12

Sie ist bei Raffy, sie halten einander fest, klammern sich aneinander, weil sie wissen, dass man sie trennen will … »Du liebst mich«, flüstert er. »Nur mich.« Und sie nickt leidenschaftlich, weil sie weiß, dass es wahr ist, dass sie verbunden sind, dass zwischen ihnen etwas ist, das nicht zerbrochen werden kann, dass es immer Raffy und sie war und dass das immer so sein wird. Dann wird es kalt und sie bekommt eine Gänsehaut an den Armen. Sie weiß, dass Raffy es auch spürt, weil er sich angespannt umschaut. Und plötzlich sind sie da und umzingeln sie; sie sind wie Geister, unheilvoll schwebende Wesen, aber sie weiß sofort, wer das ist. Es sind die Bösen, die es auf sie abgesehen haben, und sie müssen weglaufen … Und sie rennen, aber sie rennen nicht schnell genug, und als ihre Fersen den Boden berühren, springt sie hoch in die Luft, bis hinauf in die Wolken, aber es reicht nicht, es wird nie reichen. Evie stolpert; sie liegt auf dem Boden. Raffy dreht sich um, und sie sieht die Angst in seinen Augen, und während er auf sie zukommt, weiß sie, dass es zu spät ist. Er ruft, dass es ein Fehler war, dass alles ein Fehler war, und dann ist er fort. Lucas steht an seiner Stelle und sieht ihr tief in die Augen und sagt ihr, dass sie stark sein muss, dass sie mutig sein muss und dass er von ihr abhängig ist. Er legt die Arme unter ihren Kopf und hebt ihn behutsam an; dann beugt er sich herunter, und sie sieht den Schmerz und die Qual in seinen Augen, sieht, dass er sie braucht. Ihr Verlobter. Lucas. Und sie kann nicht anders, als ihre Lippen sich finden und er sie küsst, und sie fühlt sich sicher und geborgen und alles ergibt mit einem Mal einen Sinn. Aber sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, ist er verschwunden und sie ist allein und es ist sehr kalt …

Evie erwachte und zitterte vor Kälte. Nur ein Stück von ihr entfernt stand ein Mann und starrte sie an. Ihr Kopf tat so weh, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie konnte sich nicht bewegen, denn sie war an Händen und Füßen gefesselt. Jetzt erinnerte sie sich wieder an die Falle und an die starken Hände, die sie festgehalten hatten. Raffy hatte sich gewehrt und hatte verloren und war mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen worden. Sie hatten ihren Rucksack geplündert, ihnen Fragen ins Gesicht gebrüllt und Informationen verlangt. Sie hatten stundenlang marschieren müssen, bis sie nicht mehr weiterkonnte; man hatte ihr Wasser angeboten; sie hatte es getrunken und war zusammengebrochen. Sonst wusste sie nichts mehr; sie hatte keine Ahnung, wie sie an diesen kalten dunklen Ort gekommen war. Sie roch den Atem des Mannes, süß und scharf zugleich, wie der Begrüßungstrunk bei der wöchentlichen Versammlung, wie ein Feuerwerk oder wie …

»Du bist also wach? Das ist gut«, sagte er. »Tut mir leid wegen der Schmerzen. Wir mussten den Chip entfernen. Nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

Evie musterte ihn ängstlich. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete. Sie wusste nur, dass er unter den Männern gewesen war, die sie und Raffy abgeschnitten hatten. Er hatte kein einziges Haar auf dem Scheitel; die restlichen Haare an den Seiten waren silbergraue Stoppeln. Sein faltiges Gesicht war schmutzig und von der Sonne gebräunt. Er trug eine Weste, kein Hemd. In der Hand hielt er eine Waffe, die sie bedrohlich anblitzte.

Er war nicht zivilisiert, erkannte sie mit einem Schlag. Er war ein Böser. Er war ein Böser und er würde sie beide ermorden.

Sie wusste es ganz tief in ihrem Bauch. Und sie wusste auch, das hieß, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach in ein paar Stunden tot sein würde.

Der Mann betrachtete sie noch ein paar Sekunden lang, dann lachte er auf und steckte die Pistole in seine Gesäßtasche. »Keine Sorge, ich werde dich nicht töten. Sonst hätte ich es schon längst getan. Aber ich will wissen, wer ihr seid und was ihr auf dem Gelände der Stadt verloren habt.«

»Auf dem Gelände der Stadt?«, fragte Evie unsicher. »Wir waren doch gar nicht …«

»Oh doch, das wart ihr.« Er lächelte. »Ihr glaubt wohl, das Land vor der Stadt gehört keinem. Sie haben Patrouillen dort. Wollen nicht, dass einer zu nah rankommt. Aber ihr wart ganz nah.«

Evie blickte angestrengt um sich und suchte nach Raffy, aber er war nirgends zu sehen. War er entkommen? Folterten sie ihn? War er vielleicht schon tot? Sie heftete ihren Blick auf den Mann, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass seine Amygdala jeden seiner Schritte steuerte und sein ganzes Denken verdarb.

»Du schaust nach deinem Freund? Hier, hinter mir.«

Er trat einen Schritt zur Seite und Evie sah auf der anderen Seite des Raumes so etwas wie ein Häufchen Kleider auf dem Boden. Es bewegte sich nicht. Evies Kinnlade klappte herunter.

»Keine Sorge«, sagte der Mann. »Er lebt.«

Evie sagte nichts. Der Mann schien ihre Gedanken zu lesen und ihr war überhaupt nicht wohl dabei.

»Also«, fuhr der Mann im Plauderton fort, so als wäre das alles ganz normal; als wäre sie nicht gefangen genommen, an diesen seltsamen Ort verschleppt und gefesselt worden wie ein wildes Tier. »Wer seid ihr und warum seid ihr hier?«

Evie funkelte ihn wütend an. Die Stricke gruben sich tief in ihre Gelenke an Händen und Füßen. Sie wollte, dass ihre Fesseln sich lösten, wollte, dass dieser böse Mensch sie allein ließ, sodass sie Raffy wecken und sich mit ihm einen Fluchtplan ausdenken konnte. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr; der Haufen Kleider sprang in die Höhe, Raffy warf sich auf den Mann und riss ihn nach hinten. Evie wollte ihm helfen und bäumte sich auf, aber die Stricke schnitten ihr ins Fleisch, und sie fiel wieder hin.

Der Mann schrie laut auf, und ein anderer Mann stürzte herein, ein hässlicher, plumper Geselle mit muskulösen Armen. Er riss Raffy zurück, schlug ihm mit der Faust in den Magen und schleuderte ihn wieder auf den Boden.

»So ist das also«, zischte der erste Mann durch die Zähne und spie etwas Blut auf den Boden. Er stand auf und blickte angewidert auf Raffy.

»Du solltest ihn lieber zur Vernunft bringen«, sagte er zu Evie. Die beiden Männer gingen hinaus und schlossen die Tür.

Sofort robbte Evie zu Raffy hinüber. Er lag auf dem Rücken mit blutüberströmtem Gesicht. Gefesselt, wie sie war, konnte sie ihn nicht berühren, seine Wunden nicht säubern. Sie blickte auf ihn hinunter, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, weil das nicht passieren durfte, jetzt wo sie es fast geschafft hatten, zu fliehen und endlich frei zu sein.

»Raffy, Raffy, wie geht es dir?« Sie blinzelte heftig, da sie sich die Tränen nicht abwischen konnte.

»Es geht.« Er setzte sich auf und legte seine Stirn an Evies Stirn. Dann sah er sich um. Seine Augen funkelten und er biss wütend die Kiefer aufeinander. »Es hat nicht viel gefehlt …«

»Ich weiß«, sagte Evie und nickte heftig, um ihm zu zeigen, dass sie ihn verstand. »Aber es sind Böse, Raffy. Das sind keine Menschen. Sie sind nicht wie wir.«

Raffy verzog das Gesicht. »Mein Kopf«, stöhnte er. »Es tut weh … Wo sind wir hier eigentlich?«

Sie schauten sich gründlich um. Sie waren in einem riesigen kahlen Raum mit hoher Decke, grauen Wänden und Betonboden. Er war größer als alle Räume, in denen Evie je gewesen war, sogar größer als das Versammlungshaus der Stadt. Durch verdreckte Fenster fiel allmählich etwas Tageslicht und durch die rissigen Wände und mehrere zerbrochene Fensterscheiben drang Dunst und wucherten Pflanzen. An beiden Enden gab es massive Türen, die höchstwahrscheinlich verschlossen waren. Möbel waren nicht in dem Raum, nur die dünnen Matratzen, auf denen sie geschlafen hatten, und die modrig riechenden Decken.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Sieht alt aus.«

Raffy bewegte sich etwas und stöhnte wieder vor Schmerzen. »Älter als die Stadt«, schloss er. »Aber diese Leute haben das nicht gebaut.« Er sah sich staunend um. »Gar nicht so schlecht für eine Horde böser Menschen, was?«

Evie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Menschen mit einer Amygdala waren zu großen wie auch zu schrecklichen Dingen fähig; diese Menschen hatten mit ihrem intakten Mandelkern Großes vollbracht. Dennoch jagte es ihr große Angst ein, dass die Leute, die diese Halle erbaut hatten, die Leute da draußen, Böses in ihren Köpfen trugen, das nur darauf wartete, sie zum Schlechten zu beeinflussen, und eine Gelegenheit suchte, sie zu verderben.

»Was, glaubst du, werden sie uns antun?«, fragte sie und bereute es sofort, da Raffys Miene sich verdüsterte.

»Ich hätte die Falle sehen müssen«, sagte er. Ich hätte …«

»Aber es war meine Schuld, dass wir gefangen wurden«, sagte Evie hastig. »Aber das ist jetzt egal. Es geht darum, was als Nächstes passiert.«

»Als Nächstes warten wir darauf, dass sie uns umbringen«, sagte Raffy bitter. Er blickte sich wieder um. Dann hellte sich seine Miene auf. »Wir könnten es durch die Fenster versuchen«, sagte er. »Wir lösen die Fesseln und ich helfe dir hinauf und dann …«

»Das sind mindestens drei Meter«, erwiderte Evie. »Dazu bräuchten wir eine Leiter … Und außerdem warten sie draußen wahrscheinlich schon auf uns.«

»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Raffy unwirsch. »Sollen wir lieber warten, bis wir sterben?«

Evie hatte keine Zeit für eine Antwort. Die Tür schwang auf. »Na, inzwischen zur Vernunft gekommen?« Es war derselbe Mann wie zuvor. Er schritt zielstrebig herein und packte Raffy an den Schultern. Der andere, gedrungene Mann brachte einen Holzstuhl und setzte Raffy unsanft darauf. Dann packte er Evie, riss sie hoch und zerrte sie vor Raffys Stuhl, sodass sie ihm mit ein paar Schritten Abstand gegenüberstand.

»So«, meinte der Mann mit dem kahlen Scheitel und schmunzelte leicht. »Du« – er zeigte auf Evie – »wirst uns jetzt etwas erzählen, denn sonst wirst du«, er wies auf Raffy – »eine Menge Schmerzen erleiden. Mein Freund hier hat einen ganz schönen rechten Haken. Wenn du nicht willst, dass der im Gesicht deines Freundes landet, dann sagst du mir jetzt, wer ihr seid und was ihr hier zu suchen habt. Verstanden?«

Evie zitterte. Sie wusste nicht, was ein rechter Haken war, aber sie begriff, dass sie Raffy verletzen würden, und das konnte sie nicht ertragen. Noch schlimmer aber war die Erkenntnis, dass der Bruder recht gehabt hatte: Die Welt außerhalb der Stadt war ein brutaler, abscheulicher Ort, wo die Menschen sich benahmen wie Wilde, wo jeder sich nur von niederen Instinkten leiten ließ. Und das war nun ihre Welt. »Sag nichts«, rief Raffy trotzig. Gleich darauf verpasste der Dicke ihm einen so heftigen Schlag gegen den Kopf, dass Raffy für einige Sekunden das Bewusstsein zu verlieren schien. Evie schrie entsetzt auf.

»Aufhören. Bitte aufhören«, flehte sie.

»Wir hören auf, wenn du redest«, sagte der Kahle und zuckte leicht die Schultern. »Also, noch mal«, sagte er zu seinem Kumpan, und der holte wieder aus mit der Faust.

»Nein«, schrie Evie, und der Dicke hielt inne. »Nein, das dürft ihr nicht. Ich weiß, dass ihr böse seid, aber seht ihr denn nicht, dass das falsch ist? Ihr müsst aufhören. Ihr müsst …« Sie versuchte, zu Raffy zu hüpfen, aber der Kahle hielt sie zurück.

»Böse?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Du glaubst, wir sind böse?« Er lachte.

»Ich weiß es«, sagte Evie leise. »Alle, die außerhalb der Stadt leben, sind böse. Nur die Bösen würden so etwas tun.«

Die beiden Männer lachten. »Glaub mir, Böse könnten so etwas nicht tun. Also gut, Angel. Verpass dem Jungen noch eins.«

Der zweite Mann schlug Raffy noch einmal und Blut lief diesem aus der Nase.

»Du … böser Mann«, schrie Evie, und sie wünschte, sie hätte mehr Beschimpfungen in ihrem Wortschatz, mehr Möglichkeiten, um ihren Hass auszudrücken.

Der Mann seufzte. »Böse. Klar. Jetzt sag mir einfach, was ihr hier macht. Ist das wirklich so schwer? Dein Freund hier wird es dir nicht danken, wenn du weiter schweigst, das kann ich dir versprechen.«

Evie konnte den Blick nicht von Raffy wenden, der etwas auf den Boden spuckte, das aussah wie ein Zahn. Sein Blick ging ins Leere, aber er schüttelte ganz leicht den Kopf. Der Dicke holte erneut aus mit der Faust. Sie musste etwas tun, denn Raffy konnte nicht noch mehr verkraften, auch wenn er das niemals zugeben würde. Und sie wusste, dass sie mit den Bösen nicht vernünftig reden oder an das Gute in ihnen appellieren konnte.

»Halt!«, schrie sie. »Wartet.«

»Du sagst mir, wer euch geschickt hat und was ihr herausfinden sollt«, sagte der Kahle. »Dann hören wir auf. Das ist unser Angebot.«

»Niemand hat uns geschickt«, sagte sie wütend. Raffys Gesicht war voller Blut; wenn der Mann weiter zuschlug, würde er ihn töten. »Wir sind aus der Stadt geflohen.«

»Ihr seid geflohen!«, seufzte der Kahle. »Natürlich … Tut mir leid, aber das nimmt euch keiner ab.« Er ging auf Raffy zu und holte aus.

»Nein!«, schrie Evie noch einmal. »Ihr habt versprochen, aufzuhören, wenn ich euch sage, warum wir hier sind.«

»Aber du lügst«, erklärte der Kahle. »Niemand flieht aus der Stadt. Sag uns die Wahrheit und wir hören auf.«

Evie schwieg. Der Mann schnippte mit den Fingern; der Dicke kam zu ihr und hielt sie fest. »Mal sehen, ob dein Freund redet, um dich zu retten.« Der Mann hob wieder die Faust. Evie machte sich auf den Schlag gefasst. Sie war noch nie geschlagen worden, sie hatte noch nie so große Angst gehabt, doch sie war entschlossen, es nicht zu zeigen.

»Nein!«, brüllte Raffy. »Lasst die Finger von ihr. Wir sind wirklich geflohen.« Die Faust des Dicken hielt ganz knapp vor Evies Gesicht inne; sie konnte seinen Schweiß riechen. »Durchs Osttor. Ihr Vater ist Schlüsselhüter. Sie hat seinen Schlüssel genommen.«

»So so, sie hat seinen Schlüssel genommen«, sagte der Kahle. Die Faust des anderen war immer noch so dicht vor Evies Gesicht, dass sie die Augen schließen musste. »Also gut. Nehmen wir mal an, ihr sagt die Wahrheit. Warum sollten denn zwei so nette junge Leute wie ihr aus der Stadt fliehen? Ist ja nicht gerade eine Ferienkolonie hier draußen, oder?«

»Weil sie mich sonst getötet hätten.« Raffy schäumte vor Wut. Der Mann ließ Evie los, und sie sank zu Boden, bevor sie das Gleichgewicht finden konnte. »Sie haben mich zum K erklärt.«

»Dich? Du bist ein Killable?« Der Kahle sah ihn ungläubig an.

Raffy sah kurz zu Evie hinüber. Sie wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie: Dieser Mann wusste, was K bedeutete.

»Oh ja. Ich weiß Bescheid über die Killables«, sagte der Kahle, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Aber ich würde gern wissen, warum ein Bürschchen wie du zum K erklärt wird. Was kannst du denn schon getan haben?« Er musterte Raffy, als wäre der ein Kalb, stupste ihn gegen die Schulter und sah ihm ins Gesicht.

»Ich bin im System auf etwas gestoßen, und sie dachten wohl, ich hätte es dort eingeschleust.«

Der Mann erschrak, er runzelte die Stirn, drehte sich um und ging ein paar Schritte, offenbar tief in Gedanken. Dann kam er zurück und beugte sich ganz nah zu Raffy. »Du bist im System auf etwas gestoßen? Und auf was bist du gestoßen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Raffy und biss sich auf die Lippen. »Irgendetwas hat nicht richtig funktioniert.«

Der Mann ging vor Raffy auf und ab. »Du kennst dich aus mit dem System?«

Raffy nickte. »Schon. Ich war Administrator.«

Der Kahle atmete tief aus. »Das Problem ist, dass das für mich immer noch keinen rechten Sinn ergibt. Du sagst, sie hätten dich zum K erklärt. Warum haben sie dich dann nicht festgenommen und eingesperrt? Wie hast du entkommen können?«

»Weil ich noch kein K war, als wir geflohen sind. Wir sind die Nacht davor entkommen«, sagte Raffy heftig.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein. Und ich will dir auch sagen, woher ich weiß, dass du lügst, und warum mein Freund Angel deiner Freundin wehtun muss, wenn du nicht endlich die Wahrheit sagst – weil das, was du mir da erzählst, ganz unmöglich ist. Niemand weiß im Voraus von einem Rangwechsel im System. Niemand.«

Der Dicke kam drohend auf Evie zu und sie wich zurück. »Wartet«, sagte Raffy beschwörend. »Wartet. Mein Bruder hatte mich vor dem Wechsel gewarnt. Er hat gesagt, ich müsste fliehen.«

»Dein Bruder«, wiederholte der Mann. »Und woher wusste dein Bruder Bescheid?«

»Ich weiß nicht«, meinte Raffy kleinlaut. »Er ist weit oben in der Regierung.«

Der Dicke war stehen geblieben. »Dann fassen wir mal zusammen«, sagte der Kahle. »Du wirst zum K erklärt, weil du einen Fehler findest; dein Bruder, der dich warnt, ist in der Regierung und setzt seine Karriere aufs Spiel, weil er dir und deiner Freundin zur Flucht verhilft? So läuft es aber normalerweise nicht in der Stadt. Man kann sich nicht gegen das System stellen, oder?«

Raffy antwortete nicht. Der Mann zuckte die Schultern und wandte sich wieder an Evie. »Und du bist einfach mit ihm gegangen? Du hast einfach so die Stadt verlassen?«

Evie nickte angstvoll. »Ich musste. Sie hätten mich als Nächste zur K erklärt.«

»Und woher weißt du das?«

»Weil ich den Schlüssel aus dem Safe meines Vaters genommen habe.«

»Weil du den Schlüssel aus dem Safe deines Vaters genommen hast«, sagte der Mann und lächelte. »Natürlich hast du das. Siehst du, Angel? Es ist alles ganz klar.«

Der Dicke grunzte und der andere drehte sich wieder zu Raffy um. »Sonnenklar für ein Ammenmärchen, das die Stadt in die Welt gesetzt hat. Ihr seid hier, um uns auszuspionieren, oder? Hab ich nicht recht?«

»Nein«, sagte Raffy mit finsterem Blick. »Ich hasse die Stadt. Ich würde nie für sie spionieren. Lasst uns einfach gehen.«

»Gehen? Wohin denn?«, fragte der Kahle. »Ihr könnt nirgendwohin, jetzt wo ihr aus der Stadt draußen seid.«

»Doch, zufällig können wir das«, murmelte Raffy leise.

»Ach, ihr wisst, wo ihr hinwollt?« Der Mann beugte sich hinunter, sodass sein Gesicht ganz dicht vor Raffys Gesicht war. »Und was soll das für ein Ort sein?«

»Eine andere Stadt«, sagte Evie sofort. »Es gibt eine andere Stadt.«

»Eine andere Stadt, sagst du?« Der Mann trat zu ihr hin und gluckste. »Und da bist du dir ganz sicher, junge Dame?«

»Ja«, entgegnete Evie trotzig. »Weil Raffys Vater sie entdeckt hat. Er hat mit ihr Verbindung aufgenommen. Raffy hat das Kommunikationsprogramm entdeckt. Deshalb haben sie ihn zum K erklärt und deshalb sind wir hier. Also lasst uns bitte gehen. Wir sind keine Spione. Wir sind überhaupt nichts.«

Der Mann starrte sie einen Augenblick lang an, dann blickte er zu Raffy. »Euch gehen lassen?«, sagte er schließlich. »Wenn wir euch gehen lassen, dann seid ihr innerhalb eines Tages tot. Nein, meine Freunde, wir lassen euch nicht gehen. Aber keine Sorge. Wir werden uns um euch kümmern. Nicht wahr, Angel?«

Der Mann, der Raffy geschlagen hatte, nickte stumm. Evie hätte sich keinen unpassenderen Namen für jemanden vorstellen können. Engel waren wunderschöne mystische Wesen aus der alten Welt. Die Menschen hatten Engel angerufen, wenn sie in Not waren. Obwohl das völliger Unsinn war von den Menschen, wie sie in der Schule gelernt hatten; sie wandten sich an nicht existierende Wesen um Hilfe, statt zu erkennen, dass sie sich selbst helfen konnten. Und trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand an diesen wütenden, gewalttätigen Mann um Hilfe wenden könnte.

»Ich heiße Linus.« Der erste Mann streckte Raffy die Hand hin und der schaute unsicher darauf. »Tut mir leid, das habe ich ganz vergessen …«, sagte Linus und schmunzelte. Er griff unter sein Hemd und zog ein Messer hervor. Raffy streckte hinter dem Rücken die Hände aus und beäugte das Messer argwöhnisch, bis Linus die Stricke durchgeschnitten hatte. Angel schnitt unterdessen Evies Fesseln durch. Sie bewegte vorsichtig die Glieder. Evies Beine schmerzten; ihr ganzer Körper war steif und zerschunden. Auch Raffy stand auf; Angel verschwand und kam kurz darauf mit einem feuchten Tuch wieder, mit dem Raffy sein Gesicht säuberte. Mit einem kurzen Nicken zu Linus verschwand Angel wieder.

»Willkommen in unserer vorübergehenden Bleibe«, verkündete Linus und hielt Evie die Hand hin. »So vorübergehend, dass wir sie schon heute verlassen werden. Ihr braucht bessere Kleidung. Und etwas zu essen. Wir haben heute einen langen Marsch vor uns, da werdet ihr alle eure Kräfte brauchen.«

»Warum?«, fragte Raffy düster. »Wo bringt ihr uns hin?«

»Abwarten«, entgegnete Linus. »Das werdet ihr schon ziemlich bald erfahren.«


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