16

Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann brach Evie das Schweigen.

»Ihr … ihr behaltet die Bösen hier? Sie sind eure Gefangenen?«

Linus schüttelte den Kopf und führte sie über einen überdachten Korridor auf einen Hof und weiter zu einer großen Ansammlung von Zelten. »Hier hinein«, sagte er. Sie traten in einen gemütlichen Raum voller Teppiche und Kissen. Am anderen Ende stand ein großer, mit grünem Leder bezogener Schreibtisch aus dunklem Holz. Evie konnte die Augen kaum davon wenden.

»Schön, nicht wahr?«, sagte Linus, als er ihren Blick bemerkte. »Das Schmuckstück habe ich retten können. Setzt euch doch bitte.«

Er ließ sich auf einem großen Kissen nieder und auch die beiden setzten sich. Linus sah sie an, als würde er in ihnen lesen, tief in ihr Inneres schauen wollen. Schließlich atmete er tief aus und fragte: »Tee?«

Evie nickte, und Linus sprang auf, steckte den Kopf hinaus, rief irgendetwas und nahm wieder Platz. Kurz darauf trug ein Mann ein Tablett mit einer Teekanne, Milch und Keksen herein. Linus schenkte ihnen ein und Evie griff dankbar nach der Tasse.

»Die Bösen sind nicht unsere Gefangenen«, erklärte Linus, nachdem er an seinem Tee genippt und die Tasse vorsichtig wieder abgestellt hatte.

»Aber …«, warf Evie ein, noch bevor sie sich daran hindern konnte.

»Wir haben ein paar Gefangene, das stimmt«, meinte Linus, »aber es ist nicht so, wie ihr denkt.«

»Wie ist es dann«, fragte Raffy und blickte Linus unerschrocken und furchtlos ins Gesicht.

Linus lächelte. »Würdet ihr ein bisschen Geduld mit mir haben?«, fragte er. »Ich würde euch gern eine Geschichte erzählen.«

»Eine Geschichte?«, fragte Raffy argwöhnisch. »Warum?«

»Weil ihr dann alles verstehen werdet«, antwortete Linus milde. »Dann werdet ihr die Welt genauso sehen wie ich.«

»Und wenn ich die Welt nicht so sehen will wie Sie?«, fragte Raffy schroff. »Sie sind ein Lügner. Sie erzählen nur lauter Lügen und jetzt erzählen Sie wahrscheinlich eine Lüge über meinen Vater. Ich habe es satt, dass die Leute mich anlügen, so satt.«

»Raphael, ich belüge dich nicht.« Linus’ Augen hatten plötzlich einen traurigen Ausdruck angenommen. »Und es tut mir leid, wenn du das denkst. Ich habe euch vielleicht nicht alles gesagt, aber das war nur zu unserem Schutz. Ich musste mir erst sicher sein, dass ihr wirklich … Ich musste vorsichtig sein, das ist alles. Aber ich werde dich nicht belügen.«

»Dann sagen Sie mir, wie Sie das mit meinem Vater gemeint haben«, sagte Raffy und sah ihn unverwandt an.

»Lass mich die Geschichte erzählen. Falls du danach noch Fragen hast, werde ich sie dir beantworten«, versprach Linus.

Raffy überdachte das für einen Augenblick; er sah argwöhnisch aus und unsicher.

»Erzählen Sie«, warf Evie ein. Sie ergriff Raffys Hand. »Erzählen Sie uns die Geschichte.«

»Danke.« Linus lächelte. »Es war einmal ein Mann. Manche hielten ihn für einen bedeutenden Mann, manche dachten anders. Er war ein Mann der Wissenschaft, er war Arzt. Er hatte eine Idee, die seiner Ansicht nach die Menschheit retten konnte. All die schönen, unglaublichen Dinge, die die Menschen geschaffen hatten, wurden ständig von Gewalt und Terror bedroht, und er wollte diese ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Er sah ein friedliches Nirwana vor sich, in dem die Menschen in Harmonie miteinander lebten, wo sie nicht mehr den Willen hatten, einander zu bekämpfen.«

»Der Große Anführer«, sagte Evie ruhig.

»Der Große Anführer.« Linus nickte nachdenklich. »Das ist eine Bezeichnung für ihn. Ich nenne ihn lieber Dr. Fisher. So hieß er nämlich vor der Schreckenszeit, vor der Stadt, vor dem allen. Unter diesem Namen hat er seine Ideen bei verschiedenen medizinischen Fachzeitschriften und auf einer Reihe von Fachkongressen eingereicht. Und wisst ihr, was passiert ist?«

»Die Leute mochten seine Ideen nicht, weil sie das Böse nicht loswerden wollten, das sie in sich trugen.«

»So kann man es auch ausdrücken.« Linus zuckte mit den Schultern. »In Wirklichkeit haben sie ihn ausgelacht und seine Theorie ins Lächerliche gezogen. Sie haben sich geweigert, seine Arbeiten zu veröffentlichen, und haben ironische Kommentare über ihn geschrieben. Sie nannten ihn Frankensteins Nachfolger. Wisst ihr, wer Frankenstein war?«

Evie und Raffy schüttelten den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« Linus schmunzelte. »Aber das macht nichts. Dr. Fisher jedoch wollte seine Vision nicht aufgeben und bemühte sich, Menschen zu finden, die sich als Studienobjekte zur Verfügung stellten. Er wollte ihnen Teile des Gehirns entfernen. Das ist dann aber nicht so gut gelaufen. Als die Fachverbände und Strafverfolgungsbehörden das herausgefunden haben, hat er seine Zulassung verloren, und es gab ein Gerichtsverfahren, damit er weggesperrt wird. Doch das wurde er nicht – weggesperrt, meine ich. Er hat auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert und kam frei …« Er bemerkte die verständnislosen Mienen seiner Zuhörer und lächelte. »Ach ja, Gerichtsverfahren. Noch so etwas, was ihr nicht kennt. Okay, vergesst es. Kurz gesagt, er ist untergetaucht. Verschwand von der Bildfläche. Hat mit Fanatikern und Sonderlingen rumgehangen – mit Leuten, die man ebenfalls an der Umsetzung ihrer großartigen Ideen gehindert hatte und die ihn nicht ausgelacht haben. Mit Leuten wie mir.«

»Wie Sie?« Mit einem Mal hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden. »Sie haben den Großen Anführer gekannt?«

»Wir waren Freunde«, bestätigte Linus. »So was Ähnliches. Eigentlich eher Kameraden. Wir hatten beide einen Traum, eine Vorstellung, wie die Dinge sein sollten.«

»Was war Ihr Traum?«, fragte Evie atemlos. »Derselbe wie der des Großen Anführers?«

»Nein.« Linus schüttelte den Kopf. »Aber …« Er atmete tief durch. »Wollt ihr meine Idee sehen?«

Beide nickten.

»Gut. Dann kommt mit.«

Er sprang leichtfüßig auf und ging aus dem Raum. Evie und Raffy wechselten einen Blick und folgten ihm über den Hof, wieder vorbei an dem Zelt mit den Bösen und über einen zweiten Hof in ein bewachtes Gebäude. Er führte sie durch die Tür und über einen Korridor bis in einen riesigen Raum voller Computer.

Raffy blickte sich ehrfürchtig um, während Evie eher unsicher dreinblickte. Es war warm und überall summten und brummten die Computer.

»Ihr habt so viele«, wunderte sie sich. »Wie habt ihr die alle hierher bekommen?«

»Das sind meine Babys«, sagte Linus mit einem Ausdruck voller Zuneigung, ja fast Liebe, und seine Augen leuchteten. »Meine Idee war ein System. Ein System, das die Welt besser machen konnte, geordneter, zu einem Ort, wo niemand mehr ein Verlangen nach etwas hatte, weil das System das Verlangen schon vorweggenommen hat. Wo niemand hungerte oder in der Schule schlecht abschnitt, wo niemand unterdrückt wurde, und wo jeder den Partner fand, den das Schicksal ihm bestimmt hat. Durch das System.«

»Du meinst … so wie das System in der Stadt?«, fragte Evie voller Zweifel.

Linus seufzte und sein Blick verdüsterte sich. »So hätte das System der Stadt sein sollen. Das System, das ich entworfen habe. Das ich aufgebaut und eingerichtet habe.«

»Sie haben das System aufgebaut«, fragte Raffy ungläubig.

»Ich habe es aufgebaut«, bestätigte Linus. »Und ich bedauere das zutiefst. Ich …« Er seufzte. »Ich werde mir das nie verzeihen.«

Raffy ging näher an die Geräte heran. »Darf ich?«

»Natürlich«, sagte Linus.

Raffy ging an den ersten Computer, legte die Hände auf die Tastatur und fing an zu tippen. In der Anzeige erschienen Datenfelder, Reihen von Buchstaben und Zahlen, die Evie nichts sagten.

»Das ist Ihr System?«, fragte Raffy.

Linus nickte, und zum ersten Mal schien er selbst angespannt, ja besorgt zu sein, fast so als hätte er Angst vor irgendetwas.

»Wow«, sagte Raffy leise. »Das ist … das ist unglaublich.«

Linus grinste, und mit einem Mal sah er fast aus wie ein kleiner Junge, trotz der vielen Falten, die sein Gesicht durchzogen. Und Evie erkannte, dass es nicht Angst gewesen war. Linus wollte Raffys Anerkennung, deshalb die aufeinandergepressten Kiefer und die gerunzelte Stirn.

»Was macht es?«, fragte sie.

Raffy drehte sich um und zog einen Stuhl heran. »Siehst du diese Codes? Jeder steht für einen Menschen und ist verlinkt mit Bedürfnissen, Sehnsüchten, ersten Grades, zweiten Grades und so weiter … alles geordnet nach Priorität und dann in Beziehung gesetzt zu den Ressourcen der Gemeinschaft, zur Zeit der Leute … Es ist unglaublich«, wiederholte er.

»Manches ist ganz gut gelungen«, meinte Linus bescheiden.

»Aber …« Raffy drehte sich auf dem Stuhl herum. »Warum gibt es hier keine Ränge? Wenn Sie doch das System der Stadt aufgebaut haben?«

»Ich habe das ursprüngliche System aufgebaut«, erklärte Linus, und sein Mund zuckte nervös. »Nicht das System, das es heute gibt. Ich habe kein System aufgebaut, das die Menschen kennzeichnet oder das sie bestraft oder das …« Er blickte zu Boden. »Das System, das ich entworfen habe, ist nicht das, das es in eurer Stadt gibt. Das wurde später aufgebaut, von anderen Leuten. Nach meinem Vorbild. So ist das manchmal mit Träumen, wisst ihr – sie werden leicht verzerrt. Keiner träumt denselben Traum, und wenn Träume Wirklichkeit werden, dann sind sie nie das, was man erwartet hat, nie das, was man erhofft hat.«

Er wandte sich ab. Evie stand auf und trat neben ihn.

»Und was ist mit dem Traum des Großen Anführers? Der wurde doch nicht verzerrt, oder?«

»Nicht verzerrt?« Linus sah sie an und schüttelte traurig den Kopf. »Ihr wisst wirklich gar nichts, oder?«

Evie legte die Stirn in Falten und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Allmählich hatte sie genug von Linus’ verschlungenen Geschichten, die nie das brachten, was er versprochen hatte. »Doch. Wir wissen eine ganze Menge. Und wenn wir nicht alles wissen, dann liegt das daran, dass Sie es uns nicht erzählen wollen.«

Linus sah sie nachdenklich an. »Okay. Setz dich. Ich erzähle dir jetzt alles über den Traum des Großen Anführers, ja?«

Evie nickte und nahm wieder neben Raffy Platz, der sich nur widerstrebend vom Computerbildschirm losreißen konnte.

Linus atmete tief durch. »Wieder zurück zu der Geschichte. Da waren wir also, Dr. Fisher und ich. Wir haben einen Haufen Kaffee getrunken und fantasiert, dass die Welt viel besser sein könnte, wenn man nur uns die Sache in die Hand geben würde. Und dann ist die Schreckenszeit losgegangen. Wisst ihr, warum man es die Schreckenszeit nennt?«

»Weil es ein Krieg war, und Krieg ist voller Schrecken«, sagte Evie.

Linus verzog das Gesicht. »Kriege hatte es auch schon vorher gegeben. Jede Menge Kriege, jede Menge Tod, Grausamkeit und Zerstörung. Das hat nie irgendetwas aufgehalten. Die Schreckenszeit wurde so genannt, weil die Soldaten alle Kinder waren und weil man mit den Bomben nur auf die Zivilbevölkerung gezielt hat. Es gab keine Gefechte, keine Strategie, nur gnadenloses Abschlachten, ohne dass ein Ende in Sicht war. Die Menschen, die ihn angefangen hatten, haben nicht für ein bestimmtes Ziel gekämpft; es ging ihnen nur darum, alles und alle zu zerstören, und das ist ihnen auch beinahe gelungen. So einen Feind kann man nicht bekämpfen und man kann sich auch nicht vor ihm verstecken.«

»Aber Sie haben sich versteckt«, sagte Raffy, und seine Augen verengten sich. »Sonst wären Sie jetzt nicht hier, oder?«

Linus lachte. »Kluger Junge. Ja, ich habe mich versteckt, genau wie Dr. Fisher. Wir waren ja schon jahrelang im Untergrund gewesen; für uns war das nichts Neues. Als wir allmählich begriffen haben, was da vor sich ging, erkannten wir unsere Chance. Denn die einzige Möglichkeit, den Schrecken zu verstehen, dafür zu sorgen, dass er einen Sinn bekam, lag darin, eine neue Welt des Friedens und der Hoffnung aufzubauen. Eine Welt, wo die Menschen nicht mehr böse waren, wo man sich um ihre Bedürfnisse kümmerte und wo sie sich entspannen und einfach nur leben konnten, statt jede Minute Angst zu haben. Das war alles, was wir wollten. Das war alles, was wir umzusetzen versucht haben …«

Seine Stimme versagte und er räusperte sich. »Also haben wir die Stadt aufgebaut.«

»Sie?«, meinte Raffy ungläubig.

»Ich und Dr. Fisher«, bestätigte Linus.

»Aber warum wird Ihr Name nie erwähnt?« Raffy sah ihn zweifelnd an. »Warum kommen Sie in den Betrachtungen nicht vor?«

»Die Betrachtungen?« Linus lachte. »Glaubst du diesen Mist etwa?«

Evie war schockiert. Sie wurde von Furcht erfasst. Sie versuchte, sie wegzudrängen, doch sie schaffte es nicht. Nicht gänzlich.

Linus bemerkte ihre Reaktion. »Keine Sorge, euer System kann mich nicht hören. Es kann gar nichts mehr hören. Nicht mehr.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Raffy unsicher.

Linus seufzte. »Kann ich meine Geschichte zu Ende erzählen?«

Raffy zuckte mit den Schultern. »Nur zu. Erzählen Sie.«

»Danke«, sagte Linus mit gespielter Ehrerbietung. »Wir hatten also einige Anhänger. Die Schreckenszeit war vorbei und alle kämpften um Essen, Wasser, das Nötigste eben. Die Welt zerfiel in Chaos und in lauter Stammeskriege. Also haben Dr. Fisher und ich unsere Vision verkündet und die Menschen haben es uns abgekauft. Sie wollten einen anderen Weg, einen Neuanfang. Wir haben das besiedelt, was vor der Schreckenszeit London war, haben die Gebäude, die noch standen, und die verbliebenen Ressourcen übernommen. Da war ein Fluss. Damit hatten wir die Basis, auf der wir aufbauen konnten. Und wir hatten Männer, die uns helfen konnten. Sie haben die Mauer gebaut und Häuser, stoisch und unermüdlich, weil sie an uns geglaubt haben und an den Traum, den wir ihnen versprochen hatten. Ich habe angefangen, das System aufzubauen. Und Fisher …«

Er schluckte und sein Blick sprang unbehaglich hin und her.

»Und Fisher?«, half Raffy nach.

Linus starrte wieder zu Boden. »Dr. Fisher hat angefangen zu operieren.«

»Die Amygdala entfernen. Die Neutaufe«, sagte Evie. »Das wird bei jedem in der Stadt gemacht.«

»Das machen sie wirklich?«, fragte Linus mit sarkastischem Unterton.

»Ja«, sagte Raffy stirnrunzelnd. »Das wissen Sie doch.«

Linus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass alle, die er operiert hat, danach willenlos dahinvegetiert haben. Aber er wollte das nicht zugeben. Er hat darauf beharrt, dass die Methode funktionieren würde, dass sie vorher schon funktioniert hätte, und als ich hinter die Wahrheit kam, da hatte er lauter Ausreden – schuld war die Ausrüstung, oder seine Helfer, alles Mögliche. Er hat mir gesagt, beim nächsten Mal würde es bestimmt klappen, dann wieder beim nächsten Mal. Und immer so weiter und ich habe ihn nicht aufgehalten. Erst als es zu spät war. Erst als …«

Er brach ab; es fiel ihm offenbar schwer, weiterzuerzählen.

»Aber es hat doch funktioniert«, widersprach Evie. »Wir sind kein dahinvegetierendes Gemüse.«

»Nein«, räumte Linus ein, »aber ihr habt auch noch nicht die Neutaufe erhalten.«

»Doch, das haben wir«, meinte Evie hitzig. »Dass wir geflohen sind, heißt noch lange nicht, dass wir böse sind oder dass wir keine Neutaufe erhalten haben, denn das haben wir. Ich weiß es ganz genau. Wir haben doch die Narben. Die, die Sie selbst aufgemacht haben, als Sie uns gefangen genommen haben.«

Linus antwortete nicht, er schaute sie nur traurig an.

»Aber …« Raffy fuhr sich, genau wie Evie, mit der Hand über die Narbe an der Schläfe. Seine Augen blitzten vor Wut. »Warum hat er weitergemacht? Warum hat man ihn gelassen?«

»Weil wir schwach waren. Weil wir seine Ausreden hingenommen haben. Weil wir uns den Erfolg genauso gewünscht haben wie er. Er hat allen gesagt, die Operation würde nicht klappen, wenn die Patienten zu viel Böses in sich hätten«, sagte er bedauernd. »Und die, die er mit seinen Experimenten zu dahinvegetierenden Wesen gemacht hat, die hat er versteckt. Wir haben sie versteckt.« Er vergrub das Gesicht in den Händen, dann sah er wieder auf. »Versteht ihr nicht? Die Leute, die euer Großer Anführer operiert hat … das sind die Bösen, vor denen ihr alle solche Angst habt. Er hat sie erschaffen. Das waren diejenigen, die an ihn geglaubt haben, die für ihn gearbeitet haben. Und er …« Linus stand auf, ging ein paar Schritte, beugte sich vor und stützte für einige Sekunden die Hände auf die Knie. Dann kam er zurück, offenbar bereit, fortzufahren.

»Schließlich hat er aufgehört. Er musste. Aber die Menschen glaubten an die Neutaufe, sie brauchten sie, damit sie daran glauben konnten, dass das Böse ausgemerzt war. Und deshalb …« Er trat von einem Fuß auf den anderen und sah ihnen nicht in die Augen. »Und deshalb wurde die Neutaufe nur noch vorgetäuscht. Jeder glaubte, dass er sie erhalten hätte. Ein kleiner Schnitt an der Schläfe … das dachte ich zumindest …« Er seufzte. »Wichtig war nur, dass die Leute überzeugt waren. Und es hat sogar gewirkt – durch den Placebo-Effekt.«

»Placebo?«, fragte Evie und zog die Nase kraus.

»Du sagst jemandem, dass er ein Medikament bekommt und dass es ihm dann besser geht, auch wenn du ihm nur Sägemehl gegeben hast«, erklärte Linus. »Oder du sagst den Leuten, sie sind nicht fähig zum Bösen, und sie glauben auch das.«

»Dann hat also keiner von uns eine Neutaufe bekommen?« Evie fasste sich unwillkürlich an den Kopf. Ihre Gedanken rasten. Konnte das wirklich stimmen? Die ganze Zeit war sie voller Angst gewesen, ihre Amygdala könnte wieder nachwachsen, und dabei war sie nie entfernt worden? Auch nicht bei ihren Eltern? Bei niemandem?

»Nicht einmal der Bruder? Und auch nicht die As?«

»Vor allem nicht der Bruder«, sagte Linus finster. »Und was die As angeht …« Er atmete tief aus. »Damals gab es noch keine As. Das System war nicht dazu aufgebaut worden, um die Leute einzuteilen oder ein Urteil über sie zu fällen. Es sollte dafür sorgen, dass sie das hatten, was sie brauchten, und dass ihr Leben erfüllt war.«

»Dann hat also gar niemand die Neutaufe erhalten?« Es fiel Evie immer noch schwer, damit klarzukommen.

»Gar niemand. Natürlich war Fisher nicht begeistert, dass er nicht operieren durfte. Er war überzeugt, dass er es irgendwann schaffen würde, wenn er es nur weiter versuchen könnte. Er hat anscheinend nicht verstanden, dass er das Leben der Leute zerstörte. Wir mussten ihn aufhalten, ihn einsperren. Der Bruder – damals hieß er einfach Mark – hat uns sehr geholfen. Ich dachte, er wäre ein Freund. Ich … ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Und er war großartig. Hatte jede Menge Ideen. Er wollte den Placebo-Effekt durch spirituelle Versammlungen verstärken; er wollte der geistige Führer der Stadt sein und dafür sorgen, dass die Menschen auf dem rechten Weg blieben. Er und ich waren die Einzigen, die wussten, dass die Neutaufe nicht echt war, die Einzigen, die überhaupt irgendetwas wussten. Aber dann …«

»Dann?«, half Evie nach.

Linus stand auf und ging im Raum auf und ab. »Ich hatte ein Team von Leuten, die sich mit dem System auskannten. Ich hatte alle selbst angelernt. Es war mein System. Alles andere war mir egal. Aber er konnte es einfach nicht lassen; er konnte der Macht nicht widerstehen, die es ihm verliehen hat.« Seine Stimme war bitter geworden, sein Gesicht mit einem Mal wutverzerrt.

»Der Bruder?«, fragte Evie nach und spürte das vertraute Prickeln von Angst im Nacken, das unbehagliche Gefühl, unzulänglich zu sein, nie gut genug zu sein, das sie immer überkam, wenn sein Name genannt wurde.

»Der Bruder«, bestätigte Linus. »Er wollte alles kontrollieren. Er hat Veränderungen vorgenommen, ohne es mir zu sagen. Er hat die Rangordnung eingeführt – A, B, C und D. Er hat gesagt, das sei unabdingbar, um die Ordnung aufrechtzuerhalten; andernfalls müsste er den Leuten reinen Wein einschenken über die Neutaufe. Und ein Stück weit habe ich mitgemacht. Ich dachte, er würde nur das Beste wollen. Wir hatten uns darüber unterhalten, mehr Menschen in die Stadt zu lassen. Die Bevölkerung wuchs nicht schnell genug und wir brauchten mehr Leute. Also haben wir die Kunde verbreitet, dass man bei uns sicher leben konnte und dass Neuankömmlinge willkommen waren. Und es kamen Tausende, denn nach der Schreckenszeit gab es viele verzweifelte Menschen. Schon das nackte Überleben zu sichern war schwierig, fast unmöglich. Sie dachten, sie kämen zu ihrer Rettung. Und ich war daran beteiligt. Ich habe mitgeholfen, es weiterzusagen.«

Evie schloss die Augen. Sie fühlte die Wärme an der Brust ihres richtigen Vaters, empfand wieder die hoffnungsvolle Stimmung, als sie auf die Stadt zumarschierten.

»Aber sie haben nur die Kinder genommen«, flüsterte sie, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Raffy sie besorgt anschaute.

Sie brachte ein Lächeln zustande, um ihn zu beruhigen. Dann wandte sie sich an Linus. »Und was ist mit ihnen passiert? Mit meinen richtigen Eltern? Haben sie sie getötet?« Ihre Stimme war tonlos, so als ob es ihr gleichgültig wäre, aber sie konnte diese Fragen nicht anders stellen, musste ihre Gefühle tief in sich vergraben, damit die sie nicht auffraßen.

Linus blickte sie verzweifelt an. »Das wusste ich nicht«, murmelte er. »Dass du auf diesem Weg gekommen bist. Das wusste ich nicht.«

»Und?« Evie ließ nicht locker.

Linus wich ihrem Blick aus. »Das war der Handel, den der Bruder mit Fisher gemacht hat, im Gegenzug für die Macht. Fisher – euer Großer Anführer – durfte die Erwachsenen operieren, die kamen. Er durfte Menschen schlachten und der Bruder … Na ja, der bekam etwas anderes. Eine Armee von Bösen, um die Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen, um sie zu versklaven und um ihnen so Angst zu machen, dass sie alles taten, was der Bruder von ihnen wollte.«

Evie schluckte schwer und drängte die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten. »Meine Eltern sind Böse«, sagte sie stattdessen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Menschen, vor denen sie sich so lange gefürchtet hatte, waren ihre eigenen Eltern. Die sich tagelang dahingeschleppt hatten, um ihr eine bessere Zukunft zu bieten.

»Und Sie halten sie hier eingesperrt? Haben Sie meine Eltern hier?« Sie fuhr herum und ihre Augen blitzten mit einem Mal.

Linus schüttelte den Kopf. »Nein, Evie. Hier sind nur ein paar. Die paar, die wir retten konnten. Die meisten … Die meisten werden in der Stadt gefangen gehalten. Ein paar Kilometer vor der Stadt ist ein Lager. Da hält man sie fest. Da hat der Bruder sie eingesperrt.«

Evie nickte angespannt. »Und deshalb sind Sie gegangen?«

Linus seufzte tief. »Ich wünschte, ich hätte es getan. Damals hätte ich gehen sollen. Aber ich wollte nicht sehen, was da vor sich ging. Ich wollte mein System aufbauen, wollte es perfektionieren. Ich habe mir eingeredet, dass die Methoden des Bruders nur vorübergehend sind, dass sie notwendig sind. Ich habe mir eingeredet …« Er beendete den Satz nicht, er sah gequält aus.

»Was war es dann?«, fragte Evie schneidend. »Dass meine Eltern abgeschlachtet wurden, war es nicht. Was war dann der Grund, dass Sie gegangen sind?«

Linus sah zu ihr auf, dann senkte er gedemütigt den Blick wieder. »Zwei Dinge. Zuerst ist Fisher verschwunden.«

»Der Große Anführer?« Evie erschauerte unwillkürlich.

Linus nickte. »Der Bruder hat mir gesagt, dass er geflohen wäre, aber das habe ich ihm nicht geglaubt. Ich hatte den Verdacht … dass da etwas faul war.«

»Sie glauben, er hat ihn umgebracht?«, fragte Raffy argwöhnisch.

Linus nickte. »Das war meine Schlussfolgerung.«

»Also haben Sie den Bruder zur Rede gestellt?« Raffy beugte sich vor und seine Augen ließen zum ersten Mal Interesse erkennen.

Linus’ Gesicht zuckte leicht. »Nein.« Er sah wieder zu Boden. »Zu meiner Schande. Ich dachte, er wüsste, was er tut. In gewisser Weise war ich sogar erleichtert.«

»Erleichtert, dass er den Großen Anführer getötet hat?« Evie rang nach Atem.

»Ich bin nicht stolz auf mich. Aber ich war froh, dass ein so gefährlicher Mann aus dem Spiel genommen war«, antwortete er leise.

»Und was hat sich noch geändert?«, wollte Raffy wissen. »Was war das Zweite?«

Linus’ Züge verhärteten sich. »Ich habe herausgefunden, dass die falsche Neutaufe viel teuflischer war, als ich dachte. Er nutzte die kleine Operation dazu, den Leuten einen Chip in den Kopf einzupflanzen. Der Chip, von dem ich euch schon erzählt habe. Einen Chip mit Peilsender, mit dem die Leute geortet werden können. Einen Chip, der mit dem System verbunden ist. Mit meinem System. Also habe ich ihm gesagt, es reicht. Ich habe ihm gesagt, dass er aufhören muss, dass ich allen sage, dass das mit der Neutaufe gelogen war, dass das mit den Bösen gelogen war, dass das aber nichts macht, weil wir trotzdem noch die Stadt haben könnten, von der sie geträumt haben.«

Linus blieb stehen.

»Und?«, fragte Raffy vorsichtig.

»Und das war mein letzter Tag in der Stadt. Da hat der Bruder einen neuen Rang eingeführt. Rang K. Er hat gesagt, der wäre für die Leute, bei denen die Amygdala nachgewachsen sei. Aber das stimmte nicht. Er war für die Leute, die er zu Feinden des Regimes erklärt hatte. Für die Leute, die eine Bedrohung für ihn waren. Für die Leute, die er schleunigst loswerden musste. Es hieß, die Ks würden zu einer zweiten Neutaufe weggebracht, aber das war genauso gelogen wie der ganze Rest. K steht für Killable – wie ihr ja wisst. Der Bruder wollte mich aber nicht selbst töten; er wusste, dass irgendjemand es schließlich herausfinden würde. Also hat er allen gesagt, ich würde neu konditioniert. Dann hat er mich vor der Stadtmauer gefesselt und darauf gewartet, dass die Bösen mich umbringen – die Bösen, von denen er immer behauptet hatte, dass er gut für sie sorgt, die in Wahrheit aber unter unsäglichen Bedingungen eingesperrt waren und behandelt wurden wie Tiere.«

»Aber sie haben Sie nicht getötet«, flüsterte Evie. »Sie sind immer noch hier.«

»Nein, sie haben mich nicht getötet.« Linus wandte sich zu Raffy hin. »Sie haben mich nicht getötet, weil dein Vater gekommen ist und mich befreit hat. Dein Vater hat mir das Leben gerettet.«


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