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Der Bruder schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Sein mächtiger Bauch wölbte sich vor, während er um seinen Schreibtisch herumging, vorbei an dem üppigen Sofa, auf dem er gern sein Nachmittagsschläfchen hielt, »um gründlich über spirituelle Dinge nachzudenken«, und weiter zum Fenster – einem großen Erker mit einem einmaligen Blick über den ganzen, wie ein Fächer ausgebreiteten Ostteil der Stadt. Seiner Stadt. Er betrachtete sie ebenso als sein Eigentum wie seine Roben oder sein Haus – das große Haus mit Schwimmbad, das eine hohe Mauer vor neugierigen Blicken verbarg. Er war von Anfang an da gewesen, schon als es mit der Stadt losging. Als einer der Ersten hatte er verstanden, dass der Große Anführer recht hatte und dass die Neutaufe den Weg eröffnete aus der schrecklichen Vergangenheit der Menschheit in eine großartige Zukunft. Erlösung. Hoffnung.
Das hatte er seinen Schäfchen gegeben. Sie lebten sicher und zufrieden. Harte Arbeit hielt sie beschäftigt. Und wenn er sich dafür mit dem Besten und Feinsten umgab, was die Stadt zu bieten hatte, wenn er sich hin und wieder etwas Luxus gönnte, dann war das nur recht und billig; es war vollkommen verständlich. Lastete nicht ein gewaltiges Gewicht auf seinen Schultern? Er brauchte Komfort, damit er die Stärke hatte, zu führen.
Er war ein religiöser Mann gewesen in längst verflossenen Tagen. Er war davon überzeugt gewesen, dass der Glaube ihn schützen würde, dass Gott einen Plan hatte und seine Herde nicht im Stich ließ, dass er sie auf die Probe stellte, um ihnen den rechten Weg zu weisen.
Und dann war die Schreckenszeit ausgebrochen, Zerstörung und Chaos hatten die Welt überzogen, hatten Tausende und Millionen Leben ausgelöscht, wahllos und ohne Erbarmen. Und in einem Augenblick der Erleuchtung, als die Kirche, in der er Andacht hielt, um ihn herum explodierte, hatte der Bruder erkannt, dass es keinen Gott gab, weder Himmel noch Hölle und auch keinen Plan, weder Vernunft, Sinn noch Verstand. Es gab nur Menschen. Gute Menschen. Schlechte Menschen. Nette Menschen. Eigensüchtige Menschen. Bescheidene Menschen. Stolze Menschen, gewalttätige Menschen, brutale Menschen. Dumme, böse Bastarde, die alle anderen vernichten wollten; die sich nicht um das Leid scherten oder um Kinder, die nach ihren ermordeten Eltern schrien, um Pest und Cholera, die unter den Überlebenden des Bombenhagels wüteten, um ehrliche Menschen, die alles verloren.
Ein ganzes Jahr hatte es gedauert, bis die Schreckenszeit in den letzten Zuckungen lag, bis die Vernichtung an ein natürliches Ende gelangt war. Es war eine Zeit, in der eine neue Welt aus Ödland, Seuchen und Verzweiflung gleichzeitig bestand neben einer alten Welt mit Google, Autos und Kaffeemaschinen. Und der Bruder, der schon vom Großen Anführer (wenn auch noch nicht unter diesem Namen) gehört und über dessen Veröffentlichungen in obskuren Medizinjournalen die Augen verdreht hatte – die etablierten Zeitschriften hatten ihn nie ernst genommen –, erkannte mit einem Mal, dass dieser Mann im Gegensatz zu allen anderen die Wahrheit sagte. Und so nutzte er die verbliebenen technischen Errungenschaften der modernen Welt, um diesen Mann ausfindig zu machen, schickte E-Mails und fuhr schließlich nach Manchester, wo er ihn in einem halb verfallenen Café antraf, in dem wundersamerweise noch Espresso zu bekommen war.
Fisher war zunächst sehr zurückhaltend gewesen, hatte ihn weggeschickt, es sei zu spät, die Welt sei schon verloren und sie hätten ihre Chance verpasst. Der Bruder jedoch ließ sich so leicht keine Niederlage einreden und war überzeugt, dass es noch nicht zu spät war. Nun war er gefordert. Und mit den Fähigkeiten, die er sich in langen Jahren auf der Kanzel erworben hatte, beschwor er vor dem Großen Anführer – damals Mr Fisher und ehemals Dr. Fisher, bis er aus dem Ärzteregister geflogen war – eine neue Welt herauf, einen neuen Anfang, wo jeder gut war, wo jeder sicher lebte, eine Welt, in der Ordnung herrschte, und wo die Menschen so leben konnten wie in dem Himmel, den sie sich so lange vorgestellt hatten. Eine Welt, in der Gewalt nicht nur geächtet wurde, sondern wo es diese überhaupt nicht gab. Und diese Welt war in Reichweite, wenn sie zusammenarbeiteten, wenn sie sich jetzt organisierten und an ihr Vorhaben glaubten. Später sollte der Große Anführer diese Welt in seinen Betrachtungen in exakt demselben Wortlaut beschreiben, doch der Bruder versagte es sich, ihn jemals darauf hinzuweisen.
Das würde bedeuten, erklärte er Fisher damals, dass das Böse in der Welt einen Sinn hatte. All die Zerstörung würde schließlich dazu führen, dass ein Phönix sich aus den Flammen erhob, eine neue Zukunft, ein wahrer Garten Eden.
Und nun stand er hier und wachte über seine Bürger, die sich mühten, produzierten, fröhlich arbeiteten und ohne Rivalität und Streit, ohne Hass und Furcht miteinander lebten.
Es klopfte an der Tür. Er ging hin und öffnete. Es war Lucas, wie er gedacht hatte.
»Lucas.« Er lächelte gütig. »Ich hoffe, dir geht es gut?«
»Ausgezeichnet, Bruder.«
»Gut. Und deinem Bruder?«
Wie immer wenn die Rede auf Raphael kam, lächelte Lucas etwas gezwungen. Der Bruder legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Möchtest du, dass ich mit ihm rede?«
Lucas schüttelte heftig den Kopf. »Du bist sehr freundlich, Bruder, aber für Raffy bin ich selbst verantwortlich.«
»Und er bleibt bei seiner Geschichte? Dass die Panne durch die Verbindung zu einem anderen System ausgelöst worden sei?«
»Er ist ein Fantast«, erwiderte Lucas tonlos. »Das ist er immer gewesen. Ich halte es für einen Schrei nach Aufmerksamkeit, weiter nichts. Und ich habe es mir selbst zuzuschreiben. Ich hätte für ihn mehr wie ein Vater sein müssen, anstatt mich ganz dem Wohl der Stadt zu widmen.«
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte der Bruder schnell. »Dir verdankt er es, dass er für die Regierung arbeitet.«
»Doch, Bruder, es ist meine Schuld«, widersprach Lucas, und seine Züge spannten sich an bei der Erinnerung daran, dass Raphael nur seinetwegen nicht irgendeine einfache Tätigkeit ausübte. Es musste schwierig sein für Lucas, dachte der Bruder bei sich. Mit einem K als Vater. Mit so einer Schande lebte es sich schwer.
»Warten wir’s ab, Lucas«, sagte der Bruder. »Wenn er nach einer Woche immer noch darauf beharrt, dass jemand anders die Panne ausgelöst hat, und er sich weigert, selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen, dann müssen wir die Entscheidung dem System überlassen. Bist du damit einverstanden, Lucas? Immerhin ist er dein Bruder.«
»Mein Vater war auch mein Vater«, entgegnete Lucas, und seine Augen leuchteten so blau wie immer. »Und trotzdem habe ich dir Informationen über ihn besorgt. Eine Woche also, Bruder. Überlass es mir.«
Mit diesen Worten ging er aus dem Raum. Der Bruder wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, dann schlurfte er zum Sofa zurück. Immer wieder gab es solche Probleme, kleine Unannehmlichkeiten, um die man sich kümmern musste. Im Großen und Ganzen aber war die Stadt genau das geworden, was er sich vor so vielen Jahren erträumt hatte. Und Leute wie Lucas sorgten dafür, dass es so blieb.
Er drückte den Summerknopf an der Sprechanlage seines Sekretärs. »Sam, ich bin jetzt für eine Weile am Nachdenken. Sorge dafür, dass ich nicht gestört werde.« Dann legte er sich auf das Sofa und schloss die Augen.