer kamen Menschen in die Stadt. Manche reisten weit, um hier ein neues Leben anzufangen. Nur wenige wurden eingelassen. Einmal in der Woche öffnete sich das Südtor, und ein paar Glückliche kamen herein, empfingen die Neutaufe und damit die Chance auf eine Zukunft voller Hoffnung. Evie kannte keine Neubürger, doch sie sah sie manchmal am Dienstag, wenn sie in einer Reihe zum Krankenhaus gebracht wurden. Ihre Arbeitsstellen lagen in den Außenbezirken, meinte Evies Vater. Die Neubürger mussten sich erst bewähren, bevor sie sich in die Gesellschaft eingliedern durften.

Die Bösen kamen nicht zum Tor herein, sondern standen draußen, jammerten und klagten und bedrohten die Bürger der Stadt.

Sie kamen nur, weil sie das Gute hassten und die Stadt mit allen, die dort wohnten, zu vernichten trachteten. Auch wenn Ks zur Neukonditionierung fortgebracht wurden, kamen sie, um ihrem Ärger Luft zu machen. Evies Vater sagte, das Böse erkenne seinesgleichen stets und versuche, sich zu schützen. Deshalb kamen sie auch, wenn jemand auf K herabgestuft wurde – aus Wut darüber, dass die Person neukonditioniert wurde und das Böse in der Stadt nicht siegen konnte.

Die Bösen wussten immer genau, wann sie kommen mussten; sie konnten das Böse riechen, sagte Evies Vater. Wurde ein K verhängt, dann sprach sich das schnell herum; die meisten verriegelten dann die Tür und hielten sich die Ohren zu, damit sie die Schreie und Klagen der Bösen nicht mitanhören mussten, die sich in riesiger Zahl versammelten, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Anderntags folgte stets eine Versammlung zur Reinigung der Stadt und zum Trost für die schlimme Gewissheit, dass wieder jemand gefallen war. So bekam jeder wieder die nötige Stärke, um das Böse noch entschiedener zu bekämpfen.

Von neuen Ks erfuhr Evie immer vor den anderen Bewohnern der Stadt. Ihr Vater war Torwächter, einer der vier Männer, die die Schlüssel für die Tore im Norden, Süden, Osten und Westen der Stadt verwahrten. In den Nächten, in denen die Bösen kamen, hielt er immer Wache für den Fall, dass ein K flüchtete, bevor er neukonditioniert war, und nach dem Schlüssel suchte, um die Bösen einzulassen.

Was draußen vor der Stadtmauer lag, war schlimmer, als Evie es sich vorstellen konnte, wenn sie sich mitten in der Nacht mit schrecklichen Bildern quälte. Das wusste sie. Und sie wusste, dass ihr genau dieses Schicksal drohte, wenn sie dem Bösen nicht ein für alle Mal abschwor.

Wenn das System Raffy nicht vorher schon beobachtet hatte, dann würde es das jetzt tun. Er hatte einen Fehler im System entdeckt. War das System nun wütend? Oder dankbar? Hatte es vielleicht sogar Gefühle oder war es eher so wie Lucas? Evie wusste es nicht und es spielte auch keine Rolle. Für sie zählte nur, dass sie keine K werden wollte. Dabei hatte sie sich die ganze Zeit eingeredet, was mit ihr geschehen würde, kümmere sie nicht, oder zumindest nicht besonders. Ihre Gefühle für Raffy waren ihr wichtiger gewesen als alles andere, und die Freude, die sie in ihren kostbaren gemeinsamen Momenten erlebten, schien ihr die künftige Bestrafung wert zu sein. Doch jetzt, jetzt wusste sie, dass Raffy überwacht wurde, und mit einem Mal war sie nicht mehr so stark, wie sie gedacht hatte.

So kam es, dass sie sich in dieser Nacht schlafen legte und ihr nagendes Gewissen ignorierte, weil Raffy bestimmt auf sie wartete, denn sie hatte versprochen, sich beim Baum mit ihm zu treffen. Aber sie konnte es einfach nicht mehr tun. Nie mehr.

Es war Zeit, damit Schluss zu machen. Es war Zeit, so zu werden wie Lucas. Aufzuhören, sich zu sorgen und zu lieben.

Anzufangen, gut zu sein.

Der nächste Tag war ein Samstag, der Tag der Versammlung. Evie wachte auf und ging sofort ins Bad. Sie wusch sich und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Kleider hatte sie schon herausgelegt – wie am Samstag üblich, ein dickes Samtkleid und Schnürstiefel. Alle Mädchen trugen zur Versammlung die gleichen Sachen, nur in unterschiedlichen Farben und leicht unterschiedlich im Stil, aber letztlich das Gleiche. Da sie nun siebzehn war und schon fast eine Frau, hätte sie auch ein Damenkostüm tragen dürfen so wie ihre Mutter, aber Kostüme waren teuer, und da ihr das Kleid noch passte, war entschieden worden, die Anschaffung so lange aufzuschieben, bis sie unumgänglich war.

Schnell zog sie sich an, bürstete sich die Haare und rannte die Treppe hinunter, um das Stück Brot und den Apfel zu essen, die für sie bereitlagen.

»Hübsch siehst du aus«, meinte sie zu ihrer Mutter, als sie in die Küche kam und sich suchend umblickte.

Ihre Mutter drehte sich um und runzelte unsicher die Stirn. Für sein Aussehen bekam man in der Stadt selten Komplimente; allzu leicht konnte es so aussehen, als ob es einem nur um das Äußere ging und nicht um das, was unter der Oberfläche lag. »Warum sagst du das?«, fragte sie. »Ist irgendetwas?«

Evie schüttelte den Kopf. »Aber nein.« Sie konnte nicht erklären, dass sie heute gern reden wollte, und zwar über alles und nichts, damit sie nicht darüber nachdenken musste, was sie tun sollte – was sie tun musste –, um den Träumen ein Ende zu machen und zu verhindern, dass das Böse Besitz von ihr ergriff.

»Na dann … iss auf. Wir müssen gleich los.« Achselzuckend ging ihre Mutter aus der Küche.

Evie begutachtete ihr Frühstück, dann stand sie auf, packte es in eine Dose für später und ging wieder nach oben, um sich die Zähne zu putzen.

Punkt 8.45 Uhr verließ sie mit ihren Eltern das Haus und sie gingen hintereinander wie alle Familien aus ihrer Straße in Richtung Versammlungshaus.

Lächelnd überholten sie andere Gruppen und gingen umso schneller, je näher sie dem Ziel kamen. Evie wollte sich von der Spannung anstecken lassen und nur fröhliche Dinge denken.

Die Versammlung war der Höhepunkt der Woche; alle kamen zusammen. Als sie noch kleiner war, konnte Evie von Freitag auf Samstag kaum schlafen vor Aufregung. Alle sahen so wunderbar aus und die ganze Veranstaltung war so herzlich und liebevoll. Erst durch die Versammlung bekam alles einen Sinn, sie entschädigte für alle Mühen, und Evie fühlte sich wie das glücklichste Mädchen auf der ganzen weiten Welt.

Heute bemerkte sie auf dem Weg zum Versammlungshaus, dass sie die Zusammenkunft dringender brauchte denn je.

Das Versammlungshaus war das größte Gebäude der Stadt. Alle 5000 Einwohner der Stadt passten hinein, und wie immer war die Halle schon halb gefüllt, als sie ankamen. Mit Freuden nahm sie das warme Versammlungsgetränk entgegen, das an der Tür gereicht wurde, trank es und suchte sich einen Platz ganz am Ende einer der vorderen Sitzbänke, neben ihren Eltern. Sie beobachtete die ankommenden Familien, die Paare und die wenigen, die allein kamen. Einige ältere Bewohner wurden von einem Betreuer hereingeführt. Die As saßen ganz vorn, dann die Bs, hinten die Cs. Auch gemischte Gruppen saßen weiter hinten – Familien mit verschiedenen Rängen. Das war nicht üblich, aber es kam ab und zu vor, meistens wenn ein junger Mensch einen höheren Rang innehatte als seine Eltern. Eheleute sorgten dafür, dass sie ihrem Partner bei einem Rangwechsel möglichst bald folgten; sie waren verantwortlich füreinander und beeinflussten sich gegenseitig. Manchmal konnten die Kinder einen Rangwechsel vermeiden und manchmal liefen sie ihren eigenen Eltern den Rang ab. So wie Lucas. Evie sah genau zu, wie er (A) hereinkam, gefolgt von Raffy (C) und seiner Mutter (B). Keiner wusste so recht, wie man mit gemischten Familien umgehen sollte, also trennte man sie von den anderen. Ein Bereich an der Seite war den Ds vorbehalten, die mit gebeugtem Kopf zu ihrem Platz gingen und bis zur Eröffnung der Versammlung unruhig auf dem Sitz herumrutschten.

Musik erklang, erbauliche Klänge, bei denen Evie lächelnd mitsummte. Sie saß da und fühlte sich geborgen. Sie wusste, dass alles gut werden würde. Hier mitten unter ihren Mitbürgern brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Hier war sie in Sicherheit – so wie alle hier.

Dann kam der Bruder in seiner langen roten Samtjacke. Der Große Anführer war zu alt, um an den Versammlungen teilzunehmen; er war zu gebrechlich, um sein Haus zu verlassen. Was er zu sagen hatte, verkündete der Bruder für ihn.

Er ging nach vorn, und wer sich noch nicht gesetzt hatte, suchte sich nun einen Platz. Sekunden später war es ganz still im Saal.

»Meine Freunde, Brüder und Schwestern«, begann der Bruder. »Es ist schön, euch alle hier zu sehen, wie immer. Lasst uns dem Großen Anführer danken.«

»Wir sagen alle Dank«, sprach Evie laut, gemeinsam mit allen anderen.

»Lasst uns dieser wunderbaren Stadt danken.«

»Wir sagen alle Dank.« Die Stimmen waren jetzt lauter und eindringlicher.

»Und lasst uns schließlich dem System danken, uns selbst, unserer Arbeitsleistung, unserer Liebe und unserer Fähigkeit, uns gegenseitig und uns selbst zu schützen.«

»Wir sagen alle Dank.« Evie konnte schon spüren, wie sich ihre Nackenhaare ahnungsvoll sträubten.

»Und nun, da wir gedankt haben, wollen wir die Augen schließen für einige Momente der Einkehr. Wir wollen unser Geschick bedenken, unsere Gemeinschaft und unseren Platz darin.«

Stille breitete sich aus, als jeder sich in sich selbst versenkte und sein Leben betrachtete. Oder sich, wie in Evies Fall, auf das wunderbar behagliche Gefühl konzentrierte, das sie bei jeder Versammlung durchströmte, auf die Hoffnung, dass sie doch noch gerettet werden könnte, dass sie kein schlechter Mensch war und dass ihre Träume keine Bedeutung hatten. Mit geschlossenen Augen dachte sie so intensiv, wie sie nur konnte, an ihre Eltern, an ihre Arbeit, an das Essen auf dem Tisch, an das Dach über dem Kopf und an den Frieden innerhalb der Mauern der Stadt. Ich habe Glück, formte sie mit den Lippen. Ich habe großes Glück.

»Evie.« Sie riss die Augen auf und sah nach rechts. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. »Du bist gestern Nacht nicht gekommen.« Er flüsterte ganz leise, aber es genügte, um Evie in Panik zu versetzen. Wenn das jemand hörte … Wenn das jemand sah …

Sie sah sich um, suchte den ganzen Versammlungssaal ab, und als da nichts war als ein Meer von geschlossenen Augen, da kam wieder Farbe in ihre Wangen, doch sie wurde nicht ruhiger. Sie schüttelte heftig den Kopf und bedeutete Raffy, er sollte an seinen Platz zurückgehen.

»Wo warst du? Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete sie lautlos. »Ich meine, nein. Raffy, ich kann nicht kommen. Nie mehr. Ich werde Lucas heiraten. Ich kann mich nicht mehr mit dir treffen.«

Sie drehte den Kopf hastig wieder nach vorn und schloss fest die Augen. Raffy musste jetzt gehen, denn in wenigen Sekunden würden alle wieder die Augen öffnen.

Die Menschen um sie herum waren noch tief ins Gebet versunken. Zögernd drehte sie sich um. Tatsächlich, dort saß Raffy, ein paar Reihen hinter ihr. Er starrte sie an. Als ihre Blicke sich trafen, schüttelte er den Kopf und formte mit den Lippen ein »Nein«. Neben ihm saß Lucas, die Augen geschlossen, mit entspannten Zügen. Evie drehte sich schnell wieder nach vorn. Ihr Herz pochte heftig. Raffy war verrückt. Wenn er entdeckt worden wäre … Sie durfte gar nicht daran denken. Ihre Wangen glühten und ihre Handflächen waren nass von Schweiß.

»Wir halten die Augen weiter geschlossen und atmen ruhig ein und aus. Spürt die Energie, wenn der Atem in euren Körper strömt, und spürt, wie das Ausatmen euch reinigt und eure Sorgen, eure Schmerzen und die fruchtlosen Gedanken, die euer Urteil trüben, mit sich nimmt.«

Evie atmete ein und aus, genau wie der Bruder es befahl, genau wie sie es immer tat. Ein und aus. Aber es beruhigte sie nicht. Ihr wurde übel davon, so als würde ihr Körper hin und her geworfen. Sie spürte, wie Raffys Blick sich in ihren Rücken bohrte, wie er sich verraten fühlen musste, was für einen ungeheuren Verlust sie selbst erlitt, der sie von allem abschnitt, was ihr teuer war. Und trotzdem wusste sie, dass sie das Richtige tat. Sie musste nur stark bleiben. Für sie beide.

»Nun wollen wir, ohne die Augen zu öffnen, die Hand der Person neben uns fassen. Haltet diese Hand fest, Brüder und Schwestern, und denkt an den Bund, der uns eint, der uns stark macht, gut und rein.«

Evie saß am Ende der Reihe; rechts von ihr saß niemand und sie streckte die Linke aus, fand die Hand ihres Vaters und hielt sie fest. Sie fühlte sich stark an, entschlossen, und Evie erinnerte sich, wie oft sie als Kind und als Jugendliche von dieser Hand gezüchtigt worden war. Diese Hand hatte sie gelehrt, die Regeln zu befolgen. Nun war sie endlich so weit, die Anforderungen zu erfüllen. Sie musste.

»Und nun legt eure eigenen Hände ineinander, Brüder und Schwestern. Legt eure eigenen Hände ineinander und fühlt die Wärme des Blutes, das in euren Adern fließt und euch am Leben erhält. Genau so erhält der Glaube, der euch durchströmt, diese Stadt am Leben. Und genauso erhält uns das System, unser wunderbares System, das jeder von uns kennt, das uns leistungsfähig hält, in Frieden, jeder an seinem Platz.«

Der Vater ließ ihre Hand los. Sie legte ihre Hände ineinander und bemühte sich angestrengt, das Blut zu fühlen und den Glauben, wie sie es Woche für Woche getan hatte, seit sie denken konnte. Aber alles, was sie sah, war Raffys trotziges, verzweifeltes Gesicht; alles, was sie fühlte, war die Leere, die sich in ihr auftat.

Eine Leere des Bösen, sagte sie sich streng. Eine Leere, die sich füllen würde mit Güte, mit harter Arbeit und konzentrierter Hingabe an die Stadt.

»Und nun, Brüder und Schwestern, wollen wir unsere Augen öffnen und uns und unsere Mitbürger anschauen. Unsere Freunde und Bekannten und auch jene, die wir nicht kennen. Und dabei wissen, dass wir alle zusammengehören. Dass das, was der Einzelne tut, Auswirkungen hat auf alle und dass die Mühsal des Einzelnen das Leben aller bereichert. Unser Glaube nährt nicht nur uns selbst, sondern unsere ganze Gemeinschaft.«

Alle schlugen sofort die Augen auf. Evie blickte zu hastig umher, als dass sie Blickkontakt mit irgendjemandem hätte aufnehmen können. Sie konnte nicht nach hinten sehen – in Raffys Richtung, obwohl sie wusste, dass Lucas dort nach ihr Ausschau halten würde. Sie fühlte sich kurzatmig, so als würde sie fallen, obwohl sie wusste, dass das nicht der Fall war.

»Und wir brauchen diesen Glauben«, fuhr der Bruder fort. »Den Glauben an unsere großartige Stadt. Den Glauben an die Neutaufe. Den Glauben an unsere Mitbürger. Wir alle brauchen euren Glauben, eure Arbeit und euren Einsatz. Denn ohne all das könnten wir diese Stadtmauern genauso gut verfallen lassen. Sie können uns zwar vor dem schützen, was dort draußen ist, aber sie können uns nicht vor uns selbst schützen, oder?«

Evie drehte den Kopf wieder nach vorn. Ihr Herz klopfte und sie war schweißgebadet.

»Nein, sie können uns nicht schützen«, rief sie mit den anderen im Chor. Ihre Stimme zitterte.

»Aber unser Großer Anführer hat uns beschützt«, erklärte der Bruder. »Schon vor langer Zeit hat er erkannt, was die Menschheit lähmt. Er hat entdeckt, dass wir alle Sklaven einer Hirnregion sind, die wir nicht brauchen, einer anatomischen Verirrung, die die Menschen dazu bringt, Entsetzliches zu tun. Vor der Schreckenszeit glaubten die Menschen, sie seien zivilisiert. Sie hielten sich für klug und gewitzt und waren überzeugt, dass sich der Große Anführer irrte, weil sie doch alles hatten, was sie brauchten. Aber was hatten sie denn schon?«

»Nichts«, riefen alle.

»Nichts! Genau. Sie hatten Morde. Und Banden, die in den Straßen ihr Unwesen trieben, Menschen überfielen und ihnen ihren Besitz raubten. Frauen wurden vergewaltigt. Menschen wurden eingesperrt. Erwachsene wurden zu Tode gesteinigt. Aber auch das befriedigte diese Menschen noch nicht. Sie lasen Bücher über Mord und Vergewaltigung einfach so zum Zeitvertreib und sie schrieben Theaterstücke darüber.«

Der Bruder ließ den Blick durch den Saal schweifen, und als er in Evies Richtung schaute, spürte sie, wie sich ihr der Magen umdrehte – bestimmt wusste er, dass auch sie schreckliche Dinge getan hatte. Aber sein Blick wanderte weiter über die Reihen. Sie hielt sich an der Banklehne vor ihr fest und sagte sich, dass das ihre zweite Chance war. Auch der Große Anführer hatte der Menschheit eine zweite Chance gegeben.

Sie würde Raffy schließlich vergessen und er würde sie vergessen. Sie würden beide gerettet werden.

»Sie schufen sich Religionen als Schutz und als moralische Führung, weil sie nicht fähig waren, sich selbst zu führen«, sagte der Bruder, und ihr Vater nickte eifrig, nicht ahnend, welche Qualen seine Tochter litt. »Aber was haben sie mit ihren Religionen gemacht?«, setzte der Bruder seinen Gedankengang fort. »Sie benutzten sie, um sich untereinander zu bekämpfen. Sie verdrehten deren moralische Prinzipien und machten einen gewalttätigen Krieg daraus. Und warum haben sie das getan, Brüder und Schwestern?«

»Weil sie Sklaven ihrer verderbten Gehirne waren«, riefen alle im Chor, und Evie rief lauter als je zuvor. »Weil sie nichts anderes kannten.«

Evie musste an ihr eigenes verderbtes Gehirn denken. Selbst jetzt kämpfte es mit ihr und versuchte, ihr zu sagen, dass sie das Falsche tat.

»Weil sie Sklaven waren. Weil sie nicht wussten, was wahre Güte ist – sie hätten sie auch nicht erkannt, wenn sie ihnen begegnet wäre. Aber sie wussten es nicht besser, sie kannten es nicht anders. Wir schon, Brüder und Schwestern. Voll Furcht und voll Mitleid blicken wir zu ihnen zurück. Denn diese Menschen außerhalb der Stadtmauern, die die Schreckenszeit überlebt haben, die sich der Neutaufe widersetzt und sich für ein Leben außerhalb unserer Gemeinschaft entschieden haben, sind genau gleich wie die, die zuvor gelebt haben. Sklaven ihrer Begierden, ihres Stolzes, ihrer Wut und ihres Hasses. Sie streben nicht nach Frieden, nach Glück oder nach Güte; sie dürsten nach Gewalt, nach Rache und nach Zerstörung.«

Ein allgemeines Schaudern lief durch die Menge. Der Bruder hob die Hände und alle standen auf.

»Aber wir wurden errettet von diesen tierischen Instinkten.« Jemand jauchzte laut auf. »Die Neutaufe hat unsere Gehirne geläutert und die Neigung zum Bösen ausgelöscht. Deshalb sind wir keine Gefahr mehr für uns selbst.«

»Keine Gefahr mehr für uns selbst«, riefen alle erregt.

Die Energie im Saal war angewachsen. Evie spürte, wie die Erregung im Saal sich allmählich steigerte.

»Wir streben nicht danach, zu töten und zu zerstören. Wir streben danach, zusammenzuarbeiten. Um uns eine gute Zukunft aufzubauen. Um rein zu sein in Gedanken und Werken.«

»Rein in Gedanken und Werken«, wiederholte die Versammlung. »Wir haben ein System, das uns kennt, jeden Einzelnen, und das über uns wacht. Wir führen ein Leben ohne Sorgen, Misstrauen und Not, weil das System dafür sorgt, dass wir so leben, wie es sein soll. Wir dürfen uns aber nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Wir sind zwar vielleicht frei von Bösem, aber wir sind nicht frei von dem, was uns in Versuchung führt. Ein bewusster Geist ist ein Geist, der wählen kann, ein Geist, der Entscheidungen treffen kann. Brüder und Schwestern, ihr seid gute Menschen. Ich weiß, ihr wollt einfach nur gute Entscheidungen treffen, die richtige Wahl. Habe ich recht?«

»Du hast recht! Ja, du hast recht.«

Auch Evie schrie voller Inbrunst: »Du hast recht.« Ab jetzt würde sie nur noch gute Entscheidungen treffen. Die Bösen würden keine Macht über sie bekommen. Sie würde nicht vor der Stadtmauer ausgesetzt, wo sie den Ungeheuern in die Hände fallen würde.

»Und wenn wir diese guten Entscheidungen treffen und die richtige Wahl, was müssen wir dann ausmerzen?«

»Begierde!«, rief jemand.

»Gier!«, rief ein anderer.

»Begierde und Gier. Oh ja«, sagte der Bruder. »Und was noch?«

»Hochmut«, rief Evies Vater, stand auf und reckte die Hände in die Höhe.

»Hochmut!«, wiederholte der Bruder. »Hochmut, Begierde und Gier!«

Noch mehr Teilnehmer erhoben sich und reckten die Hände zum Himmel.

»Wir müssen uns von all diesen Dingen abkehren. Die Begierde führt uns in Versuchung, sie stellt uns auf die Probe, aber wir müssen uns von diesen niederen Instinkten abkehren, denn auf Begierde und Wollust folgen unweigerlich Aggression und Gewalt. Die Begierde ist gefährlich, Schwestern und Brüder. Lasst nicht zu, dass sie euren guten Verstand verdirbt. Lasst nicht zu, dass sie innerhalb dieser Mauern Schüler findet.«

»Nein!«, riefen die Leute. »Wir lassen sie nicht ein. Nicht in diese Mauern.«

»Aber woher wissen wir das? Woher wissen wir, dass Hochmut, Begierde und Gier nicht gut sind? Ich werde es euch sagen.«

»Sag es uns! Sag es uns!« Jetzt waren fast alle aufgestanden, mit weit aufgerissenen Augen und verzücktem Blick. Auch Evie war aufgesprungen. Sie wollte fühlen, was die anderen fühlten, wollte durchströmt werden von Glück, von Erleichterung, Entschlossenheit, und nur noch die Liebe zur Stadt sollte Platz finden in ihrem Kopf.

»Ich werde es euch sagen.« Plötzlich war die Stimme des Bruders ganz ruhig. »Ich werde es euch sagen. Setzt euch, Brüder und Schwestern. Nehmt wieder Platz und hört mir zu.«

Alle setzten sich wieder. Im Saal war es mit einem Mal ganz still, und alle reckten die Köpfe vor, um ja kein Wort zu verpassen.

»Eine friedliche, gute Gesellschaft gründet sich auf Gerechtigkeit, auf klare Regeln, die jeder aus freiem Willen befolgt«, erklärte der Bruder und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Evie neigte den Kopf zur Seite und horchte angestrengt, so als könnten diese Worte sie heilen. »Wir sind die Erretteten. Wir sind die Erwählten. Und mit unseren reinen Gedanken werden wir auch weiterhin stark sein. Wir werden dem Bösen in unseren Herzen keinen Raum geben und auch nicht in unseren Köpfen. Das Böse möchte wachsen, aber wir werden ihm keine Luft zum Atmen lassen. Wir lassen uns vom System zeigen, wo wir schwach sind, und werden mit Entschlossenheit die Stärke zurückgewinnen.«

Die Predigt des Bruders kam langsam zum Ende, und alle erhoben sich wieder, Musik erklang, und Hände schossen in die Höhe.

»Also feiert, Brüder und Schwestern. Feiert die Stadt. Feiert unsere Gemeinschaft. Feiert diesen Ruhetag und geht morgen wieder an die Arbeit, mit starkem Herzen und mit dem Wunsch, sofort in diese wunderbare Zukunft einzutreten.«

»Ja! Ja!«, rief die Menge. »Heil dem Großen Anführer!«

Evies Vater drehte sich zu ihr hin, seine Augen schimmerten feucht, und er legte den Arm um sie; dann legte er den anderen Arm um ihre Mutter, die ihrerseits hinter dem Rücken des Vaters Evies Schulter drückte. Diese Gefühlsregung kam völlig überraschend für Evie. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie drückte Hände und Arme, sie wollte ihren Eltern zeigen, wie sehr sie deren Unterweisung schätzte, wie sehr sie wollte, dass sie stolz auf sie waren.

Die Versammlung war zu Ende und Evie schlurfte hinter ihren Eltern aus dem Saal. Überall sah man rosige Wangen und nach oben gebogene Mundwinkel. Bekannte grüßten im Vorbeigehen mit freundlichem Gesicht.

Evie hielt sich dicht bei ihren Eltern und blickte starr nach vorn, denn sie wollte keinesfalls mit Raffy zusammentreffen oder ihm in die Augen sehen. Nahe beim Ausgang entdeckten ihre Eltern allerdings ein paar Bekannte – einen Arbeitskollegen ihres Vaters und dessen Frau –, und sie begaben sich an die Seite, um sich zu unterhalten. Evie wollte ihnen folgen, wurde aber von der Menge weitergeschoben, und ehe sie sichs versah, war sie ein paar Meter zur Tür hinaus und stand allein auf dem Weg. Sie wollte zu ihren Eltern zurück, aber noch immer kamen ihr zu viele Menschen entgegen. Sie winkte, aber die Eltern sahen sie nicht; sie plauderten und lachten mit den Bekannten.

Dann spürte Evie, dass jemand hinter ihr stand und sich ebenfalls nicht weiterbewegte. Das konnte nur Raffy sein. Ihr Gefühl drängte sie, ihm die Hand zu geben, ihn zu berühren und all ihre Vorsätze über den Haufen zu werfen.

Aber sie durfte diesem Instinkt nicht nachgeben. Das war ihre einzige Hoffnung.

»Du musst kommen. Ich kann nicht ohne dich leben.«

Er sprach leise und eindringlich und ihr Magen zog sich zusammen.

Sie schüttelte den Kopf, hielt verzweifelt Ausschau nach ihren Eltern. Sie brauchte jetzt deren Hilfe, sonst war es zu spät. Raffy presste sich an sie, und ihr war, als würde sie fallen. »Ich muss gehen«, brachte sie heraus. Sie konnte kaum atmen und erst recht nicht denken. »Tu das nie mehr. Such nie mehr nach mir. Es ist vorbei, Raffy. Es muss vorbei sein.«

»Nein«, sagte er so verzweifelt, dass sie sich zu ihm umdrehen und ihre Lippen auf seinen Mund pressen wollte wie so oft zuvor. Stattdessen grub sie ihre Fingernägel in ihre Handflächen.

»Raffy? Komm und kümmere dich um Mutter. Evie, was machst du hier allein?«

Evie blickte sich erschrocken um. Lucas kam auf sie zu. Seine Miene war unergründlich wie immer. Hatte er etwas mitbekommen? Evie schüttelte sich. Er konnte nichts gesehen haben.

»Ich … ich bin von meinen Eltern getrennt worden«, gelang es ihr zu antworten. »Ich suche gerade nach ihnen.«

»Da sind sie ja schon«, sagte Lucas und lächelte etwas gezwungen. »Deine Mutter jedenfalls.« Er wandte sich an Raffy und das Lächeln verflog. »Geh jetzt«, befahl er. Raffy machte sich davon.

»Evie, da bist du ja!«, rief ihre Mutter und tauchte in der Menge auf. »Wir sind da drüben bei Philip und Margorie. Ich habe ihnen gerade erzählt, wie gut es an deiner Arbeitsstelle läuft. Komm doch herüber.«

»Ja, natürlich«, antwortete sie, ließ sich an der Hand nehmen und sich durch die Menge führen.

Kurz bevor sie zu Philip und Margorie kamen, drehte sie sich voller Verzweiflung um und versuchte, einen letzten Blick auf Raffy zu werfen und ihm irgendwie zu sagen, dass sie es für sie beide tat, dass es keine andere Lösung gab. Doch sie fand nur Lucas’ Augen, die sie verblüfft anstarrten, bevor auch er sich abwandte und in die andere Richtung davonging.


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